Geld ist alles

«Der Spieler» von Prokofjew in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Im Hostel auf der Basler Bühne / Bild Priska Ketterer, Theater Basel

Hinreissend gelungen ist die Produktion des Theaters Basel, als Schau- und Hör-Spiel bietet der Abend Erstklassiges. Das Stück aber, es hat seine Schwächen. «Der Spieler» von Sergej Prokofjew ist ein seltener Gast auf den Bühnen – und in gewisser Weise lässt es sich verstehen. Mitten im Ersten Weltkrieg komponiert, und das auf ein Libretto, das Prokofjew nach dem gleichnamigen Roman Dostojewskis selbst erstellt hat, leidet die Oper unter einer merkwürdigen Zähigkeit. Die Exposition im ersten Akt ist viel zu ausufernd geraten; je länger sie dauert, desto weniger kommt das Stück in Fahrt – da braucht es diesseits des Orchestergrabens doch etwas viel guten Willen. Auch die grosse Szene im Casino, die den Finalakt prägt, zieht sich arg in die Länge, da ist von der Spannung, die am Roulettetisch herrschen mag, nicht eben viel zu spüren. Keine Spur von jener leichtfüssigen, spritzigen Beweglichkeit, welche «Die Liebe zu den drei Orangen» von 1921 auszeichnet. Auch nicht von jener elementaren Kraft, die vom Ballett «Romeo und Julia» (1935) ausgeht.

Dass «Der Spieler» vom Theater Basel auf den Spielplan genommen worden ist, hat dennoch seine Triftigkeit. Das Geld als der einzig wirklich gültige Wert im menschlichen Dasein, die Gier danach und der Nihilismus der eigenen Existenz – was auf der Bühne vorgeführt wird, könnte aktueller nicht sein. Es wird dadurch unterstrichen, dass der Regisseur Vasily Barkhatov das Geschehen radikal und mit bewundernswerter Konsequenz in unsere Tage versetzt. Casino kommt keines vor, gespielt wird mit dem iPad, und was sich dort auf dem Bildschirm tut, lassen die Videos sehen, die das Team 2BLCK mit Maria Feodoridi und Kirill Malovichko sinnreich ins Bühnengeschehen integriert. Spielort ist ein «Hostel», für das Zinovi Margolin die Zimmer drei Stockwerke hoch aufeinandergetürmt hat. Alles akkuratestens eingerichtet, von der Wohnküche im Erdgeschoss über den mächtigen Flachbildschirm im Living bis hin zu dem tristen Waschsalon, der sich im Untergeschoss befindet. Haarscharf dazu passend das Outfit der Turnschuhgeneration, die sich hier tummelt – selbst die von der Kostümbildnerin Olga Shaishmelashvili entworfene Uniformjacke des Generals a.D. entspricht den Modellen, die in Putins Reich derzeit getragen werden.

Verlorene sind sie allesamt, sich selbst abhanden gekommen in einem einzig durch Leere erfüllten Leben. Und durch die Gier nach dem einen – das freilich allen in mehr oder weniger gravierendem Masse fehlt. Besonders in Geldnot ist der General, der, eine sinnvolle Erfindung des Regisseurs, mit seinen zwei Kindern, einem süssen Töchterchen und einem schlaksigen Jugendlichen mit steiler Frisur, im «Hostel» haust; Pavlo Hunka, der sängerisch wie darstellerisch enorm an Statur gewonnen hat, gibt virtuos den mit sich selbst, seinem Portemonnaie und seinem Ruf besorgten Vater, derweil die Kinder, mit der Spielkonsole in der Hand, schon ihre eigene Sucht kennen. Nicht minder eindrucksvoll Asmik Grigorian, die grandiose Salzburger Marie des Sommers 2017, in der Partie der undurchsichtigen Polina – eine ausdrucksstarke Darstellerin mit geschmeidiger, wandelbarer Stimme. Ihr gegenüber, blendend gesungen von Dmitry Golovnin, der getriebene, vom einen Extrem ins andere fallende Alexej, der Polina verfallen ist, sich dann aber dem Spiel ergibt. Der Einzige, der das nicht nötig hat und dementsprechend die Fäden zieht, ist ein undurchsichtiger Marquis, dem Rolf Romeo das genau richtige Profil verleiht. Ein hochstehendes Ensemble, dem sich noch eine Vielzahl kleinerer Partien anfügen, ist da am Tun.

Dann aber, kurz bevor man im ersten Akt entmutigt den Kopf hängen lässt: Babulenka, die schwerreiche Tante aus Moskau, die allgemein und hoffnungsvoll für schwerkrank gehalten wird, die aber unerwartet gesund und erschreckend willensstark in dem imaginären Roulettenburg eintrifft, dort gleich den Tarif durchgibt – und binnen kurzem ihr gesamtes Vermögen los ist. Der Auftritt von Jane Henschel ist schlechterdings eine Wucht. Ein grandioser Fall von type casting, eine Theaterfigur, wie sie schneidender nicht in diese Gemengelage von Menschlichem und Allzu-Menschlichem einfahren könnte, und als künstlerische Leistung ein Meisterstück. Am Pult des blendend aufgelegten Sinfonieorchesters Basel hält Modestas Pitrėnas nicht nur ihr, sondern vor allem Sergej Prokofjew einschränkungslos die Stange.

Neustart im Basler Musiktheater

 

Marfa ( Jordanka Milkova) und Andrei Chowansi (Rolf Romei) in der Basler «Chowanschtschina» / Bild Theater Basel, Simon Hallström

 

Peter Hagmann

Sing mir das Lied von Gewalt und Tod

Mussorgskys «Chowanschtschina» zur Saisoneröffnung in Basel

 

Was für ein Paukenschlag. Mit nichts Geringerem als Modest Mussorgskys «Chowanschtschina» als erster Opernpremiere hat Andreas Beck seine Intendanz in Basel eröffnet. Der Nachfolger Georges Delnons unterstrich damit, dass das Theater Basel auch in anhaltend schwieriger Finanzlage seinen Ruf als das bedeutendste Dreispartenhaus der Schweiz zu bewahren, ja zu mehren sucht. «Chowanschtschina» stellt in jeder Hinsicht besondere Anforderungen, und das hüben wie drüben: bei den Ausführenden wie im Publikum. Die schwierige Quellenlage des unvollendet zurückgelassenen Werks und seine schwer zu durchdringende Dramaturgie, die grosse Besetzung, die zudem nach Sängern russischer Tradition ruft, die Anforderungen an Chor und Orchester, nicht zuletzt die beträchtliche Spieldauer – wenn ein Haus das alles in Anstand bewältigt, darf man von Glück reden. Basel hat dieses Glück.

Machtpoker

Was heisst hier «Glück»? Die Szenerie, die der in Minsk geborene Bühnenbildner Zinovy Margolin und die aus dem damaligen Leningrad stammende Kostümbildnerin Olga Shaishmelashvili für die Basler Bühne erdacht haben, spricht von der schwer erträglichen Grausamkeit der Unterdrücker wie dem hoffnungslosen Ausgeliefertsein der Unterdrückten. Und das in aller Deutlichkeit. Wenn sich der Vorhang hebt, wird ein Bahnhof sichtbar, wie er irgendwo, am ehesten aber in den Weiten des sowjetischen Reichs stehen könnte. Auf einem der beiden Geleise zwischen den Perrons ein Güterwagen, in den von Uniformierten eine Leiche nach der anderen hineingeworfen wird – nicht ohne dass dabei noch die eine oder andere Wertsache eingesteckt wird. Die Strelitzen sind es, die gehätschelten Garden des Zaren, die da am Werk sind. Verängstigt beobachtet die in ihrer Verlorenheit stumpf gewordene Bevölkerung das herrisch willkürliche Gehabe der Oberen und erfährt dabei, wie rasch aus einem Oberen ein Unterer werden kann. In solcher Situation Rückgrat zu beweisen und sich selbst treu zu bleiben, kann ganz schön gefährlich werden.

Scharf fährt das unter die Haut. Denn mit untrüglichem Theatersinn arbeitet der 1983 in Moskau auf die Welt gekommene, hierzulande noch so gut wie unbekannte Regisseur Vasily Barkhatov die Momente knisternder Spannung heraus, die sich zwischen einzelnen Figuren ergeben. Im Zentrum steht dabei die stolze, in ihrer fanatischen Konsequenz schon fast wieder bewunderungswürdige Marfa, die Jordanka Milkova mit hinreissender Bühnenpräsenz und einem grossartig warmen Alt zur Protagonistin des Abends werden lässt. Dass diese Frau nicht anders kann, als ihrer Umgebung die Stirn zu bieten, wird an jedem ihrer Schritte ersichtlich. Und dass sie ihre Rivalin Emma, das junge Mädchen aus der deutschen Vorstadt (Betsy Horne), kaltblütig mit einem Kissen erstickt, lässt sich als unterstreichende Zutat des Regisseurs hinnehmen.

Den Kontrast zu dieser Frauenfigur bilden Männer, die eben Männer sind. Mit donnerndem Bass zeichnet Vladimir Matorin einen zwischen Herrschsucht und Depression schwankenden Chowanski; dass der Anführer der Strelitzen nicht umgebracht wird, wie es das von Mussorgsky eigenhändig geschriebene Textbuch vorgibt, sondern selber Hand an sich legt, wirkt in dieser Auslegung der Rolle durchaus stimmig. Um die Zentralfigur, die der Oper den Titel gegeben hat, kreisen die Widersacher. Besonders eindringlich im zweiten Akt, wo Chowanski auf den in der Gunst der Zarin stehenden, nach Westen orientierten, zugleich jedoch naiv abergläubischen Intellektuellen Golizyn und den undurchsichtigen Geistlichen Dossifei stösst; sowohl Dmitry Golovnin als auch Dmitry Ulyanov zeigen hier, was russischer Kraftgesang vermag. Während Schaklowity, der Dritte im Bunde der Widersacher Chowanskis, gerade deshalb so gefährlich wirkt, weil Pavel Yankovsky bedrohlich leise singt (und das hoffentlich auch tut, wenn die an der Premiere verkündete Indisposition verklungen ist).

Choroper

Ebenso sehr wie spannendes Drama ist «Chowanschtschina» aber eine Choroper – was in der Basler Produktion als Chance wie als Gefahr erscheint. So genau Vasily Barkhatov die Schlüsselszenen dieses in einem poststalinistischen (oder heutigen?) Russland angesiedelten Geschehens zeichnet, so virtuos hält er den Chor in Bewegung. Gerade nicht choreographisch, sondern ganz natürlich wogen hier die Massen. Dass einem dabei dennoch die Zeit etwas lang wird, hängt damit zusammen, dass der von Henryk Polus vorbereitete Chor trotz markanter Aufstockung nicht die Klangkraft erreicht, die hier vonnöten wäre. Die Frauenstimmen sind durch ihr Vibrato beeinträchtigt und vermögen den an sich glanzvollen Männerstimmen nicht wirklich die Stange zu halten. Untadelig dagegen das Sinfonieorchester Basel, das unter der Leitung des ukrainischen Dirigenten Kirill Karabits die Instrumentierung von Dmitri Schostakowitsch zu kerniger Differenzierung bringt und im nachkomponierten Finale von Igor Strawinsky Grösse wie Zerbrechlichkeit zeigt.

Manches war schon möglich am Basler Haus, wenn man etwa an die Produktion von Bernd Alois Zimmermanns «Soldaten» aus dem Jahre 1998 denkt. Mit dieser «Chowanschtschina» ist nun aber doch ein bedeutender Schritt getan. Dass der neue Basler Intendant Andreas Beck fürs Ende seiner ersten Spielzeit «Donnnerstag aus Licht» von Karlheinz Stockhausen ankündigt, erstaunt da nicht weiter.