Kunstgesang in exemplarischer Ausprägung

Ernst Haefliger – ein Kalenderblatt zum 100. Geburtstag des grossen Schweizer Tenors

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Privatsammlung, Deutsche Grammophon

Interpretation heisst Verlebendigung – Vergegenwärtigung für ein Hier und Jetzt. Genau darum kann eine Interpretation, die heute als Idealfall erscheint, morgen schon Spuren der Vergänglichkeit tragen. Indessen gibt es interpretatorisches Wirken, das über seine Zeitgebundenheit hinaus Massstäbe setzt und in einer allgemeinen Weise gültig bleibt. Etwas davon ist zu spüren im Singen des Tenors Ernst Haefliger, dessen Geburtstag sich am 6. Juli 2019 zum hundertsten Mal jährt – jedenfalls ergeben sich solche Eindrücke in der Begegnung mit der zwölfteiligen CD-Box, welche die Deutsche Grammophon, viele Jahre lang das Label des grossen Schweizer Sängers, aus diesem Anlass herausgebracht hat.

Natürlich fehlt es nicht an Zeichen, die auf die historische Distanz aufmerksam machen – das erstaunt nicht bei Aufnahmen, die aus den Jahren 1952 bis 1969 stammen. Wenn Alfredos «Brindisi» aus Giuseppe Verdis Oper «La traviata» in einer Einspielung von 1958 auf Deutsch gesungen wird, erinnert das an eine Praxis, die vollkommen verschwunden ist, es ändert aber nichts an der Überzeugungskraft der musikalischen Gestaltung. Und wenn Haefliger «Comfort ye my people» aus Georg Friedrich Händels Oratorium «Messiah» gibt, ebenfalls in deutschsprachiger Fassung, so stehen die ästhetische Handschrift des Dirigenten Karl Richter und der Klang des Münchener Bach-Orchesters unzweifelhaft für eine vergangene Zeit – die berührende Wirkung der Arie schmälert das nicht.

Es ist eben etwas Besonderes an der Vokalkunst Ernst Haefligers. Etwas sehr Eigenes, Unverkennbares. Das betrifft zunächst das Timbre. Haefligers Stimme sitzt jederzeit, selbst in den Aussenlagen, makellos und bildet klar konturierte Linien. Die reiche Beimischung an Obertönen verleiht ihr einen spezifischen Glanz – und eine Schönheit des Tons, die in Verbindung mit der hochstehenden Legatokultur als Grundprinzip über allem herrscht. Dabei bleibt es aber nicht, denn der schöne Klang ist genuin in der Sprache verankert: das kunstvolle Singen nicht einfach als hochkultivierte Lautgebung, sondern vielmehr als ein Sprechen der höheren Art. Die Diktion ist ohne Fehl und Tadel, in welcher Sprache auch immer. Farbig die Vokale, prägnant die Konsonanten, dabei aber fern jeder Überzeichnung oder Manieriertheit. Kontrolle und Mass bleiben jederzeit gewahrt; das Lied «Ich grolle nicht» aus Robert Schumanns «Dichterliebe», in dem die Wogen der Emotion hochgehen, mag als Beispiel dafür stehen.

Das Lied, es bildet eines der Zentren in Ernst Haefligers Wirken, vielleicht sogar das wichtigste. Die CD-Edition, die von Christine, Michael und Andreas, den drei Kindern Haefligers, konzipiert worden ist, legt es jedenfalls nahe. Die Hälfte der zwölf Disks ist dem deutschen Kunstlied romantischer Herkunft gewidmet. «Die schöne Müllerin», die «Winterreise», der «Schwanengesang» von Franz Schubert machen den Anfang, die «Dichterliebe» Robert Schumanns folgt ebenso wie eine Auswahl einzelner Lieder, darunter solche von Othmar Schoeck, Hugo Wolf, Zoltán Kodály. Wenn das erzählende Ich, eine Aufnahme des vierzigjährigen Haefliger, in der «Müllerin» von seiner Wanderlust berichtet, sieht man in der Tat das muntere Bächlein fliessen und die Räder in fleissiger Drehung – so bezwingend gestaltet das Haefliger: mit grossem, ruhigem Atem und in weiten Phrasierungsbögen. Die Pianistin Jacqueline Bonneau trägt das mit, indem sie das Tempo streng konstant hält und ihre differenzierende Kunst auf den Ebenen von Lautstärke und Klangfarbe verwirklicht.

Doch nicht mit dem Lied ist Ernst Haefliger gross geworden, seine Anfänge lagen beim Oratorium – das den Sänger bis ins hohe Alter begleitet hat. Schon gleich nach dem Abschluss seiner Studien am Konservatorium Zürich trat Haefliger als Johann Sebastian Bachs Evangelist auf – mit Dirigenten unterschiedlichster Herkunft, bald aber und dann vor allem mit Karl Richter. Der Münchner Dirigent hat die Laufbahn des um wenige Jahre älteren Sängers entschieden gefördert, während umgekehrt Haefliger zusammen mit Richter das Bach-Bild der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg massgeblich mitgeprägt hat. Die CD-Box legt dazu vielfaches und schönstes Zeugnis ab. Darüber hinaus wartet sie aber auch mit einigen Entdeckungen auf. Dass Ernst Haefliger schon in den späten sechziger Jahren alte Musik erkundet hat, etwa Balladen und anderes von Guillaume de Machaut, dies mit Unterstützung durch den Gambisten August Wenzinger und die von ihm geleitete Konzertgruppe der Schola Cantorum Basiliensis, stellt eine echte Überraschung dar. Offen war er aber auch gegenüber der neueren Musik. Zum Beispiel für das «Tagebuch eines Verschollenen» von Leoš Janáček, für dessen Aufnahme Ernst Haefliger 1963 zusammen mit der wunderbaren Kollegin Kay Griffel, einem nicht näher bezeichneten  Damenchor und Rafael Kubelik als dem Dirigenten am Klavier in den Gemeindesaal beim Zürcher Neumünster ging.

Bild Privatsammlung, Deutsche Grammophon

Bald nach seinem Debüt als Konzertsänger eroberte sich Haefliger auch die Bühne. 1943 wurde er an das damalige Stadttheater Zürich, das heutige Opernhaus, engagiert und blieb dort Mitglied des Ensembles, bis er 1952 als Erster lyrischer Tenor an die Städtische Oper Berlin, inzwischen die Deutsche Oper, wechselte. Gut zwanzig Jahre lang bildete Berlin den Lebensmittelpunkt des Sängers. Dorthin gefolgt war er dem Dirigenten Ferenc Fricsay, der in der geteilten Stadt seit 1949 als Generalmusikdirektor der Städtischen Oper und als Chefdirigent des RIAS-Symphonie-Orchesters wirkte, des späteren Radio-Symphonie-Orchesters Berlin. Mit Fricsay hat Haefliger ganz wesentlich an der Erscheinung Mozarts in den fünfziger und sechziger Jahren gearbeitet – mit der innigen und geschmackvollen, weil nirgends verzärtelten Deutung der «Bildnis-Arie» aus der «Zauberflöte» etwa lässt es die CD-Box erkennen. Eine der Stärken des grossen Tenors war das Leise, dem er Verlorenheit, aber auch grösste Intensität abgewann; exemplarisch steht dafür etwa der Beginn von «Gott, welch Dunkel hier», der ersten Arie des Florestan aus Ludwig van Beethovens «Fidelio», die in der Box wiederum mit Fricsay, diesmal aber mit dem Bayerischen Staatsorchester München erscheint.

In München fand Ernst Haefliger später einen weiteren Wirkungskreis. 1971 wurde er an die dortige Hochschule für Musik engagiert, wo er bis 1988 unterrichtete. Dies gemäss den Maximen, die er in seinem 1983 erschienenen Buch über «Die Singstimme» dargelegt hat. Auf welcher Erfahrung diese Maximen fussen, das lässt sich in der eindrücklichen, das Wirken Haefligers in seiner ganzen Breite abdeckenden CD-Box erfahren.

 

The Ernst Haefliger Edition. Deutsche Grammophon 4837122 (12 CD).
Hier geht es zum vollständigen Titel-Verzeichnis.

 

Bachs Geige

 

Peter Hagmann

Vielstimmigkeit in der Einstimmigkeit

Midori Seiler spielt Bachs Solosonaten für Violine

 

Paganini oder Ysaÿe, das ist gut und recht, aber doch fast harmlos im Vergleich mit den drei Sonaten und den drei Partiten für Violine solo (BWV 1001 bis 1006), die Johann Sebastian Bach 1720 zu Papier gebracht hat. Für jeden Geiger, für jede Geigerin stellen diese sechs Stücke den Prüfstein par excellence dar. Und Pflichtstoff zugleich, wie die Fülle der erhältlichen Aufnahmen zeigt. Eben ist die Liste nochmals erweitert worden: durch eine bei Berlin Classics unter der Bestellnummer 300721 erschienene Einspielung, die einen bedeutungsvollen Schritt in der Rezeptionsgeschichte dieser Werke markiert. Nach den Partiten, die sie 2009 aufgenommen hat, lässt Midori Seiler, nicht zu verwechseln mit dem ehemaligen Geigenwunderkind Midori, die drei Sonaten folgen. Anders als die Partiten, die einer Suite gleich eine Reihe von Tanzsätzen aufeinander zueinander stellen, geben sich die Sonaten abstrakter; auf ein Präludium folgen jeweils eine Fuge, ein langsamer und ein abschliessender schneller Satz – die Herausforderungen sind hier noch einmal gesteigert.

Genius loci

Denn wie soll auf einer Geige, einem für Einstimmigkeit gedachten Instrument, eine drei- bis vierstimmige Fuge erklingen? Das ist genau das Problem. Um ihm beizukommen, suchte Midori Seiler die Nähe des Komponisten. Bach hat die Sonaten und Partiten für Violine solo in Köthen komponiert, wo er zwischen 1717 und 1723 im Dienst des Fürsten Leopold stand. Als Hofkapellmeister und Hofkammermusikdirektor hatte er ein Orchester mit bis zu siebzehn Mitgliedern zur Verfügung, unter ihnen erstklassige Solisten aus der kurz zuvor aufgelösten königlich preussischen Kapelle in Potsdam, die der Hof von Köthen übernommen hatte. Mit dabei war aber auch der ebenso begeisterte wie kundige Fürst – man stelle sich das vor: ein Fürst, der unter der Leitung eines seiner Diener musiziert… An der Spitze des Orchesters hatte Bach selbst die Geige in der Hand; er war beileibe nicht nur ein Virtuose an Tasteninstrumenten – und er wusste genau, was er tat, als er die Sonaten und Partiten komponierte.

So hat sich Midori Seiler für die Aufnahme der Sonaten erneut nach Köthen begeben, wo allerdings nicht ein sozusagen originaler, sondern vielmehr ein neuer, aber akustisch ausgezeichnet gelungener Konzertsaal zur Verfügung stand. Dass ihr Blick, wenn sie denn aufgeschaut habe, auf die Wirkungsstätte Bachs gefallen sei, habe ihr viel bedeutet, betont die Geigerin im Booklet. Fast noch wichtiger dürfte die Mitwirkung von Ines Kammann gewesen sein. Der Tonmeisterin ist es nämlich gelungen, das Instrument äusserst präsent erscheinen zu lassen, ohne dem Zuhörer den Eindruck zu vermitteln, er habe sein Ohr direkt am Steg plaziert. Das Räumliche wirkt vielmehr geschickt in den Klangeindruck integriert, so dass sich im Zuhören jene Weite ergibt, welche die gebrochene Mehrstimmigkeit und die vorgespiegelte Polyphonie verlangen.

Vor allem aber nimmt Midori Seiler für ihre Deutung der Solosonaten Bachs die Bedingungen ernst, die zur Entstehungszeit der Komposition geherrscht haben. Ihr Instrument ist eine Geige von Andrea Guarneri, des Grossvaters des berühmten Guarneri del Gesù, von zirka 1680. Bespannt ist sie, wie es damals üblich war, mit Darmsaiten, was spieltechnisch zusätzliche Anforderungen stellt, aber der klanglichen Wärme förderlich ist. Und gestrichen wird das Instrument mit einem Bogen des Berliner Geigenbauers Bastian Muthesius, der einem barocken Bogen nachgebildet ist und darum die Mehrstimmigkeit etwas weniger schwer verwirklichen lässt als mit einem der heute üblichen Bögen. Aus all dem ergibt sich ein Klang, der in der Höhe runde Fülle verbreitet und in der Tiefe zu samtener Opulenz findet. Auffällig ist dabei das leicht nasale Timbre, das die Geige bisweilen wie eine Leier klingen lässt.

Das Heute im Gestern

Nicht zuletzt gelten für Midori Seiler, die neben der solistischen Tätigkeit in Originalklangensembles wie der Akademie für alte Musik Berlin und der von Jos van Immerseel geleiteten Anima Eterna in Brügge als Konzertmeisterin wirkt, die Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis. Das Vibrato bildet nicht die Grundlage des Spiels, sondern wird äusserst sparsam als Verzierung eingesetzt; die von Bach sehr detailliert vorgegebenen Phrasierungen werden akribisch umgesetzt. Sehr bewusst wird auch mit der Länge der Töne gearbeitet; damit werden die Gewichte zwischen den starken und den schwachen Taktteilen verteilt, so dass den musikalischen Verläufen jeder Anflug von Flächigkeit fehlt. Von Bedeutung ist schliesslich die Tatsache, dass Midori Seiler die Sonaten Bachs auf dem barocken Kammerton von 415 Hertz für a’ spielt, also einen Halbton tiefer als heute üblich. Für die klangliche Pracht, die in dieser Aufnahme herrscht, ist das durchaus von Belang.

Unterstützung findet die klangliche Sinnlichkeit dadurch, dass sich Midori Seiler alle Zeit nimmt, die Gesten auszuspielen. Während andere Geiger den über zwei Oktaven gespannten g-moll-Akkord, mit dem die erste Sonate anhebt, in einem raschen Arpeggio hinstellen, lässt ihn Midori Seiler ganz ruhig aus dem Grundton heraus erwachsen. Viel, aber stets kontrollierte Bewegung herrscht bei ihr in diesem Adagio, das Geschehen erhält dadurch seine ganz eigene Geschmeidigkeit. Dann aber die Fuge. Spritzig, in klarer Artikulation nimmt sie das Thema, geschmeidig arpeggiert sie die Akkorde – und bald hat man vergessen, dass dieses kontrapunktische Meisterwerk von einer Violine allein vorgetragen wird. Implizite, nämlich durch Einstimmigkeit erzeugte Mehrstimmigkeit findet sich auch im abschliessenden Presto, in dem es Midori Seiler weder an Temperament noch an Virtuosität fehlt.

Den Höhepunkt dieser CD-Neuerscheinung bietet jedoch die dritte Sonate. Sie steht in C-dur, erweitert aber schon im eröffnenden Adagio den tonartlichen Raum ganz unerhört – und wie die Geigerin das mit Spannung erfüllt, zeugt von Durchdringung des Textes wie von Identifikation mit ihm. Erst recht gilt das für die riesige, eine knappe Viertelstunde währende Fuge, in der die Verbindung von konstruktivem Denken und klangsinnlicher Wirkung, wie sie für Bachs Handschrift kennzeichnend ist, zu voller Erfüllung kommt. Können, Wissen und Einfühlung finden hier eine Verbindung von vibrierender Eindrücklichkeit. Den einzig richtigen Weg zu dieser Musik gibt es nicht, auch nicht für den Interpreten, der sich der historisch informierten Aufführungspraxis verschrieben hat. Dass der Blick zurück aber ein ganz besonderes Heute entstehen lässt, ist an dieser Einspielung einmal mehr zu erfahren.

Bachs Johannes-Passion mit René Jacobs

 

Peter Hagmann

Bewegend gegenwärtig

Eine Neuaufnahme von Bachs Johannes-Passion mit dem Dirigenten René Jacobs

 

Einmal mehr gibt es viel zu erleben, viel zu bedenken und viel zu reden bei der neuen CD-Publikation mit dem Dirigenten René Jacobs. Drei Jahre nach der ebenso speziellen wie berührenden Einspielung von Bachs Matthäus-Passion folgt nun die Johannes-Passion – und dies unter denselben Voraussetzungen. Wieder ist der instrumentale Teil einem Spezialensemble aus dem Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis anvertraut, der Akademie für alte Musik Berlin, die auf Instrumenten aus dem 18. Jahrhundert (oder den entsprechenden Kopien) und einen Halbton tiefer als heute üblich spielt. Umgekehrt sind für die vokale Seite wieder Kräfte beigezogen, die nicht dem Bereich der historischen Praxis angehören. Der Rias-Kammerchor ist eine Formation, die mit professionell ausgebildeten Sängern besetzt und in allen Bereichen der Repertoires tätig ist; und in den Solopartien sind Sänger mit dabei, die keineswegs als Spezialisten für alte Musik bekannt sind.

Der gemischte Stil

Mag sein, dass damit auch für die Musik Johann Sebastian Bachs jene Verbindung von allgemeiner und spezieller Praxis gefördert werden soll, die in anderen Bereichen des Repertoires üblich geworden ist. Anders als bei Bach haben sich bei Mozart und Beethoven, ja selbst bei Brahms und Bruckner die Spielweisen längst durchdrungen. Tatsächlich gehört es für Interpreten jüngerer Generation ganz selbstverständlich dazu, sich im Bereich der historisch informierten Praxis auszukennen. Ein Dirigent wie Pablo Heras-Casado widmet sich neuer Musik am Pult des Lucerne Festival Academy Orchestra ebenso kundig, wie er mit dem Balthasar-Neumann-Ensemble ein Magnificat von Michael Praetorius erarbeitet oder mit dem Freiburger Barockorchester Sinfonien von Mendelssohn aufnimmt. Und eine Sängerin wie die Sopranistin Anna Prohaska brilliert mit barocken Koloraturen nicht weniger als mit den halsbrecherischen Sprüngen der Musik Luigi Nonos. Die Polarität zwischen den Positionen, die noch in jüngerer Vergangenheit ausgeprägt und durchaus emotional gepflegt wurde, scheint immer mehr einer Art gemischten Stils Platz zu machen.

Indessen herrscht auch in diesem gemischten Stil hohes Bewusstsein für das interpretatorische Tun – die neue Aufnahme von Bachs Johannes-Passion zeigt das sehr schön. René Jacobs reflektiert zum Beispiel die Fragen der Besetzung so eindringlich, wie es ein Dirigent von Format tun muss. Von der rein solistischen Besetzung, für die sich der amerikanische Musikforscher und Dirigent Joshua Rifkin aufgrund seiner Deutung der Quellen in den 1980er Jahren stark gemacht hat, hält Jacobs nichts. Er geht vielmehr von jener Eingabe Bachs an den Rat der Stadt Leipzig aus, in welcher der Thomaskantor vier Sänger pro Stimme als Minimum bezeichnet, deren fünf dagegen als Ideal. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es in jeder Stimme einen Konzertisten sowie eine Gruppe von drei bis vier Ripienisten gegeben hat, weil nämlich der Konzertist die Soli sang und er bei den Chören durch die Ripienisten unterstützt wurde. So hält es John Eliot Gardiner mit seinem spezialisierten Elitechor aus London – und René Jacobs versucht dasselbe nun mit Sängerinnen und Sängern herkömmlicher Ästhetik.

Der Chor ist mit fünf Mitwirkenden pro Stimme besetzt, einem Solisten als Konzertisten und vier Mitgliedern des Rias-Kammerchors als Ripienisten. So wirken Sunhae Im mit ihrem leichten, leuchtenden Sopran, der Tenor Sebastian Kohlhepp und Johannes Weisser mit seinem kernigen Bass als Christus solistisch – und zugleich nehmen sie ihre Individualität immer wieder zurück, um zusammen mit den Ripienisten den Chor zu bilden. Speziell ist das für Benno Schachtner, der einen klar zeichnenden Altus einbringt, sich dann aber mit vier Altistinnen zusammenfinden muss. Dazu kommt nun aber eine weitere Verstärkung aus den Reihen des Rias-Kammerchors, und zwar werden fallweise nochmals 21 Sänger beigezogen – dies für die Choräle, die in dieser Aufnahme, wie René Jacobs im Booklet erläutert, klingen sollen, als seien sie von der Gemeinde gesungen. Das alles ergibt ein vokal äusserst vielschichtiges Bild und eine Lebendigkeit, die jenseits jeder opernhafter Attitüde das düstere Geschehen von Bachs Johannes-Passion überaus plastisch fassbar werden lässt.

Die Reize des Basso continuo

Unterstützt wird das durch die Phantasie, mit der Jacobs das Instrumentale einsetzt. Klein besetzt ist die Akademie für alte Musik Berlin, aber sie bringt unerhört Farbe in den musikalischen Verlauf. Zuallererst dadurch, dass der Basso continuo nicht durch ein einzelnes Cello und ein kleines Portativ zwinglianisch bescheiden gehalten ist. Er ist vielmehr – René Jacobs liebt den Generalbass, das zeigt sich bis hin zu seinen Aufführungen von Opern Mozarts – äusserst reich besetzt mit Orgel, Cembalo und Laute, mit Violoncello, Kontrabass und bisweilen sogar mit Kontrafagott sowie mit einer Gambe. Dies letztere, die Mitwirkung einer die Verläufe frei umspielenden, zudem sehr charakteristisch klingenden Gambe, erinnert rührend an die Anfänge der Wiederentdeckung Bachs im 19. Jahrhundert, war man damals doch der Auffassung, dass die Harmonisierung der Basslinie nicht doch ein Klavier (das Cembalo war noch nicht wieder in Gebrauch), sondern durch einen Gambenconsort auszuführen sei.

Das alles kommt dank der hervorragenden Aufnahmetechnik, die im Teldex-Studio in Berlin gepflegt wird, zu bester Wirkung. Gemeinsam mit Jacobs wurde eine Aufstellung der Mitwirkenden im Studio eingerichtet, die dem Chor bei ungeschmälerter Präsenz des Orchesters ein hohes Mass an Textverständlichkeit ermöglicht. Auch die verschiedenen Dichtegrade in den Chören und den Chorälen zwischen rein solistischer und mehrfach verstärkter Besetzung lässt sich ausgezeichnet nachvollziehen – besser jedenfalls als in der Aufnahme der Matthäus-Passion. Und nicht zuletzt scheint im Anhang zur Aufnahme, wo zusätzlich alternative Fassungen einzelner Nummern eingespielt sind, die komplexe Entstehungsgeschichte von Bach Johannes-Passion auf. Die bewusste Begegnung mit dem Notentext, der ja sein eigenes Leben wie sein eigenes Nachleben hat, gehört zu den Errungenschaften der historisch informierten Aufführungspraxis. Wenn sie sich mit derart vitaler Gegenwärtigkeit verbindet, wie es in dieser Aufnahme der Johannes-Passion geschieht, darf von einem Glücksfall die Rede sein.

Von Richter zu Harnoncourt

 

Peter Hagmann

Sinn und Gewinn der Klangrede

Bachs Weihnachtsoratorium gestern und heute

 

Weihnachten naht, und mit ihm das Weihnachtsoratorium. Jene von Johann Sebastian Bach aus sechs Kantaten zusammengestellte Werkfolge für die Zeit zwischen dem Weihnachtstag und dem Dreikönigstag. Wer das Weihnachtsoratorium in diesen Tagen nicht im Konzert hören kann, führt es sich vielleicht mit Hilfe einer Aufnahme zu Gemüte – ich wenigstens tue das. Und in der Regel entscheide ich mich für den bei der Deutschen Harmonia Mundi erschienenen Mitschnitt zweier Konzerte, die Nikolaus Harnoncourt Anfang Dezember 2006 und Mitte Januar 2007 im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins dirigiert hat. Mit von der Partie waren dort sein Freundeskreis, wie er sich im Concentus Musicus Wien jeweils versammelt, der Arnold Schönberg-Chor Wien und ein erlesenes Solistenquartett mit Christine Schäfer (Sopran), Bernarda Fink (Alt), Werner Güra (Tenor) sowie Gerald Finley (Bass) für die erste Hälfte und Christian Gerhaher für die zweite. Die Aufnahme hat bei mir Kultstatus.

Früher war das anders. Vor einem halben Jahrhundert war es eine ganz andere Aufnahme, die diese Position einnahm – jene mit Karl Richter, die 1965 im Münchner Herkules-Saal für die Archiv-Produktion der Deutschen Grammophon entstanden ist. Auch dort war ein Kreis äusserst prominenter Vokalsolisten am Werk, nämlich Gundula Janowitz (Sopran), Christa Ludwig (Alt), Fritz Wunderlich (Tenor) und Franz Crass (Bass). Und auch dort waren mit dem Münchner Bach-Chor und dem Münchner Bach-Orchester Stammkräfte versammelt. Karl Richter, damals noch nicht vierzig Jahre alt, hatte sich als Organist, Cembalist und Dirigent schon eine bemerkenswerte Position erarbeitet und galt als eine Autorität auf dem Gebiet der Bach-Interpretation. Als eine nicht ganz unbestrittene Autorität freilich, denn etwas weiter östlich, in Wien, regte sich Widerstand gegen die Art und Weise, in der Richter die Musik Bachs erklingen liess. Es waren der Concentus Musicus Wien und sein Leiter Nikolaus Harnoncourt, die aufbegehrten. Und einen ganz anderen Zugang propagierten.

Jetzt, da Harnoncourt, zehn Tage ist es her, seinen Rückzug vom Konzertpodium bekannt gegeben hat, ist vielleicht der Moment, innezuhalten und darüber nachzudenken, was in den sechs Jahrzehnten seit der Gründung des Concentus Musicus Wien geschehen ist. Die beiden Aufnahmen von Bachs Weihnachtsoratorium laden dazu ein. Und der Vergleich macht deutlich, dass Musik – auch die Kunstmusik, die gerne als museal empfunden wird – eine höchst lebendige, stetem Wandel unterworfene Erscheinung ist. Wer von Karl Richter her zu Nikolaus Harnoncourt kommt oder umgekehrt von Nikolaus Harnoncourt zu Karl Richter zurückgeht, kann das in geradezu drastischer Weise erleben. Nicht dass das Wirken Richters etwas Falsches oder etwas Überholtes an sich hätte, keineswegs. Die Konfrontation mit den Auffassungen Harnoncourts macht jedoch deutlich, in welchem Mass musikalische Interpretation ihrer Zeit verpflichtet ist. Mit dem Vergehen der Zeit also veraltet und zugleich als dokumentierter Ausdruck ihrer Zeit eine ganz eigene Gültigkeit bewahrt.

Das ist keine Frage des Instrumentariums und des Stimmtons. Der Concentus Musicus Wien verwendet Instrumente aus der Entstehungszeit der gespielten Kompositionen oder entsprechende Kopien, und er agiert einen halben Ton tiefer, als es der heute übliche Stimmton mit dem a’ auf 440 Hertz (oder etwas mehr) anzeigt. Aber das ist nicht das Wesentliche. Im Vokalen zeigt es sich besonders deutlich. Der Arnold Schönberg-Chor, der mit Harnoncourt zusammenarbeitet, ist kein professionelles Ensemble wie etwa der von John Eliot Gardiner gegründete Monteverdi Choir, und er ist nicht auf die Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis eingeschworen. Und anders als beispielsweise bei William Christie und Les Arts Florissants entstammen die Vokalsolisten Harnoncourts nicht der spezialisierten Szene, sie stehen vielmehr in einer allgemeinen Weise für die Gesangskunst von heute. Dennoch unterscheiden sich die beiden Aufnahmen wie Tag und Nacht.

Der Grund dafür ist jener Kern der historisch informierten Aufführungspraxis, den Harnoncourt die Klangrede genannt hat. Barockmusik, das hat ihm das langjährige, intensive Studium der aufführungspraktischen Quellen jener Zeit zu erkennen gegeben, basiert auf Formeln, die mit der Sprache verbunden sind – eine Tatsache, die weit über ihre Zeit hinaus wirksam war, ja eigentlich bis heute Gültigkeit besitzt: Musik als eine höhere Art Sprache. Damals wie heute versteht der kundige Hörer sogleich, was eine absteigende Folge von Halbtonschritten bedeutet; es ist der «passus duriusculus», der für Trauer steht. Und wie die Sprache, kennt auch die Musik Hebungen und Senkungen, längere und kürzere Töne – und das, auch wenn die Notenzeichen genau gleich aussehen: Es ist die Position des einzelnen Tons im Takt, welche die Länge mitbestimmt. Darum klingen, wenn historisch informiert gespielt und gesungen wird, gleiche Töne nie gleich lang, was unter anderem zu jener erhöhten Lebendigkeit führt, die man an der historischen Praxis schätzt.

Der Eingangschor zur ersten Kantate des Weihnachtsoratoriums lässt es auf Anhieb hören. Er beginnt mit drei Schlägen der Pauke, drei gleich hohen Achteln in einem Drei-Achtel-Takt, die auf eine Eins im nächsten Tag hinführen und in einem absteigenden Quartschritt auf der Zwei dieses zweiten Taktes enden. Bei Karl Richter klingt dieser kleine, aber überaus wichtige Verlauf, ebenmässig – so wie die Musik Bachs als eine gleichsam objektivierte Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg neu entdeckt worden ist. Ganz anders Nikolaus Harnoncourt, dessen Pauker die drei wiederholten Achtel in der Lautstärke ansteigen und auf dem vierten Achtel kulminieren lässt, was gleich zu Beginn Entwicklung, Atmen, Leben offenbart.

In gleicher Weise manifestieren sich gut dreissig Takte später Unterschiede im Chor. Der Text heisst dort: «Jauchzet, frohlocket! Auf, preiset die Tage!» Bei Harnoncourt wird musikalisch nachgebildet, was sprachlich vorgegeben und in den Drei-Achtel-Takt eingefügt ist. Gesungen wird also ungefähr: «Jáuchzèt, frohlóckèt! Auf, préisèt die Tágè!» – denn im Drei-Achtel-Takt ist der erste Schlag der stärkste, der zweite der schwächste und der dritte ein wieder etwas stärkerer. Bei Karl Richter dagegen herrscht auch hier Ebenmässigkeit, ja das Achtel auf der letzten Silbe von «frohlocket» und «Tage» wird bisweilen fast zu einem Viertel: «frohlockeet» und «Tagee». Wer spricht so? Nur Musiker tun das, wenn sie musizieren, weil dieses Sitzenbleiben auf dem zweiten Achtel des Drei-Achtel-Takts einer gängigen, in der Oper besonders verbreiteten Unsitte entspricht. Sie ist leider noch keineswegs aus den Köpfen verschwunden. Aber immerhin gibt es inzwischen, zum Beispiel bei den Lehrkräften an den Musikhochschulen, ein gewisses Problembewusstsein.

Das ist jetzt vielleicht mit der Lupe auf die Einzelheiten geblickt, aber es sind genau Details solcher Art, die anzeigen, wie sich die musikalische Interpretation weiterentwickelt hat. Darum lasse ich bei aller Verehrung für Karl Richter und sein unschätzbares Wirken die von ihm dirigierte Aufnahme im CD-Gestell. Ich lege die Einspielung mit Nikolaus Harnoncourt ein und bin im Zuhören dankbar, dass ich den epochalen Einschnitt, den dieser grossartige Musiker unserer Zeit beschert hat, mit eigenen Ohren miterleben durfte.

Gardiner dirigiert Bach

 

Peter Hagmann

Klangsprache schönster Art

Eine erstklassige Aufnahme von Bachs h-moll-Messe

 

In der diesjährigen Osterausgabe des Lucerne Festival bildete sie einen sensationellen Höhepunkt, jetzt ist die h-moll-Messe Johann Sebastian Bachs in der Lesart von John Eliot Gardiner als CD-Aufnahme auf den Markt gekommen (Soli Deo Gloria 722). Was sich im Konzert als Sternstunde der musikalischen Interpretation eingeprägt hat, lässt sich nun medial nachvollziehen. Das ist nicht das Gleiche, aber immerhin nicht wenig, in diesem Fall sogar sehr viel. Denn hier kommt ein bald dreihundert Jahre altes Werk von höchstem intellektuellem wie kompositionstechnischem Anspruch zu einer Gegenwärtigkeit und einer sinnlichen Wirkung, wie es sich erregender kaum denken lässt. Und das aufgrund der klaren, reichen Vorstellung, die sich der Dirigent als Interpret erarbeitet hat: Auf höchstem künstlerischem Niveau lässt er das Werk in einem bruchlosen Spannungsbogen vorbeiziehen und zu einer Erzählung eigener Art werden.

John Eliot Gardiner, eine Galionsfigur der historisch informierten Aufführungspraxis wie Nikolaus Harnoncourt, kennt die Quellen und weiss, was die Entstehungszeit der Komposition vom Aufführungsstil fordert. Als Orchester sind die English Baroque Soloists nicht solistisch besetzt, sie bestehen aber aus grossartigen Solisten, wie die vielen Arien mit obligaten Instrumenten bewiesen. Dasselbe gilt für den nun wirklich professionell ausgebildeten Monteverdi Choir, aus dessen Reihen sich die acht mit solistischen Aufgaben betrauten Sänger rekrutieren. Was dieses dreissig Mitglieder zählende Ensemble an Strahlkraft wie an Beweglichkeit hören lässt, darf als ein Wunder bezeichnet werden. Der Verzicht auf das Vibrato im Verbund und dessen sehr bewusster Einsatz als Verzierung im Solo, die Reinheit der Intonation und der vokale Farbenreichtum – das führt hier zu einer Plastizität der Strukturen und einer Fasslichkeit des Ausdrucks, die beim Zuhören ganz ausserordentliche Schwingungen erzeugen.

Die vokale Ästhetik ist eine ganz andere als in herkömmlichen Aufführungen; sie orientiert sich nicht ausschliesslich, aber vielleicht doch vornehmlich am Instrumentalen. Im Vordergrund stehen also die klare Linienführung und die prononcierte Artikulation. Betont die Arbeit mit den Gewichtungen im Taktverlauf sowie mit der Unterscheidung zwischen dem Gebundenen und dem Gestossenen den Sprachcharakter der Musik, so fördert die schlanke und gerade Tongebung die Klarheit der Polyphonie. Wenn die Musik Bachs zu sprechen beginnt, und wenn dieses Sprechen in durchsichtiger Vielstimmigkeit geschieht, ist man denkbar weit entfernt vom pastosen Klang des gross besetzten Bürgerchors (gegen den hiermit rein gar nichts gesagt sei) und beglückend nah an den Intentionen des Komponisten, so wie sie sich heute erkennen lassen.

Es beginnt schon mit jenem h-moll-Akkord in Terzlage, der das Werk eröffnet. Satt und prächtig klingt er, zugleich aber rein und frei von jeder Zutat. Das Instrumentale verbindet sich nahtlos mit dem Vokalen, und die Orgel, die zusammen mit dem Cembalo die harmonische Ausführung des Generalbasses besorgt, setzt mit ihrer Mixtur eine glänzende Krone auf das Geschehen. Gewiss, die eine oder andere Artikulation klingt demonstrativ – fast wie zu jenen längst vergangenen Zeiten, da Vertreter der historischen Praxis der Welt mit langem Zeigefinger weis machen wollte, wie die Musik «richtig» zu klingen habe. Das lässt sich umso eher in Kauf nehmen, als es selten geschieht und als Manier abgetan werden kann. Weitaus wichtiger ist die gestische, ja mehr noch: die geradezu körperliche Energie, die von den Chorsätzen ausgeht, seien sie homophon oder polyphon gesetzt. In den solistischen Partien kommt sie ohnehin ganz wunderbar zur Erfüllung. «Das grösste musikalische Kunstwerk aller Zeiten und Völker» nannte der Zürcher Komponist und Musikverleger Hans Georg Nägeli Bachs h-moll-Messe. Mit seiner in langen Jahren gewachsenen Interpretation schliesst sich John Eliot Gardiner dieser Umschreibung an.

Lucerne Festival am Piano (1)

 

Peter Hagmann

Konstruktive Kunst, vitale Erzählung

András Schiff spielt Bachs «Goldberg-Variationen»

 

Ob man Musik verstehen müsse, um sie geniessen zu können – das ist in diesem Fall mehr als anderswo die Frage. Bei den «Goldberg-Variationen» Johann Sebastian Bachs liegt der Reiz ja darin, dass die insgesamt 32 Teile über einen stets gleichbleibenden Bass von 32 Tönen eine Summe dessen bieten, was in der Mitte des 18. Jahrhunderts als späte Frucht langer Entwicklungen an satztechnischem Raffinement möglich war. An höchststehender musikalischer Konstruktion also, die man umso mehr bewundern kann, je tiefer man in ihre Geheimnisse eindringt. Das ist der Grund dafür, dass András Schiff, wenn er die «Goldberg-Variationen» vorträgt, den Abend bisweilen zweiteilt. In einem ersten Teil führt er erläuternd, nämlich sprechend und spielend, durch die Komposition –wie er es im Ansatz schon im Booklet zu seiner CD-Aufnahme von 2001 getan hat. Im zweiten Teil des Abends trägt er dann das Werk vor. So hat er es etwa in der Alten Oper Frankfurt getan, die den «Goldberg-Variationen» vor gut zwei Monaten ein ganzes zweiwöchiges Festival gewidmet haben.

Vielleicht wäre die Eröffnung der Klavierwoche, die das Lucerne Festival wie jeden Herbst zur Zeit durchführt, noch eine Spur konkreter geworden, wenn der konstruktive Reichtum der «Goldberg-Variationen» etwas direkter ans Licht gehoben worden wäre; denkbar, dass eine stichwortartige Verlaufsskizze dienlich gewesen wäre – dies nicht anstelle von, sondern als Ergänzung zu dem wiederum sehr schönen Text von Wolfgang Stähr im Programmheft. Aber möglicherweise hat das Festival auch Recht, wenn es András Schiff die «Goldberg-Variationen» ohne Vermittlung durch das Wort darbieten lässt. Und ihm dafür die Gelegenheit bietet, vor den 75 Minuten des zweiten Teils eine Ergänzung zu bieten, die in ihrer Weise einen aufschlussreichen Horizont bildet. Schiff spielte nämlich das Italienische Konzert in F-dur und die Französische Ouvertüre in h-moll, mithin den zweiten Teil der von Bach selbst zusammengestellten und zum Druck gebrachten «Klavier-Übung». Ihren vierten Teil bilden wiederum die «Goldberg-Variationen» – in denen vieles anklingt, was im Italienischen Konzert und in der Französischen Ouvertüre prächtig vorgeformt ist.

Wenn András Schiff die «Goldberg-Variationen» spielt, sein erklärtes Lieblingsstück, wird das mehr als ein Konzert, es gerät zu einem gemeinschaftlichen Erleben mit einem Zug ins Spirituelle. Nicht zuletzt geht das auf die unglaubliche Verbundenheit des Interpreten mit der von ihm dargebrachten Musik zurück – nicht nur auf seine Identifikation, nicht nur auf seine Einlässlichkeit im Moment, sondern vor allem auf das Mass, in dem er sich diesen unvergleichlichen Notentext zu eigen gemacht hat. In jedem Winkel dieser klingenden Kathedrale kennt er sich aus – inzwischen so gut, dass bisweilen die Befürchtung aufkommt, das Werk könnte unter seinen Händen doch zum Denkmal und zum Bildungsgut erstarren. Indes verfügt András Schiff noch über einen derartigen Vorrat an Phantasie, Spontaneität und Entflammbarkeit, dass man ihm hingerissen auf dem Spaziergang durch diese zehn Mal drei Veränderungen über die zu Beginn und am Ende erklingende Aria folgt.

Diese Aria gibt er mit jener ausdrucksvollen Einfachheit, wie sie nur ihm zu Gebote steht. Sie ist in der Oberstimme ja schon sehr verziert, was das Ohr gefangen nimmt – und was der Interpret nicht nur zulässt, sondern ausdrücklich fördert: durch seine Kunst, die Verzierungen flexibel in den Verlauf einzubauen und sie in der Ausformung subtil zu nuancieren. Im jeweils zweiten Durchgang der beiden Teile – Schiff lässt keine der Wiederholungen aus – hebt er die Dynamik der linken Hand jedoch um ein Weniges an, auf dass der Bass als das Fundament des Ganzen ins Bewusstsein rücke; einleuchtend, geschickt und fern jeder Belehrung ist das. Ebenso diskret, in der Wirkung aber noch weit frappierender die Massnahme, die Schiff am Ende ergreift, wenn die Aria ein zweites Mal erklingt und den Bogen der Variationen zum Abschluss bringt. Im Gegensatz zu der üblichen Praxis, dass ein Abschnitt eines Werks im zweiten Durchgang ausgeziert wird, lässt er hier in den Wiederholungen alle nicht explizit niedergeschriebenen Verzierungen weg, weshalb die Aria zum Schluss bar jeder Verschönerung, gleichsam in der Urgestalt erscheint. Das war stark als Einfall, aber auch als Ausdruck jener Symmetrie, die Bach, dem vom Barock geprägten Menschen, so viel bedeutete.

In seiner Einfachheit bildete das den krönenden Abschluss einer ganzen Reihe interpretatorischer Glanzlichter. Das Laufwerk der Sechzehntelketten in den vom Geist der Toccata erfüllten Stücke nahm András Schiff mit ausgeprägter Lust an der blitzenden Geläufigkeit und am virtuosen Effekt der gekreuzten Hände. Wobei hier bisweilen Vorbehalte aufkamen, weil da und dort die Erinnerung an den Nähmaschinen-Bach der Nachkriegszeit nicht zu unterdrücken war. In den imitierenden Stücken wiederum hob der Pianist die Kanonbildungen ohne ein Übermass an Unterstreichung hervor; wer wollte – und nicht alle wollten, wie Abgänge aus dem Publikum erwiesen –, konnte die Reden und Gegenreden der sich in unterschiedlichen Abständen verfolgenden Stimmen sehr genau nachvollziehen. Höhepunkte stellten aber jene drei Variationen in g-moll dar, die als einzige Teile von dem sonst durchgehenden G-dur abweichen. In der ersten Variation dieser Art, der in der Mitte stehenden Nummer 15 mit ihrem Kanon im Abstand einer Quarte, zeigte Schiff, wie sehr Bach, der bei aller rauschenden Sinnlichkeit doch klar im konstruktiven Denken verankerte Kontrapunktiker, an der Weiterung der Musik in die Bereiche des Empfindsamen Anteil nahm.

Das Ganze kam in jenem hellen Ton daher, den András Schiff seinem Flügel entlockt, und in der leuchtenden Transparenz, die sein leichter, auch im Nonlegato geschmeidiger Anschlag erzeugt. Bei Schiff kommt die Musik Bachs zu einer sprechenden Fasslichkeit ganz eigener Art, und das seit langem, seit der Aufnahme der zwei- und dreistimmigen Inventionen (1983) und der ersten Einspielung des Wohltemperierten Klaviers (1986). Zugleich herrschen aber eine Fokussierung auf die Musik selbst und ein (natürlich nur scheinbares) Zurücktreten des Interpreten als deutendes Subjekt, dass man geradezu von einem modernen Ansatz sprechen möchte. Unter den Händen von András Schiff löst sich dieser Widerspruch in einer packenden Synthese auf. Die Luzerner «Goldberg-Variationen» sprachen davon – jenseits der Frage nach dem Verhältnis zwischen Verstehen und Geniessen.