Wunderwerke

Das Scelsi-Festival und das Arditti Quartet in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Wenn eine Schweizer Stadt als Musikstadt bezeichnet werden kann, dann ist es – nein, nicht Zürich, sondern Basel. So gedacht diese Woche, an deren Anfang das Arditti Quartet bei der Gesellschaft für Kammermusik gastierte und an deren Ende das anregungsreiche, mit Musikerinnen und Musikern der Extraklasse besetzte Scelsi-Festival in Gang kam.

Nicht gerade seit Menschengedenken, aber doch seit einem halben Jahrhundert besteht nun das von Irvine Arditti im Alter von 21 Jahren gegründete Quartett, das seinen Namen trägt und dessen rascher Aufstieg dem Geiger erlaubte, seine Tätigkeit als Konzertmeister beim London Symphony Orchestra 1980 aufzugeben. Seit diversen Häutungen spielt es seit 2006 in der bis heute gültigen Besetzung mit Irvine Arditti als klar erkennbarem Primarius, mit Ashot Sarkissian an der zweiten Geige und Ralf Ehlers an der Bratsche sowie Lucas Fels am Cello. Alle vier weisen sie scharfe Profile auf, zugleich bilden sie aber ein perfekt aufeinander abgestimmtes Ensemble – von besonderer Bedeutung angesichts des Repertoires von den Klassikern der Moderne bis zu den allerneusten Schöpfungen. Ein Buch der Rekorde bildet die Geschichte des Ensembles. Die Rede ist von mehreren hundert Streichquartetten, die für das Quartett komponiert worden sind, von über zweihundert CD-Produktionen, von Preisen bis hin zum Ernst-von-Siemens-Musikpreis im Jahre 1999. In Basel, bei der Gesellschaft für Kammermusik, ist das Quartett seit seinem Debüt 1989 nicht weniger dreizehn Mal aufgetreten, und am Münsterplatz, in der Paul-Sacher-Stiftung, befindet sich das Archiv des Ensembles.

Nun also das Festkonzert zum Jubiläum des fünfzigjährigen Bestehens und der Auftakt zu einer ausgedehnten Tournee. Fünf Stücke standen auf dem Programm; sie sprachen von der einzigartigen Kontinuität und der unerhörten Vitalität einer Gattung, die gerne als elitär empfunden und in die Nische verbannt wird. Die Werkfolge zeigte ein packendes Panoptikum an Stilen. Den Anfang machte das erste Streichquartett des Briten Jonathan Harvey aus dem Jahre 1977, das vom Strukturdenken des ausklingenden Serialismus zeugt, doch nicht ohne Effekt bleibt. Für Schockmomente sorgte dann «Tetras» des griechischen Architekten und Komponisten Iannis Xenakis, ein wildes, unangepasstes, auch Geräuschklänge einbeziehendes Werk von 1983. Ganz anders «In the Realms oft he Unreal», ein von sehr persönlichem Ton lebendes, wohl auch biographisch geprägtes Werk der Österreicherin Olga Neuwirth von 2009. Nach der Pause als Uraufführung das siebte Streichquartett des 1957 geborenen Briten James Clarke; das kurze, kurzweilige Werk arbeitet mit wenigen kräftigen Strichen, die einen unwiderstehlich in Bann schlagen. Schliesslich «Grido», das dritte Streichquartett des bald neunzigjährigen Helmut Lachenmann, ein Klassiker des Repertoires von 2002, bei dem das Geräuschhafte subtil in den Klang eingebunden ist. Dass auch ein solches Programm auf Anklang stösst, erwies die Begeisterung des grossen Publikums im Hans-Huber-Saal des Basler Stadtcasinos.

Ein Jubiläum beging auch das Basler Scelsi-Festival. 2014 von der Pianistin und Komponistin Marianne Schroeder gemeinsam mit dem Schriftsteller Jürg Laederach gegründet und heute von einem Verein getragen, steht im Zeichen des italienischen Komponisten Giacinto Scelsi, deckt darüber hinaus aber einen weiten stilistischen Kreis neuer Musik ab. Dies genährt durch die lebenslangen, reichen Erfahrungen Marianne Schroeders als einer weitgereisten, mit den Exponenten der neuen Musik bestens vernetzten Künstlerin. Mehr als für die westeuropäischen Grossmeister wie Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen interessierte sie sich für Erscheinungen jenseits des Mainstreams.  Etwa für Galina Ustwolskaja, deren sechs Klaviersonaten, äusserst spezielle Musik, von ihr zu einer Zeit auf CD aufgenommen wurden, da die russische Komponistin noch zu den Geheimtipps gehörte. Eingespielt hat sie auch Werke von John Cage, mit dem sie intensiv zusammengearbeitet hat, von Morton Feldman – oder eben von Giacinto Scelsi, zu dem sie nach Rom gereist ist, um aus erster Hand Informationen zu dessen ebenfalls aussergewöhnlicher, wenn auch nicht unumstrittener Musik zu erhalten.

All diese Erfahrungen fliessen in das Basler Scelsi-Festival ein – der Eröffnungsabend führte es beispielhaft vor. Der Ort des Geschehens war das Kulturzentrum Don Bosco, eine ehemalige katholische Kirche, die mit viel architektonischem Geschick zu einer flexibel nutzbaren kulturellen Lokalität von starker atmosphärischer Ausstrahlung umgewandelt worden ist – ähnlich wie die evangelisch-reformierte Pauluskirche, die zu einem Zentrum der Chormusik geworden ist. Weit vorne im Kirchenraum, dem nach Paul Sacher benannten Konzertsaal, brachte die Klarinettistin und Komponistin Carlo Robinson Scelsis Solo-Stück «Ixor» (1956) zur Aufführung. Das war die Einleitung. Was folgte, war jedoch etwas ganz Anderes, nämlich ein Rezital des berühmten Organisten und Komponisten Zsigmond Szathmáry – denn tatsächlich ist in Don Bosco die Orgel erhalten geblieben. Und sie ist sehr valabel. Szathmáry begann mit «Harmonies», der Etüde Nr. 1 von György Ligeti aus dem Jahre 1967. Eine gleichsam stillstehende, schillernde Klangwelt tut sich hier auf, nie bekommt man die Orgel so zu hören: leise, fahle, mikrotonal gefärbte und darum eigenartig schwebende Klänge, die sich daraus ergeben, dass der Winddruck reduziert ist, die Register nur halb gezogen und die Tasten in differenzierter Weise bedient werden. Und zum Schluss die «Volumina», das berühmt-berüchtigte Stück Ligetis von 1961/62, das einen aus dem Nichts heraus mit einem von Armen und Füssen erzeugten Cluster im vollen Werk erschreckt und am Ende, wenn der Orgel mit einem hörbaren Knall die Luft abgestellt wird, in jämmerlichem Wimmern endet.

Dazwischen gab es, neben «In Nomine Lucis» von Scelsi, eine überraschende «Sonata da chiesa» von Hans Ulrich Lehmann und von Szathmáry selbst eine «Cadenza con ostinati», beides vom Organisten zusammen mit seiner Tochter Aniko Katharina Szathmáry an der Geige vorgetragen. Dann aber, nach der Pause, Arnold Schönberg – und nicht weniger als «Das Buch der hängenden Gärten» von 1909. Die Sopranistin Franziska Hirzel schlug sich fabelhaft; vorbildlich setzte sie auf die Gedichte Stefan Georges, liess sie in hohem Mass verständlich werden und erlaubte deren Umsetzung in musikalische Lineatur zu verfolgen. Für eine Überraschung, die stärker nicht hätte wirken können, sorgte jedoch die Klavierlegende Ursula Oppens, die eigens aus New York, wo sie soeben ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert hatte, nach Basel gekommen war. Ihre Körperhaltung war vom Alter gezeichnet, doch ihre Augen blitzen vor Vitalität, und was ihre Hände an den Tasten vollbrachten, war schlicht ein Wunder. Ein Wunder an manueller Sicherheit und an Gegenwärtigkeit, vor allem aber eines an klanglicher Schönheit – wann und wo lässt sich solches erleben? Beim Basler Scelsi-Festival eben.

Grenzüberschreitungen

Die Badenweiler Musiktage im Herbst 2018

 

Von Peter Hagmann

 

Badenweiler ist und bleibt die Reise wert. Im lieblichen Markgräflerland gelegen, einer südlich anmutenden Gegend mit herrlichen Weinen, nutzt der Kurort das Heilwasser, das auf den Anhöhen eines kleinen Seitentals zur Oberrheinischen Tiefebene entspringt. Vom Ortszentrum aus blickt man hinunter zum Rhein und hinüber ins Elsass, bei Föhn bis nach Mulhouse und Colmar. Da und dort stösst man im Ort auf den Namen des Schriftstellers René Schickele, eines deutschsprachigen Elsässers aus der ersten Hafte des 20. Jahrhunderts, der sich mit Weitblick jener kulturellen Schnittstelle zuwandte, von der die Gegend bestimmt wird. Und gleich denkt man an Colmar, wo bis heute Jean-Jacques Waltz dominiert, der zur gleichen Zeit wie Schickele unter dem Künstlernamen Hansi fürs Elsass stritt – allerdings für die französische Sache. Womit wir mittendrin wären in den Badenweiler Musiktagen.

Nämlich bei der Osmose zwischen dem Deutschen und dem Französischen, die seit jeher einen Grundpfeiler des kleinen, aber äusserst feinen Festivals für alte und neue Kammermusik bildet. Es war so bei Klaus Lauer, seinem Gründer und langjährigen Leiter. Und es bleibt so bei Lotte Thaler, die seit diesem Jahr die künstlerische Verantwortung für die inzwischen von der Thermenverwaltung der Stadt getragene, durch zahlreiche Sponsoren unterstützte Einrichtung trägt – dabei aber sehr persönlichen Akzente setzt. Diesen Herbst verwirklichte sich der Dialog zwischen den beiden Kulturkreisen in der Begegnung von Claude Debussy, der vor hundert Jahren gestorben ist, mit Bernd Alois Zimmermann, der ebenfalls vor einem Jahrhundert zur Welt gekommen ist.

Mit Jean-Efflam Bavouzet, einem ganz aussergewöhnlichen, hierzulande freilich wenig bekannten Pianisten aus Frankreich, erarbeitete Lotte Thaler ein überaus spannendes Programm, das neben dem zweiten Band der «Préludes» von Claude Debussy zwei Klaviersonaten von Joseph Haydn und dazu Debussys «Hommage à Haydn» sowie drei Stücke aus dessen späten Etüden enthielt. Gerade diese horribel schweren Stücke sind im Konzert so gut wie nie zu hören, Bavouzet bewältigte sie in bewundernswerter Bravour. Nicht weniger brillant meisterte er den zweiten Band der «Préludes», der ebenfalls weniger häufig auf den Programmen steht als der erste. Schon die technische Seite seines Spiels löste ungläubiges Staunen aus, erst recht gilt das für das von ihm erzeugte Farbenspektrum, das einen Klangrausch sondergleichen auslöste, und sein erzählerisches Temperament, das die bisweilen etwas distanziert wirkende Musik Debussys ganz nah an den Zuhörer heranbrachte.

Bernd Alois Zimmermann wiederum kam mit seinen «Monologen» für zwei Klaviere zu Wort, die das Klavierduo Andreas Grau und Götz Schumacher auf dem Programm hatten – einem Programm übrigens, das so beziehungsreich gestaltet war, wie es in Badenweiler Sitte ist. Gleichsam persönlich trat Zimmermann ins Licht bei einer Gesprächsveranstaltung zu dem dieses Jahr erschienenen Band «Con tutta forza», in dem Bettina Zimmermann ihren Vater porträtiert. So vielgestaltig wie das Buch, das mit Schilderungen der Autorin, mit Bildern aus dem Familienarchiv, Briefen und Erinnerungen von Weggefährten durch das Leben des Komponisten führt, so bewegt und bewegend war die Gesprächsrunde, bei der Lotte Thaler mit Bettina Zimmermann sprach und Rainer Peters zusammen mit der Autorin aus dem Buch vorlas. Dass über Musik kundig gesprochen, dass dieser Kunst durchaus aktiv verstehend begegnet werden kann, das hat diese Matinee in aller Eindringlichkeit fassbar gemacht.

Überhaupt nimmt – darin liegt eines der Kennzeichen des Festivals – das Nachdenken und Sprechen über die erklingende Musik in Badenweiler einen bedeutenden Stellenwert ein. Diesen Herbst zum Beispiel war Stefan Litwin zu Gast, der deutsche Pianist, der sich mit seinen Lecture Recitals einen Namen gemacht hat. Litwin hatte den Variationenzyklus «The People United Will Never Be Defeated» von Frederic Rzewski mitgebracht, den er im zweiten Teil seiner Matinee so souverän und so sprechend darbot, dass der Spannungsbogen über der knappen Stunde Musik in voller Kraft zur Geltung kam. Davor aber sprach Litwin über das, was er danach vorzutragen gewillt war – und er tat das in freier Rede, packend von A bis Z. Er ging auf die Entstehung des Zyklus ein, wies auf das politische Statement hin, das seine Uraufführung 1976 im Kontext der 200-Jahr-Feiern der USA abgab, und führte dann mit Hörbeispielen durch die 36 Variationen, die das chilenische Revolutionslied «El pueblo unido jamás será vencido» in postmoderner Vielfalt beleuchten. Kein Blatt nahm Litwin vor den Mund, als er die Umstände schilderte, deretwegen Sergio Ortega das von Rzewski verarbeitete Lied komponiert hat: die Wahl Salvador Allendes zum Staatspräsidenten Chiles 1970 und dessen von den USA betriebenen Sturz durch den in der Folge zum Diktator beförderten General Augusto Pinochet drei Jahre später. Mit Schaudern konnte man dabei an die heutigen Verhältnisse auf dem amerikanischen Kontinent denken.

Debussy, Zimmermann, Rzewski – das ist kein Zufall. Bei den Badenweiler Musiktagen hört die Musik nicht 1914 auf, sie geht in ungebrochener Kontinuität und aller Selbstverständlichkeit weiter bis in unsere Tage. Davon zeugte diesen Herbst der Abend mit dem Arditti String Quartet. Kompromisslos wiesen Irvine Arditti und Ashot Sarkissjan (Violinen), Ralf Ehlers auf seiner eigenhändig gebauten Viola und der Cellist Lucas Fels darauf hin, wie unbändig modern das frühe Streichquartett op. 3 (1910) von Alban Berg klingen kann. Im fünften Streichquartett Hans Werner Henzes fand sich dann auch die Quelle für das Motto dieses Badenweiler Herbstes; «Echos, Erinnerungen, ganz von fern» nennt sich der fünfte Satz dieses immer wieder erstaunlichen Werks. Ein Glanzlicht ergab sich jedoch durch familiäre Verbindungen, denn mit dem ganz ausgezeichneten Countertenor Jake Arditti gesellte sich der Sohn des Primarius zum Quartett. Und sang dort mit den «Canciones lunáticas» (2008/09) der Mexikanerin Hilda Paredes ein attraktives Werk seiner offenkundig herzlich geliebten Stiefmutter. Den Schluss machte «Cosa resta» für Streichquartett und Countertenor – bitte beachten Sie die Reihenfolge – von Salvatore Sciarrino, eine witzige, in die charakteristische Handschrift des Italieners gefasste Aufzählung der Gegenstände, die der Renaissance-Maler Andrea del Sarto bei seinem Tod hinterlassen haben soll.

War nicht Richard Strauss der Meinung, ein zünftiger Komponist müsse auch das Telephonbuch vertonen können? Wie auch immer, danach schritt man frohgemut zum weissen Wein, denn nach allen Abendkonzerten des Festivals schenkt einer der Winzer aus der Gegend eine Spezialität aus seinem Keller aus. Auch das gehört, natürlich, zu den Badenweiler Musiktagen.

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Die nächste Ausgabe der Badenweiler Musiktage findet vom 1. bis zum 4. Mai 2019 statt. «Frühling. Erwachen» heisst das Thema. Zur Eröffnung gibt es einen Liederabend mit dem Bariton Christian Gerhaher und dem Pianisten Gerold Huber. Das Béla-Quartett aus Lyon interpretiert unter anderem ein Streichquartett des Kölners Robert HP Platz, während der junge deutsche Pianist Frank Dupree etwa Werke von George Antheil spielt und sich das Boulanger-Trio zusammen mit dem Klarinettisten Kilian Herold einem rein französischen Programm widmet.

Bettina Zimmermann: «Con tutta forza». Bernd Alois Zimmermann – ein persönliches Portrait. Unter Mitwirkung von Rainer Peters. Wolke-Verlag, Hofheim 2018. 464 S., 34 Euro / 52 Franken.