Entdeckungsreisen bei und mit Mozart

Sonaten für Klavier und Violine mit Cédric Tiberghien und Alina Ibragimova

 

Von Peter Hagmann

 

Von Anne-Sophie Mutter gibt es eine schöne CD-Box mit Musik von Wolfgang Amadeus Mozart. Sie trägt den ebenfalls schönen Titel «Die Sonaten für Klavier und Violine». Allein, das ist ein Irrtum, lauten müsste der Titel nämlich «Sonaten für Klavier und Violine» – ohne den bestimmten Artikel. Die vierteilige Edition enthält 16 Stücke für diese Besetzung, wo es von Mozart doch deren 37 gibt. Die Besetzung immerhin, die wird richtig angegeben; die Sonaten sind tatsächlich für Klavier und Violine, nicht für Violine und Klavier geschrieben. Aber schon optisch, erst recht jedoch musikalisch dominiert die Geigerin das Album voll und ganz, während der originelle Lambert Orkis auch hier als ihr charmanter Begleiter im Hintergrund wirkt.

Obwohl die Box erst zehn Jahre ist, erscheint sie als Produkt einer vergangenen Zeit. Jedenfalls dann, wenn man sich den Aufnahmen der Mozart-Sonaten zuwendet, die Cédric Tiberghien und Alina Ibragimova derzeit auf CD publizieren. Hier geht es wirklich um «Die Sonaten für Klavier und Violine», denn die 31-jährige Russin und der zehn ältere Franzose haben alle Stücke Mozarts in dieser Gattung und für diese Besetzung im Blick. Auch die ganz frühen des komponierenden Wunderkinds von acht Jahren, die auf dem Titelblatt der (vom Vater eilig vorangetriebenen) Druckausgabe noch als Sonaten für Cembalo angezeigt werden, die mit Begleitung der Violine gespielt werden könnten. Das ist von hohem Reiz; in den sechs Sonaten KV 10 bis 15 zum Beispiel, 1764 entstanden, gibt es viel zu entdecken. Zum Beispiel die rasant aufsteigende Tonleiter des Klaviers, die sehr ungewöhnlich in die dreisätzige C-dur-Sonate KV 14 einführt, oder den Effekt eines Glockenspiels, den der Pianist im Trio zum abschliessenden Menuett dieser Sonate zu erzielen hat.

Überraschende Einfälle eines Kindes? Das Staunen erhöht sich, wenn diese Einfälle so hochstehend präsentiert werden, wie es hier geschieht. Zum Einsatz kommen Instrumente unserer Tage; Cédric Tiberghien sitzt an einem Steinway, Alina Ibragimova spielt auf einer Violine von Bellosio aus dem späten 18. Jahrhundert, wenn auch in heute üblicher Ausstattung. Was für die Wiedergabe von Musik Mozarts gilt, was also die historisch informierte Aufführungspraxis in den letzten Jahrzehnten ans Licht gebracht hat, das ist dem Duo aber völlig bewusst und wird von ihm auch auf dem «modernen» Instrumentarium ganz selbstverständlich eingesetzt – mit Gewinn, kommt es doch weniger auf das Instrument an sich als auf den Geist an, mit dem das Instrument behandelt wird.

Ausgezeichnet gelöst ist etwa das heikle Problem der Balance zwischen dem Klavierpart, der hier in unterschiedlichster Weise die Hauptsache darstellt, und dem der Geige, die einmal kommentierend im Hintergrund wirkt, einmal dialogisierend auf Gleichberechtigung pocht: Pianist und Geigerin konzertieren in diesen Aufnahmen auf Augenhöhe, vielgestaltig und vital. Dazu kommt zu einen, dass Cédric Tiberghien sorgsam zwischen dem Gebundenen und dem Gestossenen unterscheidet und so zu sprechender Artikulation findet. Zum anderen fällt prägend ins Gewicht, dass Alina Ibragimova grundsätzlich vom zurückhaltenden, geraden Ton ausgeht, das heisst: Klangfülle und Vibrato als das Besondere einsetzt und so zu unterstreichender Wirkung bringt. Welten liegen zwischen diesem neuartigen Ansatz und jenem von Mutter und Orkis.

Fünf Doppelalben soll die von Hyperion ebenso vorzüglich wie schlicht präsentierte Edition umfassen. Aufgebaut ist sie nicht chronologisch, vielmehr bietet jede der bisher erschienen Folgen eine Mischung aus frühen, mittleren und späten Sonaten, die weniger nach tonartlicher Verwandtschaft als nach stilistischer Unterschiedlichkeit zueinander gestellt sind. Wer sich neugierig auf die C-dur-Sonate KV 10 eingelassen hat, kann sich danach der ausserordentlich tief gehenden Sonate in e-moll KV 304 – das weit in die Zukunft weisende Wunderwerk eines Zweiundzwanzigjährigen. Der helle Klavierton, der diskret präsente Bass, die Leichtigkeit in der Formung der von Mozart mit einem Keil versehenen, also akzentuiert gewünschten Töne, die Unterschiedlichkeit in der Ausführung der Triller, die fast unmerklichen, aber doch ins Gewicht fallenden Veränderungen in den durchwegs respektierten Wiederholungen – all das führt zu reichhaltigem Hörerleben. Besonders anrührend im zweiten, abschliessenden Satz das «sotto voce» des Menuetts und das «dolce» im Trio, das in E-dur gehalten ist und in dieser Einspielung wie eine Insel der Glückseligen erscheint.

Wolfgang Amadeus Mozart: Sonaten für Klavier und Violine. Cédric Tiberghien (Klavier), Alina Ibragimova (Violine). Hyperion 68091 (Vol. 1), 68092 (Vol. 2), 68143 (Vol. 3).

Ohrenspitzer für Schumann

Ein CD-Projekt mit der Geigerin Isabelle Faust und ihren Freunden

 

Von Peter Hagmann

 

Die Idee, während einer Tournee entstanden, ist so bestechend wie einfach. Die drei Klaviertrios von Robert Schumann sollten zusammenkommen mit den drei Solokonzerten des Komponisten für die Instrumente, die ein Klaviertrio bilden – alles Werke aus der Dresdener Zeit der Schumanns und aus den ersten Jahren in Düsseldorf. Bemerkenswert daran ist zunächst die Tatsache, dass sich das lange Zeit als minder gelungen abgewertete Violinkonzert wie das als Spätwerk ebenfalls nicht sehr geschätzte Konzert für Violoncello und Orchester auf ein und dieselbe Ebene gehoben sehen wie das berühmt gewordene Klavierkonzert. Auffällig ist aber auch das Ausmass an kompositorischer Kreativität, das hier innerhalb eines vergleichsweise eng abgesteckten Rahmens zum Ausdruck kommt.

Unterstützt wird das durch die spezielle interpretatorische Anlage. Musiziert wird im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis. Isabelle Faust spielt nicht die moderne Geige, die sie gewöhnlich zur Hand hat, sondern die Stradivari «La Belle au bois dormant» von 1704, die ihr von der Landesbank Baden-Württemberg zur Verfügung gestellt worden ist. Auch Jean-Guihen Queyras benützt ein altes Instrument, ein Violoncello von Gioffredo Cappa 1696 aus dem Besitz der Société Générale. Während sich Alexander Melnikov für das Klavierkonzert an einen Erard-Flügel von 1837, für die Trios dagegen an ein Hammerklavier der Wiener Werkstatt von Johann Baptist Streicher aus dem Jahre 1847 setzt – an zwei Instrumente aus der Sammlung von Edwin Beunk. Und für die Begleitung in den drei Instrumentalkonzerten sorgt das Freiburger Barockorchester unter der Leitung von Pablo Heras Casado, einem jener Musiker jüngerer Generation, die sich in der historischen Praxis ebenso auskennen wie in der Moderne.

Gespielt wird auf dem gewohnten Stimmton von 440 Hertz für das eingestrichene a, also nicht zirka einen Halbton tiefer, auf 432 Hertz, wie es sonst bei der Verwendung von Darmsaiten auf den Streichinstrumenten üblich ist. Keines der drei Soloinstrumente klingt durch den höheren Stimmton eingeengt wie beim Zürcher Auftritt John Eliot Gardiners und seiner Kräfte vor einigen Monaten. Im Gegenteil, in den wie stets exzellenten Aufnahmen durch das Berliner Studio Teldex kommt die klangliche Schönheit uneingeschränkt zur Geltung. Dazu gesellen sich atmende Phrasierung, vielgestaltige Artikulation und, bei den Streichern, der bewusste Einsatz des Vibratos als Verzierung – das alles mit Blick auf einen möglichst weiten Radius des musikalischen Erlebens. Nicht zuletzt setzen alle beteiligten Musiker auf feuriges Temperament. Beim Orchester kann das auch zu befremdlichen Ausbrüchen führen, etwa im Klavierkonzert, wo am Schluss des ersten Satzes das in der Partitur vermerkte Crescendo zu einer förmlichen Explosion der Pauke führt.

Man nimmt es hin, weil Pablo Heras-Casado das Freiburger Barockorchester zu einer Präsenz anhält, die den Orchesterklang weit über die reine Begleitfunktion hinaushebt. Im Kopfsatz des Geigenkonzerts bilden die Achteltriolen der zweiten Geigen und der Bratschen eine vor Spannung bebende Grundlage, auf der die ohne Vibrato gespielten Halben einen Zug sondergleichen erzielen und die darauf folgenden Läufe wie aus einer Quelle herausschiessen. Isabelle Faust bewegt sich auf der nämlichen Ebene der Gestaltung. Sie prunkt nicht, sie arbeitet vielmehr mit äusserster Sorgfalt und erzeugt damit ein Geschehen, das von reichen Beleuchtungswechseln lebt – Schumanns Violinkonzert ist nun definitiv rehabilitiert. Ihre Partner stehen dem in keiner Weise nach nach. Alexander Melnikov bietet eine extravertierte, sich aber nirgends mit leeren Gesten in den Vordergrund drängende Auslegung des Klavierkonzerts, und Jean-Guihen Queyras arbeitet mit glühender, obertonreicher Kantabilität. Zu dritt fügen sich die Freunde um Isabelle Faust zu einem Trio, das hören lässt, was Kammermusik im besten aller Fälle sein kann.

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Robert Schumann mit Isabelle Faust (Violine), Jean-Guihen Queyras (Violoncello) und Alexander Melnikov (Fortepiano) sowie dem Freiburger Barockorchester und Pablo Heras-Casado (Leitung) bei Harmonia mundi. – Vol.  1: Violinkonzert in d-moll WoO 1 (1853), Klaviertrio Nr. 3 in g-moll op. 110 (1851). HMC 902196. – Vol. 2: Klavierkonzert in a-moll op. 54 (1845), Klaviertrio Nr. 2 in F-dur op. 80 (1847). HMC 902198. – Vol. 3: Cellokonzert in a-moll op. 129 (1850), Klaviertrio Nr. 1 in d-moll op. 63 (1847). HMC 902197.

Am kommenden Sonntag, 26. März 2017, treten Isabelle Faust und das Freiburger Barockorchester mit Pablo Heras-Casado bei der Neuen Konzertreihe in der Tonhalle Zürich auf. Auf dem Programm stehen Werke von Felix Mendelssohn-Bartholdy: neben der «Hebriden»-Ouvertüre und der «Reformations-Symphonie» das Violinkonzert.

Daniil Trifonov spielt Liszt

Die «Etudes d’exécution transcendante» in phantasievoll virtuoser Lesart

 

Von Peter Hagmann

 

Wer den Achttausender besteigen will, muss nicht nur über Kondition, sondern auch über geeignete Ausrüstung verfügen. Daniil Trifonov kann beides vorweisen, das wird schon bei den ersten Schritten deutlich: bei der ersten der zwölf «Etudes d’exécution transcendante» von Franz Liszt. Klangvoll das Forte, glänzend die Beweglichkeit, souverän die planvoll gebaute Phrasierung. Im molto Vivace der zweiten Etüde tritt das drängende Temperament des 1991 geborenen Russen (http://www.peterhagmann.com/?p=921) hervor, während «Paysage», das dritte Stück, entdecken lässt, mit welcher Ruhe und welchem Spektrum an Farben er Momente der lyrischen Versenkung gestaltet. All das versammelt sich in einer ersten Kulmination bei «Mazeppa», der Etüde Nr. 4.

Äusserst griffig erzählt Trifonov die Geschichte des ukrainischen Volkshelden, der in verfänglicher Situation erwischt, von seinem Rivalen auf den Rücken eines Pferdes gebunden und in die Wildnis verjagt wurde, der sich schliesslich aber doch als Sieger feiern lassen konnte. Hochvirtuos steigt Trifonov ein, blendend steigert er die Kadenz im Vorspiel, die er in einer langen Generalpause enden lässt, bevor dann das hier mächtig und schwer gegebene Hauptthema erscheint – herrlich dabei die Kraft, die er in den Oktavparallelen entfaltet. Die Liebesszene mit dem Thema erst in der Baritonlage, später im Diskant, gelingt äusserst passioniert – bis dann das Unheil. In scharfer Kontur erscheint das davongaloppierende Pferd, denn Trifonov operiert in dieser Passage mit bewusst gesetzten Unterschieden in der Tondauer; Viertel ist da nicht Viertel, vielmehr sagt die einzelne Note in ihrer Länge sehr viel aus. Hinreissend, wenn auch ohne Donner, dann der Schluss der Geschichte nach dem harmonisch überraschungsreichen Rezitativ mit seinen ineinander klingenden Einzeltönen. Ein Kabinettsstück. Eine Opernszene.

Züngelnd die «Feux follets» der Nummer 5, stürmisch die «Wilde Jagd» der Nummer 8. Beinah impressionistisch, dann aber auch wieder ausgeprägt kantabel geraten dem Preisträger des Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerbs von 2011 die «Harmonies du soir» der Nummer 11, auf die dann attacca die orchestral wirbelnden Schneeflocken des letzten Stücks folgen. Die legendären Deutungen dieses horribel anspruchsvollen Etüdenzyklus durch Pianisten wie Cziffra oder Horowitz sind durch diese sensationelle Aufnahme nicht ausser Kraft gesetzt. Aber doch in einzigartiger Weise bereichert.

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Franz Liszt: Etudes d’exécution transcendentale, Deux études de concert, Trois études de concert, Grandes Etudes de Paganini. Daniil Trifonov (Klavier). Deutsche Grammophon 4795529 (2 CD).

Das Kammerorchester Basel auf dem Sprung

 

Peter Hagmann

Neue Perspektiven mit Haydn

Das Grossprojekt Haydn 2032 und das Kammerorchester Basel

 

Mit liebevollem Nachdruck versichern die musikgeschichtliche Literatur und, in ihrer Nachfolge, Programm- und Booklettexte, dass Joseph Haydn zu den geistreichsten Komponisten überhaupt gehöre. Die Höreindrücke standen dieser Behauptung lange Zeit diametral entgegen; fad klang Haydns Musik im Konzertsaal, auf Langspielplatte und Compact Disc, verzopft und altväterisch. Das war allerdings nicht die Schuld des Komponisten, eher die des philharmonischen Klanggewands, das dieser Musik eine gut gepuderte Perücke aufsetzt. Aufnahmen der Sinfonien Haydns durch Grossdirigenten wie Karl Böhm, Leonard Bernstein, Herbert von Karajan oder Georg Solti berichten davon.

Inzwischen hat sich freilich einiges getan. Musiker wie Frans Brüggen, Nikolaus Harnoncourt oder Christopher Hogwood haben neue Wege zu Haydn eröffnet. Wenn seine Musik spricht – in lebendiger Diktion, mit Auf und Ab, Schwer und Leicht, gebunden und gestossen –, findet sie die Wirkung, von der in der Literatur die Rede ist. Wartet sie mit jenen Überraschungen auf, an denen sich die musikkundigen und musikliebenden Fürsten Esterházy als Haydns Arbeitgeber mitsamt ihren Gästen delektiert haben mögen. Und die den Ruf des Komponisten über die Abgeschiedenheit seines Schaffenskreises hinaus in die grosse, weite Welt der Musik getragen haben: von Eisenstadt und Esterház nach Wien, nach Paris, nach London.

Haydn 2032

Dieses Moment der Neuentdeckung aufnehmen und entschieden mit Energie versehen will nun ein seit Mitte 2014 laufendes Projekt, das sich zur Aufgabe macht, bis zum dreihundertsten Geburtstag Haydns im Jahre 2032 alle 107 Sinfonien des Meisters auf aktuellem Wissensstand zu erarbeiten, in Konzerten vorzutragen und in Aufnahmen festzuhalten. Getragen wird das Projekt von einer gemeinnützigen Stiftung, die sich, mit Sitz in Basel, «der Auseinandersetzung mit dem Werk von Joseph Haydn und seiner Zeitgenossen» widmet. Das künstlerische Gravitationszentrum bildet der Dirigent Giovanni Antonini, eine der Galionsfiguren der historisch informierten Aufführungspraxis. Für die einzelnen Teile des Projekts begibt sich Antonini zum einen ans Pult des von ihm mitbegründeten Barockensembles «Il Giardino Armonico», zum anderen arbeitet er mit dem Kammerorchester Basel zusammen, mit dem er seit vielen Jahren eng verbunden ist.

Für das Kammerorchester Basel bedeutet die Mitwirkung am Projekt Haydn 2032 einen weiteren, bedeutungsvollen Entwicklungsschritt. Historisch informierter Spielweise hat es sich schon in dem viel gelobten, berühmt gewordenen Zyklus der Sinfonien Ludwig van Beethovens geöffnet; auch in diesem  Vorhaben aus den Jahren 2004 bis 2015 war Antonini federführend. Doch während bei Beethoven noch herkömmliche Instrumente zum Einsatz kamen, wird das Kammerorchester Basel für Haydn definitiv zum Barockorchester (ohne dass es darob sein Repertoire im Bereich der Romantik und der klassischen Moderne vernachlässigte). Gespielt wird in der etwas tieferen Stimmung von 432 Herz für das eingestrichene a, die Streicher verwenden Darmsaiten und klassische Bögen, die Bläser nehmen Instrumente ohne Ventile zur Hand. Meines Wissens ist das Kammerorchester Basel das erste Orchester überhaupt, das sowohl als echte Barockformation wie auch als herkömmlicher Klangkörper auftritt.

Der Schritt forderte einiges an Vorarbeiten und Diskussionen. Das Kammerorchester Basel verfügt ja nicht über einen künstlerischen Leiter, der gleichsam mit Stichentscheid die Linie vorgäbe; Antonini amtet auch nicht als Chefdirigent, weil das Orchester, den Wiener Philharmonikern gleich, keinen Chefdirigenten kennt. Es versteht sich vielmehr als ein Ensemble, das sich selbst verwaltet – und so sind seine Mitglieder auch in alle künstlerischen Entscheidungen eingebunden. Und das bis hin in die Probenarbeit. Da sitzen sie denn, wir schreiben einen kalten Samstagnachmittag anfangs dieses Jahres, in einem Kulturzentrum ausserhalb Basels im Kreis, um sich der neuen Welt Joseph Haydns und dem Spiel in alter Praxis zu nähern. Mit von der Partie ist Stefano Barneschi, der Konzertmeister des Giardino Armonico, der sozusagen als Botschafter Antoninis dienliche Hinweise gibt – weniger durch Erläuterungen als durch Vorspielen. Jedes Mitglied des Orchesters ist aktiv am Prozess beteiligt und meldet sich zu Wort, der eine mehr, die andere weniger. Eine unglaublich dichte, warme Atmosphäre herrscht hier, das Engagement ist mit Händen zu greifen.

Keine Musik von gestern

Das alles hat seinen besonderen Sinn. Giovanni Antonini – mit Haydn auf besonderem Fuss, seit er als Kind dessen erste Sinfonie auf einer Langspielplatte kennengelernt hat – versucht, den Meister nicht von heute aus als einen Komponisten alter Musik, mithin nicht anachronistisch als eine Erscheinung der Vergangenheit zu verstehen, sondern seine Musik aus ihrer Entstehungszeit, aus ihren ästhetischen Voraussetzungen und ihrem kompositorischen Umfeld heraus zu entdecken, um so ihr Neues erkennen und zeigen zu können. Darum erscheinen die Sinfonien Haydns in den Konzertprogrammen und auf den Compact Discs nicht in geschlossener Abfolge, vielmehr stets in Verbindung mit Kompositionen Haydns in anderer Gattung oder mit Werken von Zeitgenossen. Und darum folgen sie sich auch nicht einfach chronologisch; ihre Anordnung in den Programmen gehorcht thematischen Aspekten.

«La Passione» nannte sich zum Beispiel das erste Projekt von Haydn 2032. Es orientierte sich an der Sinfonie Nr. 49 in f-moll, die diesen Beinamen trägt, schloss aber auch die dramatische g-moll-Sinfonie Nr. 39 sowie die allererste Sinfonie ein, eben jene in D-dur, Hob I:1, von 1757. Dazu trat «Don Juan ou Le Festin de pierre», die Ballettpantomime von Christoph Willibald Gluck, dem Zeitgenossen und heimlichen Konkurrenten Haydns. Dieses erste Projekt wurde in der Basler Martinskirche, in der Tonhalle Zürich (und dort im Rahmen der Neuen Konzertreihe von Jürg Hochuli), beim Radialsystem in Berlin und im Haydnsaal von Schloss Esterházy in Eisenstadt geboten. Das ist sozusagen die Grundkonstellation – wobei manchmal einer der Partner ausfällt, bisweilen einer dazukommt, zum Beispiel der Wiener Musikverein. Darüber hinaus sind die einzelnen Projekte nicht einfach Konzerte herkömmlicher Art; zum musikalischen Ablauf gesellen sich einführende Lesungen, kulinarische Genüsse in den Pausen und eine Lounge, ein lockeres Gespräch zwischen dem Dirigenten Giovanni Antonini und dem Musikwissenschaftler Wolfgang Fuhrmann. Nicht zuletzt gibt es zu jedem Projekt, das schlägt sich in den daraus resultierenden Publikationen nieder, einen ebenfalls thematisch verbundenen photographischen Essay.

Vier Projekte von Haydn 2032 sind inzwischen abgeschlossen, drei von ihnen sind bei dem für sein spezielles Profil bekannten französischen Label Alpha auf CD erschienen. Bei allen war bisher ausschliesslich der Giardino Armonico beteiligt. Mit dem fünften Projekt hat nun das Kammerorchester Basel die Bühne betreten – mit grossem Erfolg, um es gleich zu benennen. «Homme de génie» nannte sich dieses fünfte Projekt; es hätte aber auch «Sturm und Drang» heissen können wie das Symposion, das im Zusammenhang mit diesem Haydn-Projekt in der Basler Musik-Akademie durchgeführt wurde. Zwischen die Sinfonie Nr. 81 in G-dur mit ihren wirbelnden Ecksätzen und die Nr. 80 in d-moll mit ihrem wahrhaft exzentrischen Finale trat die frühe Sinfonie Nr.19 in D-dur, vor allem aber auch eine Sinfonie in c-moll von Joseph Martin Kraus, des Schweden aus Deutschland, der noch viel stärker als der fast eine Generation ältere Haydn den Idealen des barocken Kontrapunkts und der empfindsamen Chromatik verpflichtet ist. Der «Homme de génie» war in diesem Vergleich klar zu erkennen.

Papa Haydn ade

Dies nicht zuletzt darum, weil das Kammerorchester Basel mit einem Aplomb sondergleichen zu Werk ging. Es konnte das tun, weil die Streichinstrumente bei aller Kraft der Attacke das Federn im Ton bewahren, die Eleganz also ungeschmälert bleibt, zugleich aber von unglaublicher Impulsivität erfüllt ist. Auf den Eröffnungsschlag im Kopfsatz der Sinfonie 81 folgten herrlich ziehende Töne, die ihre Energie aus dem Non-Vibrato gewannen. Und da die Streicherbesetzung klein war, die Bläser zudem höher sassen als die (mit Ausnahme der Celli) stehend spielenden Streicher, ergab sich auch eine vor Spannung vibrierende Balance zwischen den einzelnen Instrumentengruppen. Das Andante von Nummer 81, das in Aufführungen herkömmlicher Art gerne niedlich wirkt, lebte von einer Phrasierung, die den Zuhörer unwiderstehlich über die Taktgrenzen hinwegzog – und somit von einer ganz eigenen Vitalität. Den Höhepunkt des Abends bildete aber ohne Zweifel die Sinfonie Nr. 80 in d-moll. Das von Haydn als geistreich gewünschte Allegro des Kopfsatzes nahm Antonini so unerhört zupackend und dunkel, dass man fast den 1784 noch gar nicht entstandenen «Don Giovanni» von Mozart assoziieren konnte. Tiefgründig in seiner vergleichsweise einfachen Harmonik das Andante, während sich der Zuhörer im Finale mit seinen Synkopen von Haydn lustvoll an der Nase herumführen lassen konnte.

Noch nicht immer herrschte jene klangliche Entspanntheit, welche die Wiedergaben der Sinfonien Beethovens so vorteilhaft auszeichnete. Mag sein, dass sich da das eine oder andere noch einpendelt. Vielleicht will das Antonini aber auch gar nicht, weil er Papa Haydn ganz entschieden in die Mottenkiste verbannen, diese Musik den Zuhörern von heute ganz direkt auf den Pelz rücken lassen will. Auf die CD-Aufnahme darf man jedenfalls gespannt sein.

René Jacobs siebzig – und ungebrochen innovativ

 

Peter Hagmann

«Ich glaube, man wird dabei nicht schlafen können»

Mozarts «Entführung» mit dem Dirigenten René Jacobs

 

Keine Zeile (ausser einer bedeutungslosen Nummer zu Beginn des dritten Akts) sollte gestrichen werden – so wollte es der Dirigent René Jacobs bei seiner Einspielung von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper «Die Entführung aus dem Serail». Er empfindet das Stück, gerade auch die Textvorlage von Gottlieb Stefanie dem Jüngeren nach einem Libretto von Christoph Friedrich Bretzner aus dem Jahre 1781, als schockierend aktuell – so Jacobs in einem wiederum sehr aufschlussreichen Text, den er ganz in der Tradition Nikolaus Harnoncourts ins Booklet einfügen liess. Der Dirigent legte darum selber Hand an, nicht um das Libretto zu kürzen, wie es wohlmeinende Regisseure zu tun pflegen, sondern um es mit Mass, Vorsicht und Respekt in einen Tonfall von heute zu bringen. Das ist ihm ausnehmend gut gelungen. Zum einen gibt die Aufnahme zu spüren, wie Mozart zusammen mit seinem Librettisten die Brisanz des Stücks zur Entstehungszeit herausgearbeitet und das damals noch allgegenwärtige Schaudern vor den Osmanen knapp hundert Jahre nach deren Vertreibung aus Wien erfasst hat. Zum anderen lässt die Einspielung erleben, wie viel «Die Entführung aus dem Serail» mit den Verhältnissen unserer Tage zu tun hat. Was Blonde, die Kammerzofe Konstanzes, dem ihr unentwegt nachstellenden Osmin an Brocken vor die Füsse wirft, könnte geradewegs aus einer Debatte um das Burkaverbot stammen.

Die «Entführung» als Hörspiel

Dass das alles in so helles Licht tritt, hängt mit der klaren dramaturgischen Position zusammen, die René Jacobs hier einnimmt. Ähnlich wie bei seiner Aufnahme der «Zauberflöte» sollte die Interpretation der «Entführung» ganz bewusst für die Wiedergabe ab Tonträger konzipiert sein; die Oper sollte gleichsam als Hörspiel geboten werden, mit lebendigen Stimmen und durchaus auch mit Geräuschen. Dies, um die gesprochenen Texte nicht als störende Inseln zwischen den geliebten musikalischen Nummern, sondern vielmehr als das Gerüst des Stücks fühlbar zu machen. Und um das Drama ganz aus der Musik heraus entstehen zu lassen – Theater ohne Bühne und ohne Regie. Auch das ist fabelhaft gelungen. Wie die sechs Sängerinnen und Sänger – nicht sprechen, sondern sprachlich agieren, das grenzt an ein Wunder. Dass der berühmte Cornelius Obonya vom Burgtheater Wien in der Sprechrolle des Bassa Selim mit verfremdendem Akzent spricht, mag zwar auf das erste Hören hin chargiert wirken; es unterstreicht jedoch die von Mozart gewünschte Überraschung am Ende, wo der Bassa Selim eine Milde walten lässt, die eine ganz andere Art Islam zeigt, als es der Aufseher Osmin mit seinen tobenden Ausfällen tut.

Dazu kommt, und das bildet die Spitze der phantasievollen interpretatorischen Entscheidungen, dass Text und Musik eng miteinander verbunden sind – ja, dass die Musik sozusagen szenische Funktion wahrnimmt. Mit von der Partie ist ein äusserst aktives Hammerklavier. Nicht aus Lust und Laune, sondern mit Bezug auf einen Brief Mozarts, in dem er seinem Vater berichtet, wie er an einem Abend mit der «Entführung» den Kapellmeister entlassen, sich an das im Graben bereitstehende Klavier gesetzt und das Orchester aufgeweckt habe. In der Aufnahme mit Jacobs fällt dem Hammerklavier eine sehr bedeutende Rolle zu. Es mischt sich munter in das orchestrale Geschehen ein, wie es schon bei der Einspielung der späten Sinfonien Mozarts mit Jacobs zu hören war. Und mehr noch: Es musikalisiert die gesprochenen Partien, unterlegt die Sprechtexte – nicht mit Irgendetwas, sondern mit Vorahnungen und Anklängen aus der Oper sowie Zitaten aus Klaviersonaten Mozarts. Das schafft eine ganz eigene Atmosphäre. Und es ist nicht aus den Fingern gesogen, sondern bezieht sich auf eine Briefstelle, an der Mozart vom Melodram schwärmt. Nicht zuletzt setzt das Hammerklavier szenische Vorgänge um, zum Beispiel bei der eigentlichen Entführung, wo auf- und absteigende Bewegungen die Arbeiten an der Leiter versinnbildlichen. Mittendrin erklingt das berühmte «Alla turca» aus der A-dur-Klaviersonate KV 331, das die vorüberziehende Wache intoniert – und darob die schon halb vollzogene Entführung übersieht.

Mehr als Lokalkolorit

Nicht immer geben die Anklänge an die türkische Musik mit ihren Pfeifen, Becken und Schellen zum Schmunzeln Anlass. Nikolaus Harnoncourt hat schon bei seiner frühen Zürcher «Entführung» vor dreissig Jahren darauf hingewiesen, dass das Türkische in der Musik der «Entführung» alles andere als exotisches Lokalkolorit sei, dass es vielmehr Angst und Schrecken ausgelöst habe. René Jacobs schliesst sich dem an, wenn er im Booklet auf einen weiteren Brief verweist, in dem Mozart schreibt, dass, wer die Janitscharenmusik in seiner Oper höre, nicht werde schlafen können. So lässt Jacobs das Türkische auch klingen: laut, dominant, gefährlich. Wie überhaupt in dieser Einspielung eine erregende Deutlichkeit der Formulierung herrscht. Die Akademie für alte Musik Berlin, langjährige Partner von René Jacobs, bringt eine grossartige Palette von Farben ein, agiert äusserst beweglich und artikuliert griffig. Dass Töne je nach Position im Takt unterschiedlich lang klingen, was besonders bei Tonrepetitionen auffällt, versteht sich absolut von selbst – das trägt zur prickelnden Lebendigkeit der Aufnahme bei. Dazu kommt, dass Jacobs seinen besonderen Sinn für das Rhythmische und dessen Verhältnis zu den gewählten (und bisweilen herrlich überraschenden) Tempi auch hier voll einbringt.

Auch im Vokalen vermag die Einspielung zu prunken. Wenn Dimitry Ivashchenko das Geschehen in Gnag bringt, erweist er sich als ein recht gemütlicher, recht verträglicher Osmin – aber wie der Kerl dann aufbraust, wird es einem anders. Witzig auch, mit welch schrägen Tönen Jacobs das «ad libitum» in Osmins Auftrittsarie auslegt. Julian Prégardien gibt einen Pedrillo, der gern den starken Mann spielt, im Grunde aber das Herz rasch in den Hosen hat. Darum dehnt er in seiner Arie «Frisch zum Kampfe» die zweite Silbe des Substantivs so lange, dass keinem Zuhörer der Mangel an Glaubwürdigkeit entgehen kann. Seine Geliebte, die Blonde, hat arg Haare auf den Zähnen; zugleich ist diese selbstbewusste Dienerin bei Mari Eriksmoen ein unerhört munteres Ding, das wirbelnd durch die Arien zieht und mit Verzierungen sondergleichen aufwartet. Das hohe Paar wirkt auch hier etwas blasser, aber nicht so sehr wie in gewöhnlichen Aufführungen. Als Belmonte bringt Maximilian Schmitt in seiner Auftrittsarie geschmackvolle Appogiaturen ein, während er in der Arie «Wenn der Freude Tränen fliessen» mit Geschick jeder Süsslichkeit aus dem Weg geht. Für die Glanzlichter der Einspielung sorgt Robin Johannsen als Konstanze. Die junge Amerikanerin verfügt über eine leichte, enorm klangvolle, obertonreiche Stimme, weshalb sie in ihrer Auftrittsarie die Koloraturen bis hin zu dem gekonnt ausgestalteten Triller mühelos meistert. Und da die Aufnahme in der leicht tieferen Stimmung von 432 Hertz für das eingestrichene a gehalten ist, bleibt ihre Höhe ohne jede Verspannung.

Eine in jeder Hinsicht hochstehende, packende «Entführung» – in einer Version, wie sie so nur auf CD möglich ist. Am 30. Oktober begeht René Jacobs seinen siebzigsten Geburtstag. Auf weitere fruchtbare Jahre.

Wolfgang Amadeus Mozart: Die Entführung aus dem Serail. Robin Johannsen (Konstanze), Mari Eriksmoen (Blonde), Maximilian Schmitt (Belmonte), Julian Prégardien (Pedrillo), Dimitry Ivashchenko (Osmin), Cornelius Obonya (Bassa Selim), RIAS Kammerchor, Akademie für alte Musik Berlin, René Jacobs (Leitung). Harmonia mundi 902214/15 (2 CD). Aufnahme Berlin 2014, Produktion Arles 2015.

Am 6. November hat «Die Entführung aus dem Serail» im Opernhaus Zürich Premiere. Die Inszenierung entwirft David Hermann, am Pult der Scintilla steht anstelle von Teodor Currentzis, der sich krank melden lassen musste, Maxim Emelyanychev.

Klaviertrios – neu gewonnen

 

Peter Hagmann

Im Geist der Entstehungszeit, aber für heute

Die Klaviertrios von Franz Schubert mit Andreas Staier, Daniel Sepec und Roel Dieltiens

 

Eine unglaubliche Energie zieht durch die neue Aufnahme der beiden Klaviertrios (B-dur, D 898, und Es-dur, D 929) von Franz Schubert, mit welcher der Pianist Andreas Staier, der Geiger Daniel Sepec und der Cellist Roel Dieltiens bei Harmonia mundi auf sich aufmerksam machen. Musikantischer Schwung herrscht hier und hochgradig erfüllte Musikalität. Zugleich aber wird, was die Interpretation dieser Musik betrifft, ein neues Kapitel aufgeschlagen.

Grund dafür ist einmal mehr die historisch informierte Aufführungspraxis. Inzwischen verbreitet sie sich auch im Bereich der Kammermusik: still und leise, aber wahrnehmbar. Noch sind die Ensembles, die mit Instrumenten, Spieltechniken und Interpretationsansätzen aus der Entstehungszeit der jeweiligen Kompositionen arbeiten, nicht sehr zahlreich – jedenfalls nicht so zahlreich wie auf dem Feld des Orchestralen. Aber es werden immer mehr, und ihre Leistungen drängen kraftvoll ans Licht, aufmerksam beobachtet von einem Publikum, das zunehmend Interesse zeigt. Deutlich wird dabei auch, dass es nicht in erster Linie um das Instrumentarium geht. Das Quatuor Van Kuijk, das hier vor zwei Wochen vorgestellt wurde, spielt in konventioneller Besetzung; es verwendet zum Beispiel synthetische Saiten, die es zur Zeit Mozarts natürlich nicht gegeben hat. Aber was sich in der Szene tut, scheint den vier jungen Musikern aus Frankreich absolut gegenwärtig.

Im Fall der beiden Klaviertrios von Franz Schubert und ihrer erstklassigen Aufnahme geht es nun aber tatsächlich auch um das verwendete Instrumentarium. Es wird im Booklet, man ist dankbar dafür, in allen Einzelheiten vorgestellt – allein die Benennung der Saiten fehlt noch. Die Geige, die Daniel Sepec spielt, stammt aus der Cremoneser Werkstatt von Lorenzo Storioni und ist dort 1780 erbaut worden, etwa fünfzig Jahre vor der Entstehung der Klaviertrios Schuberts. Sepec verwendet ausserdem einen Bogen auf der Höhe der damaligen Zeit, nämlich einen des berühmten Engländers John Dodd, der nach den Vorgaben des noch berühmteren Franzosen François Xavier Tourte konstruiert ist. Mit Kopien arbeitet der Cellist Roel Dieltiens. Sein Instrument ist ein Nachbau nach Stradivari von Marten Cornelissen aus dem Jahre 1992, während der Bogen von Henk Cornelissen stammt und auf ein Modell von Dodd zurückgreift. Andreas Staier wiederum, er spielt auf einem Wiener Flügel von Conrad Graf von 1827, dem Entstehungsjahr der Klaviertrios – allerdings nicht auf einem Original, sondern einer Kopie des in Frankreich wirkenden Instrumentenbauers Christopher Clarke von 1996.

Das alles ist durchaus von Belang. Die für diese Aufnahme gewählten Instrumente (und ihre etwas tiefere Stimmung) erzeugen einen ganz und gar anderen Ton, als man ihn gewohnt sein mag – wenn man zum Beispiel die klangsatte Einspielung der Schubert-Trios mit Vladimir Ashkenazy am Klavier sowie dem Geiger Pinchas Zukerman und dem Cellisten Lynn Harrell aus dem Jahre 1996 im Ohr hat. Obwohl Sepec, Dieltiens und Staier Kammermusik auf höchstem Niveau betreiben, obwohl sie von ausgefeilter musikalischer Übereinstimmung ausgehen, verbinden sich ihre Stimmen doch nicht zu jenem kraftvollen Amalgam, das dort angestrebt wird; sie stehen vielmehr nebeneinander und wirken in gleichberechtigter Individualität miteinander – bisweilen auch erfrischend gegeneinander wie etwa im Scherzo des B-dur-Trios D 898, wo die Artikulationen in den drei Partien durchaus unterschiedlich ausfallen. Das führt dazu, dass das musikalische Geschehen von innen heraus leuchtende Belebung erhält; es lässt erfahren, wie Schubert auch in diesen beiden späten Trios seine Kantabilität einsetzt, wie kontrapunktisch er aber auch denkt. Äusserst lebhaft ist das Gespräch, das sich daraus ergibt.

Und das, obwohl es in vergleichsweise leisem Ton geführt wird – eine Wohltat in dieser überlauten Zeit. Gewiss, die Graf-Kopie Staiers klingt im Vergleich zu manch anderen Hammerflügeln geradezu opulent, Staier reizt die Möglichkeiten des Instruments auch mit allem Können aus. Dennoch ist nicht zu überhören, dass ein Hammerflügel nie die Kraft eines Steinway erreicht. Dazu kommt die kurze Nachhallzeit des einzelnen Tons, was das Perkussive des Instruments in den Vordergrund rückt – ohne dass dadurch jedoch, Staier gelingt das vorzüglich, das Gebundene und das Singende an Prägnanz verlören. Ähnliche Positionswechsel verlangt die Stradivari von Sepec, die nicht auf die heute übliche Saitenspannung adaptiert ist. Allein, der kümmerliche, etwas näselnde Ton alter Geigen aus der Pionierzeit der historisch informierten Aufführungspraxis ist in dieser Aufnahme nachhaltig überwunden; Sepec holt aus dem Instrument beeindruckende Körperlichkeit und eine Fülle an Farben heraus. Und die temperamentvollen Akzentsetzungen, mit denen der Geiger am Anfang des B-dur Trios zusammen mit dem seinerseits überaus aktiv gestaltenden Cellisten Roel Dieltiens aufwartet, lassen erahnen, welche ganz anderen Ausdrucksmittel hier verlangt – und möglich sind.

Und welch aufregend neue Hörerfahrungen sie erschliessen. Der sorgsame Umgang mit dem Vibrato, das nicht als Grundlage der Tongebung, sondern als Verzierung genutzt wird, sorgt im Kopfsatz des B-dur-Trios für ein spannungsvolles Voranziehen; im langsamen Satz dagegen verbannen die geraden Töne jede Süsslichkeit, schaffen sie vielmehr Raum für eine andere, vielleicht wahrhaftigere Art Emotion. Und in dem zu den beiden Trios gestellten Notturno in Es-dur (D 897), einem rätselhaften Einzelsatz für Klaviertrio aus derselben letzten Schaffensphase Schuberts, nimmt die Dosierung des Vibratos den sehnsüchtigen Terzparallelen jede übersteuerte Emphase. Besonders eindringlich wirkt die Tongebung zu Anfang des Es-dur-Trios D 929. Fast schmerzhaft klar klingt dieser Einstieg, er öffnet dem Zuhörer krass die Ohren und macht ihn frei für die Wunder, die Andreas Staier, Daniel Sepec und Roel Dieltiens vor uns ausbreiten – mit einer Phrasierung, die bewusst mit dem Unterschied zwischen schweren und leichten Taktzeiten arbeitet, und mit einer Artikulation, die nicht vom Legato als dem Mass aller Dinge ausgeht, sondern eine Vielzahl nicht gebundener Tonverbindungen einbringt. Zum Höhepunkt wird der langsame Satz dieses zweiten Trios, den Wolfgang Fuhrmann in seinem Booklet-Text als einen privaten  Trauermarsch auf den Tod Beethovens deutet. Hier ist beides zu hören: Trauer wie Privatheit.

Franz Schubert: Klaviertrios in B-dur (D 898) und Es-dur (D 929), Notturno für Klaviertrio in Es-dur (D 897). Andreas Staier (Hammerklavier), Daniel Sepec (Violine), Roel Dieltiens (Violoncello). Harmonia mundi 902233/34 (2 CD).

Neues aus der Kammermusik

 

Peter Hagmann

Auf der Höhe der Zeit

Das Quatuor Van Kuijk und seine erste CD

 

Da wäre es, das Streichquartett unserer Zeit. Quatuor Van Kuijk heisst es – und da ist die babylonische Verwirrung schon beträchtlich. Es handelt sich nämlich keineswegs um ein Ensemble aus den Niederlanden, wie sein Name suggeriert, sondern um eines aus Frankreich; 2012 in Paris gegründet, besteht es aus vier jungen Absolventen der Konservatorien von Lyon und Paris. Sowohl Nicolas Van Kuijk und Sylvain Favre-Bulle (Violinen) als auch Grégoire Vecchioni (Viola) und François Robin (Violoncello) haben bei ersten Vertretern ihrer Instrumente studiert; als Ensemble haben sie sich etwa vom Hagen-, dem Artemis- und dem Alban Berg-Quartett instruieren lassen. Das liest sich alles schon sehr gut.

Wer nun aber in die erste CD des Quatuor Van Kuijk einsteigt (Alpha 246), kommt mächtig ins Staunen. Die Streichquartette in Es-dur und C-dur, KV 428 und 465, von Wolfgang Amadeus Mozart und dessen Divertimento in D-dur, KV 136, entfalten ein Leben, das man nicht für möglich gehalten hätte. Ganz homogen und kernig der Klang; die vier Instrumente wirken in vollkommen ausbalancierter Gewichtung miteinander. Zugleich aber bringt jedes der vier Ensemblemitglieder seine Persönlichkeit ein, und da der Klang bei aller Homogenität hochgradig transparent bleibt, kommt es sogleich zu jenem Miteinander-Sprechen, das für die Gattung des Streichquartetts kennzeichnend ist. Und das alles im Umfeld eines warmen, leuchtkräftigen Tons, bei dem man durchaus an die Verwendung von Darmsaiten denken kann.

Dies um so mehr, als die Veränderungen in Spielhaltung und Interpretation, welche die historisch informierte Aufführungspraxis ausgelöst hat, beim Quatuor Van Kuijk ganz selbstverständlich präsent sind – obwohl sich die vier Musiker nicht explizit zu dieser Richtung bekennen. Der Kopfsatz des Es-dur-Quartetts KV 428 stellt das Hauptthema im Unisono vor, was das Quartett ohne jedes Vibrato, dafür aber in erregend sauberer Intonation verwirklicht. Wie dieses Hauptthema in den folgenden Takten dann seine harmonische Einkleidung erhält, kommt auch das Vibrato zum Zug, aber eben nicht als Grundlage der Tongebung, sondern in seinem eigentlichen Sinn, als Verzierung und Verschönerung nämlich – aufregend ist das. Ebenso versteht es sich, dass der Primgeiger seinen Triller, den er vor dem Einsatz des Seitensatzes anzubringen hat, von oben spielt. Beobachtungen dieser Art mögen als Klauberei empfunden werden; in Tat und Wahrheit sind es genau solche Details, die diese Musik in neuen Klang bringen.

Und die das Quatuor Van Kuijk als eines jener ganz und gar in der Gegenwart verankerten Streichquartette erkennen lassen, vergleichbar etwa dem Cuarteto Casals. Die Zeiten des Alban-Berg-Quartetts, an dessen enormen Verdiensten in keiner Weise gezweifelt werden soll, sind nun einmal vorbei, in der Streichquartett-Szene weht inzwischen ein anderer, ein frischer Wind. Kein Wunder, war das Quatuor Van Kuijk diesen Sommer bei dem Davoser Festival «Young Artists in Concert» in Residenz, eingeladen von seinem Intendanten Reto Bieri, einem gleichermassen auf der Höhe der Zeit stehenden Klarinettisten. Und ist es erstaunlich, wenn dem Quatuor Van Kuijk eine so renommierte kammermusikalische Bühne wie die Londoner Wigmore Hall offensteht? Wenn nicht alles täuscht, wird man von diesem Streichquartett bald mehr hören.

Das Quatuor Van Kuijk tritt am Samstag, 26. November 2016, um 17 Uhr im Rahmen der Neuen Konzertreihe von Jürg Hochuli im Kleinen Saal der Tonhalle Zürich auf. Informationen unter www.hochuli-konzert.ch.

Wagner – für Harmonium und Klavier

 

Peter Hagmann

Mächtig reduziert

Auszüge aus Bühnenwerken Wagners in Bearbeitungen für Harmonium und Klavier

 

Falls Sie ab 25. Juli nicht nach Bayreuth fahren möchten, falls Sie keinen Sinn haben für die Skandälchen um Regisseure und Dirigenten, die auf dem Grünen Hügel künstlerisch relevante Resultate ersetzen, falls Sie keinen Geschmack finden am sängerischen Stadttheaterniveau, mit dem Katharina Wagner bisweilen aufzuwarten beliebt – mit einem Wort: falls Sie die Richard-Wagner-Festspiele 2016 auslassen und gleichwohl mit Wagner in Berührung sein wollen, hätte ich Ihnen eine Alternative. Es ist eine CD, wie es wohl keine zweite gibt. Eine CD, von der Sie, läuft sie erst einmal, so rasch nicht loskommen. Und eine CD, die ihnen einiges zu schmunzeln gibt.

Es ist die CD, die Jan Hennig und Ernst Breidenbach miteinander aufgenommen haben. Der eine am Harmonium, pardon: am Kunstharmonium, der andere am Klavier, Entschuldigung: am Flügel. Tatsächlich, Harmonium und Klavier, ein Duo der eigenen Art. Möglich gemacht hat es Sigfrid Karg-Elert (1877-1933), der heute bestenfalls noch dem Namen nach bekannt ist. Kein Wunder, hat doch Karg-Elert, sein kurzes Leben lang in Leipzig ansässig, in erster Linie fürs Harmonium gewirkt: als Virtuose auf dem Instrument, als Komponist, als Arrangeur. Für ein Instrument also, das aus dem Bewusstsein unserer Tage ganz und gar verschwunden ist.

Vielleicht erinnern Sie sich, in einer Bergkapelle eines gesehen zu haben – und gleich wird Ihnen dann auch das Schimpfwort einfallen: Heuchlerkommode. In der Tat ersetzte das Harmonium bei religiösen Gemeinschaften, die über wenig Mittel verfügten, die Orgel – oder in Theatern, die einen zu kleinen Orchestergraben aufwiesen, die fehlenden Streicher. Mein Theorielehrer, der Basler Komponist Philipp Eichenwald, sass bei Opernaufführungen im damaligen Städtebundtheater Biel-Solothurn am Harmonium, während der junge Armin Jordan dort seine ersten Sporen als Dirigent abverdiente. Tempi passati.

Oder eben nicht, wie die CD mit Jan Henning und Ernst Breidenbach in packender Vitalität vorführt. Weil sich auch in grossbürgerlichen Haushalten nicht selten auch ein Harmonium fand und weil es naturgemäss neben dem Flügel im Musikzimmer stand – weil sich also ein Markt für Musik in dieser Besetzung auftat, kam der berühmte Leipziger Musikverlag Peters nach 1910 mit der Bitte zu Sigfrid Karg-Elert, die Opern und Musikdramen Richard Wagners – Sie lesen richtig: alle – für Harmonium einzurichten. Dazu ist es natürlich nicht gekommen, Karg-Elert hatte ja eine Menge Auftritte, war mit Kompositionsaufträgen versehen und unterrichtete am Leipziger Konservatorium. Aber einige Alben mit Wagner-Bearbeitungen sind in der Folge durchaus erschienen. In ihnen finden sich auch dreissig Transkriptionen für Harmonium und Klavier.

Die beiden Instrumente passen besser zusammen, als man glaubt. Mit seinem perkussiven Charakter bringt das Klavier die Bewegung zur Geltung und schärft es das Rhythmische, während das Liegende, das Singende und vor allem das Farbenprächtige beim Harmonium aufgehoben ist. Wie die Orgel arbeitet das Harmonium mit Luft, in der einen Bauart des Instruments mit Druckluft, in der anderen mit Saugluft – und diese Luftströme werden mit Hilfe zweier Tretpedale erzeugt. Aber anders als die Orgel weist das Harmonium keine Pfeifen auf, die Töne entstehen wie beim Akkordeon oder bei der Mundharmonika durch die Bewegung durchschlagender Metallzungen. Beim Kunstharmonium geschieht das in besonders raffinierter Weise, indem es dort eine Vielzahl von Registern gibt, welche die allerunterschiedlichsten Farben zu erzeugen vermögen. Recht vielgestaltig wird da gesäuselt.

Besonders schön ist das im Vorspiel zum ersten Aufzug von «Lohengrin» zu hören. Ganz zart werden die in der Höhe liegenden Streicher durch das Harmonium evoziert, das Klavier fügt am Schluss der kurzen Anfangsphrasen jeweils einen gebrochen Akkord dazu. Wie das Geschehen in Fahrt kommt, wartet das Harmonium mit einer Schwebung auf, einem ganz leisen, leicht tremolierenden Register und fügt dann, während das Klavier improvisiert wirkende Fülltöne beisteuert, Register um Register dazu, dies ohne Stufen, denn der Schweller ermöglicht stufenlose dynamische Veränderungen. Grossartig, wie die Steigerung durchgeführt – und wie sie am Ende des Vorspiels wieder zurückgenommen wird. Und majestätisch der klangliche Höhepunkt.

Grandios auch der Einzug der Gäste auf der Wartburg aus dem zweiten Aufzug von «Tannhäuser». Das Klavier sorgt mit den wiederholten Akkorden für die Begleitung, während das Harmonium die Melodielinie singt – sagenhaft die Grösse, die sich da ergibt, wo doch nur zwei Behelfsinstrumente am Werk sind. Eins nach dem anderen zieht man sich herein: das Spinnerlied aus dem «Fliegenden Holländer», das Quintett aus dem dritten Aufzug der «Meistersinger», selbst Siegfrieds Tod und der Trauermarsch aus der «Götterdämmerung» und natürlich Vorspiel und Liebestod aus «Tristan und Isolde».

Hier gilt’s der Kunst, fürwahr. Jan Henning am Harmonium und Ernst Breidenbach als Klavier sind Könner erster Güte. Hören Sie selbst – die CD ist beim Label Pan Classics unter der Bestellnummer 10335 erschienen.

Schumann mit Holliger

 

Peter Hagmann

Ein Fall für die ideale Diskothek

Die Orchestermusik Robert Schumanns in Aufnahmen mit dem Dirigenten Heinz Holliger

 

Eines der ersten Konzerte, das Heinz Holliger nach seinem Debüt am Pult des Basler Kammerorchesters im Jahre 1976 dirigierte, galt Robert Schumanns «Manfred». Unvergessen, wie Holliger, als Dirigent damals noch wenig erfahren, an diesem Abend im November 1977 den schwierigen Anfang der Ouvertüre nahm. Heftig schlug er die auf der Eins des Eröffnungstaktes stehende Achtelpause, stürmisch folgten darauf die drei synkopisch gesetzten Doppelachtel – dergestalt, dass im Publikum manch einen der Schreck packte. Wild wirkten die Kontraste, nicht weniger gezackt als die genuin aus dem Inneren kommende, technisch aber in jeder Hinsicht unkonventionelle Schlagtechnik Holligers. Lang ist das her.

Inzwischen hat Holliger, der als sagenhaft begabter Oboist rasch berühmt wurde und bald auch als Komponist von sich reden machte, fast vierzig Jahre mit den verschiedensten Orchestern gearbeitet. Viel Erfahrung hat sich da akkumuliert, und sie paart sich mit seiner einzigartigen Musikalität. Genau davon lebt die Gesamtaufnahme der Sinfonischen Werke Robert Schumanns, die Holliger zusammen mit dem WDR-Sinfonieorchester Köln und Instrumentalsolisten seiner Wahl für das Label Audite erstellt und jetzt mit dem sechsten und letzten Teil abgeschlossen hat. Wer wissen möchte, wie Schumann im besten Fall klingen kann, wird um diese sechs Compact Discs nicht herumkommen.

Zum Beispiel lässt sich anhand dieser Aufnahmen das berühmt-berüchtigte Klischee berichtigen, dass Schumann eben nicht zu instrumentieren verstanden habe. Wenn man so intensiv in die Musik dieses Grenzgängers hineinhört, wie es Heinz Holliger tut, sind solche Vorstellungen sogleich ausser Kraft gesetzt. Das umso mehr, als das WDR-Sinfonieorchester Köln in diesen Studioaufnahmen aus der Kölner Philharmonie seinem Gastdirigenten aus der Schweiz ohne Wenn und Aber folgt. So kann Holliger voll auf den warmen, sinnlichen Klang des Orchesters setzen und ihn für seine geschmeidig durchgeatmeten, leuchtend transparenten Auslegungen nutzen.

«Manfred», die Ouvertüre zum Dramatischen Gedicht von Lord Byron, zeigt die Vorteile exemplarisch. Der rasche Einstieg klingt noch immer wie der Ausbruch von 1977, ist aber nun sorgsam kontrolliert und eingebettet in den Kontext, der sich im darauf folgenden langsamen Teil ausfaltet. Und grossartig ausfaltet, denn die klanglichen Gewichte sind optimal verteilt, die Ersten Geigen steigen ganz leicht und nur sparsam vibrierend in die Höhe, das Blech fügt sich markant, aber nicht dominant ins Geschehen ein – ganz von selbst entsteht so untergründige Spannung. Wie die Tempi logisch und als Spiegel der Textvorlage aufeinander bezogen sind, wie gewisse Motive Anlauf nehmen, wie die einzelnen Instrumentalgruppen ihre Vorzüge einbringen, das alles macht aus dieser Ouvertüre ein Sinfonisches Vorspiel.

Womit Teil 6 dieses Kölner Schumann-Projekts auf hohem Niveau eröffnet ist. Und wie es bei Holliger gern der Fall ist, kommt es danach gleich zu einer Überraschung, denn auf die späte «Manfred»-Ouvertüre folgen die beiden vollendeten Sätze der ganz frühen «Zwickauer» Sinfonie von 1833, die keineswegs Unbeholfenheit, sondern ganz erstaunliche Anlagen zeigen – Holliger zollt diesem Fragment Respekt durch eine äusserst einfühlsame Interpretation. Auch jenseits dessen warten die Aufnahmen mit manch ungewohnter Erfahrung auf. Die vierte Sinfonie, d-moll, lässt sich in der gewohnten Version von 1851 wie in der kaum je gespielten Erstfassung von 1841 hören. Ins ebenfalls späte, lange Zeit verkannte Violinkonzert stiegt Patricia Kopatchinskaja mit geradezu erschreckender Verve ein, während Dénes Várjon im Klavierkonzert vorführt, was behende Leichtfüssigkeit diesem früher gern hingedonnerten Werk beibringt. Viel zu hören gibt es da, viel zu entdecken und zu staunen.

Robert Schumann: Die Sinfonischen Werke. WDR-Sinfonieorchester Köln, Heinz Holliger (Dirigent). Audite (6 CD) // I: Sinfonie Nr. 1. Ouvertüre, Scherzo und Finale. Sinfonie Nr. 4 (Frühfassung) // II: Sinfonien Nr. 2 und 3 // III: Konzert für Violoncello und Orchester. Sinfonie Nr. 4 (Spätfassung). Mit Oren Shevlin  // IV: Konzert für Violine und Orchester. Konzert für Klavier und Orchester. Mit Patricia Kopatchinskaja und Dénes Várion  // V: Konzertstück für Klavier und Orchester d-moll op. 134. Fantasie für Violine und Orchester. Konzertstück für Klavier und Orchester G-dur op. 92. Konzertstück für vier Hörner und Orchester. Mit Patricia Kopatchinskaja und Alexander Lonquich  // VI: Ouvertüre zu «Manfred». «Zwickauer» Sinfonie. Ouvertüre zu «Szenen aus Goethes Faust». Ouvertüre zu Goethes «Hermann und Dorothea». Ouvertüre zu «Genoveva». Ouvertüre zu Schillers «Graut von Messina». Ouvertüre zu Shakespeares «Julius Caesar»