Der Aufbruch hat begonnen

Paavo Järvi mit Mahlers Fünfter beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

So nah an der Stuhlkante agierten die Mitglieder des Tonhalle-Orchesters Zürich schon länger nicht mehr – so nah wie gestern Abend, als der designierte Chefdirigent Paavo Järvi beim Tonhalle-Orchester Zürich seinen vorläufigen Einstand gab. Vorläufig, weil Järvi erst von der kommenden Spielzeit an seines Amtes walten wird. In der laufenden Saison kommt er jedoch schon verschiedentlich zum Orchester. Nach drei Konzerten mit zwei Programmen in dieser Woche geht es Ende Monat auf eine zehntägige Konzertreise nach Asien. Im Januar und im April kommenden Jahres wird Järvi dann weitere Male ans Pult treten.

Und nun ist sie da, die frische Brise. Sehr frisch wirkt sie, und sie durchzieht das Orchester von A bis Z – bis hin in die Administration, wie aus deren Reihen zu vernehmen war. Ohne Scheu packt Järvi den Stier bei den Hörnern. Zielt er auf das Erbe, das David Zinman hinterlassen hat. Und zeigt er, wie es auch anders gehen kann – bei Gustav Mahler und bei Ludwig van Beethoven. Womit er den Wesenskern des musikalischen Kunstwerks herausstellt. Das nur existiert, wenn es immer und immer wieder gespielt und damit ins klingende Leben versetzt wird. Und das so einem kontinuierlichen Transformationsprozess unterworfen ist.

Wer die Gesamtaufnahme der Sinfonien Beethovens kennt, die Järvi mit der von ihm geleiteten Kammerphilharmonie Bremen erarbeitet hat, wird sich leicht ausmalen können, dass Beethoven mit dem Tonhalle-Orchester und Järvi etwas ganz Anderes sein wird als Beethoven mit dem Tonhalle-Orchester und Zinman. Dass das auch für Mahler gilt, war jetzt am Beispiel von dessen fünfter Sinfonie zu erleben – höchst eindrücklich war das. Auffallend zunächst die Spielfreude: die Lust, Musik zu machen und genau diese Musik zu machen. Mit kräftigem Körpereinsatz ging Paavo Järvi dem Orchester voran, die Musikerinnen und Musiker wiederum reagierten mit höchster Aufmerksamkeit, letztem Engagement und glänzender Leistung – im Einzelnen wie im Gesamten.

Mit seinem untadeligen, von Järvi nicht dirigierten Einstieg in den Kopfsatz setzte der Solo-Trompeter Philippe Litzler die Vorgabe für diese Aufführung von Mahlers Fünfter. Ihm folgte später der Solo-Hornist Ivo Gass, der im Scherzo die Partie des corno obligato, für die er eine eigene Position am rechten Rand des Orchesters einnahm, auf der Höhe seines Könnens blies – mit prallem Ton und strahlender Geschmeidigkeit. Überhaupt liessen die Bläser hören, welches Potential in ihnen steckt – wobei der Dirigent die Balance zwischen Kraftentfaltung und Einbettung ins Ganze optimal herzustellen verstand. Die Streicher wiederum – sie waren nach deutscher Manier aufgestellt, mit den beiden Geigengruppen links und rechts vom Dirigenten und den Bässen als Keil hinter den Celli und erreichten so eine Präsenz sondergleichen. Das berühmte Adagietto gelang ihnen (zusammen mit der zugezogenen Harfenistin Anne-Sophie Bertrand) ganz ausgezeichnet; es war von warmer Expressivität getragen, ohne dass je auch nur eine Spur von Kitsch gedroht hätte.

Ausdrücklichkeit, das macht das Mahler-Bild aus, das Paavo Järvi an diesem Abend zu erkennen gab. Er geht anders zu Werk als Bernard Haitink, der Mahlers Neunte diesen Sommer in Luzern am Pult des Amsterdamer Concertgebouworkest allein aus seinem inneren Empfinden und seinem leuchtenden Charisma heraus erstehen liess. Anders auch als Jukka-Pekka Saraste, der das nämliche Stück mit dem Tonhalle-Orchester zur Eröffnung seiner Saison auf Nüchternheit hin zügelte (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 14.09.18). Järvi macht aus einer Betroffenheit kein Hehl. Das zeigt sich nicht zuletzt in den Tempi, die er vielgestaltig nuanciert, es aber so feinfühlig tut, dass man die musikalischen Verläufe als natürlich atmendes Geschehen empfindet. Zugleich schärft er die farblichen Eigenheiten der Partitur so, dass die ironische Doppelbödigkeit und die grotesken Fratzen unüberhörbar zutage treten. Muskulös wirkt Mahler, wie er an diesem Abend in der Tonhalle Maag zu erleben war. Dabei aber auch ausserordentlich konturiert in seiner Erzählung. Für das Tonhalle-Orchester Zürich zeichnet sich da ein neuer Weg ab. Spannend, wie es weitergehen wird.

Bruckner in Grösse und Menschlichkeit

Bernard Haitink zu Gast beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Eine Sinfonie Anton Bruckners, zumal die Siebte, mit dem Dirigenten Bernard Haitink – das ist nach wie vor ein Moment des besonderen musikalischen Erlebens. Auch und gerade, das darf betont werden, wenn das Tonhalle-Orchester Zürich am Werk ist. In der Tonhalle Maag, die, was Beleuchtung und Akustik betrifft, in der Sommerpause einige Verbesserungen erfahren hat, geben die Musikerinnen und Musiker dann jeweils ihr Bestes. Und dass das nicht wenig ist, erwies sich gerade vor der Erinnerung an den Abend mit Bruckners Siebter, den das Lucerne Festival Orchestra und sein Chefdirigent Riccardo Chailly vor Monatsfrist im KKL Luzern absolvierten. Technisch stand es beim Tonhalle-Orchester jedenfalls zum Besten; selbst die hinsichtlich der Intonation äusserst heikle Stelle der vier Wagner-Tuben und der Kontrabasstuba im zweiten Satz gelang vorzüglich.

Auffällig war einmal mehr, dass Bernard Haitink am Pult von der Zeichengebung her kaum direkt aufs Orchester einwirkte; es waren einzig die Vorstellungskraft (und, damit verbunden, das Voraushören), die Intensität der musikalisch-emotionalen Anteilnahme und das schwer in Worte zu bringende Charisma des Dirigenten, die das Geschehen steuerten. Schon der aufsteigende E-dur-Akkord, der im dritten Takt des Kopfsatzes anhebt, wurde zu einem veritablen Hörereignis. Weil sich, zum einen, die Celli und die Hörner so einzigartig mischten. Und weil, zum anderen, der Aufstieg in die Oberquint von einer unaufdringlichen, aber wirkungsvollen Spannung erfüllt war – einer Spannung, die sich wenige Takte später, bei der Wiederholung des Motivs, in einem wunderbar zart hinzugefügten E-dur-Dreiklang der Hörner erfüllte. Das (unter vielem anderem) ist, was Haitink in so unverkennbarer Weise versteht: Gewichte zu setzen, Abmischungen zu steuern und für Leben in den Einzelheiten zu sorgen.

In den grossen Verläufen dagegen herrschte auch in dieser Auslegung von Bruckners Siebter jene unnachahmliche Gelassenheit, die Haitinks spätes Bruckner-Bild auszeichnet. Den Kopfsatz nahm er gleichsam in einem einzigen, durchgehenden Tempo; wenn sich Veränderungen des Grundschlags ergaben, waren sie so diskret ausgeführt, dass sie sich ganz natürlich anhörten. Noch eindrucksvoller geriet in dieser Hinsicht das Adagio des zweiten Satzes, das sich in getragenem Zeitmass unter einen einzigen riesigen Bogen spannte und schliesslich in dem berühmt gewordenen Beckenschlag kulminierte. Der Grösse dieser musikalischen Erfindung blieb Haitink auch diesmal nichts schuldig. Indessen fehlten, da die musikalische Grossform durch subtile Nuancierungen im Kleinen aufgehellt wurde, auch hier nicht die Züge des Menschlichen. Des Atmenden, des Pulsierenden.

Etwas beiläufig erschien das Scherzo mit seinem im Inneren liegenden Trio. Das ist ein Satz, in dem vielleicht – die Tempovorschrift «sehr schnell» deutet es an – eine Art drängender Energie walten muss, die Haitink hinter sich gelassen hat. Um so zwingender das Finale. «Bewegt, doch nicht schnell» soll es genommen werden – und genau so tat es Bernard Haitink. Wieder blieb er klar im Schlag, auch im lyrischen zweiten Thema, das dafür von hauchzarter Beimischung der beiden Klarinetten profitierte. Nicht dass Haitink zu einem Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis mit ihrer sprechenden Musizierweise geworden wäre, doch die zwei Viertel, die in der Folge so markant in den Vordergrund treten, liessen bei ihm hörbar zwei unterschiedliche Gewichte erkennen. Und dann, rund hundert Takte vor dem abschliessenden Doppelstrich, begannen sich die Entwicklungen zu verdichten, wechselten sich Vorwärtsdrängen und Zurückhalten so vital ab, dass das allerletzte Viertel durchaus als Erlösung genommen werden konnte. Stehapplaus, tiefe Dankbarkeit.

Gastorchester am Lucerne Festival

Zwischen Aufbruchsstimmung und Katzenjammer

 

Von Peter Hagmann

 

Vgl. www.republik.ch vom 14.09.18

Gustav Mahler – in der Tonhalle Zürich und beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Viele Wege führen nach Rom, auch in Sachen Mahler – das war dieser Tage wieder in aller Eindrücklichkeit zu erleben. Beim Lucerne Festival, dessen Sommerausgabe übermorgen zu Ende geht, kamen in kurzem Abstand die Sinfonien Nr. 9 (mit dem Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam) und Nr. 3 (mit dem Boston Symphony Orchestra) zur Aufführung, mit der Nr. 9 wiederum eröffnete das Tonhalle-Orchester Zürich seine Saison. Nicht dass, wer die drei Aufführungen vor dem geistigen Ohr durchziehen liesse, mit falschen Ellen mässe. Das Tonhalle-Orchester kann sich sehr gut an der Seite des Concertgebouworkest zeigen. Beide Formationen sind derzeit ohne Leitung. Das Tonhalle-Orchester hatte vier Jahre lang einen schwachen, allerdings selbstgewählten Chefdirigenten, das Concertgebouworkest hat Daniele Gatti eben erst in die Wüste geschickt, nachdem unangebrachtes Verhalten des Dirigenten gegenüber einigen Musikerinnen an die Öffentlichkeit gebracht worden waren.

In geradezu berauschendem Aufwind befindet sich dagegen das Boston Symphony Orchestra – und mit ihm sein Music Director Andris Nelsons, der an der Spitze dieses legendären Klangkörpers unglaublich an Format gewonnen hat. Das Gastspiel der Bostoner im KKL Luzern war schlechterdings umwerfend; es bildete den krönenden (vorläufigen) Abschluss der Perlenkette an Orchestergastspielen, mit denen das Lucerne Festival nach wie vor punktet. Wie in einem Brennspiegel lässt sich an ihnen zuhörend beobachten, was sich in diesem bedeutenden Segment des Musiklebens tut. Und dass sich in Boston sehr vieles tut, gehört mit in die Reihe der erfreulichen Beobachtungen, die sich in der nicht überall gleich überzeugenden, im Ganzen aber äusserst hochstehenden Serie der Luzerner Sinfoniekonzerte anstellen liessen. Mit zur Exzellenz der Luzerner Veranstaltungen gehören übrigens die von der Dramaturgin Susanne Stähr betreuten Programmhefte, die nicht nur informative Texte mit attraktiven Bebilderungen bringen, sondern dieses Jahr, dem Motto des Festivals entsprechend, eine Reihe liebevoll erzählter «Kindergeschichten» enthielten.

Lenkte Jörg Handsteins Werkeinführung im Programmheft die Aufmerksamkeit des Zuhörers zu Recht auf das nach den ersten Aufführungen vom Komponisten allerdings zurückgezogene Programm zu Mahlers Dritter, so konnte man in der Aufführung selbst auch ganz anders gelagerte Eindrücke gewinnen. Andris Nelsons, der das Orchester mit weniger Bewegungsaufwand als gewohnt, zudem so gut wie einhändig, wenn auch mit äusserst präzisen Zeichen des Taktstocks leitete und der von ihm einfach alles erhielt – Nelsons ist nun einmal ein Ausdrucksmusiker erster Güte. Und er hat in den vier Jahren an der Spitze der fabulösen Sinfoniker aus Boston in dieser Richtung klar zugelegt. Die vom Orchester erzählte Geschichte ist mit festem Strich gezeichnet und nimmt äusserst konkrete Gestalt an, auch wenn sie in der Einzelheit des Inhaltlichen natürlich abstrakt bleibt. Jedenfalls hört man die Musik Mahlers selten so haptisch, so stark in der Evokation von Bildern.

Es sind Klang-Bilder, die von der mächtigen Geste der selbstgewissen, wenn nicht sogar überheblichen Gründerzeit berichten, die mit den unerbittlichen Militärmärschen und den gewalttätigen Ausbrüchen aber auch prophetisch auf das darauf folgende Unheil des Grossen Kriegs vorausweisen. Zugleich künden sie von der Unbeschwertheit eines in den  Menschen selbst verwurzelten Volksmusikguts, vor allem aber auch von jener unstillbaren Sehnsucht nach dem Gestern, die im dritten der sechs Sätze durchbricht. Und schliesslich gelingt es Nelsons, den Finalsatz zu einer Insel des Friedens werden zu lassen – zu einem Ort, an dem alle Fragen beantwortet sind. Darum hat er den Satz auch nicht in eine pompöse Steigerung und zu einem Letzten an Lautstärke geführt, sondern vielmehr in einen Moment überwältigender klanglicher Grösse. Wie Nelsons dabei die Steigerung kontrollierte, wie sorgsam er sich die Spannung aufbauen liess, das zeugte von der tiefen Musikalität des Dirigenten. Das Orchester (und mit ihm die Mezzosopranistin Susan Graham sowie die Chöre aus dem Leipziger Gewandhaus) folgte ihm dabei kompromisslos. Wann ja hat man die Posaunensoli derart kernig, wann das aus den Echokammern in den Saal dringende Posthorn so klangvoll hören können?

Gründlich anders gelagert die in ihrer Qualität nicht minder hochstehende Aufführung von Mahlers Neunter mit dem Tonhalle-Orchester Zürich. Ähnlich, wie es Bernard Haitink mit dem Amsterdamer Concertgebouworkest beim Lucerne Festival tat, ging Jukka-Pekka Saraste, der für den erkrankten Semyon Bychkov eingesprungen ist, von der Musik als Musik aus. Im Geiste Eduard Hanslicks arbeitete er mit der «tönend bewegten Form» – doch während Haitink auch in der Luzerner Aufführung von Mahlers Neunter das Geschehen ganz aus sich selber erstehen lässt, stellte Saraste seinen pointiert strukturbezogenen Ansatz deutlich in den Saal. In eher flüssigen Tempi zog er die Sätze durch. Gewiss wurde phrasiert und geatmet, doch das Orchesterrubato, das die Expression erhöht, war auch hier seine Sache nicht. Viel eher machte er sich die Differenzierungen im Dynamischen und die Beziehungen zwischen den einzelnen Instrumentalfarben zu eigen.

Drängend entfaltete sich der Kopfsatz, die punktierten Rhythmen wirkten geradezu springend, und schon hier kam es zu glänzenden Soli, etwa zwischen Horn und Flöte. Der Ländler des zweiten Satzes geriet so derb, wie es sich Mahler möglicherweise gewünscht hat, unglaublich wuchtig auch in den rechts vom Dirigenten sitzenden zweiten Geigen, während die Burleske des dritten Satzes in ihrem Schwung fast beängstigende Züge annahm. Sehr fliessend und damit geradezu als ein Stück moderner Musik klingend schliesslich das Finale, das vielleicht etwas vordergründig klang, am Schluss aber zu jener Ruhe fand, die hier geboten ist. In seiner Konsequenz überzeugte der Zürcher Mahler nicht weniger als der Luzerner. Denn: Viele Wege führen nach Rom.

Das Lucerne Festival Orchestra auf dem Weg zu einem anderen Dasein

 

Von Peter Hagmann

 

Lange dauert dieser Abschied – der Abschied vom Lucerne Festival Orchestra unter der Leitung seines Initianten Claudio Abbado. Bald werden fünf Jahre vergangen sein seit dem Tod des Dirigenten; seine Taten jedoch, sie überdauern die Zeiten und prägen die Erinnerung bis heute. So gedacht am Ende des dritten von drei Konzerten, an denen das Lucerne Festival Orchestra mit seinem Chefdirigenten Riccardo Chailly zum Einstieg in das sommerliche Gipfeltreffen der Orchester am Vierwaldstättersee beigetragen hat. Mit Anton Bruckners Sinfonie Nr. 7 betrat das Festivalorchester an diesem Abend erstmals wieder jenen Bereich des Repertoires, den es mit Abbado so eindrucksvoll gepflegt hatte. Das Ergebnis des Versuchs gab zu denken.

Das reine Gegenteil davon, nämlich einen in jeder Hinsicht hinreissenden Auftritt, hatten Chailly und das Lucerne Festival Orchestra am Abend zuvor geboten. Vier Werke Maurice Ravels waren angesagt, das zeugte von Mut – denn in weiten Kreisen zählt der Franzose aus dem Umfeld der Impressionisten noch immer zu jenem Bereich der Musik, denen nicht wenige Zuhörer doch lieber aus dem Wege gehen. Darüber hinaus wurden die vier Werke Ravels nicht nur in technisch untadeliger Weise realisiert, sondern auch interpretatorisch höchst eigenständig und überaus anregend dargeboten. Kein Wunder, gab es am Ende des Abends eine stehende Ovation wie in den besten Zeiten, während die Orchestermitglieder mit den Füssen abstimmten und für ihren Dirigenten aufs Podium trommelten.

Le Roi est mort, vive le Roi. Es ist nun einmal nicht zu leugnen, dass das Lucerne Festival Orchestra mit seiner Aura des Extraterrestrischen, wie sie sich in den ersten zehn Jahren seines Bestehens entfaltet hat, Vergangenheit ist – endgültig. Zugleich wird jedoch immer fassbarer, dass das Orchester sehr wohl weiter besteht, wenn auch unter anderen Prämissen, mit einem anderen Auftritt, in einem anderen Klangbild. Vom Musizieren in Freundschaft und dem Orchesterspiel als Kammermusik im Grossen ist kaum mehr die Rede, mit Chailly steht ein Dirigent am Pult, der die Leine entschieden in die Hand nimmt: kompetent, reflektiert und gegenwartsbezogen. Die Exzellenz ist dadurch nicht tangiert, sie hat inzwischen ein anderes Gesicht. Gerade darum ist die Frage, ob Chailly der Richtige sei, vollkommen obsolet. Chailly ist nicht der Richtige, er ist der einzig Richtige.

Er ist es darum, weil er – das ist jetzt, nach seinem dritten Jahr am Pult, klar erkennbar – mit dezidiertem Wollen in eine eindeutig andere Richtung strebt. Zugegeben, Bruckners Siebte war kein Glanzstück – der Druck war vielleicht doch zu gross, die Probenzeit möglicherweise zu knapp bemessen. Die Musiker an den vier Wagner-Tuben hatten da und dort ihre liebe Mühe mit der Intonation, dem neuen Solo-Trompeter gelang es nicht immer, das klangliche Tüpfelchen aufs i zu setzen, und wenn Einsätze der Flöten klapperten, so liess das auf Mängel im gemeinsamen Atmen schliessen. Keine Frage, dass solche Geschehnisse das Klima einer Aufführung beeinflussen und Kettenreaktionen auslösen, die am Ende schwer zu kontrollieren sind.

Indes ist das nur die eine Seite. Die andere zeigte eine Bruckner-Interpretation, die weder die mächtige Geste noch das Pastose scheut, darob aber niemals ins Pathetische kippt. Den Kopfsatz nahm Chailly sehr gemessen, was ihm erlaubte, die Verläufe ruhig und breit ausschwingen zu lassen. Da er zugleich dem von Bruckner notierten Alla breve, dem Schlag in halben Takten, treu blieb, kam der Fluss nie ins Stocken. Noch weiter in diese Richtung ging Chailly im Adagio des zweiten Satzes, der sich in stetem, langsamem Drängen zu ungeheurer Spannung staute – bis dann der Beckenschlag eine regelrechte Katharsis auslöste. Scherzo und Finale wirkten danach wie Schritte auf ein neues Leben hin. Das auch im Klanglichen, denn zumal im letzten Satz brach eine Kraft sondergleichen durch: ein Fortissimo der schönsten Rundung.

Auch die beiden Ouvertüren Richard Wagners, die Bruckners Siebter vorangingen, lebten von der opulenten klanglichen Pracht, zu der das Orchester mit Chailly findet. Besonders bemerkenswert geriet das Vorspiel zur frühen Oper «Rienzi», auf das jenes zum «Fliegenden Holländer» folgte. Wie sich Wagner, das bewunderte Vorbild Bruckners, in dieser Partitur an Vorgängern orientierte, etwa am enthusiastischen Ton Carl Maria von Webers in dessen Oper «Euryanthe» oder an der fröhlichen harmonischen Einfachheit der italienischen Oper, das arbeitete Chailly in kraftvoll gestaltend heraus. Wobei er dem Abgleiten in jene bombastische Äusserlichkeit, die der dieser Ouvertüre mit ihren so unterschiedlichen Tonfällen gerne untergejubelt wird, gekonnt aus dem Wege ging.

Reich an Überraschungen und auf blendendem Niveau geglückt das mittlere der drei Programme, mit denen das Lucerne Festival Orchestra diesen Sommer aufgewartet hat: der reine Ravel-Abend im Zeichen des Tanzes (zum Eröffnungsabend vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 22.08.18). Die zartgliedrigen «Valses nobles et sentimentales» führte Chailly ohne Unterbruch in die aufschiessende Tondichtung «La Valse» über. Er nehme damit eine Idee auf, die Georges Balanchine 1951 in seiner Ravel-Choreographie für das New York City Ballet entwickelt habe, kommentierte Chailly. Mit analytischem Scharfsinn legte der Dirigent aber auch frei, wie viele musikalische Zellen aus «La Valse» schon in den «Valses nobles et sentimentales» angelegt sind – wobei zwischen den beiden Werken fast ein Jahrzehnt und ein ganzer Weltkrieg liegen. Jedenfalls war die Verbindung der beiden Werke zu einem einzigen ein Akt von grandioser Wirkung, zumal Chailly Verwandtschaft und Distanz deutlich herausstellte.

Wer glaubte, Chaillys Handschrift als Dirigent sei für die Musik der Impressionisten weniger geeignet, konnte sich an diesem Abend eines Besseren belehren lassen. Mag der Klang des Orchesters im Vergleich zu früheren Zeiten (und früheren Besetzungen) deutlich kompakter geworden sein, so lebt er doch von einer unerhörten Vielfalt an Klangfarben. Zum Vorteil gereichte das den beiden Suiten aus dem Ballett «Daphnis et Chloé». Das Nocturne, mit dem die erste Suite anhebt, stieg aus jenem denkbar leisesten Pianissimo auf, das im Lucerne Festival Orchestra Tradition hat, und öffnete sich in eine prächtige Steigerung hinein – auch darum, weil die Instrumentalfarben so sorgfältig ausbalanciert und so klar nebeneinandergesetzt waren. In der Fortsetzung zeigte sich, wie beweglich das Orchester agiert, im Dynamischen ohnehin, aber auch in den kleinen Nuancierungen des Tempos.

All diese Vorzüge unterwarfen sich im finalen «Boléro» dem in strengem Ostinato  durchgehaltenen Dreivierteltakt. Wie die solistisch erscheinenden Orchestermitglieder innerhalb dieses Korsetts ganz unterschiedlich gestaltete Inseln individueller Freiheit ausbildeten, wie sich zudem unter einem riesig gewölbten Bogen die Kräfte ballten, bis sie bei dem überraschenden Harmoniewechsel am Ende auseinanderliefen – das war grosse Klasse. So kann, so darf es weitergehen.

Frische Brise bei Brahms

Eine Gesamtaufnahme der Sinfonien mit Mario Venzago

 

Von Peter Hagmann

 

Vernehmlich knarrt der Holzboden, den die Schweiz ihren musikalischen Künstlern bietet. Der Komponist, Oboist und Dirigent Heinz Holliger hat für seine Lehrtätigkeit Freiburg im Breisgau ausgewählt und wirkt weltweit in den Zentren der klassischen Musik. Sein Komponisten-Kollege Klaus Huber ist ebenfalls nach Deutschland (und Italien) ausgewandert, während unter den Vertretern jüngerer Generation etwa der Dirigent Philippe Jordan zu erwähnen wäre, der seine Standbeine in Paris und Wien gefunden hat. Auch bei Mario Venzago, der eben gerade, am 1. Juli, seinen siebzigsten Geburtstag begangen hat, assoziiert man die Schweiz eher auf den zweiten Blick.

In jungen Jahren arbeitete der in Zürich geborene Dirigent in Winterthur und Luzern, bis er als Generalmusikdirektor nach Heidelberg und als Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie nach Bremen ging. Von dort aus zog es ihn nach Graz und San Sebastian, nach Baltimore und Indianapolis, zu den Schweden, den Finnen und den Briten. In der Schweiz betreute er immerhin einige sehr erfolgreiche Jahre lang das Sinfonieorchester Basel und steht er seit 2010 mit ebenso brillanter Wirkung dem Berner Sinfonieorchester vor. Für Konzertauftritte, erst recht für Leitungsaufgaben bei den führenden Orchestern in Zürich oder Genf scheint Venzago dagegen nicht in Frage zu kommen.

Das ist so typisch wie bedauerlich. Mario Venzago ist ein unbequemer Künstler: ein Interpret in emphatischem Wortsinn. Davon spricht etwa das grosse, wissenschaftliche begleitete Berner Projekt rund um «Das Schloss Dürande», die letzte Oper Othmar Schoecks von 1943, deren braun gefärbter Text umgeschrieben wurde, was zu einer bemerkenswerten Neufassung geführt hat (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 06.06.18). Venzago hat da ebenso in die Partitur eingegriffen, wie er sich erlaubt hat, die «Unvollendete» Franz Schuberts zu vollenden – und wie er sich jetzt mit gleicher Ambition Schuberts Oper «Fierrabras» zuzuwenden gedenkt.

Als Interpret folgt er nicht dem Mainstream, in jedem einzelnen Fall hat er seine eigene Meinung. Das war schon bei der Gesamtaufnahme der Sinfonien Robert Schumanns zu verfolgen, die er in den Jahren 1999 bis 2002 mit dem Sinfonieorchester Basel erarbeitete. Er kam dabei zu Ergebnissen, an denen man sich da und dort reiben konnte, die aber doch wesentlich interessanter wirkten als die wenig später entstandene Einspielung des Tonhalle-Orchesters Zürich mit seinem damaligen Chefdirigenten David Zinman. Ähnliches gilt für die Auslegung der Sinfonien Anton Bruckners, die Venzago zwischen 2010 und 2014 mit nicht weniger als fünf Orchestern unterschiedlichster Provenienz für eine CD-Produktion von cpo erarbeitet hat. Wie er da mit dem Klang und den Tempi umgegangen ist, zeugte nicht nur vom eigenwilligen Naturell des Dirigenten, es hat auch mächtig für Belebung in den Diskussionen um die Interpretation der Sinfonien Bruckners gesorgt.

Und jetzt: Brahms. Schon für die Arbeit an Bruckner, an den Sinfonien Nr. 0, 1 und 5, hat Mario Venzago auf die Tapiola Sinfonietta aus der finnischen Stadt Espoo zurückgegriffen. Der 1987 gegründete Klangkörper, dem er seit 2010 als «artist in association» verbunden ist, verfügt über 41 feste Mitglieder und soll mit diesem Bestand der Meininger Hofkapelle entsprechen, die Brahms so hoch geschätzt und anlässlich der Uraufführung seiner vierten Sinfonie selber dirigiert hat. Darum ging es Venzago: die Sinfonien (und die beiden Serenaden) von Johannes Brahms nicht mit den Instrumenten, aber doch im Geist ihrer Entstehungszeit zu verwirklichen. Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis werden hier ganz selbstverständlich in das hergebrachte Musizieren eingebracht – was zu spannenden Hörerlebnissen führt.

Wer in den meist dunkel und schwer gegebenen Anfang der ersten Sinfonie einsteigt, darf sich überraschen lassen durch ein helles, leichtes Klangbild, in dem die Bläser über ein ganz anderes Gewicht verfügen als gewöhnlich – das Kontrafagott zum Beispiel ist da auf Anhieb zu hören und als reizvolle Klangfarbe wahrzunehmen. Die Streicher wiederum, sie verzichten nicht auf das Vibrato, sie setzen es aber doch sparsam und gezielt ein; wenn im Andante der dritten Sinfonie die Holzbläser mit den Bratschen und den Celli dialogisieren, kommen darum Farbwirkungen von ganz aussergewöhnlicher Dimension zustande. Ausserdem sind die Streicher nach deutscher Art aufgestellt, sitzen die beiden Geigengruppen also links und rechts vom Dirigenten, was der stark ausgebauten kontrapunktischen Faktur dieser Musik zugute kommt. Jedenfalls glaubt man immer wieder ganz wunderbar ins Innere des musikalischen Satzes hineinzuhören – was nicht zuletzt auch auf die von Andreas Werner hervorragend eingerichtete Aufnahmetechnik zurückgeht.

Entspannte Vitalität durchzieht die Aufnahme insgesamt. Dazu trägt auch die bewusste Ausgestaltung von Artikulation und Phrasierung bei. Wird im Kopfsatz der zweiten Sinfonie der Dreivierteltakt durch klare Gewichtsetzung immer wieder spürbar gemacht, so fällt im liebevoll ausmusizierten Andante der Vierten auf, wie das Forte nicht allein durch Lautstärke, sondern ebenso sehr durch die Arbeit an der Länge der einzelnen Töne und ihrer Verbindung miteinander erreicht wird: durch die Artikulation. Besondere Bedeutung kommt jedoch den Tempi zu. Sie bleiben im allgemeinen flüssig und sind weniger modifiziert als in anderen Aufnahmen Venzagos. Dennoch werden auch hier einzelne Gesten wie Momente der Verdichtung durch leichte Veränderungen des Grundtempos unterstrichen. Venzago hält sich dabei an die Ratschläge des Komponisten für den Meininger Hofkapellmeister Fritz Steinbach, die nicht in die Partiturdrucke eingegangen, sondern durch Aufzeichnungen fremder Hand überliefert sind – doch tut er das so diskret, wie es sich die modern denkenden Interpreten des ausgehenden 19. Jahrhunderts gewünscht haben. An Anregung fehlt es hier keinen Augenblick lang.

Johannes Brahms: Die vier Sinfonien, die zwei Serenaden. Tapiola Sinfonietta, Mario Venzago (Leitung). Sony 119075853112 (3 CD).

Der Jungmeister

Krzysztof Urbánski beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Wie Herrgötter spielten sie, die Musikerinnen und Musiker des Tonhalle-Orchesters Zürich. Und das Publikum in der Tonhalle Maag, es sprang nach dem Verklingen des Schlussakkords sogleich von den Sitzen. Das nach einem so gut wie ausverkauften, sonst aber ganz gewöhnlichen Sonntagsspätnachmittagskonzert. Das heisst: So gewöhnlich war das Konzert nicht. Am Pult erschien nämlich Krzysztof Urbánski, der 35-jährige Geheimtip aus Polen, der zurzeit so mächtig von sich reden macht. Und das zu Recht.

Wer Krzysztof Urbánski zum ersten Mal zuschaut, während er ihm zuhört, mag denken, da sei einer am Werk, der sich das Dirigieren durchs Ausprobieren vor dem Spiegel beigebracht und das Handwerk der Körpersprache anhand von Videos mit grossen Dirigenten erlernt habe. In der Tat erscheint seine Zeichensprache als eine Choreographie, die Schaulust erster Güte bietet. Und tatsächlich finden sich in Urbánskis Bewegungsmustern Gesten, die Dirigenten vergangener Zeit aufleben lassen. Der extralange Taktstock, den Urbánski mit letzter Eleganz führt, erinnert an Claudio Abbado, das kleine Fingerspiel der linken Hand an Herbert von Karajan, wenn er einen Chor vor sich hatte, das bisweilen ekstatische Ausbrechen an Lorin Maazel. Da ist vieles durchaus auf Effekt getrimmt, so wie die steile Frisur an ein gesellschaftliches Segment erinnert, das im Konzertsaal gewöhnlich weniger vertreten ist.

Allein, wer nicht nur zuschaut, sondern auch zuhört, wird sogleich bemerken, dass der optische Effekt zwar kalkuliert sein mag, aber ganz und gar nicht im Sinne der Show für das Publikum, sondern in jenem der durch Körperausdruck übermittelten Botschaft an die Adresse des Orchesters. Im Konzert manifestierte sich das darin, dass jede noch so kleine Geste Urbánskis etwas Musikalisches auslöste. Das Tonhalle-Orchester Zürich reagierte so hellwach, wie es nur in den ganz grossen Momenten geschieht, seine Mitglieder handelten in enger Verbundenheit mit dem Dirigenten und gaben allesamt ihr Bestes. Dafür verbrachten sie die Zeit ihrer anspruchsvollen Arbeit in einem Klima der freundlichen Zuwendung – ja, um es etwas plakativ mit Leonard Bernstein zu sagen: der Freude an der Musik. Am Schluss gab es für den Dirigenten auch vonseiten des Orchesters hörbaren Beifall.

Kein Wunder. Krzysztof Urbánski ist unerhört begabt. Und unglaublich anspruchsvoll, vor allem sich selber gegenüber. Vielleicht darum, weil ihm trotz seiner Begabung nichts in die Wiege gelegt war. 1982 in der Kleinstadt Pabianice südlich von Łódź geboren, wuchs Urbánski in einer Familie auf, in der klassische Musik nicht vorkam. Als es um die Wahl eines Instruments für die Musikschule ging, galt seine Neigung der Gitarre – für die es jedoch eine lange Warteliste gab. Plätze frei waren beim Horn, weshalb es dieses Instrument wurde. Über die Hornkonzerte von Richard Strauss und dessen Tondichtung «Don Juan», an der sich das Feuer entzündete, kam Urbánski zum Beschluss, Komponist zu werden – einer wie Richard Strauss. Mit fünfzehn schrieb er eine Sinfonie, bei deren Uraufführung durch Mitschüler er zum ersten Mal dirigierte. So begann es. Urbánski ging zur Ausbildung an die Musikhochschule in Warschau und assistierte dann dem polnischen Dirigenten Antoni Wit in der Warschauer Philharmonie. Das Eigentliche erlernte er in der Provinz, in Trondheim und in Indianapolis. Inzwischen, zum Senkrechtstarter geworden, liegt das Debüt bei den Berliner Philharmonikern hinter ihm.

Mit dem Ruf sind auch die Ansprüche gewachsen. In Hamburg, wo er seit 2015 als Erster Gastdirigent dem NDR Elbphilharmonie Orchester verbunden ist, sagte er einem Journalisten, er dirigiere im Prinzip auswendig, in den Konzerten ohnehin, aber auch in den Proben. Erst wenn er ein Stück restlos memoriert habe, glaube er es verstanden zu haben – der Satz könnte von Abbado stammen. Und wie Abbado lernt er nicht nur auswendig, er prüft auch bis in alle Einzelheiten, was er sich aneignet. Für seine Aufnahme von Antonín Dvořáks Sinfonie Nr. 9 in e-moll konsultierte er das Autograph sowie die Orchesterstimmen, die für die Uraufführung 1894 in New York verwendet wurden. Manches ist ihm durch die eingehende Beschäftigung mit dem Notentext klar geworden. Zum Beispiel die Tatsache, dass im Kopfsatz die langsame Einleitung in einem einzigen Tempo durchgezogen und daraus das Zeitmass für den schnellen Teil des Satzes abgeleitet werden muss. Auch die gerne ausgelassene Wiederholung in diesem Satz ist ihm heilig, die Proportionen gewännen dadurch ganz andere Fasslichkeit. Auf dieser Basis hat er das Stück mit dem Hamburger Orchester erarbeitet. Die Aufnahme ist eine Sensation; sie bildet den Höhepunkt in der Reihe der bisher drei vorliegenden CDs, die ausserdem von Witold Lutosławski das Konzert für Orchester und die Sinfonie Nr. 4 sowie Igor Strawinskys «Sacre du printemps» enthält.

Mit Dvořáks Neunter hat Krzysztof Urbánski nun auch seine zweites Gastspiel beim Tonhalle-Orchester Zürich abgeschlossen. Eine überaus bewegende Auslegung war da zu erleben, ungefähr das Gegenteil all der unzähligen Deutungen, die den knalligen Amerikanismus in den Vordergrund rücken. Schon die Artikulation des ersten Themas im Kopfsatz liess aufhorchen, weil der viertaktige Verlauf unter einen einzigen Bogen genommen war. Später beim Eintritt des zweiten Themas verzichtete Urbánski auf die hier übliche, von der Partitur aber nicht geforderte Verlangsamung, was der formalen Geschlossenheit ebenfalls förderlich war. Sehr langsam, aber emotional hochgradig erfüllt das Largo des zweiten Satzes; es wurde zu einem autobiographischen Moment, zum Ausdruck von Trauer und Sehnsucht. Das Orchester trat da förmlich aus sich heraus. An seinem Englischhorn schien Martin Frutiger aufstehen zu wollen, so intensiv und glühend blies er seine wunderbaren Solopassagen. Und das Pianissimo war – selbst in den Oboen und den Fagotten, die mutig an ihre Grenzen gingen – derart auf ein hauchzartes Schimmern zurückgenommen, dass das Vergehen der Zeit aufgehoben wirkte. Besonders überraschend aber der Schluss des Satzes, wo sich die Musik Schritt für Schritt entfernt, indem sie bis auf ein Streichtrio der Stimmführer reduziert wird: Was Urbánski da durch das Herausheben des Cellos gegenüber der Geige an Färbungen erzielte, wie wörtlich er ausserdem die Fermaten nahm, war absolut berückend. Ein für altvertraut gehaltenes Stück ist hier wie neu erschienen – das ist es, was Interpretation im besten Fall zu leisten vermag.

Nicht minder eindrucksvoll war der Einstieg mit der «Moldau» gelungen, dem ersten Teil aus der Sinfonischen Dichtung «Mein Vaterland» von Friedrich Smetana. Auf den ersten Blick war offenkundig, dass Urbánski nicht wirklich den Takt schlug; die notwendigen Zeichen gab er, vor allem aber setzte er Energien in Gang und steuerte er den Fluss: eine silberglänzende Moldau, die sich mit leichtem Wellenschlag durch milde Landschaften schlängelte, an einem belebten, aber nicht tollpatschigen Bauerntanzfest vorbeikam und sich dann in heller Ferne verlor. Sehr poetisch war das und sehr bildhaft, dabei klanglich delikat und bis in letzte Verästelungen austariert. Grossartig zu erleben, dass das Tonhalle-Orchester Zürich dazu in der Lage ist; und alles andere als selbstverständlich, dass es sich im Rahmen eines Gastdirigats ereignete – Krzysztof Urbánski ist eben alles andere als ein Spiegeldirigent, er ist ein Jungmeister seines Fachs. Hochinteressant in der Mitte dieses rein tschechischen Programms auch die Begegnung mit dem ersten Konzert für Violoncello und Orchester von Bohuslav Martinů, einem vielgestaltigen Stück, dem Sol Gabetta mit der Schönheit ihres Tons, der Klugheit ihres Phrasierens und der ihr eigenen Energie starkes Profil verlieh.

Aufnahmen mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester Hamburg und dem Dirigenten Krzysztof Urbánski:
Witold Lutosławski: Konzert für Orchester, Kleine Suite, Sinfonie Nr. 4. Alpha 232 (2015)
Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 9 in e-moll («Aus der Neuen Welt»), Heldenlied. Alpha 269 (2017)
Igor Strawinsky: Le Sacre du printemps. Alpha 292 (2017).

Orchesterfrühling in Winterthur

Konzerte mit dem Musikkollegium und Thomas Zehetmair

 

Von Peter Hagmann

 

Seit Samuel Roth als Direktor das Heft in die Hand genommen hat und seit der Geiger Thomas Zehetmair, der immer häufiger auch zum Taktstock greift, als Chefdirigent gewonnen werden konnte, kommt das Musikkollegium Winterthur zusehends in Fahrt. Die Programme erhalten mehr und mehr Profil, das Orchester steht auf bemerkenswerter Höhe, die Stimmung im Saal ist ausgezeichnet. Vor kurzem, als Thomas Zehetmair zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen im Winterthurer Stadthaus Beethovens Violinkonzert darboten, kam es zu Jubel und Stehapplaus. Zu Recht. Zehetmair gab den Solopart nicht nur so gut wie makellos, sondern auch stilistisch ganz auf der Höhe der Zeit – kein Wunder, hat der Geiger das Konzert doch mit Frans Brüggen erarbeitet und 1997 auf CD aufgenommen. Dazu gesellte sich eine Intensität des musikalischen Empfindens, die in ganz sonderbarer Weise gefangen nahm. Das Orchester war voll bei der Sache, der Auftritt ohne Dirigent scheint ihm vertraut, und es trug seinen als Solist präsenten Chefdirigenten auf Händen.

Tatsächlich hat Zehetmair enorm Energie ins Orchester gebracht – und dass er an seiner Seite Roberto Gonzáles Monjas, einen grossartigen, ambitionierten Geiger und Dirigenten, als Konzertmeister wirken lässt, ist aussergewöhnlich genug. Bei Beethoven war er aus verständlichen Gründen nicht dabei, wohl aber bei Bruckners dritter Sinfonie, die Zehetmair eine Woche vor dem Auftritt mit Beethoven in einem Hauskonzert in der Stadtkirche Winterthur präsentierte. Und zwar, was nur wenige Dirigenten wagen, in der zweiten Version, nicht in der dritten, die als Fassung letzter Hand einen besonderen Status geniessen mag, aber nicht ausschliesslich von Bruckner erstellt wurde. Die zweite Fassung klingt nicht so radikal wie die erste, lässt die Intentionen des Komponisten aber doch in aller Schärfe erkennen. Zumal in einer derart frischen, auf Tempo und klangliche Transparenz ausgerichteten Interpretation, wie sie das Musikkollegium und Zehetmair zum Besten gaben. Allein schon die Besetzung, sie war kammermusikalisch gedacht, liess den Bläsern ganz selbstverständlich Raum und sorgte damit für strukturelle Klarheit. Schade nur, dass die beiden Geigengruppen nicht in deutscher Manier links und rechts vom Dirigenten sassen; da gingen einige dialogisch angelegte Momente doch im Gesamtklang unter. Die Anregung war gleichwohl hoch; Bruckners Dritte erklang weniger als weihevolle Verbeugung des Komponisten vor seinem Vorbild Richard Wagner denn als Zeugnis eines Künstlers, der scharf konzipierend seinen eigenen Weg sucht.

Dass in der Woche darauf, vor dem Violinkonzert Beethovens, die dritte Sinfonie in Es-dur von Robert Schumann erklang, hat nichts mit Zahlen zu tun. Eher spielt es auf die Tatsache an, dass sich Bruckner, wie Hans-Joachim Hinrichsen gezeigt hat, in seiner Dritten mehr oder weniger explizit auf Schumanns «Rheinische» bezieht. Der langsame Satz dieser Sinfonie beginnt in einem Ausdrucksmodus – er ist mit «feierlich» überschrieben – und in einer musikalischen Konstellation, die von Bruckner übernommen worden sind. Den grossen Ton dieses vierten Satzes trafen Zehetmair und das Musikkollegium Winterthur sehr überzeugend, obwohl der Dirigent im ganzen Stück auf Spaltklang setzte, die Instrumentalfarben also nicht so sehr ineinander übergehen liess, als dass er sie nebeneinander stellte und so das Liniengeflecht in den Vordergrund stellte. Nicht zuletzt dadurch kam auch hier beim Zuhören der Eindruck auf, einer grossen Kammermusik beizuwohnen – einer äusserst gepflegten Kammermusik mit lebendiger Phrasierung, schönen Übergängen und ausgesuchten Beiträgen einzelner Orchestergruppen, etwa der Bratschen im dritten Satz und der Trompeten im Finale. Gerne wüsste man in solchen Momenten, wer im Orchester mit von der Partie ist; wenn im Programmheft schon Gönner und Sponsoren namentlich genannt werden, warum nicht die Orchestermitglieder?

Beide Abende enthielten, auch das versteht sich nicht von selbst, einen Kern mit neuer Musik. Zwischen Schumann und Beethoven standen, als Uraufführung eines Auftragswerks, die «Steinwellen» des Berners Daniel Glaus. Und vor Bruckners Dritter glänzte der Winterthurer Solobratscher Jürg Dähler im Bratschenkonzert Friedrich Cerhas, einem geheimnisvollen, klangschönen Stück von 1993, das nicht nur mit Alban Berg zu tun hat, sondern auch mit Anton Bruckner – was auszusprechen nicht ehrenrührig ist, auch wenn der Komponist den Satz mit strikter Ablehnung quittierte.