Kein Ende der Geschichte

Bachs h-moll-Messe mit William Christie

 

Von Peter Hagmann

 

Als bei der Osterausgabe des Lucerne Festival 2015 – die entsprechende CD folgte wenig später – John Eliot Gardiner seinen Blick auf die Messe in h-moll von Johann Sebastian Bach vorstellte, konnte man sich an einen Endpunkt in der Kunst der musikalischen Interpretation versetzt fühlen. Derart kompakt und zugleich agil klang der Monteverdi Choir, derart ausdrücklich sprachen die English Baroque Soloists die Musik aus, dass sich ein non plus ultra nicht denken liess. Das Ende der Geschichte gibt es natürlich keineswegs, die klingende Kunst ist ein lebendig Ding, das sich als solches von Tag zu Tag verändert – und gerade darum weiterlebt. Nichts macht das besser greifbar als die jüngste CD mit William Christie und den Mitgliedern des von ihm gegründeten Ensembles «Les Arts Florissants». Sie gilt der h-moll-Messe Bachs und stellt interpretatorisch nicht weniger als eine Art Gegenentwurf zur Deutung Gardiners dar.

Einen nicht nur äusserst valablen, sondern auch einen sehr anregenden Gegenentwurf. Dass die h-moll-Messe als Kulmination in der vokalen Polyphonie Bachs, ja als Summe seines künstlerischen Lebens gesehen werden muss, steht auch für Christie fest; er lässt es in der bei Harmonia mundi erhältlichen CD durch einen fundierten Text des renommierten Bach-Forschers Christoph Wolff darlegen. Christie selbst fügt diesen Ausführungen indessen Gedanken an, die erkennen lassen, dass er die h-moll-Messe nicht nur als Vermächtnis, nicht nur als Denkmal wahrnimmt, dass er in ihr vielmehr auch hört, wie vital Bach auf seine musikalische Umwelt reagiert hat. Darum trägt die Messe bei Christie weniger den Charakter eines feierlichen Schlusspunkts. In seiner Auslegung klingt sie eher wie ein Moment fröhlich belebter Gegenwärtigkeit.

Das wird gleich im eröffnenden «Kyrie» hörbar. Während der Chor bei Gardiner gerade darum frappiert, weil er in seiner unglaublichen Homogenität wie mit einer einzigen Stimme zu sprechen scheint, gibt sich das etwas kleiner besetzte Vokalensemble der «Arts Florissants» bewusst als eine Gruppierung einzelner Stimmen. Nicht alles ist da auf Klangverbindung und Abmischung ausgerichtet, es sind durchaus stimmliche Individualitäten hörbar, auch ein die Homogenität brechendes Vibrato und ein fast laszives Portamento treten da und dort auf. Dafür herrscht eine unerhörte Beweglichkeit, die bis zur makellosen Ausführung von Verzierungen reicht, wie sie sonst nur in der solistisch besetzen Instrumentalmusik üblich sind.

In ähnlicher Weise leichtfüssig bewegt sich das stilistisch hochgradig versierte Instrumentalensemble, das im Generalbass neben der im sakralen Kontext obligaten Orgel ein Cembalo einsetzt. An ihm wirkt der Dirigent William Christie, der hier nicht nur als Dirigent agiert, sondern sich auch als Musiker zu den Musikern gesellt. So stellt sich denn auch ein Geist der Kammermusik ein, der den ins Grosse, ja Majestätische zielenden Tonfall vieler Aufführungen der h-moll-Messe, auch jener mit Gardiner, aus den Angeln hebt, ohne dass dadurch jedoch die Musik Bachs verkleinert würde. Interpretation, auch wenn sie ganz und gar dem Text verpflichtet bleibt, kann schon ausserordentlich wirksam werden.

Eindrucksvoll auch die Solisten. Mit ihrem hellen Sopran bildet Katherine Watson, die keineswegs aufs Vibrato verzichtet, es aber ebenso gekonnt wie lustvoll einsetzt, einen munteren Diskant. Während Tim Mead mit seinem klar zeichnenden Countertenor markante Kontraste einbringt und in seiner Arie «Qui sedes ad dextram patris» mit einem enorm weiten Atem auffällt. Grossartig in Timbre wie Stimmführung der Tenor Reinoud Van Mechelen, leuchtend der Bass von André Morsch, der die vom Jagdhorn und den beiden Fagotten konzertant belebten Arie «Quoniam tu solus sanctus» zu einem Höhepunkt macht. Aufnahmen, die in so reichem Masse zum Mitdenken anregen, wie sie Hörlust erzeugen, sind alles andere als alltäglich.

Johann Sebastian Bach: Messe in h-moll BWV 232. Katherine Watson (Sopran), Tim Mead (Countertenor), Reinoud Van Mechelen (Tenor), André Morsch (Bass), Les Arts Florissants, William Christie. Harmonia mundi 8905293.94 (2 CD). Die Edition erscheint am 9. März 2018.

Im Paradies

Schubert-Sonaten mit dem Pianisten Krystian Zimerman

 

Von Peter Hagmann

 

Einer Aufnahme wie dieser begegnet man im besten Fall alle zehn Jahre einmal. Lange hat er sich Zeit gelassen, geduldig hat er gewartet, bis der Moment für ihn da war – so ist es nun einmal bei Krystian Zimerman. Er ist ein Perfektionist, überdenkt die Sache noch und noch, lauscht den Schwingungen seiner Seele nach, feilt an der Technik. Auch an der Klaviertechnik. In enger Zusammenarbeit mit einem Klavierbauer hat er eine Tastatur entwickelt, deren Hämmer die Saiten an einem etwas anderen Ort anschlagen, den Tastengang leichter machen und das Obertonspektrum verändern soll. Diese Einrichtung ist in einen handelsüblichen Konzertflügel eingebaut – hier wohl in einen Steinway, das Booklet sagt nichts dazu, aber das Instrument klingt danach. Für die Aufnahme selbst hat sich Zimerman mit dem berühmten Tonmeister Rainer Maillard und seinem Team eine Arbeitswoche lang in einen japanischen Konzertsaal eingeschlossen und ist dort, bisweilen bis in die frühen Morgenstunden hinein, der Sache auf den Grund gegangen.

Da bleibt denn kein Wunsch offen. Schon allein aufnahmetechnisch. Vor allem beim Hören über Kopfhörer klingt die Einspielung so, als sässe der Zuhörer an des Pianisten Stelle. Der Flügel entwickelt eine packende Körperhaftigkeit, und dennoch bleibt jene Spur Distanz, die einen überaus eindrücklichen Raum spürbar werden lässt – jedenfalls stellt sich nie der Eindruck ein, die Mikrophone hingen gleichsam über den Saiten. Und dann das Instrument selbst: grossartig. Weich im Anschlag, von einer sanften Kantabilität und reich an Obertönen. So reich, wie ein guter Steinway sein kann, aber zugleich so fern jeder metallenen Härte, vielmehr so geschmeidig wie ein erstklassiger Bösendorfer. Ein Hybrid also, der in seinem klanglichen Glanz die Gegenwart spiegelt, in seiner Intimität jedoch einem Fortepiano aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts gleicht. Dass sich ein Interpret nicht an sein sein Instrument anpasst, dass er nicht kreativ mit dessen Begrenzungen umzugehen sucht, sondern umgekehrt das Instrument auf seine künstlerischen Intentionen hin optimiert, das ist absolut ungewöhnlich, hier aber ein Vorteil erster Güte.

Hier: bei den beiden letzten Klaviersonaten Franz Schuberts, jener in A-dur und jener in B-dur, D 959 und 960. Begegnet man den Werken in dieser Aufnahme mit Krystian Zimerman, muss man immer wieder tief durchatmen. Am Ende erhebt man sich als ein anderer: tief berührt, verzaubert, erschüttert. Gerade weil er den Flügel in einer so unwiderstehlichen Lieblichkeit zum Singen bringt, gerade weil er seine leisen Töne in einer Vielfarbigkeit sondergleichen klingen lässt, dringt Zimerman in emotionale Bereiche vor, die dem Wort definitiv verschlossen bleiben. Das gelingt diesem Ausnahmepianisten, weil er sich nicht selbst darstellt, weil er nicht die als ungewohnt auffallende Formung sucht, sondern ganz nah am Text bleibt und sich in dessen Dienst stellt.

Staunenswert ist allein schon die Art und Weise, wie er im Kopfsatz der A-dur-Sonate die durchgehend präsenten Ton- und Akkordwiederholungen in die Hand nimmt – da beginnt die Musik zu sprechen. In eine ähnliche Richtung weist der Umgang mit den Tempi, etwa die Energie, die Zimerman ebendort aus einem Absturz in Achtel-Triolen herausholt, um sie dann in einer Pause aufzufangen. Besonders erstaunlich der zweite Satz, dessen fest voranschreitender Drei-Achtel-Takt an den Wanderer der «Winterreise» erinnert – und tatsächlich explodiert dieses Andantino nach einem quasi normalen, regelmässigen Beginn in einen Wahnsinn hinein, der einen bange werden lässt. Und dass die tiefen Akkorde, die der linken Hand in den letzten Takten zugeordnet sind, auch auf einem Steinway verständlich werden können, Krystian Zimerman lässt es hören.

Die Aufnahme dieser A-dur-Sonate schliesst würdig an die wegweisende Deutung der Impromptus D 899 und D 935 an, die Zimerman 1990 vorgelegt hat. Mit der Einspielung der B-dur-Sonate wiederum nimmt der Pianist den Faden auf, den Svjatoslav Richter 1961 ausgelegt hat, ohne freilich dessen Extravaganzen mitzunehmen. In aller Ruhe (und mit allen Wiederholungen) breitet Zimerman diese weit ausgreifende Musik aus. Von unerhörter Schönheit das Sottovoce im Kopfsatz, das Andante sostenuto in gemessener Würde – und dort sind die Harmoniewechsel so ausgearbeitet, dass einem die Luft wegbleibt. Ein Stück künstlerischer Lebenserfahrung kommt da zum Ausdruck.

Franz Schubert: Klaviersonaten in A-dur und B-dur, D 959 und 960. Krystian Zimerman. Deutsche Grammophon 4797588.

Mozart, aber nicht Wolfgang Amadeus

Eine anregende CD der Pianistin Yaara Tal

 

Von Peter Hagmann

 

Frappant, die beiden Portraits die sich genau in der Mitte des Booklets gegenüberstehen. Sie zeigen zwei junge Männer mit hoher Stirn, den einen gemalt im Jahre 1829, er war damals neunzehn, den anderen 1825 als Sechsunddreissigjährigen. Es sind Frédéric Chopin und Wolfgang Amadeus Mozart Sohn. So wurde er genannt, von seinem Stiefvater zum Beispiel, das sagt schon alles. Franz Xaver Mozart, dies sein wirklicher Name, kam als jüngstes Kind Mozarts und seiner Frau Constanze kurz vor dem Tod seines Vaters zur Welt. Vier seiner Geschwister, zwei Brüder und zwei Schwestern, erreichten das Erwachsenenalter nicht; als Nachkommen eines grossen Vaters übrig blieben Franz Xaver und sein um sieben Jahre älterer Bruder Carl Thomas Mozart. Der führte, nach erfolglosen Anfängen als Musiker, eine bescheidene Existenz als Beamter in Mailand – während sein Bruder Franz Xaver, nicht zuletzt auf mehr oder weniger sanften Druck seiner Mutter, tatsächlich Musiker wurde, Komponist nämlich, und dabei eine ziemlich traurige Figur machte.

Jetzt aber fällt helles Licht auf Franz Xaver Mozart. Zu verdanken ist es Yaara Tal, die gewöhnlich zusammen mit Andreas Groethuysen in einem berühmten Klavierduo auftritt, hiermit jedoch ihre zweite Solo-CD vorgelegt hat. Sie identifiziert sich – nachzulesen in einem brillanten Beitrag der Pianistin zum Booklet ihrer CD – mit dem Schicksal Franz Xaver Mozarts, der als Komponist wenig zu Kenntnis genommen wurde, sein Leben als musikalischer Hauslehrer verbrachte und lange Jahre mit einer Frau liiert war, die mit einem zwanzig Jahre älteren Mann verheiratet und somit nicht zu bekommen war. Und sie lässt dem Komponisten Gerechtigkeit widerfahren – einem Künstler, der aus der Welt der Klassik kam und an der Schwelle zur Romantik stand. Davon zeugen etwa zehn «Polonaises mélancoliques» aus den Jahren 1811 bis 1818: kurze, von der Struktur her einfach gebaute Stücke mit einem zwei Mal gespielten Aussenteil in Moll und einem Mittelteil in Dur. Was diese Werke in den engen Grenzen an Ausdruck erzeugen, sorgt indessen immer wieder für Ah und Oh.

Das geht nicht zuletzt auf die Interpretin zurück. Liebevoll wendet sich Yaara Tal dieser zarten, innerlichen, bisweilen auch wieder heftig aufschiessenden Musik zu, sie horcht in sie hinein und bringt mit sprühender Darstellungskunst ans Licht, was sie dabei entdeckt hat. Ihr glänzender, obertonreicher Klang bildet die Basis – wobei das dynamische Spektrum, der Entstehungszeit der Werke gemäss, in angemessenen Grenzen gehalten bleibt. Im Vordergrund stehen nämlich die Farben des Klaviers und, vor allem, die Artikulation. Mit einer Fülle und einer Vielfalt an Spielweisen zwischen Legato und Non-Legato bringt Yaara Tal die zu Kunst gewordene Tanzmusik zum Schwingen, mit ihrer Anteilnahme und ihrer Einfühlung aber auch zum Träumen, mit ihren munteren Einfällen zu Überraschungseffekten. Manche Passage scheint direkt aus dem Leben des Komponisten gegriffen, die Momente stiller Melancholie berühren ganz besonders. Sie zeigen aber auch, wie in diesen Kompositionen die Entwicklung einer Gattung nach der Richtung der Romantik hin vorangetrieben wird.

Dorthin hat sich auch Frédéric Chopin bewegt. Und das eben schon früh in seinem Leben, wovon drei Polonaisen zeugen, deren erste kurz nach den «Polonaises mélancoliques» von Franz Xaver Mozart entstanden ist. Um ein Kinderstück handelt es sich da, der Komponist war bei der Niederschrift elf Jahre alt, aber Chopin war ähnlich wie Mozart ein Hochbegabter, der früh begonnen und früh geendet hat. Bei aller Nähe zwischen Mozart Sohn und Chopin, besonders im Atmosphärischen, scheint mir die Fallhöhe aber doch spürbar zu werden. Die Imagination des jungen Chopin bewegt sich schon in ganz anderen Sphären, zudem sind die Spuren der eigenen Handschrift des Komponisten nicht zu überhören. Gerade darum hat die Begegnung zwischen dem Sohn und dem Kind ihren ganz eigenen Reiz.

Polonaise. Franz Xaver Mozart: Polonaises mélancoliques op. 17 und op. 22. Frédéric Chopin: Drei frühe Polonaisen. Yaara Tal (Klavier). Sony 88985446942.

Tschaikowskys «Pathétique» – subjektiv und textgetreu

Eine Neuaufnahme mit dem Dirigenten Teodor Currentzis

 

Von Peter Hagmann

 

Im Fall von Peter Tschaikowskys Sinfonie Nr. 6, der «Pathétique», galt (und gilt) die Aufnahme, die Jewgeny Mrawinsky 1982 mit den damaligen Leningrader Philharmonikern erarbeitet hat, als das Mass aller Dinge. Jetzt hat diese legendäre Einspielung Konkurrenz erhalten. Wie das im russischen Perm domizilierte Orchester Music Aeterna und sein griechischer Dirigent Teodor Currentzis dieses düstere, nur selten durch lichtere Momente aufgehellte Werk Klang werden lassen, setzt neue Massstäbe. Spieltechnisch lässt die bei Sony erschienene Interpretation keinen Wunsch offen; das Orchester agiert mit stupender Wachheit, zudem mit einem weiten dynamischen Spektrum und einer Vielfalt an Klangfarben, die von den ersten Takten an aufhorchen lassen. Dazu kommt eine Aufnahmetechnik, die ein ungewöhnliches Mass an Transparenz erzielt und so tief ins Innere der Partitur hineinhorchen lässt, ohne dass der Blick auf das grosse Ganze verloren ginge.

Gleich im eröffnenden Adagio fällt ins Ohr, von welchem Pianissimo aus das Geschehen in Fahrt kommt, wie subtil der Klang abgestuft ist und welch kernige Pracht die hier geteilten Bratschen entfalten. Im Allegro tritt dann zutage, wie vielgestaltig Currentzis das Orchester artikulieren lässt – ohne Zweifel eine Frucht der Beschäftigung mit älterer Musik. Ob die Noten Punkte tragen, ob Punkte unter Bögen oder Bögen allein, das macht einen Unterschied, der im philharmonisch homogenisierenden Klang leicht untergeht, der hier aber packende gestische Deutlichkeit schafft. Zudem ist das Orchester in deutscher Art aufgestellt, mit den Ersten und den Zweiten Geigen links und rechts vom Dirigenten, das lässt die Aufnahmetechnik nach Massen hören; bisweilen ist fast wie in einer Raumklang-Installation nachzuvollziehen, wie die Motive durch das Orchester wandern. Das wirft Licht auf die kompositorische Faktur, die hier deutlicher wahrgenommen werden kann als in Aufnahmen, die auf die emotionale Wirkung allein setzen.

An Emotionalität fehlt es Currentzis, was Wunder, allerdings keineswegs. Nicht zuletzt äussert sich das in den Tempi und deren durchaus subjektiver Ausgestaltung. Den mit «molto moderato» überschriebenen Abschnitt im ersten Satz nimmt der Dirigent äusserst getragen; die rhythmisch pointierte Begleitfigur in den hohen Streichern hebt er deutlich hervor, was enorm Spannung erzeugt, die Pauke klingt trocken und weist auf drohendes Ungemach voraus, worauf das Orchester in ein fünffaches Piano absteigt, das sich im nicht mehr Hörbaren verliert. Und dann: eine Explosion, die einen förmlich vom Stuhl reisst; krachend die Bögen, das Tempo hochgetrieben, zugespitzt die klanglichen Ballungen, wobei die einzelnen Instrumentalfarben jederzeit erkennbar bleiben – bewundernswert, was das Orchester, aufgepeitscht von seinem zischenden und fauchenden Dirigenten, hier leistet.

Tatsächlich «con grazia» kommt das Allegro des zweiten Satzes daher. In der Eleganz des 5/4-Taktes bilden der weite Atem der Phrasierungen und die schlechterdings sensationelle Kantabilität der Violinen die zentrale Attraktion. Einen scharfen Kontrast dazu schafft dann das Allegro molto des dritten Satzes. Förmlich vom Boden abspringend die Energie, unerbittlich durchgezogen der Verlauf, das Schicksalsmotiv von einer Schärfe sondergleichen. Nicht erst hier, hier aber ganz besonders kann man an Jewgeny Mrawinsky denken – doch setzt Currentzis die Blechbläser weit weniger krass in Szene, als es der grosse Russe tat. Und die Aufnahmetechnik, die für reichlich Hall sorgt, tut das Ihre dazu, indem sie das Blech auf Distanz hält. Martialisch wie bei Mrawinsky wird es bei Currentzis nie.

Höhepunkt ist auch in dieser Aufnahme das Finale, das sich emotional wie klanglich enorm verdichtet. Auf die Tränendrüse gedrückt wird freilich nirgends. Das ist ja das Besondere an Teodor Currentzis: Er stellt sich als Inbegriff des Exzentrikers dar, der dazu neigt, manche Passage, die vom Komponisten schon explizit genug erfunden wurde, doppelt zu unterstreichen. Tatsächlich kann man sich da und dort fragen, ob das Stück diese Art der interpretatorischen Tautologie benötige, und rasch ist das natürlich verneint, wir sind ja nicht mehr dort, wo sich die Interpreten des frühen 20. Jahrhunderts aufhielten. Wer jedoch genau zuhört und vielleicht gar einen Blick in den Notentext wagt, wird sogleich feststellen, dass Currentzis bei allem Subjektivismus einen gleichsam modernen Ansatz verfolgt. An Fett fehlt es hier vollkommen, was dominiert, ist die Struktur. Wenn dann aber die gestopften Hörner ihre messerscharf schneidenden Klänge von sich geben, ist ein Moment des Erschreckens nicht zu vermeiden.

Peter Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 6. Music Aeterna, Teodor Currentzis (Leitung). Sony 88985404352 (1 CD).

Hindemith – neu entdeckt

«Das Marienleben» mit Rachel Harnisch und Jan Philip Schulze

 

Von Peter Hagmann

 

Ganz so heilig ist es vielleicht doch nicht zugegangen. Im Gedichtzyklus «Das Marien-Leben» von Rainer Maria Rilke erscheint der jungen Frau zwar ein Engel, aber die Blicke, die in diesem Augenblick zwischen den beiden hin- und hergehen, sagen mehr, als die kirchliche Überlieferung nahelegt. Kein Wunder, begehrt der Zimmermann Joseph angesichts der offenkundigen Konsequenzen auf – so sehr, dass es einer energischen Intervention des Engels bedarf. In der Folge zieht das Leben Jesu in dichter Raffung vorbei. Wie Maria nach der Kreuzigung den Leichnam ihres Sohnes an sich nimmt, breitet sich eine Zärtlichkeit aus, die auf das nächste Gedicht verweist; es schildert, wie der Auferstandene seiner Mutter begegnet: in einer Verbundenheit, deren Innigkeit der körperlichen Berührung nicht mehr bedarf.

Und ganz so spröde, wie es das Vorurteil will, klingt es hier auch nicht. Die Musik, die Paul Hindemith für den Gedichtzyklus Rilkes erfunden hat, atmet ihre ganz eigene Sinnlichkeit. Gewiss, die vokale Linienführung ist anspruchsvoll, und der Klavierpart bietet nicht Begleitung herkömmlicher Art, er verkörpert klare formale Prinzipien – zumal in der zweiten Version der Vertonung, die Hindemith 1948, ein Vierteljahrhundert nach einer erste Niederschrift des Liederzyklus, abgeschlossen hat. Ostinate Verläufe, wie sie die Passacaglia ausprägt, stellen sich hier zur Singstimme, Themen mit Variationen und oft auch einstimmige Passagen. So kommt es zu einem Austausch zwischen dem Gesungenen und dem Gespielten, wie er in dieser Intensität einzigartig ist.

Genau darauf setzen die Schweizer Sopranistin Rachel Harnisch und der deutsche Pianist Jan Philip Schulze in ihrer bei Naxos erschienenen Aufnahme von Hindemiths «Marienleben» in der Fassung von 1948. Ihr Zusammenwirken ist denkbar weit entfernt von der Vorstellung einer solistisch geführten Singstimme und eines untermalenden Klaviers. Jan Philip Schulze, ein auf dem Feld des Kunstlieds höchst erfahrener Musiker, gestaltet den Klavierpart geschmeidig und klangschön, vor allem aber stellt er ihn selbstbewusst in den Raum, das erschliesst sich dem Hören bei der ersten Begegnung.

Er kann das tun, weil Rachel Harnisch das Konzept der musikalischen Partnerschaft ihrerseits so lebhaft wahrnimmt. Die reifer gewordene Stimme der Sopranistin, die eben erst in Berlin in der Uraufführung von Aribert Reimanns jüngster Oper «L’Invisible» brillierte, verströmt so viel Wärme und Fülle, dass sie neben den pointierten Beiträge des Pianisten problemlos zu bestehen vermag – ja mehr noch: dass sie die eigenartige Sinnlichkeit der Komposition voll zur Geltung bringt. Die Sängerin gestaltet eben, und sie tut das mit eindringlicher Emphase, hörbar aus den wunderbaren Texten Rilkes heraus, mit vorzüglicher Diktion, aber auch mit so bestechender Sorgfalt der vokalen Ausformung, dass die Balance im Duo jederzeit gegeben ist. Von fröhlichen Weihnachten wird da berichtet und von einem zum Täufer ausersehenen Johannes, der schon im Bauch seiner Mutter strampelnd seiner Vorfreude Ausdruck gibt. Und zu entdecken ist in dieser Aufnahme ein unverkennbarer, aber in gewisser Weise neuer Hindemith.

Paul Hindemith: Das Marienleben (Fassung von 1948). Rachel Harnisch (Sopran), Jan Philip Schulze (Klavier). Naxos 8.573423 (1 CD).

Orchester in der Kammer

Das Mandelring-Quartett spielt Brahms

 

Von Peter Hagmann

 

Mandelring, schon gehört? Nicht der Komponist ist gemeint, nicht der Schriftsteller, nicht der Philosoph – die gibt es nämlich alle nicht. Mandelring ist bloss eine Strasse, sie liegt in Neustadt im deutschen Bundesland Rheinland-Pfalz. Und weil die drei Geschwister Sebastian Schmidt (Violine), Nanette Schmidt (Violine) und Bernhard Schmidt (Violoncello) am Mandelring nicht nur aufgewachsen sind, sondern bis heute arbeiten, nennen sie das Streichquartett, das sie zusammen mit dem Bratscher Andreas Willwohl bilden, eben «Mandelring Quartett». Auf den Bindestrich, der nach deutscher Regel fällig wäre, verzichten sie, denn in Manila, Singapur, Hongkong oder Peking, wohin sie diesen Herbst unterwegs waren, wäre er bloss lästig.

Ja, sie sind gut im Geschäft – kein Wunder, sie sind ja auch schon seit dreissig Jahren dabei. In Berlin und München führen sie eigene Zyklen, wie sie seinerzeit das Alban-Berg-Quartett pflegte, und regelmässig treten sie auf den kammermusikalischen Podien Europas in Erscheinung. Nur in der Schweiz lässt die Präsenz zu wünschen übrig. 2010 waren sie bei der Kammermusik Basel, diesen Frühsommer hat sie Mirella Weingarten zur Schlossmediale Werdenberg eingeladen, wo sie die Uraufführung eines neuen Stücks von Michael Wertmüller besorgten, ansonsten: Funkstille. Aber das kann sich ja noch ändern.

Das muss sich ändern, denn die Aufnahmen, mit denen das Mandelring-Quartett auf dem nach wie vor bestehenden und funktionierenden CD-Markt in Erscheinung tritt, haben es in sich. Die Formation liebt den enzyklopädischen Ansatz. Schubert, Mendelssohn und Janáček, vor allem aber Schostakowitsch haben sich die Mandelrings zugewandt, auch eher peripheren Erscheinungen wie George Onslow und Berthold Goldschmidt, der dem Ensemble sein viertes Streichquartett widmete, galt ihre Aufmerksamkeit. Und inzwischen hat ihre Brahms-Serie Zuwachs erhalten. Nach drei Editionen, in denen den Streichquartetten von Brahms Werke von Zeitgenossen des Komponisten gegenüberstehen, legen sie jetzt auf zwei CD die Streichquintette und die Streichsextette vor. Die Aufnahmen zeugen von der einzigartigen Qualität des Quartetts und bestätigen seinen singulären Ruf.

Was auch hier als erstes auffällt, ist die opulente Sonorität. Sie ist als Markenzeichen jederzeit erkennbar, legt sich aber nicht wie eine immergleiche Farbe über die Interpretationen. Vollmundig dunkel ist der Ton des Ensembles, und das erhält in den beiden Sextetten einen zusätzlichen Akzent, weil die tiefen Stimmen verdoppelt sind. An den beiden Geigen setzen Sebastian und Nanette Schmidt aber Glanzpunkte von leuchtender Helligkeit, im langsamen Satz des B-dur-Sextetts op. 18 von 1860 kommt es sogar zu lichten, zarten, ja irisierenden Klangwirkungen. Sehr überzeugend auch, wie hier der orchestrale Duktus herausgearbeitet wird, während im G-dur-Sextett op. 36 von 1865 die eher kammermusikalisch und kontrapunktisch gedachte Faktur zur Geltung kommt.

Bestechend am Brahms-Bild des Mandelring-Quartetts ist die Verbindung von struktureller Klarheit und Sinnlichkeit der Klanggebung. Im Kopfsatz des B-dur-Sextetts erhält der Dreivierteltakt sprechende Kraft und ruhiges Fliessen zugleich. Im Andante findet die Spannung zwischen dem weiten Ambitus des Themas und seiner klanglichen Auffüllung vorzügliche Wirkung, während die Variationen äusserst phantasievoll ausgestaltet sind. Sehr schön das Tempo im Scherzo, dessen Allegro molto auffallend gezügelt ist, während im pointiert schneller genommenen Trio das feurige Temperament des Ensembles durchbricht. Es zeigt sich da eine Ausdrücklichkeit, die sich im G-dur-Sextett noch zuspitzt. Die Durchführung im Kopfsatz dieses zweiten Sextetts birst beinahe vor Spannung, während der Primgeiger den absteigenden Verläufen kurz vor Schluss des Satzes geradezu existentielle Dimension verleiht. Und dass der rhythmisch komplexe Anfang des langsamen Satzes verständlich wird, darf als Verdienst der Interpreten keinesfalls geringgeschätzt werden.

Die klangliche Homogenität, in dieser Ausprägung ungewöhnlich, geht auf langjährige Übung, aber auch die Tatsache zurück, dass für die Quintette wie die Sextette mit Roland Glassl ein zweiter Bratscher ins Spiel tritt, der ab 1999 bis 2015 festes Mitglied des Ensembles war (bei den Sextetten kommt als zweiter Cellist Wolfgang Emanuel Schmidt dazu). Mit seinem Nachfolger Andreas Willwohl scheint er sich ausgezeichnet zu verstehen, wie die nicht seltenen Momente erweisen, da die Führung von den Bratschen ausgeht. Überhaupt verleiht die klangliche Signatur des Ensembles den beiden deutlich später als die Sextette entstandenen Quintetten – jenes in F-dur, op. 88, von 1882 und jenes in G-dur, op. 111, von 1890 – eine geradezu körperliche Fasslichkeit. Der Einstieg ins G-dur-Quintett lässt hochfliegenden Enthusiasmus anklingen, weil die Begleitfiguren über der Melodie des Cellos nicht in vornehmer Zurückhaltung, sondern lustvoll präsent in den Raum gestellt werden – und dabei zeigt sich auch, dass die Zweite Geige der Ersten absolut ebenbürtig ist. Ungeheuer, welche Intensität hier durch Akzentsetzung und das Ziehen der Töne erzielt wird und wie stark die Farben ausgespielt werden – weshalb sich genau verfolgen lässt, wie in der Durchführung die Gesten durch die Stimmen wandern. Für mein Gefühl störend fallen hier (und auch in den Sätzen drei und vier) jedoch die Schleifer auf, mit denen der Primgeiger, und eben nur er, operiert.

Radikal wird dieser Satz auf die Spitze getrieben. Die Fortsetzung lebt dann aber von der ausgebauten Unterschiedlichkeit der Tonfälle, die dem Mandelring-Quartett zur Verfügung stehen. Der zweite Satz lebt von einem berührenden, gern auch ohne Vibrato gestalteten Pianissimo; die Energie kommt hier zum Beispiel aus den Triolen, die spannungsreich ins gerade Metrum eingefügt werden, und aus der Genauigkeit der Artikulation – ob über Noten Punkte stehen oder Punkte unter einem Bogen, ist nun einmal nicht dasselbe. Hinreissend dann wiederum das spritzige Finale, in dem die fünf Streicher orchestrale Färbungen erreichen, die denen in den Sextetten nicht nachstehen. Hier sind eben, frei nach Goethe, fünf vernünftige Leute im Gespräch.

Johannes Brahms: Die beiden Streichquintette. Mandelring-Quartett. Audite 97724. – Johannes Brahms: Die beiden Streichsextette. Mandelring-Quartett. Audite 97715.

Und sternlos war die Nacht

Eine Schumann-CD mit Matthias Goerne und Markus Hinterhäuser

 

Von Peter Hagmann

 

Vorhang auf für die ersten Salzburger Festspiele. Nein, nicht die ersten an sich, aber doch die ersten, die voll und ganz von Markus Hinterhäuser verantwortet werden. Angesichts der Strahlkraft dieser Aufgabe könnte leicht untergehen, dass Hinterhäuser nicht nur Intendant ist, sondern auch und ebenso sehr Musiker: Pianist. Daran erinnert eine sehr besondere CD, die er zusammen mit Matthias Goerne vorlegt – mit dem Bariton, mit dem er 2014, in der ersten der drei von ihm konzipierten Ausgaben der Wiener Festwochen, Schuberts «Winterreise» in einem szenischen Arrangement von William Kentridge gestaltet und im Rahmen zahlreicher Gastspiele in die Welt getragen hat. Die beiden sind vertraut miteinander, das ist auf Anhieb zu hören. Und zu verstehen ist auch, dass eine so klar auf das Leise, auf das Innerliche, auf das Innehalten ausgerichtete Aufnahme nur entstehen kann, wenn zwischen den Beteiligten vollkommene ästhetische Übereinstimmung, ja Freundschaft herrscht.

Die neunzehn Lieder Robert Schumanns, welche die CD präsentiert, führen von der Sammlung «Myrthen» aus der Zeit unmittelbar nach dem Liederfrühling von 1840 bis weit ins Spätwerk, für welches etwa das «Abendlied» von 1851 steht. Der Aufbau des Programms folgt aber weder der Chronologie noch den Textdichtern, er zeichnet vielmehr thematische und atmosphärische Kurven, wie sie aus vielen von Markus Hinterhäuser für Salzburg erdachten Konzertprogrammen bekannt sind. Um Einsamkeit und Melancholie geht es, um Abschied und Tod, um die Liebe, die «zu Tränen nur gemacht», und die Nacht, in der kein Stern zu sehen ist – so hat es Nikolaus Lenau in seinem Gedicht «Der schwere Abend» in Worte gefasst. Einfache Kost ist das nicht; den Kreuzweg zu durchschreiten verspricht jedoch mannigfache Belohnung.

Denn wie Schumann mit den (qualitativ durchaus unterschiedlichen) Texten umgeht, zeugt eindrücklich von des Komponisten Sinn für prägnant gefasste Ausssagen, ja für Vokale und Konsonanten – und überdies von der ungebrochenen Kreativität auch in den Jahren der Schwermut. Radikal reduziert erscheint bisweilen die Schreibweise, und die beiden Interpreten scheuen keinen Augenblick davor zurück, diese Radikalität in der Umsetzung spürbar werden zu lassen. «Über allen Gipfeln ist Ruh»: In dem berühmten «Nachtlied» Goethes spiegeln sie den von keinem Laut gestörten Naturzustand in einem sehr langsamen Tempo und in Pausen, die ebenso wichtig werden wie das Klingende. Sie bilden damit ab, was Text und Musik meinen, und lassen zugleich die Fragilität des geschilderten Moments spüren.  Mit seiner ganz in der Tiefe ruhenden Stimme singt Matthias Goerne in einer Zurückhaltung, wie sie sich gewagter kaum denken lässt – ohne dass er irgendetwas demonstrieren oder zelebrieren müsste. Und Markus Hinterhäuser steht mit einer Aufmerksamkeit und einer klanglichen Zartheit an Goernes Seite, die des Pianisten Erfahrung im Begleiten von Liedern, aber auch seine Affinität zu langsamer, stiller Musik wie etwa jener von Morton Feldman zu erkennen geben. Äusserst mutig, diese CD. Und grossartig dazu.

Robert Schumann: Einsamkeit – Lieder. Matthias Goerne (Bariton), Markus Hinterhäuser (Klavier). Harmonia mundi 902243.

Entdeckungen mit Telemann

Aufnahmen mit Musik des Barockmeisters

 

Von Peter Hagmann

 

Die Aufnahmen sind zum Süchtig-Werden; sie zählen zum Besten, was es von Georg Philipp Telemann zu hören gibt. Die Rede ist hier von seiner Ouvertüre «Wassermusik» und seiner «Alster-Ouvertüre» sowie dem Violinkonzert mit dem Beinamen «Die Relinge». «Ouvertüre» meint in diesem Fall eigentlich «Suite», die aus Frankreich übernommene Abfolge von Tanzsätzen, die hier aber mit sprechenden Titeln versehen sind und so eine Art früher Programmusik bilden. In der C-dur-Ouvertüre geht es um Wasser und Wind beziehungsweise um die mit diesen Elementen verbundenen Gottheiten, in der Gigue aber auch um die Gezeiten, was dieser Suite zu ihrem zweiten Beinamen «Hamburger Ebb und Fluth» verholfen hat. Noch eindeutiger kommt Hamburg, Telemanns langjähriger Wirkungsort, in der «Alster-Ouvertüre» zur Geltung. Die aus neun Teilen bestehende Suite schildert die Echos der Schiffshörner, das Läuten der Glockenspiele, die Dorfmusik am Ufer, ja sogar «die concertierenden Frösche und Krähen». Der New London Consort und sein am Cembalo agierender Leiter Philip Pickett machen sich in ihrer Aufnahme von 1996 den Spass, das Konzert der Tiere mit launigen Glissandi zu unterstreichen. Im übrigen zeigt das Ensemble rauschende Spiellust im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis. Opulent der Klang des klein besetzten Ensembles, das von einem üppigen Generalbass mit zwei Lauten, zwei Cembali und Orgel getragen wird; reich die Farbwirkungen der alten Instrumente, die auf den Kammerton von 415 Hertz gestimmt sind; explizit Artikulation und Phrasierung, was zu packendem musikalischem Erzählen führt. Am Ende der knapp 75 Minuten muss man sich zusammenreissen, damit man nicht gleich den Repeat-Knopf drückt.

Ist das nicht erstaunlich? Solche Hörlust bei Telemann? Dem Vielschreiber? Dem unermüdlichen Verfasser von Gebrauchsmusik für Hof, Bürgersaal und Kirche? Der Klischees sind viele bei diesem Komponisten, dessen Tod sich dieser Tage zum 250. Male gejährt hat. Der Musiker und Musikologe Siegbert Rampe, der auf diesen Anlass hin beim Laaber-Verlag eine magistrale Telemann-Biographie herausgebracht hat (vgl. NZZ vom 24.06.17),  nährt sie selber, wenn er darauf hinweist, dass es von Georg Philipp Telemann knapp 2000 Kantaten gebe, von Johann Sebastian Bach dagegen nur deren 200 – und daraus implizit den Schluss zieht, dass Telemann von den beiden der wichtigere sei. Tatsächlich war Telemann zu seiner Zeit der berühmteste Komponist Deutschlands, das lässt das bedeutende Buch Rampes sehr genau und in sorgfältiger Dokumentation nachvollziehen. Wo eine Position frei wurde, ging die Anfrage an Telemann – der darum beeindruckende Ämterkumulationen pflegen konnte. Als Hamburg einen neuen Musikdirektor benötigte, verhandelte die Freie und Hansestadt mit Frankfurt am Main, um den Begehrten an die Elbe zu bekommen. Leipzig wollte ihn kurze Zeit danach als Thomaskantor; Telemann lehnte ab, die Messestadt hatte das Nachsehen und musste sich mit Bach begnügen. Telemann wusste eben genau, wie er sich verkaufen konnte – und er wusste es bedeutend besser als Bach. Heute freilich gehört Telemann, anders als Bach, zu den Vergessenen; seine Musik ist bestenfalls in Umrissen bekannt.

Abhelfen möchte dem eine dreizehn CDs umfassende Box, die Warner aus gegebenem Anlass auf den Markt gebracht hat. Mit den für Darmstadt komponierten Ouvertüren, einer Reihe von Instrumentalkonzerten, mit einer Auswahl aus der «Tafelmusik» und den Pariser Quartetten, mit dem Oratorium «Der Tag des Gerichts» und der Oper «Pimpinone» enthält sie einen plausibel wirkenden Querschnitt durch das nicht zu überblickende Schaffen Telemanns. Der Vorteil, dass auch hier in historischer Praxis musiziert wird, gerät freilich, wenigstens partiell, zum Nachteil. Warner kann sich auf beeindruckende Kataloge stützen, zum Beispiel auf jenen von Teldec, wo Nikolaus Harnoncourt bis zur Schliessung des Labels alle seine Aufnahmen publiziert hat. Und so bringt diese Box eine Reihe reizvoller Archivschätze aus der Frühzeit des historisch informierten Musizierens ans Licht. Die Darmstädter Ouvertüren lassen den Concentus musicus Wien in Aufnahmen von 1966 und 1978 hören, Ähnliches gilt für die beiden Vokalwerke. In neueren Einspielungen liegen Instrumentalkonzerte mit den Berliner Barock-Solisten unter der Leitung von Rainer Kussmaul vor sowie, dies nun allerdings in exquisiter Darstellung, die Pariser Quartette mit einem Ensemble um die Geigerin Monica Huggett. Geradezu rührend wirken da die zwei Teile aus der «Tafelmusik», einer von Telemann selbst publizierten Sammlung von Instrumentalmusik unterschiedlicher Besetzung, mit dem Concerto Amsterdam unter der Leitung von Frans Brüggen. Die Musiker, unter ihnen der Trompeter Maurice André, agieren auf der Höhe der Zeit – aber eben ihrer Zeit, und das ist das Jahr 1964. Die Stimmung liegt auf den hergebrachten 442 Hertz, weshalb die Geige Jaap Schroeders dünn und das Cembalo Gustav Leonhardts trocken wirken. Bei aller Ehrfurcht vor den Leistungen, mit denen die Pioniere der historisch informierten Aufführungspraxis Geschichte geschrieben haben: eine geglückte Heranführung an die Musik Telemanns klingt anders.

Sie klingt zum Beispiel so, wie es das Freiburger Barockorchester in seiner Gesamtaufnahme der «Tafelmusik» zum Besten gibt. Ohne teleologischem Denken zu verfallen, muss doch gesagt werden, dass sich die historisch informierte Aufführungspraxis in den vergangenen fünfzig Jahren nicht nur gewaltig, sondern vor allem auch zu ihrem Guten verändert hat. Auf dem heute üblichen, aus der Barockzeit stammenden Kammerton von 415 Hertz klingen die Darmsaiten der Streichinstrumente wesentlich entspannter und darum weicher wie voller; ein einzelner Violone kann unter diesen Voraussetzungen eine staunenswerte Basswirkung erzielen. Dasselbe gilt für die Generalbassinstrumente, namentlich die Cembali. Dazu kommt der ganz selbstverständliche und darum freie Umgang mit den Instrumenten wie ihren Spielweisen – ja mit den Partituren an sich. Das alles macht das Eintauchen in die drei Teile der «Tafelmusik» mit ihren Abfolgen von Suiten, Instrumentalkonzerten und Stücken für Kammerbesetzung zu einem grossartigen Erlebnis. Es lässt erfahren, dass Telemann tatsächlich ein Vielschreiber war, aber einer, der sein Metier so beherrschte, dass ihm das unablässige Komponieren überhaupt erst möglich wurde. Vor allem aber lassen die Aufnahmen aus Freiburg darüber nachdenken, mit welch wachem Geist für die Strömungen seiner Zeit und mit welch unerschöpflicher Phantasie Telemann sein Metier bereicherte. Telemanns Musik gehört entdeckt, da kann man Siegbert Rampe nur zustimmen. Ob er der bedeutendere Komponist als Bach gewesen sei, darf als Frage ruhig dahingestellt bleiben.

 

Musik von Georg Philipp Telemann auf CD:

  • Ouvertüre in C-dur «Wassermusik» oder «Hamburger Ebb und Fluth» TWV 55:C3, Violinkonzert in A-dur «Die Relinge» TWV 51:A4, Ouvertüre in F-dur «Alster-Ouvertüre» TWV 55:F11. New London Consort, Philip Pickett (Leitung). Decca 455621-2.
  • Telemann, the collection. Darmstädter Ouvertüre, Instrumentalkonzerte, Tafelmusik (Auszüge), Pariser Quartette, Kammermusik, «Der Tag des Gerichts» (Oratorium), «Pimpinone» (Oper). Diverse Interpreten. Warner Classics 0190295860134 (13 CDs).
  • Tafelmusik (Gesamtaufnahme). Freiburger Barockorchester, Petra Müllejans und Gottfried von der Goltz (Leitung). Harmonia mundi 902042.45 (4 CDs).