Schauerliches Thema, schönste Musik

«L’incoronazione di Poppea» von Claudio Monteverdi im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Über vierzig Jahre sind vergangen, seit Nikolaus Harnoncourt als Dirigent und Jean-Pierre Ponnelle auf der Bühne die Opern Claudio Monteverdis in Zürich wieder ans Licht gebracht haben. Sie taten es auf Anregung des damaligen Opernhaus-Direktors Claus Helmut Drese, und es darf mit Fug und Recht behauptet werden, dass damals in Gang kam, was heute selbstverständlich wirkt. «Orfeo», «Il ritorno d’Ulisse in patria» und «L’incoronazione di Poppea» gelten längst nicht mehr als Raritäten, die drei Stücke gehören in Europa vielmehr zum Standard-Repertoire. Allerdings ist die Aufführung der Opern Monteverdis noch immer mit besonderen Herausforderungen verbunden. Die Partituren enthalten nämlich nur ein Skelett, meist bloss Singstimme und Bass, alles andere darf und muss, das war im 17. Jahrhundert Tradition, von den Interpreten eigenhändig eingerichtet werden. So ist es auch bei «L’incoronazione di Poppea», der letzten Oper Monteverdis, die jetzt im Opernhaus Zürich Premiere gehabt hat – knapp fünfzehn Jahre nach einer zweiten Produktion des Werks mit Nikolaus Harnoncourt am Pult.

Fast vierhundert Jahre alt ist dieses Stück, und es wirkt, als stamme es von heute. Tatsächlich zeigt «L’incoronazione di Poppea», entstanden wohl 1642, eine Versammlung von Menschen, die nichts anderes kennen als: das Ich. Sei es im Rom Kaiser Neros einige Jahrzehnte nach Christi Geburt, sei es im mächtigen, übersatten Venedig des Komponisten Claudio Monteverdi, sei es heute, im Zeitalter der Willkürherrscher und des Selfiesticks – die Verhaltensmuster sind dieselben. Im Opernhaus Zürich legt Calixto Bieito den Finger nun genau darauf, und er tut das so unbarmherzig, wie es seine Art ist. Die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst hat ihm einen ovalen Laufsteg der Eitelkeiten entworfen; er läuft aus der Bühne heraus über den Orchestergraben in den Zuschauerraum und von dort wieder zurück.  Das schafft eine ungewohnte Nähe – die noch dadurch unterstützt wird, dass die Video-Einrichtung von Sarah Derendinger das Geschehen scharf heranzoomt und auf zwei Mal sieben Bildschirmen links und rechts im Raum vergrössert. Die Bühne selbst ist dominiert von einem steil ansteigenden Podest mit zusätzlichen Sitzplätzen für Zuschauerinnen und Zuschauer sowie einer Mitteltreppe, über die auf- wie abgetreten werden kann.

Die Wirkungsmacht dieses vervielfachten Raumtheaters hat den Vorteil, dass das Egomane der Figuren in Monteverdis Oper krass zutage tritt. Mit seiner unerhört klangvollen Höhe zeigt der Sopranist David Hansen, der an die Stelle des erkrankten Valer Sabadus getreten ist, den Nerone als einen Nihilisten der ersten Stunde; für diesen wahrhaft zügellosen Machthaber zählt einzig das momentane Bauchgefühl, sei es Lust oder Wut. Zuckt es ihm zwischen den Beinen, nimmt er sich, was er braucht, und sei es der Erste Offizier seiner Garde (Thobela Ntshanyana), der nach vollzogenem Akt mit einem lautlosen Kopfschuss beseitigt wird. Wer ihm jedoch widerspricht, wie es der salbungsvolle Philosoph Seneca tut (und wie es Nahuel Di Pietro mit wohlklingender Tiefe hören lässt), dem versucht der Tyrann mitten unter den Zuschauern eigenhändig die Zunge auszureissen – ein einigermassen blutiges Unterfangen wie stets bei Bieito. Abhanden kommt dem Kaiser die Macht allein vor Poppea, die ihren Weg nach oben noch eine Spur kaltblütiger verfolgt; die Domina nimmt man der ausgezeichnet singenden Julie Fuchs allerdings nicht restlos ab. Da wirkt Deanna Breiwick mit ihrem hellen Sopran als die unverstellt mit ihren Reizen spielende Drusilla doch noch eine Spur packender.

Allein, so intensiv Monteverdis Oper über die Rampe gebracht wird, so rasch zeigt der Ansatz der Produktion seine Grenzen. In ihrer blinkenden Bilderflut geht die szenische Einrichtung über eine durchschnittliche Aufnahmekapazität hinaus; vor lauter Zuschauen gerät das Zuhören bald einmal ins Hintertreffen. Das wird noch dadurch verstärkt, dass die Bühnenarchitektur akustisch nicht eben zu überzeugen vermag. Delphine Galou, die den von Poppea verschmähten Liebhaber Ottone verkörpert, muss mit ihrer im Leisen verankerten Stimme merklich pressen, was bisweilen auch für Stéphanie d’Oustrac gilt, die als die von ihrem Gatten verstossene Kaiserin Ottavia einen ebenso majestätischen wie berührenden Auftritt hat. Noch schwieriger ist die Lage im Graben. Koordiniert von Ottavio Dantone, der die Partitur eingerichtet hat und den Abend vom Cembalo aus brillant leitet, bringt La Scintilla, das mit der Musik Monteverdis bestens vertraute Originalklangorchester der Oper Zürich, gewiss ein Optimum an instrumentalem Reiz ein, doch derart versenkt im Inneren des ovalen Laufstegs vermögen die Musikerinnen und Musiker ihre Vorzüge, gerade etwa im reich besetzten Generalbass, nicht wirklich zur Geltung zu bringen.

Dennoch herrscht trotz des grausigen Sujets fast durchwegs gute Laune. Das liegt an den komischen Einlagen und dem witzigen Spielen mit dem Genderismus. Die tragende Figur des Nerone wird von einem in hoher Kopfstimme singenden Mann verkörpert, während des Kaisers rasch abgehalfterter Nebenbuhler Ottone von einer tief klingenden Frau gespielt wird. Die beiden Ammen wiederum, tief liegende Frauenpartien, sind in Zürich Männern übertragen, die nicht als weibliche Vertraute, sondern als (wenigstens halb) männliche Berater erscheinen: Emiliano Gonzalez Toro als Arnalta an der Seite Poppeas, Manuel Nuñez Camelino als Nutrice an jener Ottavias. Dennoch bleibt unter dem Strich der Eindruck, dass die neue Zürcher «Poppea» nicht immer das erreicht, was sie erreichen könnte – weder in der Flexibilität der Prosodie noch in der instrumentalen Agilität, weder in der orchestralen Farbigkeit noch in vokalen Qualität. Die Erinnerung an die sensationelle halbszenische Aufführung, die John Eliot Gardiner letzten Sommer beim Lucerne Festival geboten hat, steht übermächtig im Raum. Auch an das Elementare der Zürcher Wiederentdeckung von 1977 kommt sie nicht heran. Angesichts der Tatsache, dass heute vertraut ist, was damals neu wirkte, ist das aber vielleicht kein Wunder.

Ein Streichquartett hebt die Welt aus den Angeln

Bach, Beethoven und Mendelssohn mit dem Chiaroscuro-Quartett in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Selbst für eingefleischte Liebhaber des Streichquartetts dürfte dieser Abend im Rahmen der Neuen Konzertreihe Zürich zu einem Schlüsselerlebnis geworden sein. Mit dem Auftritt des Chiaroscuro-Quartetts in der Kirche St. Peter öffnete sich eine Tür zu einer ganz und gar neuen Vorstellung davon, was das Streichquartett sei, wie es klingen könne und welche Hörerlebnisse es biete. Schon gleich zu Beginn, wie Pablo Hernán Benedí an der zweite Geige das Thema aus Johann Sebastian Bachs «Kunst der Fuge» anklingen liess, stand im Raum, dass hier aufgrund ganz anderer Prämissen gearbeitet wird als in Streichquartetten herkömmlicher Art. Wie dann die Primgeigerin Alina Ibragimova antwortete, wie wenig später die Cellistin Claire Thirion und endlich die Bratscherin Emilie Hörnlund dazu traten und nach 78 Takten der Contrapunctus 1 aus dem gewaltigen Fugen-Kompendium des Thomaskantors zu seinem Ende fand, hatte man schon erheblich gereinigte, geöffnete und sensibilisierte Ohren.

Einzigartig am Chiaroscuro-Quartett ist nicht die Tatsache, dass die vier Ensemblemitglieder allesamt wertvolle alte Streichinstrumente spielen; das taten und tun auch andere Quartette, berühmtere wie weniger berühmte. Die Besonderheit besteht vielmehr darin, dass diese alten Instrumente nicht, wie es sonst der Fall ist, auf die heutigen Erfordernisse hin umgebaut, also mit Verstärkungen und modernen Saiten versehen sind, sondern dass sie ihren ursprünglichen Zustand bewahrt haben. Sie sind mit Darmsaiten bespannt, werden etwas tiefer gestimmt und mit jenen Bögen bespielt, die der Entstehungszeit der jeweiligen Stücke entsprechen. Das allein ergibt schon einen stark veränderten Klang – allerdings nicht das etwas stumpfe Näseln, durch welches das Spiel so eminenter Vorkämpfer wie Alice Harnoncourt oder Jaap Schroeder noch beeinträchtigt war. Der Umgang mit den alten Instrumenten hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren derart entwickelt, dass auf ihnen heute eine ganz eigene, klanglich brillante Virtuosität möglich, ja selbstverständlich ist. In krassem Gegensatz zu Erscheinungen wie der Geigerin Anne-Sophie Mutter oder dem Cellisten Mischa Maisky dominiert hier ein heller, fast silberner Klang, der in der Leichtigkeit der Tongebung und im Leisen verankert ist, der ausserdem von einer unerhörten Vielfalt an Farben lebt.

Die Instrumente sind das eine, das andere und ebenso wichtig ist die Spielweise. Grundlage bilden beim Chiaroscuro-Quartett nicht der satte, in jedem Moment von Vibrato getragene Ton, sondern sein Gegenteil: das gerade, reine Klingen, das durch Obertöne geformt und durch ein differenziertes, oftmals kaum bemerkbares Vibrato bereichert wird – jene Sonorität also, die von den im Klangbild der sechziger Jahre sozialisierten Besserwissern besonders acharniert bekämpft wurde, inzwischen aber selbst im sogenannt herkömmliche Musizieren ihre Wirksamkeit entfaltet. Wo das Vibrato und die mit ihm verbundenen Möglichkeiten des Kaschierens fehlen, erhöhen sich allerdings die Anforderungen an die Reinheit der Intonation – und da erwiesen die drei Stücke aus der «Kunst der Fuge», wozu das Chiaroscuro-Quartett in der Lage ist. Nicht nur entfalteten die einzelnen Töne im Gehörgang eine Intensität sondergleichen, auch das Zusammenklingen erreichte ein Miteinander und Ineinander exzeptioneller Güte; es war von einer Leuchtkraft, die einen geradezu von den Kirchenstühlen abheben liess. So war dieser Einstieg für die Ausführenden wie die Rezipierenden gleichermassen von Nutzen.

Mit solcherart gespitzten Ohren betrat man den Garten der Nummer 2 aus Ludwig van Beethovens Opus 18, des Streichquartetts in G-dur von 1800. Um sogleich zu bemerken, dass in diesem Fall der hallige Kirchenraum, eine Übergangslösung für die Zeit der Bauarbeiten an der Tonhalle, seine Einschränkungen bemerkbar machte: Die kleinen Notenwerte, gerade wenn sie wie im Kopfsatz als Auftakte eingesetzt sind, gingen unter. Davon abgesehen herrschte aber vielgestaltige Munterkeit, die sich vitaler Phrasierung und expliziter Artikulation verdankte. Im Adagio cantabile ging Alina Ibragimova mit ihren agilen Diminutionen entschieden voran – wobei zugleich auffiel, wie gleichberechtigt die vier Stimmen in Erscheinung traten, wie klar darum die einzelnen Lineaturen und ihr Zusammenwirken in der vom Ensemble gepflegten Transparenz zur Geltung kamen. Das mag auch darauf zurückgehen, dass mit Pablo Hernán Benedí, dem ganz in sich ruhenden Sekundgeiger, der spürbar solistisch agierenden Primgeigerin ein ebenbürtiger Partner gegenüber stand, dass ausserdem die Cellistin Claire Thirion mit ihrem kernigen, aber nie bohrenden Klang, ihrer flinken Beweglichkeit und ihrem weiten Ausdrucksspektrum das Geschehen diskret, aber erfolgreich steuerte – wie sich im Finale erweisen sollte. Zuvor gab es aber noch das Scherzo, in dessen flüsterndem Ton zutage trat, mit welch hoch entwickelter die Piano-Kultur das Quartett zu Werk geht. Da war denn die ganze Kunst dieses aussergewöhnlichen Ensembles ausgelegt: Kunst im Zeichen von historisch informierter Aufführungspraxis 2.0. Das Ergebnis wird man nicht so rasch zu den Akten legen.

Zumal es im Streichquartett Nr. 1 in Es-dur, op. 12, von Felix Mendelssohn Bartholdy, einem Meisterwerk aus der Feder eines Frühvollendeten, zu einer Potenzierung dieser Kunst kam. Mit ihren ziehenden Tönen setzte die langsame Einleitung die Latte schon hoch, mit dem lebhaften Gespräch zwischen den vier vernünftigen Leuten nahm das Allegro non tardante die Herausforderung brillant auf. Eine Überraschung bot die Canzonetta des zweiten Satzes, deren Allegretto in Tempo und Artikulation grossartig getroffen war. Wie herrlich sich auf den alten Instrumenten, so sie wirklich alt sind, singen, welch spritzige Agilität sich auf ihnen aber auch erzielen lässt, gaben das Andante espressivo und das Finale in Molto allegro e vivace zu verstehen. Am Ende durfte man – zunächst einmal Atem holen und dann feststellen, dass dieses enorm heikle und darum nicht besonders oft gespielte Stück so vielleicht noch nie erklungen ist.

Einmal mehr hat der Abend erwiesen, welch ungemein weites Feld hier zu beackern wäre. «Wäre», denn was sich im Bereich der Oper, des Chorwesens, der Orchestermusik längst etabliert hat, bildet im Bereich der Kammermusik noch immer eine Ausnahme. Mit aller Deutlichkeit hat das Chiaroscuro-Quartett gezeigt, welches Potential hier wartet – und wie es dieses Potential zu nutzen weiss. 2005 von Alina Ibragimowa als reines Frauen-Quartett im Umkreis der Londoner Musikhochschulen gegründet, steht es heute an der Spitze jener Gruppe von rund einem Dutzend Streichquartetten, die sich der historisch informierten Aufführungspraxis verschrieben haben; 2010 trat Pablo Hernán Benedí an die Stelle von Sara Deborah Struntz. Besonders fällt auf, dass die vier Ensemblemitglieder noch weitere Tätigkeitsfelder bearbeiten, sei es in Orchestern, in anderen Ensembles oder solistisch – und das durchaus jenseits des Spiels auf Darmsaiten. Alina Ibragimova, die zusammen mit dem Pianisten Cédric Thibergien eine hochkarätige Einspielung der Geigensonaten Mozarts vorgelegt hat (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 26.04.17), spielt neben dem Wirken im Quartett auch neue Musik; in einem Vierteljahr wird sie in Bergen (und mit dem Dirigenten Edward Gardner) ein Violinkonzert des norwegischen Komponisten Rolf Wallin zur Uraufführung bringen. Das ist eine Gegenwart, die spannender nicht sein könnte. Sie hat fraglos Zukunft.

Kontraste und Übergänge

Das Kuss-Quartett und die Sopranistin Mojca Erdmann in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Etwas lang war der Abend mit seinen knapp zweieinhalb Stunden Dauer, aber er war so schlüssig gebaut, dass die Zeit im Flug verging. Herzstück des Programms bildeten zwei Streichquartette Ludwig van Beethovens: Das C-dur-Quartett aus op. 59, das dritte der Rasumowsky-Quartette, liess erleben, mit welcher Entschiedenheit der Komponist in seiner mittleren Schaffensphase neue Ufer in den Blick nahm, während das letzte Quartett, jenes in F-dur, op. 135, mit seiner heftigen sprachlichen Geste vor Ohren führte, zu welchem Ziel Beethoven schliesslich gelangte. Eingerahmt wurde das Herzstück durch zwei Gruppen von Liedern auf Gedichte Heinrich Heines – Klavierlieder von Theodor Kirchner und Felix Mendelssohn Bartholdy, die Aribert Reimann für Singstimme und Streichquartett gesetzt und durch neu komponierte Zwischenspiele miteinander verbunden hat. Obwohl das Klavier mit seinem perkussiven Moment spannungsvolle Kontraste zur Linearität der Singstimme einbringt und damit in eigener Weise Energien freizusetzen vermag, hat die Einrichtung für vier Streicher ihren Reiz; das Kontrapunktische tritt in dieser Konfiguration doch deutlicher heraus.

Genau darin lag die Besonderheit an diesem Abend in der vom Tonhalle-Orchester Zürich veranstalteten Kammermusikreihe. Anders als man es vielleicht annehmen mag, erwies sich der Saal in der Tonhalle Maag für eine heikle Besetzung wie Streichquartett als ausnehmend geeignet; der Nachhall war so eingestellt, dass sich nicht nur ein opulentes Klangbild ergab, sondern auch die Transparenz im Zusammenwirken der einzelnen Stimmen gewahrt blieb. Mit dem sinnlichen Obertonreichtum, der warme Rundung und der klaren Zeichnung in ihrem Timbre fügte sich Mojca Erdmann ausgezeichnet in das Geflecht der vier Stimmen ein. Die deutsche Sopranistin liess dem Text sein Gewicht, formte die Bögen aber ganz aus den musikalischen Gegebenheiten heraus, was zu lebendiger Interaktion zwischen Sprache und Musik führte. Interaktion aber auch zwischen Mendelssohn und Reimann. Die sechs Intermezzi, die Reimann 1997 unter dem Titel «…oder soll es Tod bedeuten?» in die Folge von insgesamt neun Liedern Mendelssohns einfügte, sprechen ganz unmittelbar an. Sie entwickeln sich aus dem soeben Verklungenen, denken es weiter in eigener Sprache und lassen das Bevorstehende anklingen – und sie tun das so charakteristisch und anregend wie die Paraphrasen, die Wolfgang Rihm den vier Sinfonien von Johannes Brahms beifügte.

Nicht weniger Anteil an der Wirkung des Abends hatte das von der Primaria Jana Kuss begründete Quartett, das ihren Namen trägt. Das Ensemble steht für die unverkrampfte Integration neuer Musik und überdies für eine überaus gehaltvolle Spielkultur. Der später hinzugefügte vierte Satz in Beethovens Opus 135 trägt den vom Komponisten beigefügten Kommentar: «Muss es sein? Es muss sein.» Mit welch packender Kraft das Kuss-Quartett die beiden vom Komponisten ganz unmittelbar in Musik gefassten Sätze in Klang brachte, machte hinreissend Effekt. Vielversprechend hatte es schon begonnen. Im dritten Rasumowsky-Quartett lebte die langsame Einleitung zum Kopfsatz von sparsam eingesetztem, sorgsam gestaltetem Vibrato. Das Andante des zweiten Satzes wurde getragen von den volltönenden, bisweilen aber auch wunderbar leisen Pizzicati des Cellisten Mikayel Haknazaryan, während im Menuett der Sekundgeiger Oliver Wille und der sehr zu Recht nicht hinten, sondern vorne sitzende Bratscher William Coleman mit ihrer energiegeladen federnden Tongebung das Geschehen bestimmten. Dem wirbelnden Finale schliesslich blieb das Kuss-Quartett nicht das Geringste schuldig.

Der Jungmeister

Krzysztof Urbánski beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Wie Herrgötter spielten sie, die Musikerinnen und Musiker des Tonhalle-Orchesters Zürich. Und das Publikum in der Tonhalle Maag, es sprang nach dem Verklingen des Schlussakkords sogleich von den Sitzen. Das nach einem so gut wie ausverkauften, sonst aber ganz gewöhnlichen Sonntagsspätnachmittagskonzert. Das heisst: So gewöhnlich war das Konzert nicht. Am Pult erschien nämlich Krzysztof Urbánski, der 35-jährige Geheimtip aus Polen, der zurzeit so mächtig von sich reden macht. Und das zu Recht.

Wer Krzysztof Urbánski zum ersten Mal zuschaut, während er ihm zuhört, mag denken, da sei einer am Werk, der sich das Dirigieren durchs Ausprobieren vor dem Spiegel beigebracht und das Handwerk der Körpersprache anhand von Videos mit grossen Dirigenten erlernt habe. In der Tat erscheint seine Zeichensprache als eine Choreographie, die Schaulust erster Güte bietet. Und tatsächlich finden sich in Urbánskis Bewegungsmustern Gesten, die Dirigenten vergangener Zeit aufleben lassen. Der extralange Taktstock, den Urbánski mit letzter Eleganz führt, erinnert an Claudio Abbado, das kleine Fingerspiel der linken Hand an Herbert von Karajan, wenn er einen Chor vor sich hatte, das bisweilen ekstatische Ausbrechen an Lorin Maazel. Da ist vieles durchaus auf Effekt getrimmt, so wie die steile Frisur an ein gesellschaftliches Segment erinnert, das im Konzertsaal gewöhnlich weniger vertreten ist.

Allein, wer nicht nur zuschaut, sondern auch zuhört, wird sogleich bemerken, dass der optische Effekt zwar kalkuliert sein mag, aber ganz und gar nicht im Sinne der Show für das Publikum, sondern in jenem der durch Körperausdruck übermittelten Botschaft an die Adresse des Orchesters. Im Konzert manifestierte sich das darin, dass jede noch so kleine Geste Urbánskis etwas Musikalisches auslöste. Das Tonhalle-Orchester Zürich reagierte so hellwach, wie es nur in den ganz grossen Momenten geschieht, seine Mitglieder handelten in enger Verbundenheit mit dem Dirigenten und gaben allesamt ihr Bestes. Dafür verbrachten sie die Zeit ihrer anspruchsvollen Arbeit in einem Klima der freundlichen Zuwendung – ja, um es etwas plakativ mit Leonard Bernstein zu sagen: der Freude an der Musik. Am Schluss gab es für den Dirigenten auch vonseiten des Orchesters hörbaren Beifall.

Kein Wunder. Krzysztof Urbánski ist unerhört begabt. Und unglaublich anspruchsvoll, vor allem sich selber gegenüber. Vielleicht darum, weil ihm trotz seiner Begabung nichts in die Wiege gelegt war. 1982 in der Kleinstadt Pabianice südlich von Łódź geboren, wuchs Urbánski in einer Familie auf, in der klassische Musik nicht vorkam. Als es um die Wahl eines Instruments für die Musikschule ging, galt seine Neigung der Gitarre – für die es jedoch eine lange Warteliste gab. Plätze frei waren beim Horn, weshalb es dieses Instrument wurde. Über die Hornkonzerte von Richard Strauss und dessen Tondichtung «Don Juan», an der sich das Feuer entzündete, kam Urbánski zum Beschluss, Komponist zu werden – einer wie Richard Strauss. Mit fünfzehn schrieb er eine Sinfonie, bei deren Uraufführung durch Mitschüler er zum ersten Mal dirigierte. So begann es. Urbánski ging zur Ausbildung an die Musikhochschule in Warschau und assistierte dann dem polnischen Dirigenten Antoni Wit in der Warschauer Philharmonie. Das Eigentliche erlernte er in der Provinz, in Trondheim und in Indianapolis. Inzwischen, zum Senkrechtstarter geworden, liegt das Debüt bei den Berliner Philharmonikern hinter ihm.

Mit dem Ruf sind auch die Ansprüche gewachsen. In Hamburg, wo er seit 2015 als Erster Gastdirigent dem NDR Elbphilharmonie Orchester verbunden ist, sagte er einem Journalisten, er dirigiere im Prinzip auswendig, in den Konzerten ohnehin, aber auch in den Proben. Erst wenn er ein Stück restlos memoriert habe, glaube er es verstanden zu haben – der Satz könnte von Abbado stammen. Und wie Abbado lernt er nicht nur auswendig, er prüft auch bis in alle Einzelheiten, was er sich aneignet. Für seine Aufnahme von Antonín Dvořáks Sinfonie Nr. 9 in e-moll konsultierte er das Autograph sowie die Orchesterstimmen, die für die Uraufführung 1894 in New York verwendet wurden. Manches ist ihm durch die eingehende Beschäftigung mit dem Notentext klar geworden. Zum Beispiel die Tatsache, dass im Kopfsatz die langsame Einleitung in einem einzigen Tempo durchgezogen und daraus das Zeitmass für den schnellen Teil des Satzes abgeleitet werden muss. Auch die gerne ausgelassene Wiederholung in diesem Satz ist ihm heilig, die Proportionen gewännen dadurch ganz andere Fasslichkeit. Auf dieser Basis hat er das Stück mit dem Hamburger Orchester erarbeitet. Die Aufnahme ist eine Sensation; sie bildet den Höhepunkt in der Reihe der bisher drei vorliegenden CDs, die ausserdem von Witold Lutosławski das Konzert für Orchester und die Sinfonie Nr. 4 sowie Igor Strawinskys «Sacre du printemps» enthält.

Mit Dvořáks Neunter hat Krzysztof Urbánski nun auch seine zweites Gastspiel beim Tonhalle-Orchester Zürich abgeschlossen. Eine überaus bewegende Auslegung war da zu erleben, ungefähr das Gegenteil all der unzähligen Deutungen, die den knalligen Amerikanismus in den Vordergrund rücken. Schon die Artikulation des ersten Themas im Kopfsatz liess aufhorchen, weil der viertaktige Verlauf unter einen einzigen Bogen genommen war. Später beim Eintritt des zweiten Themas verzichtete Urbánski auf die hier übliche, von der Partitur aber nicht geforderte Verlangsamung, was der formalen Geschlossenheit ebenfalls förderlich war. Sehr langsam, aber emotional hochgradig erfüllt das Largo des zweiten Satzes; es wurde zu einem autobiographischen Moment, zum Ausdruck von Trauer und Sehnsucht. Das Orchester trat da förmlich aus sich heraus. An seinem Englischhorn schien Martin Frutiger aufstehen zu wollen, so intensiv und glühend blies er seine wunderbaren Solopassagen. Und das Pianissimo war – selbst in den Oboen und den Fagotten, die mutig an ihre Grenzen gingen – derart auf ein hauchzartes Schimmern zurückgenommen, dass das Vergehen der Zeit aufgehoben wirkte. Besonders überraschend aber der Schluss des Satzes, wo sich die Musik Schritt für Schritt entfernt, indem sie bis auf ein Streichtrio der Stimmführer reduziert wird: Was Urbánski da durch das Herausheben des Cellos gegenüber der Geige an Färbungen erzielte, wie wörtlich er ausserdem die Fermaten nahm, war absolut berückend. Ein für altvertraut gehaltenes Stück ist hier wie neu erschienen – das ist es, was Interpretation im besten Fall zu leisten vermag.

Nicht minder eindrucksvoll war der Einstieg mit der «Moldau» gelungen, dem ersten Teil aus der Sinfonischen Dichtung «Mein Vaterland» von Friedrich Smetana. Auf den ersten Blick war offenkundig, dass Urbánski nicht wirklich den Takt schlug; die notwendigen Zeichen gab er, vor allem aber setzte er Energien in Gang und steuerte er den Fluss: eine silberglänzende Moldau, die sich mit leichtem Wellenschlag durch milde Landschaften schlängelte, an einem belebten, aber nicht tollpatschigen Bauerntanzfest vorbeikam und sich dann in heller Ferne verlor. Sehr poetisch war das und sehr bildhaft, dabei klanglich delikat und bis in letzte Verästelungen austariert. Grossartig zu erleben, dass das Tonhalle-Orchester Zürich dazu in der Lage ist; und alles andere als selbstverständlich, dass es sich im Rahmen eines Gastdirigats ereignete – Krzysztof Urbánski ist eben alles andere als ein Spiegeldirigent, er ist ein Jungmeister seines Fachs. Hochinteressant in der Mitte dieses rein tschechischen Programms auch die Begegnung mit dem ersten Konzert für Violoncello und Orchester von Bohuslav Martinů, einem vielgestaltigen Stück, dem Sol Gabetta mit der Schönheit ihres Tons, der Klugheit ihres Phrasierens und der ihr eigenen Energie starkes Profil verlieh.

Aufnahmen mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester Hamburg und dem Dirigenten Krzysztof Urbánski:
Witold Lutosławski: Konzert für Orchester, Kleine Suite, Sinfonie Nr. 4. Alpha 232 (2015)
Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 9 in e-moll («Aus der Neuen Welt»), Heldenlied. Alpha 269 (2017)
Igor Strawinsky: Le Sacre du printemps. Alpha 292 (2017).

Das Streichquartett – ungebrochen am Leben

Haydn und Tschaikowsky mit dem Schumann-Quartett

 

Von Peter Hagmann

 

Wer glaubt, das Streichquartett sei zu elitär, um zu überleben, dürfte sich täuschen. Wohl noch nie in der gut zweihundertjährigen Geschichte dieser Gattung hat es so viele so herausragende Streichquartette gegeben, wie es heute der Fall ist. Dafür kann mancher Grund genannt werden. Der erste betrifft die Ausbildung an den Musikhochschulen, die in der jüngeren Vergangenheit bedeutend an Qualität gewonnen hat. Die jungen Musikerinnen und Musiker werden sodann nicht nur gut, sondern auch in grosser Zahl ausgebildet, während auf der anderen Seite, bei den Orchestern beispielsweise, in vielen Gegenden Europas gespart und abgebaut wird – weshalb die Gründung eines Ensembles oder der Beitritt zu einem solchen trotz prekärer Einkommenslage zu einer wichtigen professionellen Perspektive geworden ist. Nicht zu vergessen ist schliesslich, dass all diese Ensembles nicht existierten, wenn es für sie kein Publikum gäbe. Und dieses Publikum gibt es – in dem hochstehenden und anregenden Streichquartettzyklus, den die Neue Konzertreihe Jürg Hochulis in der Kirche St. Peter in Zürich durchführt, war es eben wieder zu erleben.

Versammelt sind hier Zuhörer, die wissen, worauf sie sich einlassen – sonst wäre das Schumann-Quartett aus Deutschland nicht so emphatisch gefeiert worden. Die Brüder Erik Schumann (Erste Geige), Ken Schumann (Zweite Geige) und Mark Schumann (Cello) sowie die aus Estland stammende, aber in Deutschland aufgewachsene Bratscherin Liisa Randalu hatten ja auch eine ausgesprochene Rarität im Gepäck. Von Peter Tschaikowsky kennt man die Ballette und die Sinfonien, vielleicht noch das erste Klavierkonzert und das Violinkonzert; dass er aber auch drei Streichquartette komponiert hat, ist so gut wie unbekannt – in den Konzertprogrammen erscheinen diese Werke kaum je. Dabei hinterlässt gerade das dritte Quartett in der seltenen Tonart es-moll tiefe Eindrücke, zumal in einer emotional so aufgeladenen Interpretation, wie sie das Schumann-Quartett geboten hat. Den Kopfsatz mit seiner harmonisch eigenartigen Einleitung gingen sie in aller Intensität, doch ohne jedes Zuviel an Vibrato oder Glissando an. Im scherzoartigen zweiten Satz brachten sie die rhythmischen Formungen zu beinah körperlicher Gegenwärtigkeit, während sie im Trauermarsch des dritten Satzes, für den sie stark wirkende Dämpfer aufsetzten und einen ganz dunklen Ton anschlugen, zu unglaublicher Bildhaftigkeit fanden – man sah förmlich die Mönche vorbeiziehen, welche die leeren Quinten hier andeuten. Um so befreiender dann das Finale mit seiner orchestralen Extraversion.

Zuvor hatte es einen Klassiker des Repertoires gegeben, das meisterliche Streichquartett in B-dur Hob. III:78, die Nummer 4 aus den sechs Erdödy-Quartetten op. 76, die den Titel «Sonnenaufgang» trägt. Und auch dieses Werk erklang in pointierter Interpretation. Zum einen darum, weil das Schumann-Quartett eine etwas spezielle Aufstellung kennt, sitzt dem Primgeiger doch nicht der Cellist gegenüber, sondern vielmehr die Bratscherin, während der Cellist dort seinen Platz hat, wo in anderen Quartetten der Meister an der Bratsche wirkt. Das hat den entschiedenen Vorteil, dass die gern unterbelichtete Mittelstimme deutliches Relief bekommt, was dem Sonnenaufgangs-Quartett Haydns besonders zugute kommt. Schärfungen erfuhr aber nicht nur die Polyphonie, sondern auch das Klangbild. Das Schumann-Quartett gehört zu jenen Ensembles jüngerer Generation, denen der differenzierte Umgang mit dem Vibrato selbstverständlich ist. Der gerade oder mit bloss kleinem Vibrato versehene Ton hat hier auch seinen Platz, was etwa dem Anfang des Stücks seinen ganz eigenen Reiz sicherte. Musikalische Interpretation als Vergegenwärtigung, mithin als Übertragung eines mehr als zweihundert Jahre alten Kunstwerks in die Jetztzeit, war hier auf blendendem Niveau verwirklicht.

Heinz Holligers Traumoper

Uraufführung von «Lunea» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Der Dichter und seine Frauen: Heinz Holligers Oper «Lunea» in Zürich / Bild Paul Leclaire, Opernhaus Zürich

Was für ein wunderschönes Stück. Was für ein anregendes Stück. Ein Stück von heute. Eine Oper. Was heisst hier «Oper»? «Lunea» widerspricht ungefähr allem, was man gemeinhin mit Oper verbindet. Zu erleben ist vielmehr Musiktheater der dichtesten Art.

Dunkel ist’s. Rabenschwarz. Eine quadratische Öffnung lässt sich erahnen; sie nimmt Kontur an, wenn das Licht, das Franck Evin von oben hereinfallen lässt, den Blick freigibt auf die mit wenigen Strichen gezeichneten, sparsam bewegten, in einen silbernen Ton gefassten Bilder, die der Regisseur Andreas Homoki erdacht hat. Zu sehen sind Damen im Reifrock mit Schirm und Herren im Gehrock mit Zylinder – scharf charakterisieren die Kostüme von Klaus Bruns. Dazu hat der Bühnenbildner Frank Philipp Schlössmann hier einen Salontisch, dort ein Biedermeiersofa, bisweilen auch nur einen Sessel bereitgestellt. Mehr braucht es nicht, es spricht deutlich genug.

Mag sein, dass es so ausgesehen hat im Kopf des Nikolaus Lenau – des berühmten Dichters der Schumann-Zeit, dessen einzigartiger Ruf nicht zuletzt auf die zahlreichen Vertonungen seiner Verse zurückging. Immer wieder dieses Dunkel, immer wieder diese Erinnerungsfetzen, zum Beispiel an die diversen Frauen, denen der Dichter zugetan war, denen er aber doch nicht nahe kommen konnte. Und dann dieser Blitz, wohl ein Schlaganfall, der am 29. September 1844 den in geselliger Runde singenden Lenau traf, ihm die eine Hälfte des Gesichts lähmte und ihn auf eine Schleuderfahrt hinab in die Unterwelt des Wahnsinns trieb.

Ver-rückt war er, so sagten sie damals, so sagen wir heute. Auch Heinz Holliger sagt es – obwohl er für die geläufige Verbindung zwischen Wahnsinn und Genie wenig übrig hat. Wenn etwas Aussergewöhnliches entstehe, sei immer eine Spur Verrücktheit im Spiel; ohne diese Spur komme zum Beispiel ein Komponist nicht über das Niveau von Czerny hinaus. Es gibt genügend Beispiele in dieser Richtung, Heinz Holliger kennt sie. Dem im Turm eingesperrten Hölderlin galt seine Aufmerksamkeit im «Scardanelli-Zyklus», dem internierten Robert Walser in seiner 1998 in Zürich uraufgeführten Oper «Schneewittchen», dem Maler und Geiger Louis Soutter im Violinkonzert von 2002. Jetzt also Nikolaus Lenau, der 1850 im Alter von nur 48 Jahren in einer psychiatrischen Klinik bei Wien starb.

Den Dichter kannte Holliger schon lange. Dem Patienten begegnete er, als ihm vor Jahren Lenaus «Notizbuch aus Winnenthal» in die Hände fiel. In diesen Aufzeichnungen aus einer psychiatrischen Klinik bei Stuttgart finden sich Lebens-Sätze, die in Form wie Inhalt weit über die Gedichte Lenaus hinausgehen. An ihnen hat sich Holligers Phantasie entzündet; einige hat er zur Grundlage für einen Vokalzyklus mit dem Titel «Lunea» gemacht. Die 23 Sätze für Bariton und Klavier oder 23 Instrumentalisten von 2013 bilden das Gerüst von «Lunea», der abendfüllenden Oper Holligers, die vom Opernhaus Zürich bestellt und jetzt zu bejubelter Uraufführung gebracht worden ist. Händl Klaus, der ebenso versierte wie phantasiebegabte Librettist, hat die Leitsätze neu angeordnet und durch weitere Satzfragmente ergänzt. In einem Akt berührender Empathie hat sich der Librettist in das Leben und das Schreiben Lenaus eingegraben; jedes Wort im Textbuch zu «Lunea» stammt von Lenau.

Eine Geschichte wird nicht erzählt. Jenseits jeder Logik, vielmehr nach der Art eines Traums werden Situationen evoziert, die sich mit dem Leben Lenaus in Verbindung bringen lassen. Einige seiner Frauen ziehen vorbei, etwa die verheiratete Sophie von Löwenthal, die Lenau besitzen, aber nicht haben wollte, die manisch verehrte Mutter oder der unverbrüchlich treue Schwager Anton Schurz. Das fügt sich in Zürich zu einem Bilderbogen, der durch eine schwarze Wand gegliedert wird. Formal bestimmend ist dabei das Verfahren der Symmetrie, wie es sich schon im Werktitel, einem Anagramm des Dichter-Namens, niederschlägt. Ihren Ursprung findet diese Idee im Wirken des Psychiaters und Schriftstellers Justinus Kerner, eines Freundes von Lenau, der Tintenkleckse auf einem Papier durch dessen Faltung verdoppelt hat (was ein knappes Jahrhundert später im Rorschachtest wiederaufgenommen wurde). Ab der Mitte der Oper läuft vieles rückwärts, werden auch Schlüsselworte in ihre buchstabengetreue Umkehrung gesetzt. Und die teilende Wand, die in der ersten Hälfte des Abends von links über die Szene fährt, nimmt ihren Weg im zweiten von rechts. Selbst die Logik der Zeit, so Holliger, sollte in seiner Oper aufgehoben sein.

Als Rezipient wird man durch das Stück in eine Art Schwebezustand versetzt, was die Musik in ihrer Weise nachhaltig unterstützt. Schon allein durch ihre Langsamkeit, die der Komponist am Dirigentenpult mit einer Radikalität sondergleichen realisierte. Vor allem aber fesselt die Partitur durch den Reichtum ihrer Assoziationen. Holligers Musik, so enigmatisch sie in einem ersten Höreindruck erscheinen mag, wirkt in ihrer Weise doch sehr beredt, und das auf vielen Ebenen, strukturell wie klanglich. Manche Einzelheit der musikalischen Formung reflektiert das Leben Lenaus (oder jenes des Komponisten). Und durch die Verwendung tradierter Modelle wie der barocken Floskel des passus duriusculus, des Abstiegs in Halbtönen als Ausdruck höchsten Schmerzes, werden mit kleinen Zeichen grosse Wirkungen erzielt. Das alles in einem äusserst delikaten Klangbild. Leise, farbenreich und äusserst vielgestaltig kommt die Musik daher; sie fordert höchste Aufmerksamkeit und belohnt den Zuhörer durch eine Sinnlichkeit, wie sie sich in der neuen Musik nicht von selbst versteht. Ein Spätwerk ist Holligers «Lunea», getragen von in langen Jahren gereiftem Handwerk, belebt durch nicht versiegende Inspiration, hochgetrieben bis zum Manierismus. Eben: überaus anregend und wunderschön.

Der Regisseur Andreas Homoki und seine Mitstreiter haben absolut bezwingend, um nicht zu sagen: genau richtig auf die Partitur reagiert, nämlich musikalisch. Wie der Komponist und sein Librettist arbeiten sie mit Assonanzen und Andeutungen, konkret in der Erscheinung und abstrakt in der Bedeutung. Und Christian Gerhaher in der Titelpartie ist darum eine Idealbesetzung, weil dieser Tage kein Sänger so ausgeprägt von der Sprache her denkt wie der deutsche Bariton mit seinem herrlich zeichnenden Timbre. Ebenbürtig stehen ihm Juliane Banse als Sophie von Löwenthal und Ivan Ludlow als Anton Schurz, aber auch Sarah Maria Sun und Annette Schönmüller zur Seite. Die von Raphael Immoos geleiteten Basler Madrigalisten und die 34 Mitglieder der Philharmonia Zürich tragen das Ihre zu einer Produktion bei, die von der ungebrochenen Gegenwärtigkeit des Musiktheaters zeugt.

Weitere Vorstellungen am 8., 13., 15., 18., 23. und 25. März 2018.

Opera seria als Chance und Gefahr

Mozarts «Idomeneo» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Vor dem Opfer: Idomeneo (Joseph Kaiser) und sein Sohn Idamante (Anna Stéphany) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Das Beste am jüngsten Premierenabend im Zürcher Opernhaus geschah gleich zu Beginn. Es war die Ouvertüre. Da befanden sich Wolfgang Amadeus Mozart und sein «Idomeneo», das Orchester «La Scintilla» und der Dirigent Giovanni Antonini in Übereinstimmung: in einem sehr persönlichen und hochanregenden Einklang. In markigem Ton nahm Antonini den Eintritt in die tragische Verstrickung, denen die fünf Figuren des Geschehens ausgesetzt sind. Die Bässe, nur zwei an der Zahl, aber ausserordentlich präsent, liessen drohendes Unheil anklingen, die liegenden Töne erhielten durch den Verzicht auf das Vibrato klar umrissene Konturen. Und dann die Holzbläser, insbesondere die von Mozart hier erstmals eingesetzten Klarinetten, sie traten deutlich heraus und schufen farbliche Vielfalt. Über allem herrschte der spezifische Geist, für den Antonini steht: ein Klima des pointierten Kontrasts, der deutlichen, aber stets elegant federnden Formulierung.

In der Folge freilich ging der vielversprechende Ansatz nach und nach verloren. Was spannend begann, wurde behäbig, ja verströmte bisweilen jenen Anflug an gepflegter Langeweile, der so rasch mit der Opera seria verbunden wird – selbst das grosse, eindrucksvolle Quartett im dritten Akt entbehrte der Ausstrahlung. Ursache für den Spannungsverlust waren die spürbar langsamen Tempi, die der Dirigent anschlug. Mag sein, dass sie Antoninis Vorstellungen entsprachen; vielleicht suchte der Dirigent dem genialen Jugendwerk Mozarts – der Komponist war bei der Münchner Uraufführung 25 Jahre alt – in der klanglichen Verwirklichung Tiefe und Würde zu verschaffen. Indes widerspricht das doch merklich dem Temperament Antoninis, wie es aus seinem Umgang mit Haydn und Beethoven bekannt ist. Plausibler erscheint darum die Vermutung, dass die Gründe weder beim Dirigenten noch bei dem hellwach mitwirkenden Orchester zu suchen sind, dass sie vielmehr bei der Besetzung liegen, die hier im Gegensatz zu vielen anderen Produktionen des Opernhauses Zürich suboptimal geraten ist.

Fast alle Sängerinnen und Sänger des Abends hatten ihre liebe Mühe mit der stilgerechten Ausführung ihrer Partien; sie kämpften mit technischen Problemen, vor allem mit der Beweglichkeit der Stimme – was den Dirigenten dazu bewogen haben mag, die Tempi zu senken. Trotz dieser Massnahme blieb eine eigenartige Differenz zwischen der rhythmischen Präzision, die aus dem Orchestergraben kam, und dem Genuschel auf der Bühne. Die Ausnahme bildete Hanna-Elisabeth Müller (Ilia), die, wiewohl eher im romantischen Repertoire beheimatet, ihre Stimme so schlank zu führen wusste, dass die Perlenketten in ihrer Partie als solche wahrzunehmen waren und die Triller tatsächlich Triller wurden. Auf der anderen Seite der Skala steht Joseph Kaiser als Idomeneo. Die Majestät des Helden und die Winzigkeit des verzweifelten Menschen verkörperte er eindrucksvoll, aber im stimmlichen Vermögen, zumal in der Zeichnung der Lineaturen, blieb er weit hinter der szenischen Darbietung zurück – was mutatis mutandis auch für Anna Stéphany (Idamante) gilt. Deutlich unter der Schwelle Airam Hernandez (Arbace), der Mühe mit der Intonation hatte und zudem nicht über ausreichend Tiefe für diese Partie verfügt, weshalb Antonini das Orchester an den entsprechenden Stellen überraschend drosseln musste. Wenig befriedigend auch Guanqun Yu (Elettra), deren starkes, schnelles Vibrato die Klarheit der Tonhöhen beeinträchtigte.

Gleichwohl wurde gerade an der Figur der Elettra deutlich, in welcher Weise sich die Regisseurin Jetske Mijnssen diesem schwierigen Stück näherte. In der sehr zurückhaltenden, gerade darum attraktiven Inszenierung ist Elettra nicht die manische Furie, als die sie oft genug erscheint, sondern eine heftig verliebte Frau, die nach ihrer Niederlage von dem ebenfalls relegierten Idomeneo getröstet wird. Und sie ist eine Frau von heute, wie der glänzende Hosenanzug erweist, den ihr Dieuweke van Reij hat schneidern lassen. Nichts lässt in dieser Inszenierung von «Idomeneo» auf den Schauplatz in der Antike schliessen, die Figuren lieben und leiden in der Gegenwart: in Anzug und Krawatte. Und sie tun dies in einer Weise, welche die tiefe Empathie der Regisseurin erkennen lässt und von berührender Wirkung ist. An die klassische Tragödie erinnert vielleicht der Einsatz des Chors – der freilich ebenfalls nicht als das kommentierende Volk, sondern in echt Felsensteinscher Manier als eine Gemeinschaft mitleidender Individuen erscheint. In der Ausgestaltung des Einzelnen liegt der Lebenskern der Inszenierung – die im übrigen (und abgesehen von einigen szenischen Assoziationen) auf jeden Ausstattungsprunkt verzichtet. Die von Gideon Davey gestaltete Bühne bleibt leer, begrenzt durch die in den Farben des Meeres gehaltenen Wände, die sich dann heben, wenn der Moment besonders wird. Würde etwas angemessener gesungen, es hätte durchaus etwas werden können aus dem neuen Zürcher «Idomeneo».

Handwerk und Gespür

Semyon Bychkov beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Auf Bühnen und Podien Europas ist er längst bekannt und geschätzt, er dirigiert die Wiener und die Berliner Philharmoniker, war beim Orchestre de Paris und an der Dresdner Semperoper tätig, und eben erst ist er als Nachfolger des tragisch verstorbenen Jiři Bělohlávek zum Chefdirigenten der Tschechischen Philharmonie in Prag ernannt worden – nur in Zürich stand er bis dato aus. Jetzt hat das späte Debüt von Semyon Bychkov beim Tonhalle-Orchester aber doch Form angenommen; es wurde zu einem in diesem Ausmass überraschenden Erfolg für den Dirigenten wie für das Orchester. Bychkov ist ein mit allen Wassern gewaschener Kapellmeister; er weiss genau, was das Orchester an Zeichengebung benötigt – die Musikerinnen und Musiker dankten ihm das auch in aller Deutlichkeit. Als Interpret beschäftigt er sich mit dem spätromantischen Repertoire, das angekündigt war, auf der Basis langjähriger Erfahrung, weshalb er den Partituren aus einer Position der souveränen Übersicht heraus begegnen kann.

«Don Juan», die Tondichtung von Richard Strauss, brachte er – was weder für den Dirigenten noch für das Orchester einfach ist – mit einem energischen Handgriff in Schwung. Im weiteren Verlauf aber sorgte er in einer Weise zur Entfaltung des Geschehens, wie sie sich der Komponist, selber ein erfahrener Dirigent, gewünscht hat: mit der linken Hand in der Hosentasche. Will sagen: Er liess der Musik freien Lauf, die implizit hinter der Komposition stehende Geschichte fand ganz natürlich zu ihrem Profil, die Effekte stellten sich sozusagen von selber ein – vorzüglich angelegt und packend verwirklicht war das. Ganz ähnlich Peter Tschaikowskys vierte Sinfonie in f-moll, ein äusserst dankbares Stück, bei dem sich das Orchester (und hier insbesondere der Schlagzeuger Klaus Schwärzler an den Becken) in hellstes Licht stellen konnte. Äusserst kraftvoll und satt die Hörner – dass sie in der Tonhalle Maag von den zur Erzeugung zusätzlichen Halls eingesetzten Lautsprechern verzerrt wurden, war allerdings ein Wermutstropfen –, ebenso agil wie kompakt die Streicher, in warmer Fülle das Tutti. Blendend gelang das Scherzo, bei dem die Streicher über weite Strecken zupfen, von hinreissender Wirkung waren die Ecksätze, während das Adagio in geschmeidiger Opulenz vor sich hinsang. Was will man mehr?

Zwischen Strauss und Tschaikowsky stand: Strauss, allerdings mit einem Lückenbüsser, nämlich dem als Burleske bezeichnete Klavierkonzert, das nicht gerade zu den Meisterwerken der Gattung gehört. Bertrand Chamayou liess sich indessen nicht davon abhalten, mit brillanter Geläufigkeit und geschmeidigem Ton ins Auf und Ab der Oktavpassagen hineinzuknien; dabei wartete er nicht nur mit Virtuosität, sondern auch einer sehr persönlichen Kantabilität auf. Wäre vielleicht jemand bereit, den exzellenten Franzosen für einen Klavierabend zu engagieren?