Lucerne Festival (3) – PrimaDonna

 

Mirga Gražinytė-Tyla am Pult des Chamber Orchestra of Europe / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

 

Peter Hagmann

Ein Ende? Ein Anfang?

Am Pult der Orchester verlieren die Männer ihre Vormacht

 

Ausser beim zweitbesten Orchester der Welt, jenem aus Wien, das bis vor wenigen Jahren ausdrücklich den Herren der Schöpfung vorbehalten war, das inzwischen aber auch schon zwei, drei Vertreterinnen des schwachen Geschlechts aufgenommen hat, ist die Präsenz von Frauen auf den Konzertpodien der Welt kein Thema mehr. In einigen Klangkörpern bilden die Musikerinnen mittlerweile sogar die Mehrheit, und selbst Instrumente wie Kontrabass, Posaune oder Schlagzeug sehen sich heute bisweilen in zarten Händen. Solistischen Ambitionen steht das Geschlecht höchstens noch insofern im Weg, als die für das gedeihliche Vorankommen erforderliche Präsenz allenfalls mit der Familienplanung kollidiert. Ohnehin ist nicht zu übersehen, dass an den musikalischen Ausbildungsstätten Studentinnen mindestens ebenso präsent sind wie Studenten.

Mit links

So wäre denn die Gleichberechtigung in musicis erreicht? Das wäre nun doch eine arge Täuschung, denn wenigstens in zwei Bereichen des Musiklebens kann davon keine Rede sein. Komponistinnen, die zu den zentralen Figuren des Betriebs gehören, also keine noch so angesehene Aussenseiterposition einnehmen, sind noch immer eine Seltenheit. Erst recht aber gilt es für Frauen am Pult von Orchestern. Gewiss sind wir weiter als zu jenen Zeiten, da das Erscheinen einer Dirigentin Befremden, wenn nicht Gelächter auslöste. Heute gehören Dirigentinnen wie Laurence Equilbey, Julia Jones, Karen Kamensek oder Simone Young ganz einfach dazu; sie stehen im Betrieb und nehmen prestigeträchtige Chefpositionen ein. Aber sie bilden noch immer mit Erstaunen quittierte Ausnahmen.

Das Lucerne Festival schlägt hier nun eine kräftige Bresche. Es stellt seine diesjährige Sommerausgabe unter das Thema «PrimaDonna» – wobei in den Publikationen das «i» durch eine klar als solche erkennbare weibliche Hand ersetzt ist, die einen Taktstock hält. Dass es eine linke Hand ist, mag sich aus graphischen Gründen aufgedrängt haben, zumal sich dadurch ein «accent aigu» ergeben hat. Es ist aber auch von leiser Ironie, wie überhaupt das Thema ohne jeden demagogischen Zug, vielmehr geradezu spielerisch durchgeführt wird. Weniger amüsant sind die fleissigen Bienen aus dem Orchester, die dem von weiblicher Hand geführten Taktstock zu gehorchen haben – da bleibt die Graphik hinter den Errungenschaften des Festivals zurück.

Aber es wird ernst gemacht mit der Primadonna, nicht auf der Bühne, sondern am Pult. Ein gutes Dutzend Dirigentinnen treten diesen Sommer in Luzern auf, und das durchaus nicht an Nebenschauplätzen. Die Wiener Philharmoniker bitten Emmanuelle Haïm zum Gastspiel und lassen sich durch die französische Spezialistin für alte Musik, die nicht zuletzt von William Christie und Simon Rattle gefördert wurde, durch Händels «Wassermusik» führen. Susanna Mälkki, inzwischen Chefdirigentin bei den Philharmonikern von Helsinki, dirigierte das Orchester der Lucerne Festival Academy und hob ein neues Werk von Olga Neuwirth, dieses Jahr «composer in residence», aus der Taufe. Und Marin Alsop war nicht mit dem Orchester von Baltimore, das sie seit 2007 leitet, sondern mit dem von ihr 2012 übernommenen São Paulo Orchestra zu Gast.

Showtalent

Und dann: Barbara Hannigan. Die gefeierte Sopranistin, die das Lucerne Festival 2016 mit dem Solostück «Djamila Boupacha» von Luigi Nono einleitete und dann eine vielleicht etwas lange, aber sehr persönliche Eröffnungsrede im Gedenken an Pierre Boulez hielt, Barbara Hannigan stellte sich auch als Dirigentin, ja selbst als dirigierende Sängerin vor. Das war nicht das Gelbe vom Ei, um ehrlich sein. Als Sängerin in neuem Repertoire, etwa bei der Uraufführung von Toshio Hosokawas «Matsukaze» an der Brüsseler Monnaie-Oper 2011, ist sie unübertroffen, zumal auch in ihrer körperlichen Agilität und ihrer darstellerischen Präsenz. Selbst in der Titelpartie von Alban Bergs «Lulu» am selbenn Haus war sie eine Besonderheit. Aber Dirigentin muss sie erst noch werden, wie die farblose Wiedergabe von Joseph Haydns Pariser Sinfonie in D-dur, Hob. I:86 erwies.

Bei der Tondichtung «Luonnotar» von Jean Sibelius wirkte sie gar in Doppelfunktion: als Dirigentin wie als Solistin. Neu ist das nicht; es kommt etwa bei Klavier- oder Violinkonzerten Mozarts vor, wo es in der Regel, aber durchaus nicht immer, problemlos funktioniert, weil sich der dirigierende Solist meist mitten unter den Musikern aufhält. Hier bei Sibelius ging es daneben. Wenn sich Barbara Hannigan auf ihrem Podium zum Publikum hin umdrehte und als Dirigentin zu singen anhob, wirkte das geradezu grotesk; singend führte sie einem lahmen Vogel gleich halbe Armbewegungen aus, während der Konzertmeister das Mahler Chamber Orchestra bei der Stange zu halten suchte. Weil sie als Sängerin mit dem Rücken zu den Musikern und gleichzeitig vor ihnen stand, litt die Verbindung zum Orchester, was Mängel der klanglichen Balance und der Intonation in diesem harmonisch schwierigen Stücks hören liessen. Um so auffälliger dagegen die Show, die Barbara Hannigan aus dem Moment machte: mit effektvoller, aber nicht unbedingt effizienter Körpersprache und mit barfüssigem Auftritt.

Rollenbilder

Dass es all das nicht braucht, erwies der Erlebnistag dieses Sommers, der das Podium ganz den PrimaDonnen überliess. Der Knoten sei zerschlagen, versicherte Michael Haefliger, der Intendant des Lucerne Festival, in dem von der Radioredaktorin Gabriela Kaegi witzig moderierten Podiumsgespräch – und er hatte recht damit. Um ernst zu machen mit dem Thema, hatte das Festival das Chamber Orchestra of Europe, das Orchester und Ensembles der Lucerne Festival Academy sowie die Festival Strings engagiert und sechs Damen jüngerer Generation zum Dirigieren eingeladen – zu einer Art Vordirigieren vielleicht, so konnte einem die friedliche Konkurrenz in der dichten Abfolge der Ereignisse vorkommen. Das Pech wollte (oder war es ganz maliziös beabsichtigt?), dass dabei auch fest verankerte Rollenbilder gepflegt wurden. Zum Beispiel von der Geigerin Arabella Steinbacher, die sich neben den irritierend beiläufig spielenden Festival Strings mit den «Vier Jahreszeiten» von Antonio Vivaldi befasste: ohne ernsthaften Kontakt mit dem Ensemble und ohne Auseinandersetzung mit neueren Strömungen der musikalischen Interpretation – als Geigensternchen alter Schule eben.

Echt weiblich halt. Wer so dachte, durfte sich an diesem Sonntag von den übrigen Damen in leitender Funktion auf den Boden einer ganz anderen Realität holen lassen. Von der Estin Anu Tali zum Beispiel, die mit einem Fräcklein erschien, festen Schrittes dem Podium zueilte und dort mit feurigem Temperament, äusserst eifrig und mit herrscherlicher Führung des Taktstocks zu erkennen gab, dass Frau in dieser Domäne durchaus ihren Mann zu stellen weiss. In der Sinfonie Nr. 1 von Sergej Prokofjew, der «Symphonie classique», fand das Chamber Orchestra of Europe darum zugespitzte Kontraste und einen kompakten Ton, was dem gelassenen Blick zurück, der in diesem Stück herrscht, doch merklich widersprach. Auch die Griechin Konstantia Gourzi schien die Geschlechterfrage bewusst aus dem Spiel lassen zu wollen. Sie gab sich in Erscheinung und Zeichengebung ausgeprägt neutral und liess in ihrem ganz auf die Moderne ausgerichteten Programm mit dem Orchester der Lucerne Festival Academy Werke wie «Le Sacrifice» von Iannis Xenakis oder das frühe «Concert Românesc» von György Ligeti in blendender, aber auch nüchterner Klarhheit erklingen.

Die Kraft der Begabung

Ganz anders dagegen Mirga Gražinytė-Tyla. Die dreissigjährige Dirigentin aus Litauen macht kein Aufhebens darum, dass sie als Frau ans Dirigentenpult tritt; ihre Weiblichkeit kommt ganz selbstverständlich und natürlich zur Geltung. Zartgliedrig, wie sie ist, bleiben ihr autoritäre Züge im Auftreten verschlossen, ihre Zeichengebung zielt vielmehr auf die Auslösung energetischer Prozesse. Den Taktstock führt sie mit feinem Griff, ihre Linke dagegen spricht in vielerlei Gestalt. So machte sie Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 6 in F-dur, die «Pastorale», zu einem Gang durch ein äusserst belebtes Landleben.

Das Chamber Orchestra of Europe war klein besetzt und sprach leise, für diesen Klangkörper mit seiner reichen Beethoven-Erfahrung vertrautes Terrain. Bemerkenswert aber die Ausdrücklichkeit, die Mirga Gražinytė-Tyla im Rahmen der ziselierten Diktion erzielte. Dass sie dabei die Tempi, die sich Beethoven gewünscht hat, nur annährend erreichte, war nicht von Belang; die vom Komponisten stammenden Metronomzahlen stellen kein Dogma dar, sie sind vielmehr aus dem Kontext heraus zu verwirklichen. Und dieser Kontext war hier von enormer Stimmigkeit: reich an struktureller Einsicht wie an emotionaler Dichte. Intensiv wuchs das Geschehen aus dem Geflecht der Stimmen, auch der Binnenstimmen, und der instrumentalen Farbwirkungen heraus; und es lebte von manch überraschendem Einfall – etwa von dem ganz und gar ungewohnt von oben genommenen Triller, mit dem sich vor der Reprise des Kopfsatzes die Ersten Geigen vernehmen lassen. Die Szene am Bach, in leichtem Fluss gehalten, geriet zu einem bunten Vogelkonzert, die Tänze der Landleute steigerten sich in so heftiges Temperament, dass der Wechsel in die bedrohliche Stimmung vor dem Gewitter von geradezu dramatischer Wirkung war, während sich das Unwetter selbst dann elementar entlud. Nichts von dem geriet jedoch überzeichnet, in jedem Moment herrschten vielmehr die authentische Hinwendung der Dirigentin zum Text und ihre Ausstrahlung an die Adresse der äusserst animiert wirkenden Orchestermitglieder.

Zutiefst berührend war das. Dieser Tage tritt Mirga Gražinytė-Tyla ihr neues Amt als Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra an; in dieser Funktion folgt sie Vorgängern wie Simon Rattle oder Andris Nelsons – und kommenden Sommer wird sie mit dem Orchester aus Birmingham in Luzern gastieren. Dass es eine Frau ist, die im Begriff steht, zu einer grossen Karriere abzuheben, ist absolut bedeutungslos; im Vordergrund steht die einzigartige Begabung. Wenn sie sich so selbstverständlich durchsetzt, wie es bei Mirga Gražinytė-Tyla den Anschein hat, zeugt das aber doch von einem gewissen Wandel in der Frage nach der PrimaDonna. Das Lucerne Festival darf sich da durchaus seiner Verdienste rühmen.

Lucerne Festival (2) – Bernard Haitink

 

Peter Hagmann

Vitalität der Altersweisheit

Bruckners Achte und anderes mit Bernard Haitink

 

Einen «artiste étoile» gibt es diesen Sommer beim Lucerne Festival nicht, und auch die Residenzen sind offiziell auf die Komponistin Olga Neuwirth beschränkt. Indessen sind auch dieses Jahr mit dem Mahler Chamber Orchestra als Kern des Lucerne Festival Orchestra und mit dem Chamber Orchestra of Europe zwei Klangkörper aus dem Wirkungskreis Claudio Abbados so stark präsent, dass wenigstens inoffiziell von Residenzen die Rede sein darf. Gerade das 1981 gegründete Chamber Orchestra of Europe, es erscheint neben dem Lucerne Festival Orchestra und dem Orchester der Lucerne Festival Academy als eigentliches Hausorchester, das zusammen mit den beiden anderen Klangkörpern dem Lucerne Festival die Möglichkeit gibt, seine Abhängigkeit von den gastierenden Orchestern mit ihren Tourneeprogrammen zu reduzieren und auf eigene Produktionen zu setzen. Zwei Konzerte hat das Chamber Orchestra of Europe im Rahmen des Erlebnistages zum Thema «PrimaDonna» mit jungen Dirigentinnen gespielt, für zwei weitere ist der Altmeister Bernard Haitink ans Pult gerufen.

Haitink wiederum hat zusätzlich zu den beiden Auftritten mit dem Chamber Orchestra of Europe an zwei Abenden die Sinfonie Nr. 8 von Anton Bruckner dirigiert, dies im zweiten Programm des Lucerne Festival Orchestra – er dürfte sich also mit Fug und Recht als «artiste étoile» sehen. Und dies umso mehr, als der inzwischen 87-jährige Dirigent vor genau fünfzig Jahren zum ersten Mal am Luzerner Festival aufgetreten ist und diesen Sommer, genauer: am 19. August, das Jubiläum seines fünfzigsten Konzertauftritts feiern konnte. Zögerlich hatte es angefangen mit zwei Auftritten am Pult des Schweizerischen Festspielorchesters 1966 und 1968. Und mit Mahlers Vierter sowie Bruckners Neunter, womit zwei Schwerpunkte in Haitinks Repertoire markiert waren. In den Jahrzehnten darauf, als Chefdirigent des Amsterdamer Concertgebouworkest,  erschien er nur drei Mal, doch als Michael Haefliger zum Luzerner Steuermann wurde, kam es bald zu jenen alljährlichen Auftritten Haitinks, ohne die ein Luzerner Sommer keiner wäre.

Dabei setzten sich die Schwerpunkte bei Bruckner und Mahler fort, zeigte sich aber durchaus auch die Weite von Haitinks Repertoire, das zu Haydn zurückgeht, aber auch Bartók, Schostakowitsch und Strawinsky umfasst. Eine Intensivierung ergab sich ab 2008, als das Chamber Orchestra of Europe zum ständigen Partner Haitinks wurde. Mit diesem Orchester der neuen Art unterzog Haitink seine ästhetischen Auffassungen noch einmal einer gründlichen Überprüfung; Mozart, Beethoven, Schumann, Brahms, schliesslich Schubert – alles wurde neu erkundet. Und das in einem Altersstil, der sich ganz und gar der Gegenwart zuwendet, sich den Tendenzen zu leichter Diktion, hellem Klang und Transparenz des Stimmengeflechts öffnet. Haitink ist nicht nur ein Mann von eiserner Disziplin, was ihm erlaubt, bis ins allerhöchste Alter aktiv zu bleiben. Er hat sich auch seine geistige Regsamkeit bewahrt, nimmt aufmerksam das Geschehen rund um ihn wahr und macht sich zu eigen, was ihn davon interessiert.

Ein Beispiel dafür gab es in jenem schönen Programm, das ausschliesslich Antonín Dvořák gewidmet war. Im Kopfsatz der neunten Sinfonie, «Aus der Neuen Welt», liess Haitink die Exposition wiederholen, was in der Partitur steht, aber von den Dirigenten traditionsgemäss ignoriert wurde. Die Wiederholung sei ohnehin optional, und mehr als das: bei den bekannten Stücken aus dem Kern des Repertoires sei sie überflüssig. Mit ihrem neuartigen Bezug zu den Notentexte hat die historische Aufführungspraxis auch diesbezüglich einiges zurechtgerückt, der Verzicht auf die Wiederholung gilt heute nicht mehr als zeitgemäss. Dass das inzwischen auch bei Dvořák seine Gültigkeit hat und selbst bei einem Renner wie dessen Neunter, dass es zudem von einem sehr alten, aber äusserst vitalen Herrn postuliert wurde – das war nun doch eine kleine Überraschung.

Auch darüber hinaus fehlte es nicht an Glanzlichtern. Das Chamber Orchestra of Europa erschien in kleiner Besetzung, weshalb die Neue Welt in keinem Augenblick pathetisch oder, schlimmer noch, knallig klang. Mit Clara Andrada verfügt das Orchester ausserdem über eine Soloflötistin von sensationell brillantem Ton und mit Kai Frömbgen über einen Oboisten, der nicht nur kernig, sondern auch sehr leise zu spielen vermag. Vor allem aber bilden die beiden ein Duo, das den Klang grossartig verschmelzen, aber auch äusserst subtil abzufärben weiss. Bei Dvořák werden musikalische Einfälle ja nicht selten mehrere Male gezeigt, und wie hierbei die Wiederholungen klanglich differenziert wurden, wie das eine Mal die Flöte die Farbe gab, das andere Mal die Oboe, das war ein Erlebnis der besonderen Art. Haitink gehört zu jenen Dirigenten, die einem Orchester sehr genau zuhören; so versteht sich, dass er dies Angebot aus dem Kreis der Holzbläser gerne annahm.  Etwas weniger inspiriert wirkten «Die Mittagshexe», eine Sinfonische Dichtung von verhältnismässig geringem Raffinement, und das Cellokonzert in h-moll, weil da mit Alisa Weilerstein eine junge Solistin beteiligt war, die soliden amerikanischen Stil bot und die in der ihrer Auslegung des Soloparts hinter dem zurückblieb, was sie als Potential zu erkennen gab.

Und dann: Bruckners Achte mit dem Lucerne Festival Orchestra. Auch hier eine Überraschung insofern, als nicht wie gewohnt Jacques Zoon die Soloflöte spielte, sondern Chiara Tonelli, die gewöhnlich die zweite Position besetzt. Die sich hier aber als eine absolut ebenbürtige, klanglich blendend präsente Solistin erwies. Bei Bernard Haitink, dem die Musikerinnen und Musiker am Ende fast demonstrativen Beifall spendeten, scheint sich das Orchester aufgehoben zu fühlen. Das ist nicht weiter erstaunlich, denn so wie Claudio Abbado gesagt haben soll, am liebsten möchte er nach dem ersten Schlag verschwinden und die Musik aus sich selber heraus entstehen lassen, so scheint Haitink das musikalische Geschehen eher zu beobachten als zu lenken. Das ist natürlich Trug, denn was er aus seiner immensen Erfahrung und seinem vibrierenden inneren Erleben heraus ans Orchester übermittelt, ist einzigartig. Wie er die Bögen spannt, wie er die enorm weit ausgelegten Verläufe als solche fühlbar macht, wie er ausserdem die Gesten Bruckners in ganzer Grösse zeigt, dabei aber jede Monumentalität vermeidet, vielmehr Atmen und Pulsieren spüren lässt – das gibt es so nur bei ihm. Und was sich dabei an orchestraler Qualität einstellte, besonders etwa bei den Einsätzen der vier Wagner-Tuben, sucht weitherum seinesgleichen.

Lucerne Festival (1) – Stabwechsel beim Festivalorchester

 

Die «Sinfonie der Tausend» zur Eröffnung des Lucerne Festival im Konzertsaal des KKL / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

 

Peter Hagmann

Überwältigender Abschluss, vielversprechender Aufbruch

Mahlers Achte zum Debüt von Riccardo Chailly beim Lucerne Festival Orchestra

 

Ein Gast, der eigens aus Amsterdam angereist war, blieb unerwähnt. Die extragrosse Pauke, die der Dirigent Willem Mengelberg auf Anraten des Komponisten für eine Aufführung von Gustav Mahlers achter Sinfonie 1912 im Amsterdamer Concertgebouw hatte anfertigen lassen, war mit Donnerschlag am Eröffnungskonzert der diesjährigen Sommerausgabe des Lucerne Festival beteiligt, erschien aber auf keiner einzigen VIP-Liste. Macht nichts, sie ist es gewöhnt. Lange hatte sie im Keller des Concertgebouw geschlummert. Im Zuge von Bauarbeiten kam sie zufällig zum Vorschein, und als sich Riccardo Chailly, damals Chefdirigent des Concertgebouworkest, im Rahmen des Mahler-Festes 1995 mit der Achten befasste, liess er das Instrument restaurieren und setzte es ein. So war es jetzt auch im Luzerner KKL mit von der Partie. Nichts davon steht in der Partitur; um darauf zu kommen, muss man schon ein wenig tiefer graben.

Mit Herz und Kopf

Riccardo Chailly, der jetzt als nicht ganz unmittelbarer, aber doch eigentlicher Nachfolger Claudio Abbados an die Spitze des Lucerne Festival Orchestra getreten ist – Riccardo Chailly tut das, allezeit und in jedem Fall. Seine Kompetenz als Dirigent gründet nicht allein in seinem unbestreitbaren Charisma, sie basiert auch auf einem vertieften Eindringen in die Partituren, das nicht nur die Notentexte an sich, sondern auch all das betrifft, was dahinter steht und sich darum herum angelagert hat. Das etwa Fragen der Rezeption einschliesst – und darum hat Chailly, als er mit dem Concertgebouworkest die Sinfonien Mahlers erarbeitete, auch die Dirigierpartituren Willem Mengelbergs zur Hand genommen. Als enger Freund Mahlers und früher Streiter für dessen Werke hat Mengelberg, ein halbes Jahrhundert lang Chefdirigent des Concertgebouworkest, vom Komponisten eine Fülle von Hinweisen erhalten, die nirgends publiziert, aber von hoher Nützlichkeit sind. Zum Beispiel eben den Vorschlag zum Bau einer speziellen Pauke für die Achte.

Mit diesem überbordenden, immer wieder hinreissenden Werk wurde nun die Sommerausgabe 2016 des Lucerne Festival eröffnet – eine Ausgabe, die dem jüngst verstorbenen Pierre Boulez gewidmet ist, während das Eröffnungskonzert selbst vom Lucerne Festival Orchestra und seinem nunmehrigen Chefdirigenten dem ebenfalls dahingegangenen Gründer Claudio Abbado zugeeignet wurde. Mit anhaltendem Stehapplaus aufgenommen, bot der Abend Abschluss und Aufbruch in einem. Abgeschlossen wurde eine Ära von elf Jahren, in der die Sinfonien Mahlers einen zentralen Nervenstrang bildeten – just bis auf die Achte, deren Aufführung Abbado 2012 zweifellos mit Rücksicht auf die schwindenden Kräfte hatte absagen müssen. Und aufgebrochen wurde in eine Zukunft, in der sich eine neue Balance einstellen wird zwischen einem Chefdirigenten, der in den besten Jahren steht, auch ungeheuer Energie verströmt, und dem trotz aller Unkenrufe nach wie vor höchstkarätigen Orchester.

Dieses Orchester präsentierte sich so unverändert oder so leicht verändert, wie es in den vergangenen Jahren stets der Fall war. Dass enge Freunde Abbados nach dem Tod des Dirigenten nicht mehr dabeisein mögen, lässt sich nachvollziehen. Dass andererseits Mitglieder des Scala-Orchesters, dem Riccardo Chailly inzwischen als Musikdirektor vorsteht, nun auch in Luzern mit von der Partie sein sollen, kann man ebenso sehr verstehen – ein Orchester ist ein lebendiger Körper, und selbstverständlich hat der Chefdirigent in Sachen Besetzung etwas zu sagen, das war bei Abbado auch so. Am ehesten zu bedauern ist vielleicht das Ausscheiden Sebastian Breuningers, einem Konzertmeister von seltener Qualität. Aber Breuninger ist eben auch Konzertmeister im Leipziger Gewandhausorchester, von dem Chailly auf Ende der Saison 2015/16 nicht ganz ohne Spannung geschieden ist. Davon abgesehen äussert sich Chailly über das Lucerne Festival Orchestra in Ausdrücken der Bewunderung und des höchsten Respekts; und er bekräftigt, dass die von Abbado für dieses Orchester installierten Prinzipien bestehen bleiben sollen.

Der logische Nachfolger

Ohnehin ist der Schritt von Abbado zu Chailly kleiner, als es erscheinen mag – nicht nur darum, weil beide Dirigenten Mailänder sind. Und nicht nur, weil Chailly in den siebziger Jahren Abbado, der damals als Musikdirektor die Scala umpflügte, als junger Assistent zur Seite stand. Die Verbindung zwischen Herzenskraft und Forschergeist, die Chailly auszeichnet, mag auf Abbado zurückgehen, der damals der unzulänglichen Edition von Bizets «Carmen» zu Leibe rückte und im gleichen Geist Jahre später aus der Partitur von Bergs «Wozzeck» hunderte von Fehlern beseitigte. Chailly treibt die nämliche Neugierde, darum hat er 2005 mit dem Gewandhausorchester Mendelssohns Sinfonie Nr. 2, den «Lobgesang», in der kaum je gespielten Erstfassung von 1840 einstudiert. Dazu kommt die selbstverständliche Nähe zur neuen Musik, weshalb er jetzt, als er in der Scala die von Puccini unvollendet zurückgelassene Oper «Turandot» dirigierte, sich nicht für das hergebrachte Finale von Franco Alfani, sondern für die neuere Schlusslösung von Luciano Berio entschied.

Das alles sind Aspekte, die Riccardo Chailly als einen jener modernen Dirigenten erkennen lassen, wie es – jeder auf seine Weise – Claudio Abbado und Pierre Boulez waren. Bei Mahlers Achter war es zu hören. Der von Mahler bewusst intendierten Grandiosität blieb er nichts schuldig. Der Chor des Bayerischen Rundfunks München, der Lettische Radio-Chor Riga und der baskische Chor Orfeón Donostiarra sowie der Tölzer Knabenchor sorgten, vorbereitet von Howard Arman, für gewaltige vokale Präsenz – dies aber auf einem Niveau der Darbietung, das als sensationell gelten darf: satt und homogen im Klang, ausgeglichen präsent in allen Registern bis hin zu den Strohbässen im Chorus Mysticus, strahlend ohne Annäherung an den Schrei im Fortissimo. Das Orchester wiederum war in extragrosser Besetzung angetreten, mit dem Fernorchester der Trompeten und Posaunen auf der Orgelempore, mit der von Franz Schaffner gespielten Orgel als einer Art zweitem (oder drittem) Orchester. Und es lebte das Prinzip der Exzellenz, aus dem es geboren ist, in hohem Masse aus.

Dabei blieb die Lautstärke – eines der heikelsten Probleme bei einer Aufführung von Mahlers Achter mit ihrer überbordenden Besetzung – insgesamt besser im Rahmen als bei den früheren Aufführungen des Werks etwa 2001 mit dem Gustav-Mahler-Jugendorchester unter der Leitung von Franz Welser-Möst oder 2006 mit dem Orchester aus San Francisco und seinem Chefdirigenten Michael Tilson Thomas. Dass es am Ende des ersten Teils zu Momenten der Übersteuerung kam, mag am Stück selber liegen; Mahler führt kontrapunktische Verdichtungen herbei, die tatsächlich schwer zu kontrollieren sind. Die freilich durchaus nicht implodieren müssen, das hat die Aufführung von Mahler VIII mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und seinem damaligen Chefdirigenten David Zinman gezeigt, die 2009 aus akustischen Gründen von Zürich ins KKL Luzern verlegt worden war. Beim Luzerner Eröffnungskonzert hatte ich jedoch den Eindruck, dass Chailly zu sehr und zu lange auf dem Forte-Fortisssimo verblieb, weshalb der Klang grau wurde und die sonst gerade klanglich so wunderbar aufgefeilte Wiedergabe ihre Spannung verlor.

Kontrollierte Emphase

Dass es nicht restlos gelang, geht vielleicht auch auf das Solistenensemble zurück, wo in den Ensembles des ersten Teils bisweilen jeder gegen jeden sang. Wo die Sopranistin Ricarda Merbeth derart vibrierte, dass das Gefühl für die Tonhöhe gefährdet war, und wo der an sich sehr geschätzte Tenor Andreas Schager unheimlich presste. Die wertvollsten Momente ergaben sich im zweiten Teil des Stücks. Zunächst beim schwankenden Wald des Männerchors, dann aber beim Auftritt des Pater ecstaticus, den Peter Mattei mit der grossartig gewachsenen Schönheit seines Timbres, einer Innigkeit sondergleichen und intensiv erfüllten Spannungsverläufen zu einem Höhepunkt des Abends machte. Juliane Banse (Una poenitentium) bewahrte sich in ihren kurzen Auftritten bewundernswert lyrische Ansätze, während Samuel Youn (Pater profundus), Mihoko Fujimura (Maria Aegyptiaca) und vor allem Sara Mingardo (Mulier Samaritana) mit glanzvoller Tiefe punkteten. Und als die junge Sopranistin Anna Lucia Richter, in bester Erinnerung von Mahlers Vierter mit Bernard Haitink im letzten Sommer, als Mater gloriosa die Orgelempore betrat, ging ein ganz besonderes Licht an.

Der opernhafte Zug des zweiten Teils trat jedenfalls ungeschmälert heraus, dies aber ohne jeden Überdruck. Riccardo Chailly kennt nicht nur die Spezialitäten der Besetzung im Schlagzeug, er weiss auch, wo die Fallen der übersteuerten Emphase liegen, und es ist ihm bewusst, was sich an Unterstreichungen dem Notentext angelagert hat. Nichts davon war in dieser Aufführung zu bemerken. Chailly nahm die Zügel fest in die Hand und liess manches nicht in der Partitur stehende Rubato aus. Zusammen mit den vergleichsweise straffen Tempi, den vielen dynamischen Überraschungsmomenten und der grossartig aus einem Flüstern heraus angelegten Finalsteigerung tat das seine Wirkung. Der überhöhte, leicht und rasch in Kitsch fallende Ton des Werks blieb jedenfalls stets gefasst, so dass die gründerzeitliche Geste dieses musikalischen Weltentwurfs als positiver Wert erfahrbar wurde. Und restlos überwältigte.

Was für ein Abend. Was für ein Aufbruch. Die Zukunft des Lucerne Festival Orchestra – jetzt hat sie begonnen.

Lucerne Festival zu Ostern (I)

 

Peter Hagmann

Im Zeichen der Koexistenz

Jordi Savall und Hespèrion XXI in der Hofkirche Luzern

 

Jordi Savall war nie ausschliesslich Musiker, er ist stets auch auch Zeitgenosse. Als der heute 74-jährige Künstler in den späten sechziger Jahren nach Basel kam, um sich bei August Wenzinger an der Schola Cantorum Basiliensis zum Gambisten ausbilden zu lassen, fiel er durch ein politisches Bewusstsein auf, das unter musikalisch tätigen Menschen selten ist. Er war eben Katalane, und als solcher nahm er mit scharfer Argumentation Stellung gegen das Regime Francos. Durch den Auftritt des leise sprechenden, feinsinnig denkenden Musikers und seiner schönen Frau, der 2011 viel zu früh verstorbenen Sängerin Montserrat Figueras, erhielt der in der Szene der alten Musik ohnehin virulente Geist von 1968 eine klare Unterstreichung.

Auch das Ensemble Hespèrion XX (heute Hespèrion XXI), das Savall 1974 zusammen mit dem Fagottisten Lorenzo Alpert und dem Lautenisten Hopkinson Smith in Basel gründete, hat nie einfach Musik gemacht. Einer der Schwerpunkte seines Repertoires liegt bei jener Kunst, die im späteren 15. Jahrhundert auf der iberischen Halbinsel gepflegt wurde. Auch diese Repertoireentscheidung hat ihre aussermusikalische Konnotation. 1492 verfügte Ferdinand von Aragon, dass alle Juden die iberische Halbinsel zu verlassen hätten. Die katholische Rückeroberung Spaniens zerstörte die friedliche und fruchtbare Koexistenz christlicher, jüdischer und muslimischer Traditionen, die für das Abendland so bedeutungsvoll war.

Ney, Duduk und Belul

Genau diesem Nebeneinander gilt Savalls Aufmerksamkeit – allerdings nicht nur: Er ist und bleibt ein begnadeter Gambist, zudem leitet er das Vokalensemble La Capella Reial de Catalunya sowie das Orchester Le Concert des Nations und sorgt auf all diesen Feldern für überaus eindringliche Leistungen. Doch dem Mittelmeerraum – dem grossen Bogen von Griechenland und der Türkei über den Nahen Osten und Nordafrika nach Spanien – schenkt er seine besondere Zuwendung. Noch und noch fördert der auch als Forscher begabte Musiker Entdeckungen zutage, und viele davon führen zu exquisit gestalteten Hörbüchern des von ihm selbst gegründeten CD-Labels Alia Vox. Oder zu Abenden wie jenem in der Luzerner Hofkirche, der jetzt die Osterausgabe des Lucerne Festival eröffnet hat.

Neun Damen und Herren sassen vor dem fastenzeitlich verhüllten Altar. Eigenartig sangen die einen, mit ungewohnter Stimmtechnik, fremdartig spielten die anderen, in einer speziellen Art Mikrotonalität, in seltsam wiegenden Rhythmen, meistens einstimmig und über weite Strecken in jenem Moll, das die Musiklehre das harmonische nennt. Und die ungewöhnlichsten Instrumente kamen zum Einsatz. Vorne links, und ganz eindeutig das Energiezentrum der Darbietung, Jordi Savall, der die Vièle à archet und die Lyra bediente. Zuvor war aus dem Hintergrund der Kirche Moslem Rahal nach vorne geschritten, am Mund die Ney, die lange arabische Flöte, der er hier langgezogene Töne, dort rasche Melismen entlockte.

Nicht weniger aufregend Duduk und Belul, die beiden dunkel und geheimnisvoll klingenden Oboen aus Armenien mit ihren enorm breiten Doppelrohrblättern, die Haïg Sarikouyoumdjian in Schwingung versetzte. Der Armenier tat das mit mächtig geblähten die Backen, weil er wie der Flötist aus Syrien ganz selbstverständlich die Zirkuläratmung einsetzte, bei der aus- und zugleich eingeatmet wird, was die Erzeugung gleichsam unendlicher Töne ermöglicht. Einiges war notiert, anderes improvisiert, was Yurdal Tokcan an der Laute Oud, Hakan Güngör an der albanischen Zither Kanun oder Dimitri Psonis am persischen Hackbrett Santur virtuos zur Geltung brachten. Mittendrin der grossbärtige Pedro Estevan, ein langjähriger Mitstreiter Savalls, der mit seinen Schlaginstrumenten dem Geschehen seinen ganz eigene Drive verlieh.

Wie Stilles wirkt

Unterschiedliche Sprachen, unterschiedliche Kulturen, unterschiedliche Religionen kamen da zusammen – während in der Musik, die das Gemeinsame heraustrat, das Verbindende. Besonders deutlich wurde das am Schluss, als über ein und derselben Melodie Texte in griechischer, hebräischer und türkischer Sprache erklangen. Tatsächlich waren auch zwei Sängerinnen und ein Sänger beteiligt: Ori Atar aus Israel mit einer erregend tiefen, herben Frauenstimme, der Türke Gürsoy Dinçer und die Griechin Katerina Papadopoulou, die auch Kastagnetten bediente und überhaupt für eine gute Atomsphäre sorgte. Wenn der Türke mit seinem hellen, hohen Tenor seine Macho-Verse sang, durfte man schmunzeln. Und wenn er zusammen mit der Griechin zypriotische Liebeslyrik vortrug, durfte man sich für einen Augenblick an die erbitterte Feindschaft zwischen Griechenland und der Türkei auf dieser Mittelmeerinsel erinnern. In der Musik schien sie aufgehoben.

Mit Folklorismus hatte das alles nichts zu tun, obwohl es bisweilen danach klang. Was da vorgeführt wurde, war hohe Kunst, aber eine, die sich unseren Begriffen entzieht. Vor allem konnte jeder, der es wollte, mit eigenen Ohren hören, dass die entsetzliche Feindschaft, die im Nahen Osten herrscht, vielleicht doch nicht einfach naturgegeben, sondern von Menschen gesteuert ist. Ach ja, Musik, die Grenzen überwindet? Das war es gerade nicht, das Klischee konnte man rasch vergessen. Der ausverkaufte, mit anhaltender Begeisterung aufgenommene Abend war vielmehr Ausdruck des genuinen Engagements eines Musikers, das in seiner Ehrlichkeit entwaffnend wirkt. Und in seiner Stille. Was ein Pianist und Dirigent mit seinem aus Israeli und Arabern zusammengesetzten Orchester mit Pauken und Trompeten verkündet, tut Jordi Savall schon viel länger – und vielleicht auch ein wenig näher am Problem.

Lucerne Festival am Piano (2)

 

Peter Hagmann

Poet an Tasten

Ein Klavierabend mit Radu Lupu

 

Klavier, nichts als Klavier – und doch: was für Welten. Jeder der Pianisten, die ich diesen Herbst beim Lucerne Festival am Piano gehört habe, repräsentierte ein Universum, sein Universum, und die Kontraste hätten dabei nicht markanter ausfallen können. Das ist nichts als natürlich, wenn nicht sogar zwingend; ohne ausgeprägtes Ego keine Interpretation, und ohne Interpretation keine Musik (womit auch gesagt ist, dass der von Musikern bisweilen vertretene Anspruch, «nur die Noten» zu spielen und nichts mehr, ins Reich der Fabel gehört).

Auf die lächelnde Gelassenheit, mit der András Schiff seine reich ausgebaute und hochgradig inspirierende Subjektivität mit einem Mantel der Objektivität umgibt, mit der er jedenfalls den Anschein vermittelte, so und nicht anders müsse es klingen – auf András Schiff also folgte Radu Lupu, der sich am Instrument tief in die Seele blicken lässt. Lupu ist der Poet an den Tasten; wenn er die Musik formt, beginnt zu sprechen – nicht in Prosa, sondern in Form von Gedichten. An Spannung hat es demzufolge nicht gefehlt.

Radu Lupu, eben gerade siebzig geworden, nahm den Faden auf, den András Schiff mit Bachs «Goldberg-Variationen» ausgelegt hatte. Mit den Variationen über ein eigenes Thema in D-dur (op. 21, Nr. 1) von Johannes Brahms, den 32 Variationen über ein eigenes Thema Ludwig van Beethovens und Wolfgang Amadeus Mozarts Variationen über ein Menuett von Jean-Pierre Duport (KV 573) bot Lupu zudem Werke, die im Konzertsaal so gut wie nie erklingen. Und das in einem chronologischen Gang zurück, der auch erkennen liess, wie sehr sich die Gattung der Variation in den sechzig Jahren zwischen Mozart und Brahms verändert hat. Allein schon als Programm wirkte der erste Teil seines Luzerner Rezitals ganz ausserordentlich.

Während Mozart das doch sehr simple Thema Duports in seinem vorletzten Lebensjahr mit allen Mitteln seiner Kunst ausleuchtete und dabei in erster Linie auf strukturelle Werkzeuge setzte, nahm Beethoven in seinen gut fünfzehn Jahre später entstandenen, der mittleren Zeit des Komponisten zugehörigen  Variationen zusätzlich emotionale Aspekte in den Blick – und Radu Lupu blieb diesen Weiterungen nichts schuldig. Anders als Schiff, dessen Klang seine Charakteristik im Obertonreichtum findet, pflegt Lupu einen Ton, der sich eher aus einer warmen Mitte nährt. Und zusammen mit dem ausgeklügelten Einsatz des rechten Pedals, der bisweilen recht eigentliche Hallräume entstehen liess, und seiner ausserordentlich empfindsamen Piano-Kultur schuf er Klangbilder, die weit in die Romantik wiesen.

Dort wiederum waren die schlicht genialen Variationen des jungen Brahms angesiedelt; wer der Sammlung begegnet, denkt sogleich an den ebenso prophetischen wie enthusiastischen Ausspruch Robert Schumanns. Das Technische der Variation ist hier endgültig mit Emotionalem verbunden – Radu Lupu, der dem in jeder Hinsicht anspruchsvollen Werk grandios gerecht wurde, machte es hörbar. Restlos auf das innere Erleben fokussiert, sich gleichsam selber zuhörend und mit weit ausgestreckten Armen sass er auf seinem gewöhnlichen Stuhl mit Rückenlehne, nicht auf einer Klavierbank; er erinnerte damit an das berühmte Gemälde Willy von Beckeraths aus dem Jahre 1911, das Brahms, eine Zigarre rauchend, am Flügel zeigt.

Aber nicht das Knorrige, das sich hinter dieser Abbildung auch vermuten liesse, trat bei Lupu hervor, nicht das Erratische und nicht das Markige, das Interpreten früherer Zeiten an Brahms gerne betonten. Nein, wie auf den vier Porträtphotographien von Brahms aus der Entstehungszeit der Variationen, die das Programmheft in reizvoller Ergänzung zu den Texten auf einer Seite gruppierte, erschien der Komponist als ein sensibler junger Mann. Wenn sich, bei Brahms obligat, gerade und ungerade Zählzeiten aneinander rieben, verband sie Lupu zu geschmeidigem Fluss. Die Oktavparallelen donnerten nicht, sie huschten durch die Gegend – satt, aber nicht dominant. Und wie sich gegen das Ende hin der Klang vergrösserte, wurde es nicht laut, dafür aber breiter in den Tempi.

In ähnlichem Geist nahm Lupu die G-dur-Sonate D 894 von Franz Schubert: als eine Geschichte voller Geheimnisse, mit leiser, aber eindringlicher Stimme erzählt. Den Höhepunkt bildete aber ohne Frage das Intermezzo in Es-dur, die Nummer eins aus dem späten Opus 117, von Lupu als Zugabe gespielt. Welches Ausmass an Verlorenheit fand da Klang – und zugleich welche Art der tröstlichen Versicherung. So weit kann Musik gehen.

Lucerne Festival am Piano (1)

 

Peter Hagmann

Konstruktive Kunst, vitale Erzählung

András Schiff spielt Bachs «Goldberg-Variationen»

 

Ob man Musik verstehen müsse, um sie geniessen zu können – das ist in diesem Fall mehr als anderswo die Frage. Bei den «Goldberg-Variationen» Johann Sebastian Bachs liegt der Reiz ja darin, dass die insgesamt 32 Teile über einen stets gleichbleibenden Bass von 32 Tönen eine Summe dessen bieten, was in der Mitte des 18. Jahrhunderts als späte Frucht langer Entwicklungen an satztechnischem Raffinement möglich war. An höchststehender musikalischer Konstruktion also, die man umso mehr bewundern kann, je tiefer man in ihre Geheimnisse eindringt. Das ist der Grund dafür, dass András Schiff, wenn er die «Goldberg-Variationen» vorträgt, den Abend bisweilen zweiteilt. In einem ersten Teil führt er erläuternd, nämlich sprechend und spielend, durch die Komposition –wie er es im Ansatz schon im Booklet zu seiner CD-Aufnahme von 2001 getan hat. Im zweiten Teil des Abends trägt er dann das Werk vor. So hat er es etwa in der Alten Oper Frankfurt getan, die den «Goldberg-Variationen» vor gut zwei Monaten ein ganzes zweiwöchiges Festival gewidmet haben.

Vielleicht wäre die Eröffnung der Klavierwoche, die das Lucerne Festival wie jeden Herbst zur Zeit durchführt, noch eine Spur konkreter geworden, wenn der konstruktive Reichtum der «Goldberg-Variationen» etwas direkter ans Licht gehoben worden wäre; denkbar, dass eine stichwortartige Verlaufsskizze dienlich gewesen wäre – dies nicht anstelle von, sondern als Ergänzung zu dem wiederum sehr schönen Text von Wolfgang Stähr im Programmheft. Aber möglicherweise hat das Festival auch Recht, wenn es András Schiff die «Goldberg-Variationen» ohne Vermittlung durch das Wort darbieten lässt. Und ihm dafür die Gelegenheit bietet, vor den 75 Minuten des zweiten Teils eine Ergänzung zu bieten, die in ihrer Weise einen aufschlussreichen Horizont bildet. Schiff spielte nämlich das Italienische Konzert in F-dur und die Französische Ouvertüre in h-moll, mithin den zweiten Teil der von Bach selbst zusammengestellten und zum Druck gebrachten «Klavier-Übung». Ihren vierten Teil bilden wiederum die «Goldberg-Variationen» – in denen vieles anklingt, was im Italienischen Konzert und in der Französischen Ouvertüre prächtig vorgeformt ist.

Wenn András Schiff die «Goldberg-Variationen» spielt, sein erklärtes Lieblingsstück, wird das mehr als ein Konzert, es gerät zu einem gemeinschaftlichen Erleben mit einem Zug ins Spirituelle. Nicht zuletzt geht das auf die unglaubliche Verbundenheit des Interpreten mit der von ihm dargebrachten Musik zurück – nicht nur auf seine Identifikation, nicht nur auf seine Einlässlichkeit im Moment, sondern vor allem auf das Mass, in dem er sich diesen unvergleichlichen Notentext zu eigen gemacht hat. In jedem Winkel dieser klingenden Kathedrale kennt er sich aus – inzwischen so gut, dass bisweilen die Befürchtung aufkommt, das Werk könnte unter seinen Händen doch zum Denkmal und zum Bildungsgut erstarren. Indes verfügt András Schiff noch über einen derartigen Vorrat an Phantasie, Spontaneität und Entflammbarkeit, dass man ihm hingerissen auf dem Spaziergang durch diese zehn Mal drei Veränderungen über die zu Beginn und am Ende erklingende Aria folgt.

Diese Aria gibt er mit jener ausdrucksvollen Einfachheit, wie sie nur ihm zu Gebote steht. Sie ist in der Oberstimme ja schon sehr verziert, was das Ohr gefangen nimmt – und was der Interpret nicht nur zulässt, sondern ausdrücklich fördert: durch seine Kunst, die Verzierungen flexibel in den Verlauf einzubauen und sie in der Ausformung subtil zu nuancieren. Im jeweils zweiten Durchgang der beiden Teile – Schiff lässt keine der Wiederholungen aus – hebt er die Dynamik der linken Hand jedoch um ein Weniges an, auf dass der Bass als das Fundament des Ganzen ins Bewusstsein rücke; einleuchtend, geschickt und fern jeder Belehrung ist das. Ebenso diskret, in der Wirkung aber noch weit frappierender die Massnahme, die Schiff am Ende ergreift, wenn die Aria ein zweites Mal erklingt und den Bogen der Variationen zum Abschluss bringt. Im Gegensatz zu der üblichen Praxis, dass ein Abschnitt eines Werks im zweiten Durchgang ausgeziert wird, lässt er hier in den Wiederholungen alle nicht explizit niedergeschriebenen Verzierungen weg, weshalb die Aria zum Schluss bar jeder Verschönerung, gleichsam in der Urgestalt erscheint. Das war stark als Einfall, aber auch als Ausdruck jener Symmetrie, die Bach, dem vom Barock geprägten Menschen, so viel bedeutete.

In seiner Einfachheit bildete das den krönenden Abschluss einer ganzen Reihe interpretatorischer Glanzlichter. Das Laufwerk der Sechzehntelketten in den vom Geist der Toccata erfüllten Stücke nahm András Schiff mit ausgeprägter Lust an der blitzenden Geläufigkeit und am virtuosen Effekt der gekreuzten Hände. Wobei hier bisweilen Vorbehalte aufkamen, weil da und dort die Erinnerung an den Nähmaschinen-Bach der Nachkriegszeit nicht zu unterdrücken war. In den imitierenden Stücken wiederum hob der Pianist die Kanonbildungen ohne ein Übermass an Unterstreichung hervor; wer wollte – und nicht alle wollten, wie Abgänge aus dem Publikum erwiesen –, konnte die Reden und Gegenreden der sich in unterschiedlichen Abständen verfolgenden Stimmen sehr genau nachvollziehen. Höhepunkte stellten aber jene drei Variationen in g-moll dar, die als einzige Teile von dem sonst durchgehenden G-dur abweichen. In der ersten Variation dieser Art, der in der Mitte stehenden Nummer 15 mit ihrem Kanon im Abstand einer Quarte, zeigte Schiff, wie sehr Bach, der bei aller rauschenden Sinnlichkeit doch klar im konstruktiven Denken verankerte Kontrapunktiker, an der Weiterung der Musik in die Bereiche des Empfindsamen Anteil nahm.

Das Ganze kam in jenem hellen Ton daher, den András Schiff seinem Flügel entlockt, und in der leuchtenden Transparenz, die sein leichter, auch im Nonlegato geschmeidiger Anschlag erzeugt. Bei Schiff kommt die Musik Bachs zu einer sprechenden Fasslichkeit ganz eigener Art, und das seit langem, seit der Aufnahme der zwei- und dreistimmigen Inventionen (1983) und der ersten Einspielung des Wohltemperierten Klaviers (1986). Zugleich herrschen aber eine Fokussierung auf die Musik selbst und ein (natürlich nur scheinbares) Zurücktreten des Interpreten als deutendes Subjekt, dass man geradezu von einem modernen Ansatz sprechen möchte. Unter den Händen von András Schiff löst sich dieser Widerspruch in einer packenden Synthese auf. Die Luzerner «Goldberg-Variationen» sprachen davon – jenseits der Frage nach dem Verhältnis zwischen Verstehen und Geniessen.

Lucerne Festival (5) – Die Wiener Philharmoniker

 

Peter Hagmann

Humor und sein Gegenteil

Abschluss mit den Wiener Philharmonikern

 

Seit 1993 kommen die Wiener Philharmoniker jeden Sommer ans Lucerne Festival – und gern sind sie dabei für Überraschungen gut. In den Jahrzehnten zuvor hatten sie jeweils die Grössen ihrer Zeit ans Pult gebeten: Herbert von Karajan, Karl Böhm, Claudio Abbado, Lorin Maazel, Leonard Bernstein. Später gab es auch – und nicht selten – mehr oder weniger gelungene Spässe. 1998 übergab Lorin Maazel den Taktstock einem Vizekapellmeister und griff zur Geige, seinem ursprünglichen Instrument, was niemandem zum Vorteil gereichte. Fünf Jahre darauf durfte Pierre Boulez das Dirigentenpodium mit dem amerikanischen Vokalakrobaten Bobby McFerrin teilen, der sich an frühen Mozart-Sinfonien versuchte. Und im Mozart-Jahr 2006, das immerhin auch Nikolaus Harnoncourt am Pult sah, war HK Gruber, der Komiker unter den Komponisten dieser Tage, vor dem weltweit berühmtesten Orchester am Tun. Dazwischen: Gergiev, Eschenbach, Gatti, Dudamel…

Vom Sterben, zum Sterben

Diesen Sommer nun, da sich das Lucerne Festival den Humor auf die Fahnen geschrieben hatte, erschienen die Wiener Philharmoniker mit einer weit ausholenden Reflexion über das Sterben – was einen nun doch etwas erheiterte. Ums Pochen auf Eigenständigkeit geht es da weniger, eher um handfestes Kalkül. Denn in Birmingham, wo der Dirigent des Abends gross geworden ist, erst recht aber bei den BBC Proms in London, von wo aus die Wiener Philharmoniker nach Luzern kamen, ist «The Dream of Gerontius» eine sichere Sache. Die Wahl sorgt für Wirkung, gehört das Oratorium Edward Elgars von 1900 neben Händels «Messias» und Mendelssohns «Elias» auf den britischen Inseln doch zu den zentralen Säulen des vokalen Repertoires. Nicht so hierzulande, wo von Elgar bestenfalls die «Enigma-Variationen», das Cellokonzert und die Märsche «Pomp and Circumstance» bekannt sind. Da war also immerhin eine Rarität zu entdecken.

Allein, schon der Text des zum Katholizismus konvertierten und sogar zum Kardinal ernannten Priesters John Henry Newman liess erkennen, dass «The Dream of Gerontius» nicht zu Unrecht im Raritätenkabinett lebt. Geschildert wird hier der Weg der bekanntlich unsterblichen Seele durch die Pforte des Todes hin vor den Thron Gottes, des allmächtigen Herrschers, der ohne zu zögern den Weg ins Fegefeuer weist, unterwegs aber mit der Barmherzigkeit eines reinigenden Gewässers zur Stelle ist. Wer berücksichtigt, dass sich der katholische Komponist in seinem weitgehend protestantischen Vaterland zur Existanz in einer Diaspora verurteilt fühlte, wer zudem die Biederkeit des ausgehenden viktorianischen Zeitalters in Rechnung stellt, kann der Naivität des Textes und seiner hohlen Sprachlichkeit vielleicht gnädig begegnen. Mit Elgars pathetischer Vertonung wird er aber dennoch seine Mühe haben.

Mächtig ist der Ton dieser durchaus individuellen, zugleich aber sehr von Wagner beeinflussten, in eigener Weise spätgeborenen Musik, und episch zieht sie über neunzig Minuten dahin. Simon Rattle, der in Luzern eben erst mit den Berliner Philharmonikern vorgeführt hatte, wie gegenwärtige musikalische Praxis klingen kann, und der nun – eigenartige Konstellation – mit den Wiener Philharmonikern wiederkehrte, bewahrte sich jederzeit die Kontrolle, gab der Partitur aber durchaus, was sie an Pomp verlangt. Gutwillig legten sich die Orchestermitglieder bis hin zu dem äussert geschickt agierenden Organisten ins Zeug, und was der BBC Proms Youth Choir, mit 120 jungen Sängerinnen und Sängern präsent und von Simon Halsey akkurat vorbereitet, an vokaler Kultur hören liess, war schlechterding grandios. In der Partie des Gerontius vermied der Tenor Toby Spence Larmoyanz, so weit es möglich war, während Roderick Williams zwei kleinere Auftritte mit prachtvollem Bariton versah. Von der Mezzosopranistin Magdalena Kožená dagegen war, trotz der Umsicht ihres Gatten am Dirigentenpult, wenig zu hören, dafür manche Geste zu sehen.

Ein Mit-Dirigent

Gewiss, die Sängerin sah sich in einer wenig gemütlichen Lage, denn am Abend zuvor hatte Elisabeth Kulman in den «Wesendonck-Liedern» Richard Wagners vorgeführt, was Singen im besten aller Fälle heissen kann. Eine Altstimme von dunkel leuchtender Tiefe klingt da, und wenn sie in die Höhe steigt, überschreitet sie die Grenze zwischen Brust- und Kopfregister ohne den geringsten Farbwechsel, vielmehr weitet sie sich nach oben hin zu nicht minder erregender Strahlkraft – da kommt dann die aus früheren Zeiten stammende Übung im Sopranfach zur Geltung. Einzigartig ist das. Unter der Leitung des erfahrenen Konzertmeisters Rainer Honeck begleiteten die Wiener Philharmoniker, wie nur sie es können. Mit von der Partie war auch Semyon Bychkov; er stand am Dirigentenpult und versah dort seinen Dienst.

Auch das kann man eigentlich nur von den Wiener Philharmonikern haben: dass sie den Dirigenten kalt lächelnd draussen vor der Tür stehen lassen und dabei herrlichste Musik machen. Ihre Musik. Sie mögen weder die entschieden gestaltenden noch die reflektierenden Dirigenten, sie ziehen es vor, an der langen Leine zu musizieren. Das entspricht ihrem in hohem Mass auf Autonomie beruhenden Selbstverständnis – einem im Grunde hochmodernen Selbstverständnis, das auch zum expliziten Vericht auf einen Chefdirigenten führt. Es hat aber seine Nachteile, und sie wiegen schwer. Denn oft wird die lange Leine mit laisser faire verwechselt, was Dutzendaufführungen und Langeweile zur Folge haben kann.

Semyon Bychkov hat seine Verdienste, ohne Zweifel; an diesem Luzerner Abend machte er aber denkbar ärgste Figur. Die Sinfonie Nr. 3, F-dur, von Johannes Brahms, 1883 durch die Wiener aus der Taufe gehoben, blieb ohne jedes interpretatorische Profil – denn das Kraftzentrum des Dirigenten und sein gestaltender Impetus, das es bei dieser Musik in jedem Fall und ganz entschieden braucht, war nicht vorhanden. Schon dem Eingang in den Kopfsatz fehlte die Leidenschaft, weil Bychkov den vornehm über den Dingen stehenden Souverän gab. Und dass hier ein Kontrafagott mit seiner besonderen Farbe an der Grundierung beteiligt ist, war auch in der Wiederholung der Exposition nicht zu vernehmen.

In ähnlicher Weise belanglos blieb die Sinfonie in e-moll, Hob. I:44, von Joseph Haydn, die am Beginn des Abends stand: gepflegt musiziert, aber ohne jede Aussagekraft. Kleine Besetzung, silberner Streicherklang – das in Ehren. Aber die Musik kam in keiner Weise zum Sprechen. Da wurde denn auch nicht deutlich, was es mit dem nicht vom Komponisten stammenden Beinamen «Trauersinfonie» auf sich hat. Immerhin sorgte dieses Epitheton seinerseits für einen nachhaltig kontrapunktischen Beitrag zum sommerlichen Thema «Humor».

Es gibt Zukunft

Enttäuschend, dass sich die Wiener Philharmoniker mit ihrem doch so besonderen Potential beim Lucerne Festival auch dieses Jahr wieder unter ihrem Wert verkauft haben. Nimmt das Orchester das Festival nicht zu wenig ernst? In Luzern treten nicht nur, Höhen und Tiefen eingerechnet, die besten Klangkörper der Welt in bester Verfassung auf, in Luzern ist auch viel los. Da gibt es nicht nur eine stolze Vergangenheit, da gibt es auch Zukunft – ganz im Gegensatz zu Salzburg, wo derzeit noch eine himmeltraurige Gegenwart herrscht.

Das Lucerne Festival Orchestra, zu dem die Wiener Philharmoniker, wenn sie so auftreten, wie sie es hier wieder taten, nur gramvoll aufblicken können, hat mit Riccardo Chailly genau den richtigen Nachfolger für den verstorbenen Claudio Abbado erhalten; nicht auszuschliessen dass das Orchester mit diesem Chefdirigenten noch einmal zu etwas ganz Neuem wird. Die Lucerne Festival Academy wiederum hat mit Wolfgang Rihm (und mit dem als Dirigent mitwirkenden Matthias Pintscher) eine Leitfigur von hoher charismatischer Ausstrahlung bekommen. Auch das Erbe des leider darniederliegenden Pierre Boulez scheint damit gesichert – das Weiterführen wie das Weiterentwickeln.

Zu hoffen wäre vielleicht, dass auch die Schiene der Orchestergastspiele, der Kernbereich des Festivals, etwas neu ausgerichtet wird. Es muss nicht immer San Francisco und nicht immer Daniel Barenboim sein. Das sensationelle Gastspiel des Orchesters der Pariser Oper mit seinem jungen, sehr erfolgreichen Chefdirigenten Philippe Jordan hat es letzten Sommer gezeigt. Und an den Rändern des Betriebs arbeitet eine ganze Reihe von Orchestern wie etwa «Les Siècles» mit François-Xavier Roth, die zu neuen Ufern aufgebrochen sind.

Lucerne Festival (4) – Deutscher Klang

 

Peter Hagmann

Altgold und Edelstahl

Die Staatskapelle Dresden und die Berliner Philharmoniker als ungleiche Nachbarn

 

Die Berliner Philharmoniker haben wieder einmal die Nase vorn. Zu allgemeiner Überraschung wählten sie kurz vor der Sommerpause Kirill Petrenko zum neuen Chefdirigenten und Nachfolger Simon Rattles wohl ab Herbst 2018. Viele Namen waren im Vorfeld der Wahl genannt worden, besonders häufig der von Christian Thielemann, dem derzeitigen Chefdirigenten der Sächsischen Staatskapelle Dresden, der von vielen Seiten in einer Favoritenrolle gesehen wurde, der sich mit seinen problematischen Äusserungen gesellschaftspolitischen Inhalts von Anfang 2015 die Chancen allerdings nochmals merklich geschwächt hat. An Petrenko hatte indessen kaum jemand gedacht. Dabei hat der 43-jährige Russe an allen seinen Stationen aufsehenerregende Figur gemacht – nur waren das Arbeiten im Bereich des Musiktheaters. Der letzte Bayreuther «Ring», «Die Frau ohne Schatten» von Strauss und Bernd Alois Zimmermanns «Soldaten» an der Bayerischen Staatsoper München oder die Tschaikowsky-Trilogie der Jahre 2006 bis 2008 an der Opéra de Lyon – alles musikalisch einzigartige Abende. Da ist, auch wenn eine Spur Risiko bleibt, der richtige Mann an den richtigen Ort gerufen worden.

Haydn-Apéritif

Nicht dass mit dem Amtsantritt Kirill Petrenkos eine lang ersehnte neue Ära anbräche, das keineswegs. Im vergangenen Jahrzehnt mit Simon Rattle haben sich die Berliner Philharmoniker in hocherfreulicher Weise weiterentwickelt. Haben sie ihren orchestralen Standard vorangebracht, Neues entdeckt und Bewährtes neu beleuchtet, das digitale Zeitalter in den Blick genommen und in grossem Stil Programme für Jugendliche eingeführt. Kein Orchester vergleichbarer Qualität – gibt es das? – hat beim Lucerne Festival das spätromantische Repertoire auf so hochstehendem Niveau gepflegt und zugleich so kontinuierlich und selbstverständlich Musik aus dem reichen Fundus des 20. und 21. Jahrhunderts eingebracht. «Surrogate Cities» von Heiner Goebbels (2003), «Eclairs sur l’au-delà» von Olivier Messiaen (2004), die Uraufführung des Geigenkonzerts «In tempus praesens» von Sofia Gubaidulina (2007) oder «Atmosphères» von György Ligeti (2012) mögen ebenso daran erinnern wie Mahlers Siebte und Bruckners Neunte von 2011. An erstklassigen Momenten hat es bei diesen Auftritten nicht gefehlt.

So war es auch dieses Jahr. In Übereinstimmung mit der Suche nach dem Humor in der Musik, die das Lucerne Festival diesen Sommer betreibt, erschienen die Berliner Philharmoniker im zweiten ihrer beiden Konzerte mit einem von Simon Rattle zusammengestellten Pasticcio aus dem Schaffen Joseph Haydns, das allerlei Besonderes, Überraschendes, Witziges zu einem sehr unterhaltsamen Bouquet zusammenführte. Darf man das? Soll man das? Im Lichte der Auffassungen von der Unberührbarkeit des musikalischen Kunstwerks, wie sie das spätere 19. Jahrhundert ausgeprägt hat und wie sie bis heute Allgemeingut sind, natürlich nicht. Und ebenso rasch ist der Einwand zur Stelle, dass es geradezu typisch ist, eine solche Abfolge einzelner Sätze ausgerechnet bei Haydn an die Hand zu nehmen – beim allerheiligsten Anton Bruckner wäre solches schlechterdings undenkbar. Dazu kommt die natürlich ungewollte Nähe zu der kommerziell motivierten Häppchenkultur, wie sie im Internet und bei privaten Radio-Stationen üblich ist.

Auf der anderen Seite ist es einen Tatsache, dass im Rahmen der Zweitverwertung von Kompositionen deren Einfügung in neue Konfigurationen in früheren Zeiten gang und gäbe war. Bach hat weltlichen Vokal-Kompositionen geistliche Texte unterlegt und auf diesem Weg Kantaten gewonnen, Vivadi hat sich bei Kollegen bedient und dergestalt ganze Opern komponiert, während sich Richard Strauss und Maurice Ravel nicht zu schade waren, aus ihren Kompositionen fürs Musik- und Tanztheater Suiten zusammenzustellen, die ihre Musik unter die Leute bringen sollten. Nur waren da eben stets die Komponisten selbst am Werk, während im Fall des in Luzern vorgestellten Haydn-Pasticcios ein Interpret Hand angelegt hat – wenn auch einer, der sich die Sache nicht leicht gemacht, sondern aus inniger Liebe heraus gehandelt hat. Und auf diesem Weg eine Art Ehrenrettung für einen viel zu wenig geschätzten Komponisten versucht hat.

Jedenfalls liess die «Symphonie imginaire» nach Joseph Haydn, die Simon Rattle gemeinsam mit dem Dramaturgen Markus Fein zusammengestelllt hat, die sprudelnde Originalität des Kapellmeisters am Hof der Esterházy in nuce erleben. Von der gewagten Vorstellung des Chaos in der «Schöpfung» bis zu dem verrückten Finale der grossen Ouvertüre zu «L’isola disabitata», das man anders nie zu Gehör bekäme. Von dem ausgefallenen Largo aus der A-dur-Sinfonie, der Nummer 64, bei dem Bratsche, Fagott und sogar der Kontrabass solistisch auftreten, bis zum Finale der C-dur-Sinfonies, Hob. I:60, dessen Effekt mit den verstimmten Geigen Simon Rattle viel krasser herausstellte, als es Bernard Haitink im Eröffnungskonzert getan hatte. Und selbstverständlich durfte das Ende der Abschiedssinfonie, Hob. I:45, nicht fehlen, bei dem sich, als Scherenschnitt vor dem matt beleuchteten Hintergrund des Orchesterpodiums im KKL, ein Musiker nach dem anderen verzog – worauf sich die aus dem Lautsprecher klingenden Spieluhren, für die Haydn gern und oft komponiert hat, dichter und dichter ineinander verwoben. Sehr erheiternd war das. Und tadellos gespielt.

Nämlich auf der Höhe der Zeit. So wie es zu Beginn des Abends bei der Sinfonia concertante in Es-dur, KV 364, von Wolfgang Amadeus Mozart geschah – dies als kleiner Fingerzeig nach Wien, denn mit genau diesem Stück hatten die Wiener Philharmoniker vor Jahresfrist auf dem Luzerner Podium einen einigermassen peinlichen, weil technisch unzulänglichen und ästhetisch vorgestrigen Auftritt. Querverbindungen solcher Art gibt es bei Simon Rattle immer wieder – und gab es auch am ersten Abend des Gastspiels. Denn sozusagen als Kontrast zu der vom Boston Symphony Orchestra und Andris Nelsons vorgestellten Sinfonie Nr. 10, mit der sich Dmitri Schostakowitsch innerlich von dem soeben verstorbenen Diktator Josef Stalin löste, erschienen Rattle und die Berliner mit Schostakwitschs Vierter – mit jenem Stück, das den Komponisten nach 1936 endgültig zum Feind des Regimes gemacht hat. Unglaublich, Rattle hob das mit einer Kompromisslosigkeit sondergleichen ans Licht, die grelle, scharf zugespitzte Modernität dieses sinfonischen Monsters; die zur selben Zeit entstandene Oper «Lady Macbeth von Mzensk» wirkt im Vergeich dazu fast als Lustspiel. Er konnte das, weil die Berliner über einen äusserst kompakten, auch im stählernen Fortissimo edel glänzenden Klang verfügen. Einen in der Tiefe der Bässe verankerten Ton, der auch den «Variations on a theme of Frank Bridge» von Benjamin Britten, einem Freund Schostakowitschs, sehr wohl anstand.

Zweierlei deutscher Klang

Deutsch kann man diesen Klang sehr wohl nennen, auch wenn damit noch nicht viel gesagt ist. Denn Deutsch kann vieles heissen, wie wenige Tage später die Sächsische Staatskapelle Dresden auf ebenfalls ganz vorzüglichem Niveau vorführte. Auch die «Wunderharfe» Wagners, das ist keine Frage, klingt deutsch; die Basis ist der Grundton, das Ziel die Verschmelzung der Farben – ganz anders als die französischen Orchester, die eher mit den Obertönen arbeiten und die farbliche Trennung in den Blick nehmen. In der Dresdener Spielart kann der deutsche Klang jedoch ausserordentlich leicht und farbenreich schimmernd erscheinen. Christian Thielemann, seit 2012 der Staatskapelle Dresden als Chefdirigent verbunden, ist für dieses zart Altgoldene genau der Richtige. Weshalb die Berliner Entscheidung gegen ihn eine einmalige Chance darstellt. Für die Berliner, die weniger Gefahr laufen, in altvertraute Gefilde zurückzufallen. Und für die Dresdener, die wieder zu einem der besten Orchester der Welt zu werden im Begriff sind.

Was Thielemann aufs Programm setzte, mag als konservativ und als marktgängig erscheinen. Anders als vor zwei Jahren, als er mit Raritäten von Ferruccio Busoni und Hans Pfitzner aufwartete, kamen die Dresdener diesen Sommer mit einem beliebig wirkenden Bündel aus dem bekanntlich nicht sehr grossen Repertoire ihres Chefdirigenten nach Luzern – aber: So hochstehend geboten, geriet die Werkfolge zu einem einzigartigen, weil vor Spannung vibrierenden Gastspiel. Gewiss, die Sopranistin Anja Harteros hat in den Vier letzten Liedern von Richard Strauss, zu denen sich mit «Malven» das allerletzte Lied des Komponisten in der Instrumentation von Wolfgang Rihm fügte, nicht ihren besten Auftritt. Obwohl sich das Orchester grösster Zurückhaltung befleissigte, schien die Sopranistin eigenartig bedrängt; jedenfalls blieb ihr Vortrag nicht frei von Drückern und auch nicht von Unsauberkeiten der Intonation. Schlechterdings perfekt am Abend darauf dagegen das c-moll- Klavierkonzert Ludwig van Beethovens, das dritte, mit Yefim Bronfman. Das war der altgewohnte heroische Beethoven mit einem sehr gedehnten Mittelsatz, aber da sass einfach jeder Ton, beim Solisten wie beim Orchester.

So war es auch bei den beiden Hauptstücken des Gastspiels, bei der «Alpensinfonie» von Richard Strauss wie bei der sechsten Sinfonie von Anton Bruckner. In beiden Fällen gab es ausgefeilteste Detailarbeit, eine Perlenkette wunderschöner Übergänge und klangliche Abschattierungen, die geradezu Schwindelgefühle auslösten. Das führte bei der Tondichtung von Strauss dazu, dass man sich als Zuhörer immer wieder sagen konnte, dass es so und nur so sein müsse, dass aber der Spannungsbogen darob aber doch in Gefahr geriet; jedenfalls schien da ein Wanderer unterwegs, der jedem Enzian anhaltende Aufmerksamkeit schenkte, aber bisweilen den Blick hin zum Gipfel vergass. Bei der Sinfonie Bruckners war das in keinem Augenblick der Fall. Unglaublich, mit welcher Souveränität Thielemann der Proportionen bewusst blieb. Den Kopfsatz lud er mit sprühender Energie auf, ohne dass die punktierten Bewegungen je zu Stampfen und Röhren führten. Ausserordentlich langsam nahm er das Adagio des zweiten Satzes, aber er wusste, was er tat; nicht nur war er in der Lage, die Spannung in seiner Imagination ungebrochen durchzuhalten, das Orchester bot ihm auch die Grundlage dafür. Das Scherzo wirkte daraufhin geradezu als eine Entladung – wobei das wiederum sehr gemessene Trio klar an den zweiten Satz anschloss. Und aus welcher Übersicht heraus Thielemann im Finale schliesslich Welle auf Welle folgen liess und so neben dem Parataktischen der Musiksprache Bruckners auch ihre Dynamik spürbar machte, war hinreissend.

Besonders auffällig war dabei die Wandlungsfähigkeit des deutschen Klangs, wie ihn die Sächsische Staatskapelle Dresden repräsentiert. Die übergrosse Besetzung der «Alpensinfonie» war als solche keineswegs zu bemerken, die Musik von Strauss wirkte vielmehr geradezu leichtfüssig. Bei Bruckner dagegen setzte Thielemann ganz und gar und durchaus mit Stolz auf die Kraft des Orchesters – nur war diese Kraft getragen von geschmeidigen Streichern und geprägt von den ausgesprochen eigenen Farben der Bläser und ihrer Virtuosität. Berlin oder Dresden? In beiden Fällen deutsch, auf beiden Seiten hervorragend – und doch so anders. So etwas ist nur beim Lucerne Festival zu erleben, wo sich die Spitze der Orchester zum Stelldichein trifft.