Achtung: Streichquartett

Eröffnung einer neuen Konzertreihe in der Zürcher Peterskirche

 

Von Peter Hagmann

 

Auf nach St. Peter – nicht in Rom, sondern in Zürich. In der eleganten Barockkirche an der Peterhofstatt gibt es jetzt nämlich eine neue Konzertreihe mit nichts anderem als Streichquartetten. Da die Tonhalle Zürich wegen Bauarbeiten für drei Spielzeiten geschlossen ist, zieht die Neue Konzertreihe Zürich in die Tonhalle Maag; dort veranstaltet sie ihren gewohnt hochstehenden Abonnementszyklus. Zusätzlich aber bietet Jürg Hochuli, dessen Agentur die Neue Konzertreihe Zürich führt, in der Kirche St. Peter eine Reihe von sechs Abonnementskonzerten, die allein den Streichquartetten gehört. Angekündigt sind etablierte Ensembles der Spitzenklasse wie das Belcea-Quartett oder das Cuarteto Casals, aber auch eine Reihe jüngerer Gruppierungen wie das Signum-Quartett, das Quartett der Geschwister Schumann, das Armida-Quartett oder das Chiaroscuro-Quartett, das sich der historisch informierten Aufführungspraxis verschrieben hat.

Aufsehenerregend ist das. Zählen schon reine Kammermusikreihen zu den Raritäten, so bildet eine ganz dem Streichquartett gewidmete, über eine Saison gespannte Konzertserie die absolute Ausnahme. Die Kammermusik Basel, 1926 gegründet und ungebrochen lebendig, führt in ihren Programmen auch Streichquartette, aber eben nicht nur; es gab und gibt dort auch Abende mit anderen kammermusikalischen Besetzungen bis hin zu Konzerten mit vokalem Anteil. Anders als in Basel stehen in der neuen Zürcher Quartettreihe ausschliesslich Werke des klassisch-romantischen Repertoires auf dem Programm – mit Ausnahme des ersten Streichquartetts von Leoš Janáček, das von Corina Belcea und ihren drei Herren gespielt wird. Doch die Interpretationen versprechen höchstes Niveau, mithin ebenso viel Lustgewinn wie Erkenntnis. Das Streichquartett, nicht zu Unrecht als Königsgattung bezeichnet, bildet ja die Keimzelle und Experimentierstätte der Kunstmusik – und das gilt, auf die Interpretationen bezogen, bis heute. Und vielleicht noch nie gab es ein so grosses Angebot an profilierten Streichquartetten, die dieser Gattung in anregender Weise nachgehen.

Beispielhaft zu erleben war das bei der ausserhalb des Abonnements geführten Eröffnung der Neuen Konzertreihe Zürich in St. Peter. Zunächst durfte man zu Kenntnis nehmen, dass das akustisch geht: Streichquartett in diesem Kirchenraum. Gewiss, es gibt dort mehr Nachhall als im Kleinen Saal der Tonhalle Zürich, doch wenn sich die Interpreten, was ihre Aufgabe ist, auf den Raum einstellen, bleibt die Verständlichkeit gewahrt – ja, es tritt sogar eine Opulenz dazu, die der Kammermusik gut ansteht. Vor allem aber ermöglichte der Eröffnungsabend die Begegnung mit einem der aufregendsten jungen Streichquartette. Auffallend am Doric String Quartet aus London ist die Tatsache, dass nicht der Primgeiger Alex Redington die Kraftquelle bildet, sondern vielmehr der hinreissende Cellist John Myerscough; das führt zu neuartigen Kräfteverhältnissen. Dazu kommt, dass Jonathan Stone an der zweiten Geige wie die Bratscherin Hélène Clément so viel Präsenz zeigen, dass die Mittelstimmen nicht im Hintergrund bleiben, sondern gemäss ihren Funktionen im musikalischen Satz mit Prägnanz in Erscheinung treten.

Das ist Musizieren im Streichquartett auf der Höhe der Zeit. Es zeigte sich auch im differenzierten, bewussten Einsatz des Vibratos; im eröffnenden Moderato des Streichquartetts in C-dur op. 20 Nr. 2 von Joseph Haydn kam es gleich zu jenem spannungsvollen Ziehen, welches das Non-Vibrato erzeugen kann. Allerdings fiel dort auch auf, wie unsorgfältig, ja geschmacklos der Primgeiger, und nur er, mit dem Portamento umgeht, dem Gleiten im Übergang vom einen Ton zum anderen. Eindrücklich dafür das Pianissimo, zu dem das Quartett etwa im Adagio des zweiten Satzes fand. Hier konnte man sich auch an belebten Trillern, an sprechenden Rezitativen und von innen heraus bewegten Tonleitern erfreuen – so macht Haydn unendlich Vergnügen. Mit dem Streichquartett in G-dur D 887 von Franz Schubert tat sich dann eine ganz andere Welt auf – eine Szenerie voller Wagnisse und Extremsituationen. Nirgends sonst, auch nicht in seinen späten Klaviersonaten, hat Schubert derart ungewöhnlich formuliert und derart weit vorausgeahnt – das war in der Auslegung durch das Doric String Quartet geradezu existentiell spürbar.

Das erste Abonnementskonzert der neuen Reihe bestreitet am Sonntag, 8. Oktober, um 17 Uhr das Signum-Quartett. Es spielt von Haydn das Streichquartett in D-dur op. 20 Nr. 4 und von Beethoven das späte Streichquartett in a-moll op. 132.

Das Quatuor Ebène häutet sich

Zum jüngsten Konzert des Streichquartetts in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Über kein Streichquartett weiss man inzwischen so viel wie über das Quatuor Ebène. Das geht natürlich zuvörderst auf das künstlerische Vermögen der vier Musiker zurück, das sie in mehr als hundert Konzerten pro Jahr unter Beweis stellen. Nicht weniger ist es aber dem wunderbaren Film «4» von Daniel Kutschinski zu verdanken, der dem Quartett als diskreter Begleiter und genauer Beobachter folgen konnte; entstanden ist daraus eine packende Dokumentation über das Leben und das Arbeiten, über Leid und Freud im Streichquartett (vgl. NZZ vom 02.06.17). Dass der Film in Zürich genau an jenem Sonntagmorgen lief, an dem abends das Quartett in der Kammermusikreihe des Tonhalle-Orchesters auftrat, war dabei von besonderem Reiz.

Dies um so mehr, als sich das Quatuor Ebène nach Abschluss der Dreharbeiten grundlegend verändert hat. Sein Bratscher Mathieu Herzog trat auf Ende 2014 aus dem Ensemble aus, um sich einer Laufbahn als Dirigent zuzuwenden. Als sein Nachfolger gesellte sich zu Pierre Colombet und Gabriel Le Magadure (Violinen) sowie Raphaël Merlin (Violoncello) der 1991 geborene Franzose Adrien Boisseau, der sich inzwischen schon ganz ausgezeichnet ins Ensemble eingefügt hat. Ja, mehr noch, er hat dem Quatuor Ebène eine neue, auffallend prägende und glücklich einwirkende Farbe verschafft. Boisseau erzielt auf seinem Instrument stark zeichnende Präsenz; zugleich arbeitet er prononciert mit dem geraden Ton des Non-Vibrato und mit sprechender Artikulation. Das führt zu einer auffallenden Stärkung der Mittelstimmen, aber auch der tiefen Region, die in der neuen Formation des Quartetts ein prägnantes Gegengewicht zu den Kantilenen der hohen Lagen bildet.

Zu vernehmen war das gleich zu Beginn des so gut wie ausverkauften Abends im Kleinen Saal der Tonhalle Zürich – nämlich im Kopfsatz von Wolfgang Amadeus Mozarts Streichquartett in d-moll KV 421.  Die liegenden Noten, die in den ersten Takten des Werks dem Cello anvertraut sind, wurden in der Durchführung von der Bratsche mit einer ganz eigenartigen Kraft versehen, die sich später, im Moment der Reprise, wiederum fruchtbar auf die Cellostimme auszuwirken schien. Hatte es anfänglich den Anschein gehabt, der Cellist habe den jungen Bratscher unter seine Fittiche genommen und wolle ihn mit expressivem Spiel ermuntern, stellte sich in der Folge gerade der umgekehrte Eindruck ein: schien das neue Ensemblemitglied seinem Mentor Mut zu machen. Vielleicht flossen die Energien auch in beiden Richtungen – Tatsache ist jedenfalls, dass die Aufführung zu einer von A bis Z spannenden Angelegenheit geriet. Dass die Verläufe in hohem Masse greifbar wurden und die musikalische Form gleichsam von selbst heraustrat. Wann lässt sich das schon so erleben?

Von den beiden Streichquartetten Ludwig van Beethovens, die auf das Werk Mozarts folgten, schien das höchst anspruchsvolle, zerklüftete, auch enorm ausholende Spätwerk in Es-dur, op. 127, noch nicht zu vollends ausgeprägter interpretatorischer Aussage gefunden zu haben. Manches geriet da technisch, gerade was die Intonation des Primgeigers betrifft (aber darf ich das überhaupt schreiben, nachdem ich den Film gesehen habe?), nicht auf dem Niveau des Ensembles. Die Eröffnung gelang noch stark; das Maestoso fuhr einem in seiner klanglichen Intensität förmlich unter die Haut. In der Folge aber stellte sich – bei allen Schönheiten, etwa bei dem vorzüglich getroffenen Tempo im Andante con moto des zweiten Satzes – zunehmend das Gefühl ein, die Komplexität der musikalischen Erzählung sei noch nicht hinreichend in den Griff genommen und komme darum noch nicht zu ausreichender Verständlichkeit. Reines Glück herrschte dagegen im f-moll-Quartett op. 95. Blitzendes Wechselspiel der Stimmen und solistische Brillanz des Primgeigers im eröffnenden Allegro con brio, ein wunderbar erfülltes, übrigens wie im «Dissonanzen-Quartett» Mozarts vom Cellisten allein vorgegebenes Tempo im Allegretto ma non troppo, vitales Konzertieren im Finale – so und nur so muss Streichquartett sein. Und so bringen es die vier Musiker des Quatuor Ebène zur Geltung.

Daniel Kutschinskis Film «4» läuft im Kino Xenix in Zürich noch am 18. und am 26. Juni, im Kino Rex in Bern am 18. und 20. Juni 2017.

Entdeckungsreisen bei und mit Mozart

Sonaten für Klavier und Violine mit Cédric Tiberghien und Alina Ibragimova

 

Von Peter Hagmann

 

Von Anne-Sophie Mutter gibt es eine schöne CD-Box mit Musik von Wolfgang Amadeus Mozart. Sie trägt den ebenfalls schönen Titel «Die Sonaten für Klavier und Violine». Allein, das ist ein Irrtum, lauten müsste der Titel nämlich «Sonaten für Klavier und Violine» – ohne den bestimmten Artikel. Die vierteilige Edition enthält 16 Stücke für diese Besetzung, wo es von Mozart doch deren 37 gibt. Die Besetzung immerhin, die wird richtig angegeben; die Sonaten sind tatsächlich für Klavier und Violine, nicht für Violine und Klavier geschrieben. Aber schon optisch, erst recht jedoch musikalisch dominiert die Geigerin das Album voll und ganz, während der originelle Lambert Orkis auch hier als ihr charmanter Begleiter im Hintergrund wirkt.

Obwohl die Box erst zehn Jahre ist, erscheint sie als Produkt einer vergangenen Zeit. Jedenfalls dann, wenn man sich den Aufnahmen der Mozart-Sonaten zuwendet, die Cédric Tiberghien und Alina Ibragimova derzeit auf CD publizieren. Hier geht es wirklich um «Die Sonaten für Klavier und Violine», denn die 31-jährige Russin und der zehn ältere Franzose haben alle Stücke Mozarts in dieser Gattung und für diese Besetzung im Blick. Auch die ganz frühen des komponierenden Wunderkinds von acht Jahren, die auf dem Titelblatt der (vom Vater eilig vorangetriebenen) Druckausgabe noch als Sonaten für Cembalo angezeigt werden, die mit Begleitung der Violine gespielt werden könnten. Das ist von hohem Reiz; in den sechs Sonaten KV 10 bis 15 zum Beispiel, 1764 entstanden, gibt es viel zu entdecken. Zum Beispiel die rasant aufsteigende Tonleiter des Klaviers, die sehr ungewöhnlich in die dreisätzige C-dur-Sonate KV 14 einführt, oder den Effekt eines Glockenspiels, den der Pianist im Trio zum abschliessenden Menuett dieser Sonate zu erzielen hat.

Überraschende Einfälle eines Kindes? Das Staunen erhöht sich, wenn diese Einfälle so hochstehend präsentiert werden, wie es hier geschieht. Zum Einsatz kommen Instrumente unserer Tage; Cédric Tiberghien sitzt an einem Steinway, Alina Ibragimova spielt auf einer Violine von Bellosio aus dem späten 18. Jahrhundert, wenn auch in heute üblicher Ausstattung. Was für die Wiedergabe von Musik Mozarts gilt, was also die historisch informierte Aufführungspraxis in den letzten Jahrzehnten ans Licht gebracht hat, das ist dem Duo aber völlig bewusst und wird von ihm auch auf dem «modernen» Instrumentarium ganz selbstverständlich eingesetzt – mit Gewinn, kommt es doch weniger auf das Instrument an sich als auf den Geist an, mit dem das Instrument behandelt wird.

Ausgezeichnet gelöst ist etwa das heikle Problem der Balance zwischen dem Klavierpart, der hier in unterschiedlichster Weise die Hauptsache darstellt, und dem der Geige, die einmal kommentierend im Hintergrund wirkt, einmal dialogisierend auf Gleichberechtigung pocht: Pianist und Geigerin konzertieren in diesen Aufnahmen auf Augenhöhe, vielgestaltig und vital. Dazu kommt zu einen, dass Cédric Tiberghien sorgsam zwischen dem Gebundenen und dem Gestossenen unterscheidet und so zu sprechender Artikulation findet. Zum anderen fällt prägend ins Gewicht, dass Alina Ibragimova grundsätzlich vom zurückhaltenden, geraden Ton ausgeht, das heisst: Klangfülle und Vibrato als das Besondere einsetzt und so zu unterstreichender Wirkung bringt. Welten liegen zwischen diesem neuartigen Ansatz und jenem von Mutter und Orkis.

Fünf Doppelalben soll die von Hyperion ebenso vorzüglich wie schlicht präsentierte Edition umfassen. Aufgebaut ist sie nicht chronologisch, vielmehr bietet jede der bisher erschienen Folgen eine Mischung aus frühen, mittleren und späten Sonaten, die weniger nach tonartlicher Verwandtschaft als nach stilistischer Unterschiedlichkeit zueinander gestellt sind. Wer sich neugierig auf die C-dur-Sonate KV 10 eingelassen hat, kann sich danach der ausserordentlich tief gehenden Sonate in e-moll KV 304 – das weit in die Zukunft weisende Wunderwerk eines Zweiundzwanzigjährigen. Der helle Klavierton, der diskret präsente Bass, die Leichtigkeit in der Formung der von Mozart mit einem Keil versehenen, also akzentuiert gewünschten Töne, die Unterschiedlichkeit in der Ausführung der Triller, die fast unmerklichen, aber doch ins Gewicht fallenden Veränderungen in den durchwegs respektierten Wiederholungen – all das führt zu reichhaltigem Hörerleben. Besonders anrührend im zweiten, abschliessenden Satz das «sotto voce» des Menuetts und das «dolce» im Trio, das in E-dur gehalten ist und in dieser Einspielung wie eine Insel der Glückseligen erscheint.

Wolfgang Amadeus Mozart: Sonaten für Klavier und Violine. Cédric Tiberghien (Klavier), Alina Ibragimova (Violine). Hyperion 68091 (Vol. 1), 68092 (Vol. 2), 68143 (Vol. 3).

Ohrenspitzer für Schumann

Ein CD-Projekt mit der Geigerin Isabelle Faust und ihren Freunden

 

Von Peter Hagmann

 

Die Idee, während einer Tournee entstanden, ist so bestechend wie einfach. Die drei Klaviertrios von Robert Schumann sollten zusammenkommen mit den drei Solokonzerten des Komponisten für die Instrumente, die ein Klaviertrio bilden – alles Werke aus der Dresdener Zeit der Schumanns und aus den ersten Jahren in Düsseldorf. Bemerkenswert daran ist zunächst die Tatsache, dass sich das lange Zeit als minder gelungen abgewertete Violinkonzert wie das als Spätwerk ebenfalls nicht sehr geschätzte Konzert für Violoncello und Orchester auf ein und dieselbe Ebene gehoben sehen wie das berühmt gewordene Klavierkonzert. Auffällig ist aber auch das Ausmass an kompositorischer Kreativität, das hier innerhalb eines vergleichsweise eng abgesteckten Rahmens zum Ausdruck kommt.

Unterstützt wird das durch die spezielle interpretatorische Anlage. Musiziert wird im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis. Isabelle Faust spielt nicht die moderne Geige, die sie gewöhnlich zur Hand hat, sondern die Stradivari «La Belle au bois dormant» von 1704, die ihr von der Landesbank Baden-Württemberg zur Verfügung gestellt worden ist. Auch Jean-Guihen Queyras benützt ein altes Instrument, ein Violoncello von Gioffredo Cappa 1696 aus dem Besitz der Société Générale. Während sich Alexander Melnikov für das Klavierkonzert an einen Erard-Flügel von 1837, für die Trios dagegen an ein Hammerklavier der Wiener Werkstatt von Johann Baptist Streicher aus dem Jahre 1847 setzt – an zwei Instrumente aus der Sammlung von Edwin Beunk. Und für die Begleitung in den drei Instrumentalkonzerten sorgt das Freiburger Barockorchester unter der Leitung von Pablo Heras Casado, einem jener Musiker jüngerer Generation, die sich in der historischen Praxis ebenso auskennen wie in der Moderne.

Gespielt wird auf dem gewohnten Stimmton von 440 Hertz für das eingestrichene a, also nicht zirka einen Halbton tiefer, auf 432 Hertz, wie es sonst bei der Verwendung von Darmsaiten auf den Streichinstrumenten üblich ist. Keines der drei Soloinstrumente klingt durch den höheren Stimmton eingeengt wie beim Zürcher Auftritt John Eliot Gardiners und seiner Kräfte vor einigen Monaten. Im Gegenteil, in den wie stets exzellenten Aufnahmen durch das Berliner Studio Teldex kommt die klangliche Schönheit uneingeschränkt zur Geltung. Dazu gesellen sich atmende Phrasierung, vielgestaltige Artikulation und, bei den Streichern, der bewusste Einsatz des Vibratos als Verzierung – das alles mit Blick auf einen möglichst weiten Radius des musikalischen Erlebens. Nicht zuletzt setzen alle beteiligten Musiker auf feuriges Temperament. Beim Orchester kann das auch zu befremdlichen Ausbrüchen führen, etwa im Klavierkonzert, wo am Schluss des ersten Satzes das in der Partitur vermerkte Crescendo zu einer förmlichen Explosion der Pauke führt.

Man nimmt es hin, weil Pablo Heras-Casado das Freiburger Barockorchester zu einer Präsenz anhält, die den Orchesterklang weit über die reine Begleitfunktion hinaushebt. Im Kopfsatz des Geigenkonzerts bilden die Achteltriolen der zweiten Geigen und der Bratschen eine vor Spannung bebende Grundlage, auf der die ohne Vibrato gespielten Halben einen Zug sondergleichen erzielen und die darauf folgenden Läufe wie aus einer Quelle herausschiessen. Isabelle Faust bewegt sich auf der nämlichen Ebene der Gestaltung. Sie prunkt nicht, sie arbeitet vielmehr mit äusserster Sorgfalt und erzeugt damit ein Geschehen, das von reichen Beleuchtungswechseln lebt – Schumanns Violinkonzert ist nun definitiv rehabilitiert. Ihre Partner stehen dem in keiner Weise nach nach. Alexander Melnikov bietet eine extravertierte, sich aber nirgends mit leeren Gesten in den Vordergrund drängende Auslegung des Klavierkonzerts, und Jean-Guihen Queyras arbeitet mit glühender, obertonreicher Kantabilität. Zu dritt fügen sich die Freunde um Isabelle Faust zu einem Trio, das hören lässt, was Kammermusik im besten aller Fälle sein kann.

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Robert Schumann mit Isabelle Faust (Violine), Jean-Guihen Queyras (Violoncello) und Alexander Melnikov (Fortepiano) sowie dem Freiburger Barockorchester und Pablo Heras-Casado (Leitung) bei Harmonia mundi. – Vol.  1: Violinkonzert in d-moll WoO 1 (1853), Klaviertrio Nr. 3 in g-moll op. 110 (1851). HMC 902196. – Vol. 2: Klavierkonzert in a-moll op. 54 (1845), Klaviertrio Nr. 2 in F-dur op. 80 (1847). HMC 902198. – Vol. 3: Cellokonzert in a-moll op. 129 (1850), Klaviertrio Nr. 1 in d-moll op. 63 (1847). HMC 902197.

Am kommenden Sonntag, 26. März 2017, treten Isabelle Faust und das Freiburger Barockorchester mit Pablo Heras-Casado bei der Neuen Konzertreihe in der Tonhalle Zürich auf. Auf dem Programm stehen Werke von Felix Mendelssohn-Bartholdy: neben der «Hebriden»-Ouvertüre und der «Reformations-Symphonie» das Violinkonzert.

«Man kann deutlich sprechen, ohne zu buchstabieren»

Im Meisterkurs der Mezzosopranistin Brigitte Fassbaender an der Zürcher Hochschule der Künste

 

Von Peter Hagmann

 

Was für eine Stimme. Brigitte Fassbaender ist, pardon, siebenundsiebzig, ihre über dreissig Jahre währende Karriere als Sängerin hat sie vor mehr als zwanzig Jahren abgeschlossen – aber wenn sie einen Ton in den Raum setzt, bleibt niemand auf dem Stuhl. Mit einer Kraft sondergleichen füllt sie den Raum – egal, in welcher Lage. Von Haus aus Mezzosopran und auf Hosenrollen abonniert, singt sie inzwischen Tenor, dass einem Hören und Sehen vergeht, und wenn es die Sopranlage erfordert, wechselt sie in eine Kopfstimme, in der, auch wenn das Timbre nimmer lupenrein ist, jeder Ton an der Stelle sitzt, an der er sitzen muss. Singen kann bekanntlich jeder, das sagt sich gerne, leicht und oft. Was Singen aber wirklich sein kann, das lässt sich nur bei einer Grosskünstlerin wie Brigitte Fassbaender in Erfahrung bringen.

Luftwechsel

Darum sind sie jetzt alle gekommen, die sechs jungen Sängerinnen und Sänger von der Zürcher Hochschule der Künste mit ihren Pianistinnen und Pianisten, aber auch die stattliche Gruppe an Zuhörerinnen und, jawohl, Zuhörern. Anlass ist ein dreitägiger Meisterkurs, den Brigitte Fassbaender auf Einladung von Liedrezital Zürich im Toni-Areal gibt. Nicht alle werden sich da auf Anhieb zurechtgefunden haben, denn der Kammermusiksaal, den die Hochschule als Koproduzentin zur Verfügung gestellt hat, befindet sich am allerhintersten Ende des langgezogenen Baus. Er ist ganz in Holz gehalten und verfügt über eine angenehme, kammermusikalische Akustik, allerdings trotz der im ganzen Gebäude wirksamen Belüftung über etwas geringe Reserven an Sauerstoff.

Dabei stand der Kurs im Zeichen der frischen Luft, des Luftwechsels. Die sechs angehenden Spezialisten des Kunstgesangs, zwei Soprane und zwei Tenöre, eine Altistin und ein Bass, befinden sich in den guten Händen der an der Hochschule wirkenden Gesangslehrer, aber die Chance, von einer Eminenz wie Brigitte Fassbaender zusätzliche Anregungen zu empfangen und den im regulären Unterricht gebildeten Horizont zu erweitern, ist natürlich einzigartig. Sie führt zum Ziel, wenn sich der Schüler der Meisterin für die Dauer des Kurses vollständig unterwirft, ihr blind vertraut und aufnimmt, was sie anbietet. Was der Absolvent am Ende mit dem Erlernten anfängt, was er daraus macht, ist dann jedoch völlig seine Sache. Autorität und Autonomie begegnen einander da in fruchtbarer Spannung.

Nicht ganz alle Kandidaten haben sich dieses Prinzip zu eigen machen können. Der junge Tenor mit seiner noch etwas schmalen Stimme begegnet der Empfehlung Brigitte Fassbaenders, eine bestimmte Phrase, sei sie auch sehr lang, unter einen einzigen, ununterbrochenen Atembogen zu nehmen, mit Skepsis; er kenne keine Aufnahme, in der das einem Sänger gelungen wäre. Indes, Widerstand ist sinnlos, das Charisma dieser grossen Sängerin, die Ausstrahlung ihrer Persönlichkeit und die bezwingende Wirkung ihrer fest in sich ruhenden Erfahrung lassen keine Wahl. Das ist auch kein Wunder, hat Brigitte Fassbaender nach Abschluss ihrer Laufbahn als Solistin doch als Regisseurin gewirkt und als Intendantin Theater geleitet. Hier wie dort hat sie ihrerseits lernen können, Menschen in Richtungen zu bewegen, die ihnen vielleicht nicht von vornherein genehm waren.

Das weite Feld der Sprachgestaltung

Jedenfalls konnte der Zuhörer feststellen, dass sich bei allen Kursteilnehmern im Laufe einer Unterrichtsstunde hörbare Verbesserungen einstellten. Wie das? Es bleibt ein Geheimnis. In den drei Mal sechs Unterrichtsstunden, die jeweils nur von einer einzigen halbstündigen Pause unterbrochen waren, in diesen Unterweisungen, die von der unglaublichen Energie und der ununterbrochenen Präsenz der Kursleiterin geprägt waren, schien die Kommunikation nicht einfach zu fassen. Vieles sang Brigitte Fassbaender vor und versuchten die Kursbesucher zu kopieren. Wenn es aber um Einzelheiten der Tonbildung und der Stimmführung ging, stellte sich eine metaphorische Sprache ein, die weniger auf allgemein verständliche Botschaft zielt, als dass sie versucht, im empfangenden Gegenüber unbewusste oder halbbewusste Regungen auszulösen. Bisweilen war das tatsächlich als zielführend zu erkennen, bisweilen blieb der Zuhörer als solcher aber doch aus dem Kommunikationsprozess ausgeschlossen. So ist es nun einmal in der Musik.

Indessen geht es bei einem Meisterkurs weniger um die rein gesangstechnischen Aspekte – um den Fingersatz sozusagen. Im Zentrum stehen vielmehr Fragen der Interpretation. Und das waren hier auch, wenn nicht sogar vor allem, Fragen der Textgestaltung. Hier kam nun die ganz persönliche Ästhetik der Liedsängerin Brigitte Fassbaender ins Spiel. Auch für diese grossartige Künstlerin stellt das Lied eine Form höherer Verwirklichung – Verlautlichung – schriftlich festgehaltener Sprache dar; immer wieder kam sie auf die Texte zu sprechen, auf die Gedichte Eduard Mörikes etwa, und immer wieder fragte sie, welcher Sinn dieser oder jener Passage zu entnehmen sei. In erster Linie aber ging es um die konkrete sprachliche Formung, stand der Umgang mit den Konsonanten und den Vokalen zur Diskussion.

Besonderen Wert legte Brigitte Fassbaender dabei auf die Verschmelzung der Vokale und die klare, aber stets weiche Zeichnung der Konsonanten. «Man kann deutlich sprechen, ohne zu buchstabieren», rief sie sinngemäss immer wieder aus. Dunkel sollten die Vokale sein, einer solle aus dem anderen hervorwachsen. Mit kehliger Bruststimme machte sie das immer wieder vor, und führte das nicht zum Gewünschten, griff sie erneut zur Metapher: «Mach das o auf wie ein Frühstücksei, das man köpft, und da krabbelt das e dann heraus.» Die Konsonanten wiederum sollten weder zugespitzt noch mit allzu viel Gewicht versehen werden – das störe den Fluss, gehe auf Kosten der Tonschönheit und mindere das Legato. Im Deutschen – es wurden ausschliesslich Lieder der deutschen Romantik behandelt – ist das alles andere als einfach. Wer zwischen zwei benachbarte Konsonanten einen nicht vorgesehen Vokal schob, wurde zurecht gewiesen; «Schawert» gehe überhaut nicht, da sei man geradewegs in Bayreuth.

Gestern und heute

So eindrucksvoll das war, so sehr wurde deutlich, dass die Maximen, die Brigitte Fassbaender hier vertrat, einer Auffassung von Liedgesang entsprechen, die etwas in die Jahre gekommen ist. Der geschlossene melodische Bogen, das getragene und als Prinzip durchgehende Legato, die sprachliche Weichzeichnung, das wurde schon zur grossen Zeit der Sängerin in Frage gestellt worden – zum Beispiel durch Dietrich Fischer-Dieskau, der oft genug der sprachlichen Überzeichnung geziehen worden ist. Heute gibt es manchen Sänger, Christian Gerhaher etwa, der die Texte gerade dadurch fassbar macht, indem er die Vokale, so es nötig ist, grell einfärbt, die Konsonanten zischen lässt und in Sachen Tonschönheit das Risiko nicht scheut. Die Sprache ist in diesem Fall nicht Ausgangspunkt für die Musik noch ihr untergeordnet, sie wirkt vielmehr in echter Partnerschaft neben und mit ihr. Wo für den einzelnen Sänger, für die einzelne Zuhörerin der richtige Weg liegt, bleibt Geschmackssache.

Zu der bei aller Grossartigkeit doch etwas retrospektiven Ästhetik gehört der Umstand, dass Brigitte Fassbaender für die Pianistinnen und Pianisten so gut wie kein Wort übrig hatte. Im Gegenteil, als am zweiten Kurstag ein junger Bass Schuberts «Gruppe aus dem Tartarus» aufs Pult legte, verlangte die Kursleiterin die fast vollständige Schliessung des Flügels und beschied dem Pianisten, dass er hier nun gar nichts anderes als reine Begleitung zu liefern habe, sonst gehe der Sänger nach wenigen Takten ein. Von heute aus gesehen wäre am Platz, dass auch bei einem so dramatischen Lied wie der «Gruppe aus dem Tartarus» der Flügel offen bliebe und dass der Pianist mit seinen gestalterischen Möglichkeiten dafür zu sorgen hätte, dass der Sänger nicht in Bedrängnis gerät. Wie der Liedgesang, bei dem der Solist brilliert und der Pianist dient, ganz und gar vorbei ist – dafür stehen viele der heute tätigen Liedbegleiter, davon zeugt auch eine Einrichtung wie der Grazer Schubert-Wettbewerb, bei dem die Kooperation zwischen Sänger und Pianist in der Bewertung besonderes Gewicht erhält.

Lieder neueren Datums bauen ohnehin explizit auf der aktiven Interaktion zwischen Vokalem und Instrumentalem. Ein Kursangebot zu diesem Bereich könnte das verdeutlichen.

Reportage von Liedrezital Zürich unter http://liedrezital.ch/index.php/reportage-ueber-meisterkurs.html

Igor Levit in Luzern

 

Peter Hagmann

Für Dresden, gegen Leipzig

Bachs Goldberg-Variationen mit Igor Levit beim Lucerne Festival

 

Uns Heutigen gilt er als der Thomaskantor – aber in Leipzig, wo er von 1723 bis an sein Lebensende 1750 gewirkt hat, ist es Johann Sebastian Bach denkbar schlecht ergangen. Natürlich hat er in den Anfängen seiner Leipziger Zeit in einem unvorstellbaren Furor des Schaffens drei Jahreszyklen an Kantaten geschrieben (und zur Aufführung gebracht), hat er dazu zwei grosse Passionen geschaffen und im Café Zimmermann seinen Ruf als Dirigent eines blendenden Kammerorchesters gemehrt. Aber er litt nachhaltig unter Spannungen mit seinen Vorgesetzten, die von Musik nichts verstanden, ihm aber ästhetische Vorgaben machten, seine Dienstwohnung eng und laut, und die Schüler der Thomasschule wollten an den Projekten ihres Kantors partout nicht ordentlich mitwirken. So erstaunt nicht, dass Bach mit einigen Hintergedanken nach Dresden blickte, wo es einen kurfürstlichen Hof und reichlich Mittel für die Musik gab und wo, vor allem, sein Sohn Wilhelm Friedemann zum Organisten an die Sophienkirche berufen worden war.

Der Bass als des Pudels Kern

Allerdings, der Dresdener Geschmack war ganz und gar anders gelagert als der in Leipzig. In Dresden gaben die Italiener mit ihrer Oper den Ton an und mit ihnen die deutschen Musiker, die auf dieses Pferd gesetzt hatten. Up to date war die Gesangslinie mit ihrer homophon gedachten Begleitung, während die Kunst des Kontrapunkts, wie sie Bach Vater vertrat, für eine vergangene Zeit stand. Bach freilich, er konnte nicht anders – die Goldberg-Variationen zeugen davon. Wie genau es zu diesen dreissig Variationen über ein vergleichsweise simples Thema (respektive über eine relativ einfache Abfolge von Bass-Schritten) gekommen ist, ist nicht bekannt. Es gibt die Legende von dem mit dem Kurfürstlichen Hof in Dresden verbundenen Reichsgrafen von Keyserlingk, der unter Schlaflosigkeit gelitten haben und als Mittel dagegen die Goldberg-Variationen erhalten haben soll – nur war der Cembalist, der neben dem reichsgräflichen Schlafzimmer die hochkomplexe Musik Bachs aus den frühen 1740er Jahren gespielt haben soll, zu jener Zeit noch ein Kind. Das ist nur eine von vielen Unklarheiten, die sich um dieses Werk ranken.

Dass die Goldberg-Variationen mit Dresden zu tun haben, mithin als leuchtender Edelstein kontrapunktischer Kunst in einem auf die Monodie fokussierten Umfeld empfunden werden können, steht freilich fest. Bach selbst spielt mit diesem Spannungsfeld, und dies an mehr als einer Stelle. Und fast hat es den Anschein, als hätte Igor Levit mit seiner Auslegung der Goldberg-Variationen im Rahmen des Luzerner Klavierfestivals genau das unterstreichen wollen. Schon die Aria, die zu Beginn das Thema vorgibt und am Ende die symmetrische Klammer bildet, deutete das bei ihm an – insofern nämlich, als die Oberstimme stets deutlich führende Melodie blieb, während die linke Hand aus dem Hintergrund heraus einen begleitenden Bass und etwas Harmonie beifügte. Das war bei András Schiff vor Jahresfrist ähnlich, nur hat Schiff in den Wiederholungen, die auch Levit ausführte, den Bass jeweils ganz leicht hervorgehoben – zum Zeichen dafür, dass es ja justament der Bass ist, der hier des Pudels Kern bildet.

Denn gleich bleibt in den dreissig Veränderungen, die der eröffnenden Aria folgend, der Bass: die Goldberg-Variationen als eine riesige, knapp eineinhalb Stunden dauernde Passacaglia. Das zu schultern, ohne unter der Last zusammenzubrechen, ist schon eine Tat. Igor Levit, dem noch nicht dreissigjährigen Pianisten aus Nischni Nowgorod, der seine Wurzeln aber klar in der deutschen Kultur hat, gelang das ganz ausgezeichnet – und dies trotz dem einschüchternd definitiven Statement, das András Schiff im Herbst 2015 im Konzertsaal des Luzerner KKL zu den Goldberg-Variationen abgegeben hat. Während Schiff das Wechselspiel der musikalischen Linien, die sich viefältigst miteinander verschlingen und äusserst vielgestaltig aufeinander reagieren, mit seiner einzigartigen Erzählkraft zum Leben brachte, schien Levit die Goldberg-Variationen eher als ein sehr unmittelbares Dokument aus dem bewegten Lebens Bachs zeigen zu wollen.

Mit dem geschmeidigen Laufwerk auf der Ebene der Sechzehntel und dem eleganten Non-Legato auf jener der Achtel betonte Levit in der ersten Variation das Element des Konzertanten, das bei Vivaldi anschliesst und in Dresden besonders geschätzt wurde. Überhaupt sparte der Pianist nicht mit dem Effekt des Virtuosen, mit der perlenden Geläufigkeit und dem behenden Überkreuzen der Hände – dies allerdings da und dort zu Lasten der satztechnischen Klarheit. Vor allem in jenen raschen Stücken, für deren Ausführung eigentlich zwei Manuale erforderlich wären, ging das Geschehen gern in Klangwolken unter, was den Intentionen des Komponisten widerspricht, denn bei aller Neigung zum modernen Dresdener Still ist Bach doch stets Kontrapunktiker geblieben. Je weiter der Abend voranschritt, desto mehr spitzte sich das zu – bis hin zu den Variationen ab der Nummer 23, die mit durchbrochenem Satz arbeiten und die in den Tempi und im Pedalgebrauch Levits unverständlich blieben.

Das mag auch eine Frage der Erfahrung sein, nicht zuletzt der Vertrautheit mit dem Luzerner Konzertsaal. Igor Levits CD-Aufnahme der Goldberg-Variationen – Teil jener grandiosen, auch grandios gewagten Dreierbox, die ausserdem die Diabelli-Variationen Beethovens und «The People United Will Never Be Defeated» des Amerikaners Frederic Rzewski enthält –, Levits Aufnahme zeigt, dass im Studio die reine Makellosigkeit herrschte und die Transparenz jederzeit gegeben war. Anders als im Luzerner Konzert bilden auf der CD diese Stücke der blitzenden Lineatur das ebenbürtige Gegengewicht zu den Variationen, in denen Bach die Monodie, aber auch die damals moderne Strömung der Empfindsamkeit aufnimmt. Gerade die empfindsamen Variationen gerieten im Luzerner Konzert zu Momenten entrückter Schönheit. Mit Mut zum lauschenden Verfolgen der musikalischen Verläufe, mit Vorstellungskraft und Atem versenkte sich Levit etwa in die Nummern 13 und 15, nach denen er, die Mitte des Zyklus markierend, eine grosse Pause machte, um dann die französische Ouvertüre der Nummer 16 mit federnder Punktierung anzugehen.

Interpretation als deutender Akt

Unter den Händen Igor Levits erschienen Bachs Goldberg-Variationen somit weniger als das Monument der kontrapunktischen Kunst, das sie zweifellos sind. Vielleicht ungewollt, aber doch deutlich wahrnehmbar liess der Pianist in seiner Deutung vielmehr das um 1740 Moderne heraustreten. Als ob Bach mit den Goldberg-Variationen hätte in Erinnerung rufen wollen, dass er als Thomaskantor den Kontrapunkt wie kein Zweiter beherrsche, dass er sich in den neueren Gestaltungsweisen aber nicht weniger auszudrücken wisse. Interpretation als deutender Akt ist das, explizit und angreifbar zugleich. Jedenfalls gab der Abend ebenso viel Anregung wie Hörgenuss – kein Wunder bei einem Pianisten, der nicht nur technisch und musikalisch für höchstes Niveau steht, sondern seinem Gegenüber auch als hellwacher Kopf begegnet. Dass Igor Levit seines jugendlichen Alters zum Trotz zu den bedeutendsten Erscheinungen in der anhaltend lebendigen Welt des Klaviers gehört, hat sich an diesem einzigartigen Abend beim Lucerne Festival erneut bestätigt.

Klaviertrios – neu gewonnen

 

Peter Hagmann

Im Geist der Entstehungszeit, aber für heute

Die Klaviertrios von Franz Schubert mit Andreas Staier, Daniel Sepec und Roel Dieltiens

 

Eine unglaubliche Energie zieht durch die neue Aufnahme der beiden Klaviertrios (B-dur, D 898, und Es-dur, D 929) von Franz Schubert, mit welcher der Pianist Andreas Staier, der Geiger Daniel Sepec und der Cellist Roel Dieltiens bei Harmonia mundi auf sich aufmerksam machen. Musikantischer Schwung herrscht hier und hochgradig erfüllte Musikalität. Zugleich aber wird, was die Interpretation dieser Musik betrifft, ein neues Kapitel aufgeschlagen.

Grund dafür ist einmal mehr die historisch informierte Aufführungspraxis. Inzwischen verbreitet sie sich auch im Bereich der Kammermusik: still und leise, aber wahrnehmbar. Noch sind die Ensembles, die mit Instrumenten, Spieltechniken und Interpretationsansätzen aus der Entstehungszeit der jeweiligen Kompositionen arbeiten, nicht sehr zahlreich – jedenfalls nicht so zahlreich wie auf dem Feld des Orchestralen. Aber es werden immer mehr, und ihre Leistungen drängen kraftvoll ans Licht, aufmerksam beobachtet von einem Publikum, das zunehmend Interesse zeigt. Deutlich wird dabei auch, dass es nicht in erster Linie um das Instrumentarium geht. Das Quatuor Van Kuijk, das hier vor zwei Wochen vorgestellt wurde, spielt in konventioneller Besetzung; es verwendet zum Beispiel synthetische Saiten, die es zur Zeit Mozarts natürlich nicht gegeben hat. Aber was sich in der Szene tut, scheint den vier jungen Musikern aus Frankreich absolut gegenwärtig.

Im Fall der beiden Klaviertrios von Franz Schubert und ihrer erstklassigen Aufnahme geht es nun aber tatsächlich auch um das verwendete Instrumentarium. Es wird im Booklet, man ist dankbar dafür, in allen Einzelheiten vorgestellt – allein die Benennung der Saiten fehlt noch. Die Geige, die Daniel Sepec spielt, stammt aus der Cremoneser Werkstatt von Lorenzo Storioni und ist dort 1780 erbaut worden, etwa fünfzig Jahre vor der Entstehung der Klaviertrios Schuberts. Sepec verwendet ausserdem einen Bogen auf der Höhe der damaligen Zeit, nämlich einen des berühmten Engländers John Dodd, der nach den Vorgaben des noch berühmteren Franzosen François Xavier Tourte konstruiert ist. Mit Kopien arbeitet der Cellist Roel Dieltiens. Sein Instrument ist ein Nachbau nach Stradivari von Marten Cornelissen aus dem Jahre 1992, während der Bogen von Henk Cornelissen stammt und auf ein Modell von Dodd zurückgreift. Andreas Staier wiederum, er spielt auf einem Wiener Flügel von Conrad Graf von 1827, dem Entstehungsjahr der Klaviertrios – allerdings nicht auf einem Original, sondern einer Kopie des in Frankreich wirkenden Instrumentenbauers Christopher Clarke von 1996.

Das alles ist durchaus von Belang. Die für diese Aufnahme gewählten Instrumente (und ihre etwas tiefere Stimmung) erzeugen einen ganz und gar anderen Ton, als man ihn gewohnt sein mag – wenn man zum Beispiel die klangsatte Einspielung der Schubert-Trios mit Vladimir Ashkenazy am Klavier sowie dem Geiger Pinchas Zukerman und dem Cellisten Lynn Harrell aus dem Jahre 1996 im Ohr hat. Obwohl Sepec, Dieltiens und Staier Kammermusik auf höchstem Niveau betreiben, obwohl sie von ausgefeilter musikalischer Übereinstimmung ausgehen, verbinden sich ihre Stimmen doch nicht zu jenem kraftvollen Amalgam, das dort angestrebt wird; sie stehen vielmehr nebeneinander und wirken in gleichberechtigter Individualität miteinander – bisweilen auch erfrischend gegeneinander wie etwa im Scherzo des B-dur-Trios D 898, wo die Artikulationen in den drei Partien durchaus unterschiedlich ausfallen. Das führt dazu, dass das musikalische Geschehen von innen heraus leuchtende Belebung erhält; es lässt erfahren, wie Schubert auch in diesen beiden späten Trios seine Kantabilität einsetzt, wie kontrapunktisch er aber auch denkt. Äusserst lebhaft ist das Gespräch, das sich daraus ergibt.

Und das, obwohl es in vergleichsweise leisem Ton geführt wird – eine Wohltat in dieser überlauten Zeit. Gewiss, die Graf-Kopie Staiers klingt im Vergleich zu manch anderen Hammerflügeln geradezu opulent, Staier reizt die Möglichkeiten des Instruments auch mit allem Können aus. Dennoch ist nicht zu überhören, dass ein Hammerflügel nie die Kraft eines Steinway erreicht. Dazu kommt die kurze Nachhallzeit des einzelnen Tons, was das Perkussive des Instruments in den Vordergrund rückt – ohne dass dadurch jedoch, Staier gelingt das vorzüglich, das Gebundene und das Singende an Prägnanz verlören. Ähnliche Positionswechsel verlangt die Stradivari von Sepec, die nicht auf die heute übliche Saitenspannung adaptiert ist. Allein, der kümmerliche, etwas näselnde Ton alter Geigen aus der Pionierzeit der historisch informierten Aufführungspraxis ist in dieser Aufnahme nachhaltig überwunden; Sepec holt aus dem Instrument beeindruckende Körperlichkeit und eine Fülle an Farben heraus. Und die temperamentvollen Akzentsetzungen, mit denen der Geiger am Anfang des B-dur Trios zusammen mit dem seinerseits überaus aktiv gestaltenden Cellisten Roel Dieltiens aufwartet, lassen erahnen, welche ganz anderen Ausdrucksmittel hier verlangt – und möglich sind.

Und welch aufregend neue Hörerfahrungen sie erschliessen. Der sorgsame Umgang mit dem Vibrato, das nicht als Grundlage der Tongebung, sondern als Verzierung genutzt wird, sorgt im Kopfsatz des B-dur-Trios für ein spannungsvolles Voranziehen; im langsamen Satz dagegen verbannen die geraden Töne jede Süsslichkeit, schaffen sie vielmehr Raum für eine andere, vielleicht wahrhaftigere Art Emotion. Und in dem zu den beiden Trios gestellten Notturno in Es-dur (D 897), einem rätselhaften Einzelsatz für Klaviertrio aus derselben letzten Schaffensphase Schuberts, nimmt die Dosierung des Vibratos den sehnsüchtigen Terzparallelen jede übersteuerte Emphase. Besonders eindringlich wirkt die Tongebung zu Anfang des Es-dur-Trios D 929. Fast schmerzhaft klar klingt dieser Einstieg, er öffnet dem Zuhörer krass die Ohren und macht ihn frei für die Wunder, die Andreas Staier, Daniel Sepec und Roel Dieltiens vor uns ausbreiten – mit einer Phrasierung, die bewusst mit dem Unterschied zwischen schweren und leichten Taktzeiten arbeitet, und mit einer Artikulation, die nicht vom Legato als dem Mass aller Dinge ausgeht, sondern eine Vielzahl nicht gebundener Tonverbindungen einbringt. Zum Höhepunkt wird der langsame Satz dieses zweiten Trios, den Wolfgang Fuhrmann in seinem Booklet-Text als einen privaten  Trauermarsch auf den Tod Beethovens deutet. Hier ist beides zu hören: Trauer wie Privatheit.

Franz Schubert: Klaviertrios in B-dur (D 898) und Es-dur (D 929), Notturno für Klaviertrio in Es-dur (D 897). Andreas Staier (Hammerklavier), Daniel Sepec (Violine), Roel Dieltiens (Violoncello). Harmonia mundi 902233/34 (2 CD).

Neues aus der Kammermusik

 

Peter Hagmann

Auf der Höhe der Zeit

Das Quatuor Van Kuijk und seine erste CD

 

Da wäre es, das Streichquartett unserer Zeit. Quatuor Van Kuijk heisst es – und da ist die babylonische Verwirrung schon beträchtlich. Es handelt sich nämlich keineswegs um ein Ensemble aus den Niederlanden, wie sein Name suggeriert, sondern um eines aus Frankreich; 2012 in Paris gegründet, besteht es aus vier jungen Absolventen der Konservatorien von Lyon und Paris. Sowohl Nicolas Van Kuijk und Sylvain Favre-Bulle (Violinen) als auch Grégoire Vecchioni (Viola) und François Robin (Violoncello) haben bei ersten Vertretern ihrer Instrumente studiert; als Ensemble haben sie sich etwa vom Hagen-, dem Artemis- und dem Alban Berg-Quartett instruieren lassen. Das liest sich alles schon sehr gut.

Wer nun aber in die erste CD des Quatuor Van Kuijk einsteigt (Alpha 246), kommt mächtig ins Staunen. Die Streichquartette in Es-dur und C-dur, KV 428 und 465, von Wolfgang Amadeus Mozart und dessen Divertimento in D-dur, KV 136, entfalten ein Leben, das man nicht für möglich gehalten hätte. Ganz homogen und kernig der Klang; die vier Instrumente wirken in vollkommen ausbalancierter Gewichtung miteinander. Zugleich aber bringt jedes der vier Ensemblemitglieder seine Persönlichkeit ein, und da der Klang bei aller Homogenität hochgradig transparent bleibt, kommt es sogleich zu jenem Miteinander-Sprechen, das für die Gattung des Streichquartetts kennzeichnend ist. Und das alles im Umfeld eines warmen, leuchtkräftigen Tons, bei dem man durchaus an die Verwendung von Darmsaiten denken kann.

Dies um so mehr, als die Veränderungen in Spielhaltung und Interpretation, welche die historisch informierte Aufführungspraxis ausgelöst hat, beim Quatuor Van Kuijk ganz selbstverständlich präsent sind – obwohl sich die vier Musiker nicht explizit zu dieser Richtung bekennen. Der Kopfsatz des Es-dur-Quartetts KV 428 stellt das Hauptthema im Unisono vor, was das Quartett ohne jedes Vibrato, dafür aber in erregend sauberer Intonation verwirklicht. Wie dieses Hauptthema in den folgenden Takten dann seine harmonische Einkleidung erhält, kommt auch das Vibrato zum Zug, aber eben nicht als Grundlage der Tongebung, sondern in seinem eigentlichen Sinn, als Verzierung und Verschönerung nämlich – aufregend ist das. Ebenso versteht es sich, dass der Primgeiger seinen Triller, den er vor dem Einsatz des Seitensatzes anzubringen hat, von oben spielt. Beobachtungen dieser Art mögen als Klauberei empfunden werden; in Tat und Wahrheit sind es genau solche Details, die diese Musik in neuen Klang bringen.

Und die das Quatuor Van Kuijk als eines jener ganz und gar in der Gegenwart verankerten Streichquartette erkennen lassen, vergleichbar etwa dem Cuarteto Casals. Die Zeiten des Alban-Berg-Quartetts, an dessen enormen Verdiensten in keiner Weise gezweifelt werden soll, sind nun einmal vorbei, in der Streichquartett-Szene weht inzwischen ein anderer, ein frischer Wind. Kein Wunder, war das Quatuor Van Kuijk diesen Sommer bei dem Davoser Festival «Young Artists in Concert» in Residenz, eingeladen von seinem Intendanten Reto Bieri, einem gleichermassen auf der Höhe der Zeit stehenden Klarinettisten. Und ist es erstaunlich, wenn dem Quatuor Van Kuijk eine so renommierte kammermusikalische Bühne wie die Londoner Wigmore Hall offensteht? Wenn nicht alles täuscht, wird man von diesem Streichquartett bald mehr hören.

Das Quatuor Van Kuijk tritt am Samstag, 26. November 2016, um 17 Uhr im Rahmen der Neuen Konzertreihe von Jürg Hochuli im Kleinen Saal der Tonhalle Zürich auf. Informationen unter www.hochuli-konzert.ch.