Vom Orchesterfest zum Zukunftslabor?

Glanzlichter und Gefahren am Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Während die Salzburger Festspiele explizit den Willen zur Bewahrung ihrer künstlerischen Leitlinien verkünden (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 18.08.21) und damit auch in diesen schwierigen Zeiten auf hohe Resonanz stiessen, scheinen beim Lucerne Festival die Zeichen auf Wandel zu stehen. Hauptsache waren bisher die Auftritte berühmter Orchester mit bedeutenden Dirigenten, was dem Luzerner Sommerfestival sein spezifisches Profil als weltweit wichtigster Marktplatz orchestraler Kunst verlieh. Rund um diese Hauptsache ist in den gut zwanzig Jahren der Intendanz von Michael Haefliger jedoch ein reich bestückter Garten von Nebensachen entstanden. Neue Musik und die Förderung des musikalischen Nachwuchses stehen da im Vordergrund – zwei Spezialgebiete, die Michael Haefliger seit seinen Anfängen als Intendant beim Davos Festival mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Ein Jahr nach der auf eine Anregung Claudio Abbados zurückgehenden Gründung des Lucerne Festival Orchestra wurde im Sommer 2004 die Lucerne Festival Academy eröffnet, die ehedem von Pierre Boulez, heute von Wolfgang Rihm künstlerisch geleitete Meisterschule für neue Musik, deren Angebot sich an junge Musikerinnen und Musiker richtet. Parallel dazu – und neben der von Mark Sattler kompetent und phantasievoll betreuten Reihe «Moderne» mit dem «Composer in Residence» – wurden neue Konzertformate erprobt; die prominentesten unter ihnen sind die kommentierten Kurzkonzerte, die unter dem Titel «40Min» ein grosses Publikum anziehen.

Dieses Jahr nun hat dieser Garten merklich an Aufmerksamkeit gewonnen. Mit der Bestellung von Felix Heri als neuem Manager der Academy wurde auch eine neue Strukturierung des Angebots vorgenommen (und die offizielle Festivalsprache durchgehend aufs Englische umgestellt…). Neben den Orchesterkonzerten, die inzwischen «Symphony» heissen, gibt es den grossen Bereich «Contemporary» und einen Sektor «Music for Future», welch letzterer auch alle Aktivitäten der Publikumsbildung und -bindung umfasst – von den Auftritten der Jugendorchester vor dem eigentlichen Beginn des Festivals über die mittägliche Reihe «Debut» und die verschiedenen Förderpreise bis hin zu den Sitzkissenkonzerten. Die bedeutendste Veränderung besteht darin, dass es das Lucerne Festival Academy Orchestra, das sich aus den jeweils an der Akademie eingeschriebenen Mitgliedern zusammengesetzt hat, nicht mehr gibt. An seine Stelle ist das Lucerne Festival Contemporary Orchestra getreten, das sich aus dem globalen, inzwischen auf über zwölfhundert Absolventen der Akademie angewachsenen Netzwerk nährt. Netzwerkdenken führt aber auch weiter in die Programmgestaltung. Statt dem liquidierten, flugs vom Luzerner Sinfonieorchester übernommenen Klavierfestival im Herbst soll es im kommenden November eine neue, kleine Veranstaltungsreihe mit dem Titel «Lucerne Festival Forward» geben, das verschiedene innovative Ansätze verfolgt. Unter anderem soll dort keine durch eine einzelne Person verkörperte künstlerische Leitung mehr wirksam werden; stattdessen sollen die Programme aus dem Contemporary-Netzwerk heraus, in einer partizipativen, auf digitaler Kommunikation beruhenden Art entwickelt werden. Mal sehen, was daraus wird.

Im Vergleich zu diesem Energieschub sehen die Orchesterkonzerte alt aus. Und leider war es, zumindest teilweise, auch zu hören – selbst bei den Berliner Philharmonikern. Auch diesen Sommer präsentierten sie sich als ein technisch höchststehendes, klanglich unverkennbares, auch sehr selbstbewusstes Orchester. Das trat schon in Carl Maria von Webers «Oberon»-Ouvertüre heraus, nur blieb hier der gestalterische Zugriff des Chefdirigenten Kirill Petrenko noch unbestimmt, zögerlich. Schön war das, aber nicht mehr. Anders die darauffolgende Wiedergabe von Franz Schuberts «Grosser» C-Dur-Sinfonie D 944, die durchaus kontroverse Reaktionen auszulösen vermochte. Petrenko hatte sich dazu entschieden, die Wiederholungen, die gerade im dritten Satz zu den berühmten «himmlischen Längen» führen, anders als viele Dirigenten durchgehend zu berücksichtigen. Er konnte es sich erlauben, basierte seine Interpretation doch auf frischen Tempi. Schon die langsame Einleitung deutete es an, das vom Komponisten vorgegebene Alla breve war jedenfalls klar zu spüren. In subtilen Schritten erreichte Petrenko dann das Allegro des Hauptteils – und da manifestierte sich des Dirigenten Sinn für Arbeit an den Zeitmassen. Immer wieder stattete er einzelne Gesten mit kleinen Beschleunigungen oder Verzögerungen aus, so wie es zu Schuberts Zeit und noch bis hin zu den Interpreten der Spätromantik üblich war. Indes blieb es in diesem Bemühen bei Ansätzen, die nicht konstitutiv wirkten.

Vor allen Dingen aber trieb Petrenko das Finale in einen förmlichen Geschwindigkeitsrausch hinein, was zur Folge hatte, dass die kleinen Tonbewegungen des Satzes nicht mehr wahrzunehmen waren. Hier wurde auch der Klang so kompakt und massiv, dass das spezifische Kolorit Schuberts auf der Strecke blieb. Vielleicht ist die bisweilen melancholische, auch fragile Klangwelt Schuberts nicht das, was Kirill Petrenko naheliegt. So gedacht am zweiten Abend, der mit einem Feuerwerk anhob: mit dem frechen, wild himmelstürmerischen Klavierkonzert Nr. 1 in Des-Dur von Sergej Prokofjew. Was Anna Vinnitskaya da an Fingerfertigkeit und metallener Kraft, auch an Klangsinnlichkeit aufbot, war stupend – und die Berliner gingen mit, hellwach und ohne je mit der Wimper zu zucken. Er recht bei sich war Kirill Petrenko in der Sinfonischen Dichtung «Ein Sommermärchen» von Josef Suk. Beredt, schwerblütig schildert der Komponist einen Tag in seinem traurigen Leben nach dem Tod des Schwiegervaters Antonín Dvořák und jenem seiner Gattin. Er tut das in Geist und Ton der Spätromantik, wenn auch mit gelegentlichen Anklängen an modernere Strömungen, etwa den Impressionismus. Leicht zu hören ist das Werk nicht, es fügt sich nicht von selbst ins Ohr. Allein, die fabelhafte Auslegung durch die Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko verhalf dem Werk zu pulsierendem Leben. Die Farben in enormer Pracht entfaltet, die Bögen von weitem Atem getragen, die Verlaufskurven so griffig geformt, dass Suks Schöpfung förmlich zu erzählen begann.

Ganz und gar konkret wurden auch die Bamberger Symphoniker mit ihrem Chefdirigenten Jakub Hrůša – und das bei Musik aus den letzten sechs Jahren, nämlich im «Räsonanz»-Konzert der Ernst von Siemens-Musikstiftung. Auch dieses Orchester ist hervorragend aufgestellt, seit langem übrigens: Hrůša hat ja das erstklassige Erbe von Jonathan Nott angetreten und steht im Begriff, es in einer sehr persönlichen Weise weiterzuentwickeln. Wie wörtlich das zu verstehen ist, erwies der Abend im KKL Luzern. Wo andere Dirigenten bei neuer Musik, weil sie eben neue Musik ist, die Emphase scheuen, bringt sich Hrůša als Interpret ebenso kraftvoll ein wie bei Werken von Dvořák oder Smetana. Das in Uraufführung erklingende «Offertorium» von Iris Szeghi, Teil eines gross besetzten Requiems, offenbarte seine feinnervige Faktur in aller Subtilität – auch dank der Mitwirkung der Sopranistin Juliane Banse. Im Violinkonzert von Beat Furrer, in dem Ilja Gringolts den Solopart versah, waren die klanglichen Reize und der klare Bogen von einem leisen Beginn über einen eruptiven Mittelteil zurück zum Leisen packend herausgearbeitet. Von besonderer Haptik war jedoch das Orchesterwerk «Move 01-04» von Miroslav Srnka. Der vielbeachtete Komponist aus Prag arbeitet mit Tonschwärmen, die zeichnerisch entworfenen Modellen folgen, und bringt auf dieser Basis das in grosser Besetzung angetretene Orchester zu betörend üppigem, gleichzeitig unerhört beweglichen Klang. Die Bamberger und Hrůša waren mit vollem Einsatz bei der Sache und erspielten sich einen rauschenden Grosserfolg.

Dasselbe gilt für den ersten der beiden Auftritte der Wiener Philharmoniker. Am Pult stand diesmal Herbert Blomstedt – unverwüstlich mit seinen 94 Jahren. Und angesagt war die vierte Sinfonie Anton Bruckners. Was für ein Fest. Da stimmte einfach alles. Das Orchester schenkte dem Dirigenten, was es zu schenken vermag: den kräftigen, aber doch offenen Ton, Glanz und Strahlkraft im Lauten wie flüsternde Zartheit im Leisen, restlos stimmige Übergänge, ja überhaupt ein orchestrales Zusammenwirken vom Feinsten. In einem einzigen, unglaublich geschlossenen Bogen zogen die vier Sätze von Bruckners «Romantischer» durch Raum und Zeit, und zugleich gab es in jedem Moment zu hören, was die Partitur nahelegt. Dass die Interpretation einen Zug ins Altväterische trug, dass Herbert Blomstedt bei Bruckner nicht die Schritte tut, die er bei Beethoven wagt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.08.20), wer wollte es ihm verdenken? Im späten 20. Jahrhundert wurden neue Zugänge zu Bruckners Musik entwickelt, wurde das Geschmeidige neben dem Parataktischen, das Fragile neben dem Festgefügten entdeckt. Mit Herbert Blomstedt kehrte ein Bruckner-Bild früherer Zeiten zurück: die Sinfonie als ein in die Weite der klanglichen Flexibilität geführtes Orgelwerk, die Musik im Zeichen gründerzeitlicher Selbstgewissheit. Das geschah allerdings in einem Geist, der in seiner Konsequenz, seiner Achtsamkeit und seiner Präzision das Signum des Einzigartigen trug. Jubel und Stehapplaus.

Gefeiert wurde auch Mirga Gražinytė-Tyla – sehr zu Recht. Im Zyklus der Sinfonien Robert Schumanns, den das Luzerner Sinfonieorchester und das Tonhalle-Orchester Zürich eröffnet hatten (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 01.09.21), dirigierte sie die Nr. 1 in B-Dur, die «Frühlingssinfonie», und die Nr. 2 in C-Dur. Sie tat das mit einer derartigen Energie, mit einem solchen Schwung, dass man ein Mal übers andere ins Staunen geriet. Das doch sehr unterschiedliche Klima in den beiden Sinfonien traf sie überzeugend, und die vom Klavier her gedachte, aber orchestral meisterlich ausgefächerte Faktur liess sie von innen her prachtvoll leuchten. Gewiss, nicht alles gelang. In der C-Dur-Sinfonie blieb das wunderschöne Adagio espressivo des dritten Satzes seltsam unbeteiligt. Obwohl die Dirigentin meist die Achtel schlug, wurde der Zwei-Viertel-Takt doch spürbar, nur kamen die geteilten Bratschen, die sich synkopisch zwischen die Ober- und die Unterstimme legen, nicht wirklich zur Geltung. Und die beiden grossartigen Aufschwünge in der Mitte dieses Satzes entbehrten der Spannkraft. Mag sein, dass das auch auf das Mozarteum-Orchester Salzburg zurückging, eine in jeder Hinsicht mittelmässige, schläfrig wirkende Formation, die sich auch durch den unerhörten Körpereinsatz der zierlichen Frau am Pult nicht aufrütteln liess. Warum ein solches Orchester beim Lucerne Festival auftritt, ist ein Rätsel; es dient weder der charismatischen jungen Dirigentin noch dem Festival und seinem Publikum.

Nicht nur das, es ist auch Symptom: Das Herzstück des Lucerne Festival schwächelt. Es hat an Bedeutung wie an Ausstrahlung eingebüsst; unter den «Essentials» des Festivals wird es im Generalprogramm nicht einmal erwähnt. Keine Frage, in diesen Zeiten der Pandemie mit ihren Einschränkungen und Planungsunsicherheiten ein Orchesterfest durchzuführen, ist alles andere als einfach. Das Lucerne Festival liess sich nicht unterkriegen und hat Erstaunliches zustande gebracht. Die Zeichen der Ermüdung, die merklich kontrastieren mit dem Aufbruch in anderen Bereichen des Programms, sind freilich nicht auf die Pandemie zurückzuführen, sie haben ästhetische, wenn nicht systemische Gründe. Neben den Höhepunkten, von denen hier die Rede war, gibt es einen Überhang an Immergleichem und leider auch an Gewöhnlichem. Dreimal Barenboim, zweimal mit dem Diwan-Orchester, einmal mit der Staatskapelle Berlin, das ist entschieden zu viel. Und am Pult kommen Dirigenten zu Wort, die den Betrieb aufrechterhalten, aber wenig zu sagen haben, während künstlerisch aufsehenerregende Vertreter, zumal solche jüngerer Generation, ausgeschlossen bleiben. Wo ist das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, wo die Dresdener Staatskapelle oder das Gewandhausorchester? Und wo ist ein Dirigent wie François-Xavier Roth, der im Kölner Gürzenich hervorragende Arbeit leistet und ausserdem mit Les Siècles ein aufregendes Orchester mit Instrumenten aus der Entstehungszeit der gespielten Kompositionen betreut? Das SWR-Sinfonieorchester Stuttgart mit seinem Chefdirigenten Teodor Currentzis kommt zwar ins KKL, aber nicht im Rahmen des Lucerne Festival – warum? Und warum tritt das Concertgebouworkest nicht einmal mit Krzysztof Urbánski oder Santtu-Matias Rouvali statt mit einem der Entbehrlichen auf? Erneuerung tut not. Auf dass das Orchesterfest das bleibe, was es für das Lucerne Festival sein soll: «Das Gipfeltreffen der Besten».

Reiz und Bedeutung des Eigenen

Sprühendes Leben im Konzert – beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Einen solchen Abend gibt es wohl nur an einem Festival – vielleicht gar nur am Lucerne Festival, wo das Mahler Chamber Orchestra, das Herzstück des Lucerne Festival Orchestra, in Residenz weilt und sich nicht nur flexibel einsetzen lässt, sondern sich auch neugierig dem Unerwarteten öffnet. Das Unerwartete war in diesem Fall die Begegnung mit dem Geiger und Dirigenten Roberto Gonzáles-Monjas, einem ganz und gar einzigartigen Musiker. Sei es, dass er als Konzertmeister bei der Accademia di Santa Cecilia in Rom die Sinfonische Dichtung «Ein Heldenleben» aufnimmt und dabei Richard Strauss’ Ironie freien Lauf lässt. Sei es, dass er beim Musikkollegium Winterthur, wo er demnächst das Amt des Chefdirigenten übernimmt, zusammen mit dem Pianisten Kit Armstrong die nicht leicht zu hörenden (und noch weniger leicht zu spielenden) Violinsonaten Wolfgang Amadeus Mozarts aufführt. Sei es, dass er mit dem kolumbianischen Jugendorchester Iberacademy Ludwig van Beethovens «Eroica» an die Grenzen der Intensität führt – und dass er das nicht mit dem Taktstock in der Hand, sondern als Konzertmeister tut.

Genau so trat Roberto Gonzáles-Monjas gemeinsam mit dem Mahler Chamber Orchestra im Luzerner KKL auf: mit einem überraschungsreichen, geschickt zusammengestellten Programm, mit hinreissenden Interpretationen und schlichtweg sensationellem Erfolg. Schon der Einstieg sorgte für gehörigen Effekt – denn «Le Cahos» aus der «Simphonie Nouvelle ‹Les Elemens›» von Jean-Féry Rebel, eines Zeitgenossen Johann Sebastian Bachs, hebt mit einem wüsten Cluster an, dem Sinnbild für die Ursuppe, aus der sich im weiteren Verlauf eine reizvolle Folge wohlgeordneter Kadenzen erhebt. Ganz ruhig entfaltete sich diese Musik für Streicher, hier durch ein Fagott und ein Cembalo ergänzt, zugleich aber bebte sie vor Spannung und Energie. Beides kam direkt aus dem Körper des 33-jährigen Konzertmeisters, der mit lustvoll animierender Ausstrahlung spielte. Für den Schlussakkord reckte er sich wie eine Feder aus der halben Hocke in die Höhe und zog den Klang unwiderstehlich auf den Schlusspunkt hin.

Von ähnlichen Voraussetzungen profitierte Joseph Haydns Sinfonie in f-Moll Hob. I:49 mit dem Beinamen «La passione». Als krasses Gegenstück zu dem Bild, das Riccardo Chailly mit dem Lucerne Festival Orchestra geboten hat (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 25.08.21), gab die Auslegung durch das von Gonzáles wiederum vom ersten Geigenpult aus geleitete Mahler Chamber Orchestra zu erkennen, in welchem Geist der Einfallsreichtum und der klangliche Reiz von Haydns Musik zum Leben erweckt werden kann – spannend und gegenwärtig war das von A bis Z. Klein besetzt das Orchester mit den solistischen Bläsern und den je sechs Ersten wie Zweiten Geigen, die links und rechts von dem in der Mitte positionierten Cembalo aufgestellt waren – und die wie alle Musikerinnen und Musiker, die es konnten, im Stehen spielten: als Solisten, die ein Orchester bildeten. Dass die Wahl der Instrumente nicht derart ausschlaggebend ist, wie es der Markt suggeriert, dass es viel eher um die stilistische Angemessenheit der Spielweise geht, es war mit Händen zu greifen. Zur stilistischen Angemessenheit gehört etwa die Mässigung im Einsatz des Vibratos; in der Sinfonie Haydns führte das zu einer Schärfung der Dissonanzen, die als Gewürz weitaus stärker einwirkten, als es sonst der Fall ist.

Der Mittelteil des Abends gehörte, zumindest partiell, Yuja Wang. Ihr frech ironisierendes Outfit entzückte, ihr so farb- wie ahnungsloses Spiel auf dem Steinway in Bachs Klavierkonzert in f-Moll BWV 1056 weniger. Blass blieb sie hier, etwas unsicher und mutlos – kein Wunder angesichts der Tatsache, dass dieses Repertoire nicht gerade zum Kern ihres Tuns gehört. Eines Tuns, das durchaus bewundert werden darf, wie ihre leitende Mitwirkung in dem praktisch nie aufs Programm gesetzten Capriccio für ausschliesslich mit der linken Hand gespieltes Klavier und Bläserensemble von Leoš Janáčcek erwies. Ein sehr persönliches, auch horrend anspruchsvolles Werk, das mit letzter Brillanz dargeboten wurde. Nicht weniger erfrischend das Bläseroktett von Igor Strawinsky, in dem vier Holzbläser mit vier Blechbläsern wetteifern. Auch das eine fulminante interpretatorische Leistung. Schade nur, dass die Namen der fürwahr solistisch auftretenden Orchestermitglieder (im Gegensatz zu jenen der Sponsoren…) im Programmheft nirgends verzeichnet waren.

Abende wie dieser erhalten ihre Relevanz auch dadurch, dass sie zur inhaltlichen Erkennbarkeit des Lucerne Festival beitragen. Gastspiele grosser Orchester mit grossen Dirigenten verfügen zweifellos über ihren ganz eigenen Reiz, nur finden sie in der Regel im Rahmen von Tourneen statt, sie tragen ihre Botschaft also nicht nur nach Luzern, sondern auch nach Salzburg, Berlin oder London. Im Gegensatz dazu gehören Auftritte wie jener mit dem Mahler Chamber Orchestra dem Luzerner Festival allein. Das gilt auch für zwei von Schweizer Orchestern bestrittene Programme, die Teil eines Luzerner Schumann-Zyklus bilden – und beide Konzerte sorgten für veritable Aha-Erlebnisse. Zusammen mit seinem Musikdirektor Paavo Järvi erschien das Tonhalle-Orchester Zürich mit einem reinen Schumann-Programm; es umfasste die «Genoveva»-Ouvertüre, das Violinkonzert (das Christian Tetzlaff mit hoher Identifikation und berührender Wärme in Klang setzte) und die Sinfonie Nr. 3 in Es-Dur, die «Rheinische». Blendend war dies Hauptstück gemeistert – in einem Klang, der die dunkle Grundfärbung des Zürcher Orchesters hören liess, sie gleichzeitig jedoch verband mit heller Transparenz, der ausserdem mit der Opulenz der grossen Besetzung mit vierzehn Ersten Geigen prunkte, ebenso sehr aber von geschmeidiger Beweglichkeit lebte. Eindrucksvoll die vorab durch die Arbeit an den Tempi erzielten Spannungssteigerungen, die ebenso eleganten wie markanten Akzentsetzungen, die Präsenz des hier feierlichen, dort enthusiastischen Tons, der diese Sinfonie kennzeichnet. Ein erstklassiges Gastspiel.

Wenige Abende zuvor hatte das Luzerner Sinfonieorchester das Wort ergriffen – mit nicht geringerem Erfolg. Ein Heimspiel, gewiss, aber auch ein besonderer Moment, denn am Pult stand zum ersten Mal in dieser Funktion Michael Sanderling als neuer Chefdirigent. Eine genau richtige Wahl darum, weil auf die zehn erfolgreichen Jahre mit dem Amerikaner James Gaffigan nun eine Phase im Zeichen deutscher Ästhetik folgen dürfte. Darauf wies schon Schumanns Cellokonzert hin, das Steven Isserlis äusserst extravagant anging. Sehr poetisch, ganz innerlich nahm er seinen Part, so als ob er ins Geflecht der Töne hineinzuhorchen und jedem musikalischen Ereignis nachzusinnen suchte. Das Orchester hielt sich zuverlässig an des Solisten Seite – kein Wunder angesichts der Tatsache, dass Michael Sanderling, von Haus aus Cellist, das Stück aus reicher eigener Erfahrung am Instrument kennt. Indessen mochte gerade das nicht nur von Vorteil sein, schienen des Dirigenten Vorstellungen von der Partitur doch etwas anders gelagert als jene des Solisten. Jedenfalls blieb das Orchester bisweilen eher im Mezzoforte stehen, wo Isserlis wagemutig in die Wunderwelt des ganz leisen Singens hinabstieg. Sehr sorgfältig in der klanglichen Balance und firm in der Aussage sodann Schumanns vierte Sinfonie in d-Moll, in der heute üblichen zweiten Fassung von 1851 und mit angeblichen Retuschen von Michael Sanderling – dies eine Mode von gestern, als man noch glaubte, Schumann habe nicht instrumentieren können. Schlank und zeichnend der Klang auch im Forte. Die Posaunen kräftig, aber jederzeit ins Ganze eingebunden, die Holzbläser in ganzer Farbenpracht präsent. Besondere Momente boten die ruhig ausgesungene Romanze des zweiten Satzes und der Übergang vom Scherzo ins Finale. Die Zusammenarbeit hat Potential, es war nicht zu überhören.

Schubert der Grosse

Paavo Järvi nimmt in C-Dur Abschied von der Tonhalle Maag in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Wenige Wochen noch, dann wird nicht nur diese als Folge der Pandemie so gründlich verunglückte Saison, sondern auch die Tonhalle Maag Geschichte sein. Eine stolze Tat war der Einbau dieses hölzernen Konzertsaals in eine ehemalige Industrie- und Eventhalle. Das Provisorium für gut 1200 Konzertbesucher bot dem Tonhalle-Orchester Zürich eine mehr als taugliche Heimstätte für die vier Jahre der Bauarbeiten am Stammsitz beim Bürkliplatz. Zentral war hier der in hellem Fichtenholz gehaltene Saal von Spillmann Echsle Architekten mit seiner Akustik von Müller-BBM München; er schuf ein Raumgefühl, das so rasch nicht vergessen gehen wird. Ebenso ins Gewicht fiel das Darumherum: die leichte Erreichbarkeit mit dem öffentlichen Verkehr, das sympathische Restaurant im seitlichen Anbau mit seinen zugigen Fenstern, vor allem aber das Foyer mit seinem industriellen Charme, seinen improvisiert wirkenden Heizstrahlern und seiner von der Tonhalle-Gesellschaft selbst geschaffenen, zum Verweilen einladenden Gastlichkeit. Da ist ein Ort der Kommunikation entstanden, von dessen Geist hoffentlich etwas ins angestammte Haus am See mitgenommen und dort weitergepflegt werden kann.

Aber eben, die stolze Tat war eine auf Zeit. Nach dem Auszug des Orchesters im Sommer wird der Konzertsaal in Teilen abgebaut und fürs erste umgewandelt in einen Room for Light Shows, ein «Lichtmuseum für immersive Kunst». Alle Bemühungen, den Konzertsaal als solchen zu erhalten, sind gescheitert; als unmöglich hat sich erwiesen, eine auf verschiedenen Schultern, nicht nur auf jenen der Tonhalle-Gesellschaft ruhende Trägerschaft zu errichten. Zürich ist nun einmal nicht Musikstadt genug, um neben der altehrwürdigen, nach einer umfassenden Renovation im Herbst dieses Jahres wieder aufgehenden Tonhalle einen zweiten, ähnlich konfigurierten Konzertsaal erfolgreich zu betreiben. Ebenso wenig scheint sich die die Idee eines Zentrums für alternative Formen von Kunstmusik in dieser Stadt realisieren zu lassen. Ein hochfliegendes Projekt endet im Sand. Darum geht es jetzt ans Abschiednehmen – an die Trennung von einer kulturellen Stätte, die vieles, was gewöhnlich nebeneinander in Erscheinung tritt, in ein fruchtbares Miteinander gebracht hat: Alt und Jung, Klassisches und Moderneres, Industrie (vergangen) und Kultur (trotz Corona lebendig), Versenkung und Sinnlichkeit.

Einer hat schon Abschied genommen. Es ist Paavo Järvi, Musikdirektor des Tonhalle-Orchesters Zürich. In den vergangenen Wochen war er kontinuierlich in Zürich, um mit dem Orchester zu arbeiten. Der Zyklus der Sinfonien (und anderer Orchesterwerke) Peter Tschaikowskys ist aufgenommen und zum Teil schon auf dem Markt. Ähnliches gilt für die Sinfonien (und weiteren Stücke) Felix Mendelssohn Bartholdys. Beide Aufnahmeprojekte sollen im Herbst, anlässlich der Eröffnung der Tonhalle am See, in Form von CD-Boxen erscheinen. Bei Tschaikowsky, so der Eindruck des bisher Gehörten (vgl «Mittwochs um zwölf» vom 31.10.19, 28.10.20, 27.01.21 und 14.04.21), fühlt sich Järvi restlos zu Hause. Seine musikalische Art entspricht dieser Musik in hohem Masse, und er entwickelt zu ihr anregende Deutungsansätze. Mit Mendelssohn aus Järvis Hand gibt es mehr Mühe. Mendelssohns kompositorische Sprache ist von ausgesprochen fein ziselierter Struktur, da trifft der klanglich handfeste Zugriff Järvis nicht wirklich – und das, obwohl das Tonhalle-Orchester auch hier, wie bei Tschaikowsky, hochstehende Leistungen erbringt. Beim «Sommernachtstraum», kürzlich in der «Global Concert Hall» des Streaming-Dienstes Idagio präsentiert, stellte sich schon in der Ouvertüre das Gefühl ein, hier werde eine Spur zu dick aufgetragen. Und der «Hochzeitsmarsch» akkurat gezügelt, aber auch einfach eins zu eins gegeben – und das ist gerade bei diesem Stück mit seiner ausgeprägten Rezeptionsgeschichte zu wenig. Keine Spur jedenfalls vom Brio und vom Enthusiasmus, den ein Dirigent wie Claudio Abbado bei dieser Musik aufscheinen liess. Nur dies noch: Die Damen der Zürcher Sing-Akademie hatten eine glänzende Stunde.

Von der Tonhalle Maag verabschiedet hat sich Paavo Järvi aber mit Franz Schubert, und zwar mit der Grossen C-Dur-Sinfonie, nach heutiger Zählung der Achten. Gross ist sie nicht nur im Gegensatz zur «Kleinen» C-Dur-Sinfonie Schuberts, gross wirkt sie auch – daran war schon darum kein Zweifel, weil Järvi die zahlreichen Wiederholungen, die von Dirigenten früherer Zeiten gerne ignoriert wurden, voll beim Wort nahm. Dafür schlug er in allen vier Sätzen überraschend flüssige Tempi an, pflegte er auch einen fest gefügten Klang eher spätromantischen Zuschnitts. Weg vom weichlichen Dreimäderlhaus-Schubert hin zum Visionär, der stilistisch weit über seine Zeit hinausdenkt, das war der Ansatz; er entspricht im Grundzug heutiger Auffassung und hat eine Plausibilität. Was jedoch einmal mehr zu denken gab, waren der Tonfall und, vor allem, die Lautstärke. Allzu gross klang Schuberts Musik immer wieder, allzu grob auch. Das insistente Moment der in ihrer Weise trotzigen, vielleicht mächtig gegen den biedermeierlichen Geist der Metternich-Zeit aufbegehrenden Komposition in Ehren, aber muss das so einseitig durch die Kraft, um nicht zu sagen: Kraftmeierei ausgedrückt werden, muss das Stück ein durch die Zeichengebung des Dirigenten auf die Spitze getriebenes Stampfen erreichen? Dirigenten mit Herkunft aus der alten Musik haben gezeigt, dass es auch anders geht. Eines hat Paavo Järvi aber fraglos erreicht: dass uns die Musik Franz Schuberts nicht angenehm unterhalten oder gar gleichgültig gelassen hat. Das ist schon viel.

Tschaikowskys Winterträume aus dem virtuellen Raum

Das Tonhalle-Orchester Zürich in der Global Concert Hall der Streaming-Plattform Idagio

 

Von Peter Hagmann

 

Eine eigentümliche Veranstaltung. Da sitzen sie im Konzertgewand, tragen Masken, sofern es die Tätigkeit zulässt, halten sichtbar Distanz, auch bei den Streichinstrumenten gibt es anders als gewohnt einzelne Pulte. Der Dirigent betritt das Podium, legte seine Maske ab und verneigt sich zusammen mit allen Musikerinnen und Musikern – vor dem leeren, ganz und gar stummen Saal. Schön ist anders, es ist mit Händen zu greifen, aber so verlangen es nun einmal die Zeitläufte. Angesichts dessen kann man nur einmal mehr festhalten: Besser so als nicht.

Natürlich ist ein Geisterkonzert kein wirkliches Konzert. Dennoch war der Auftritt, wie ihn das Tonhalle-Orchester Zürich und sein Musikdirektor Paavo Järvi jetzt in der «Global Concert Hall» der Streaming-Plattform Idagio absolviert haben, von ganz eigenem Interesse (leider und unverständlicherweise sind diese Streamings nur für kurze Zeit verfügbar). In der Simulation der Konzertsituation entstand viel von jener Spannung, die das Konzert von der Probe (und wohl ebenso von der Aufnahmesitzung) unterscheidet. Auch für den Zuschauer gab es Mehrwert. Der Blick tief ins Orchester hinein, der einem im Konzertbesuch weitestgehend verwehrt bleibt, gab zu erkennen, welche Höhe die Fokussierung bei jedem Orchestermitglied im Moment der Klangerzeugung erreicht, welches Mass an Konzentration, ja an Hingabe da gefordert ist – dies neben der technischen Zuverlässigkeit, die als selbstverständlich vorausgesetzt wird. So ist es nun einmal beim Musizieren im Orchester – bei einem Tun, das nur gelingen kann, wenn jedes der zahllosen Elemente, die es zum Ganzen fügen, sein adäquates Niveau findet. Darüber hinaus liessen die Kameras in der Tonhalle Maag aber auch manch amüsantes Detail sehen – zum Beispiel den Frackärmel über der rechten, ins Instrument eingeführten Hand, den der einmal mehr fabelhafte Solohornist Ivo Gass wohl aus spucktechnischen Gründen weit nach oben gekrempelt trug.

So waren sie denn wieder einmal allesamt auf dem Podium vereint – in voller Besetzung und guter Laune. Dazu beigetragen hat das Programm, das ausschliesslich Musik von Peter Tschaikowsky bot. Eröffnet wurde es von dem nicht eben gehaltvollen Festmarsch in D-Dur, den Tschaikowsky 1883 für die Krönungsfeierlichkeiten des Zaren Alexander III. 1883 komponiert hat. Eine Spur Ironie lag über der Wiedergabe – was freilich mehr auf die oft im Bild erscheinende Mimik Paavo Järvis als auf das klangliche Gewand zurückging. Es folgte das populäre «Capriccio italien» in A-Dur, eine 1880 in Rom entstandene Folge von Variationen über italienische Volkslieder, die das Orchester zu einem heiteren, wenn auch gleich wieder vergessenen Erlebnis machte.

Zentrum des angenehm dimensionierten, nämlich gut einstündigen Programms bildete jedoch die Sinfonie Nr. 1 in g-Moll, die in der Gesamtaufnahme der Sinfonien Tschaikowskys mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und Paavo Järvi noch aussteht (so Gott, Corona und Berset wollen, kommt sie vom 10. bis zum 12. März in der Tonhalle Maag live zur Aufführung). Vom Komponisten als Jugendsünde bezeichnet, aber ganz besonders geliebt, verfehlen die «Winterträume», so der von Tschaikowsky stammende programmatische Übertitel, ihre Wirkung nicht. In seinem Blick auf die Partitur setzt Järvi auf leichten Ton und weite, ruhige Gesten. Ausgeprägt tut er das im Kopfsatz, wo die Akzente federnd daherkommen und die Steigerungen in der Durchführung gezügelt ausgelebt werden – die zugespitzte, durch Tempowechsel unterstrichene Emotionalität, die seine Wiedergabe der Fünften kennzeichnet, ist da noch ganz fern. Besonders gelungen wirkte das Adagio des zweiten Satzes wo zwar nicht alles mit letzter Präzision geriet, die Atmosphäre aber ausserordentlich dicht war. Spritzig das ursprünglich als Klavierstück entstandene Scherzo, elegant in den kontrapunktischen Verschlingungen und kontrolliert majestätisch das Finale. Das Tonhalle-Orchester Zürich ist auferstanden. Wenigstens digital.

Im aussergewöhnlichen Normalbetrieb – das Tonhalle-Orchester Zürich mit Paavo Järvi

Mit Einfallsreichtum, Beweglichkeit und Zuversicht trotzt das Tonhalle-Orchester Zürich der schwierigen Lage. Die künstlerische Entwicklung schreitet jedenfalls kräftig voran, wie vor allem die neue CD mit der fünften Sinfonie Tschaikowskys erkennen lässt.

 

Von Peter Hagmann

 

Hervorragend konzipiert, tadellos eingerichtet sind die Schutzmassnahmen, die das Tonhalle-Orchester Zürich bei seinen Konzerten in der Tonhalle Maag walten lässt. Im Publikumsbereich gelten getrennte Wege für die beiden Seiten des Saals, Schachbrettmuster in dem nur zur Hälfte, also mit gut fünfhundert Besuchern belegten Saal, durchgehende Maskenpflicht, Verzicht auf Pause, Gastronomie und Programmheft (letzteres wird digital angeboten). Auch im Orchester wird Maske getragen, allerdings nur für Auf- und Abtritt. Dafür sind die Orchestermitglieder so weit als möglich auseinander aufgestellt; anders als vor dem Ausbruch der Pandemie steht nicht nur den Bläsern, sondern auch den Streichern je ein eigenes Notenpult zur Verfügung – ohne dass dies klanglich hörbare Folgen hätte. Dazu kommt die modernsten Ansprüchen genügende Klimaanlage, die auf voller Leistung läuft und für Verhältnisse sorgt, die jenen draussen vor der Tür gleichen sollen.

Eine neue Art Normalmodus also. Für den künstlerischen Betrieb dagegen gilt das Gegenteil, dort herrscht der reine Ausnahmezustand. Die Situation ist derart volatil, dass nur auf kurze Sicht geplant werden kann und im einzelnen Fall sehr flexibel reagiert werden muss. Für die Eröffnung der Saison 2020/21 Ende September war ein Auftritt des finnischen Pianisten und Dirigenten Olli Mustonen angesagt, eines der Residenz-Künstler dieser Spielzeit. Mustonen musste jedoch überraschend absagen, weil die Schweiz in Finnland damals soeben auf die Risikoliste gekommen war, er nach der Rückkehr aus Zürich also in Quarantäne hätte gehen müssen, was er nicht konnte. Dank dem Netzwerk von Marc Barwisch, dem Leiter des Betriebsbüros beim Tonhalle-Orchester, wurde rasch Ersatz gefunden – mit Lars Vogt prominenter Ersatz. Die Idee, das kaum je gespielte Violinkonzert Ludwig van Beethovens in des Komponisten eigener Transposition zum Klavierkonzert zu präsentieren, fiel jedoch dahin.

Die Umstände sind somit alles andere als einfach. Dennoch, das Tonhalle-Orchester Zürich hält die Fahne der Kunst hoch – mit Energie, mit Erfolg. Paavo Järvi ist in diesen schwierigen Tagen kontinuierlich präsent, in kurzen Folgen erarbeitet der inzwischen in seine zweite Saison eingetretene Chefdirigent und Musikdirektor mit dem Orchester neue Programme, die Konzerte werden durchgängig mehrfach geführt und sind ausgezeichnet verkauft – vor allem: Das Gastspiel im LAC in Lugano vor wenigen Tagen hat stattgefunden und die wichtige Reise in den Wiener Musikverein Mitte November ist derzeit noch nicht abgesagt. Dazu kommt eine ganze Reihe kleinerer Veranstaltungen, so sie denn möglich sind – das Team rund um die Intendantin Ilona Schmiel und die Orchestermitglieder sind da voll involviert. Mutig und beweglich wird agiert – und es ist möglich.

So wird denn trotz der aussergewöhnlichen Lage immer deutlicher, auf welches Profil Paavo Järvi hinarbeitet. Im Vordergrund steht ohne Zweifel «The Joy of Music», um einen berühmt gewordenen Buchtitel Leonard Bernsteins zu zitieren. Die Spielfreude, die das Tonhalle-Orchester zeigt, ist klar zu sehen und deutlich zu hören. Wobei nicht jeder für sich selbst loströtet, wie es vor einigen Jahren noch der Fall war; oberstes Ziel ist vielmehr die Lebendigkeit des Einzelnen im Ganzen der Gemeinschaft. Dabei hält das Engagement auch an, wenn schwierigere Stücke auf dem Programm stehen: letzte Saison die Werke von Erkki-Sven Tüür, diese Spielzeit die Musik von Arvo Pärt, beide Inhaber des Creative Chair. Im jüngsten Programm des Orchesters gab es zur Eröffnung von Pärt das Stück «Trisagion» für Streicher. Die Partitur – Übersetzung eines Gebets der orthodoxen Kirche in Musik – arbeitet mit streng limitiertem Material, das nach der Art des Gebetstextes strukturiert wird. Im Ergebnis, im Drehen um eine kleine Terz, führte das zu einer lange wirkenden Viertelstunde, da half auch die aktive und hochstehende Teilhabe des Orchesters nicht.

Aufschlussreicher fielen in den letzten Wochen zwei Begegnungen mit dem klassischen Repertoire aus. Mit seiner ungestümen Auslegung von Beethovens siebter Sinfonie, A-dur, zeigte Paavo Järvi an, dass er auch bei diesem zentralen Komponisten der Ära mit David Zinman eine Seite weiter blättert (gespannt sein kann man auf den für April nächsten Jahres vorgesehenen Abend, an dem Zinman mit Beethovens Fünfter zum Tonhalle-Orchester zurückkehrt). Während Zinman auf den Pfaden des fein ziselierten, durchhörbaren, dem Heroischen abgewandten Beethoven-Tons wandelte, wie ihn Frans Brüggen mit seinem Amsterdamer Orchester entwickelt und wie ihn Giovanni Antonini mit dem Kammerorchester Basel weitergeführt hat, neigt Järvi zu heftiger, bisweilen geradezu vor Energie berstender Kontur – was schon seine Gesamtaufnahme der Sinfonien Beethovens mit der Kammerphilharmonie Bremen zu erkennen gegeben hat. Die sprühende Vitalität und das mitreissende Temperament in Ehren, gerade bei Beethovens Siebter, aber wirkt dieses von geballter Eruption geprägte Beethoven-Bild in seinem Ansatz nicht doch merklich retrospektiv? Oder gar restaurativ?

Nicht dass die historisch informierte Aufführungspraxis alleinseligmachende Wege aufgetan hätte. Gleichwohl hat sie Prämissen geschaffen, an denen bei der Interpretation von Musik aus der Epoche der Klassik kein Dirigent, kein Orchester vorbei kann. Darüber sinnieren konnte man nach der Aufführung von Wolfgang Amadeus Mozarts Sinfonie in Es-dur, KV 543. Auch hier herrschte beim Tonhalle-Orchester Zürich ein frischer, unkompliziert lustvoller Ton – wobei nicht zu überhören war, mit welch wacher Sorgfalt Paavo Järvi das Geschehen steuerte. Aber ist die grosse sinfonische Besetzung mit so kompaktem Klang für das Schaffen Mozarts wirklich das Geeignete? Bleiben die Holzbläser nicht hinter den Streichern zurück, wie es vor fünfzig Jahren der Fall war? Und muss es wirklich durchgängiges Vibrato sein? Sollte in dieser Sinfonie die Musik nicht zum Sprechen finden statt sich, wie es in der langsamen Einleitung zum Kopfsatz geschah, in ebenmässiger Gleichförmigkeit zu verlieren? Fragen über Fragen; sie drängen sich auf. Es darf freilich auch festgehalten werden, dass der Zwei-Viertel-Takt des zweiten Satzes zu trefflichem Fluss fand. Und dass das Trio zum Scherzo von wunderbarer Kantabilität der Klarinetten lebte.

Vor einem ganz anderen Bild steht, wer sich der ersten Ausgabe der angekündigten Gesamtaufnahme der Sinfonien Peter Tschaikowskys zuwendet. Sie gilt der Fünften, jener in e-moll. Da ist Paavo Järvi ganz bei sich, da entwickelt er anregende Perspektiven. Die Tschaikowsky-Interpretation, sagt er, sei bis heute durch die Auffassungen und das Klangbild Jewegeny Mrawinskys beeinflusst, des legendären, langjährigen Chefdirigenten der St. Petersburger Philharmoniker: ja nicht zu viel Emotion, möglichst gerade im Schlag, streng im Ton, herb im Klang. Wie sich Järvi – der damit freilich nicht der Erste ist, wenn man etwa an Mariss Jansons denkt – von solchen Hörerwartungen distanziert, ist in hohem Mass eindrücklich. Furchtlos setzt er auf die emotionalen Dimensionen der Musik Tschaikowskys. So arbeitet er dezidiert und nuanciert mit dem Zeitmass, versieht er Verläufe, Phrasen, Gesten mit individuellen Tempi. Damit einher geht eine geschmeidige, sehr charakteristische Farbgebung, die vom Orchester in grossartiger Intensität ausgeformt wird und von der Tontechnik hervorragend eingefangen ist.

Und die Lautstärke? Als Paavo Järvi im Herbst 2019 mit seinem Zürcher Tschaikowsky-Zyklus begann, er tat es mit den Sinfonien Nr. 4 und 6, kam es im Publikum wie im Orchester zu Klagen über allzu hochgetriebene Dynamik – Klagen, die mir nur zu berechtigt erschienen (vgl. Mittwochs um zwölf vom 31.10.19). In einer Aufnahme kann das natürlich alles zum Besten ausbalanciert werden; die Einspielung von Tschaikowskys Fünfter, der die Tondichtung «Francesca da Rimini» zugefügt ist, lässt denn auch im Dynamischen keinen Wunsch offen. Mit äusserster Sorgfalt ist da alles ausgestaltet, man hört es, weil das Orchester sozusagen von innen heraus aufgenommen ist und die Spitzen der Lautstärke, die Järvi wohl um der instrumentalen Farben willen verlangt, ins Klangganze eingebettet sind. So findet der Kopfsatz nach der gehauchten langsamen Einleitung zu einer Erzählung aus einem einzigen Guss, erzeugt das Andante tiefe Berührung, ohne in Kitsch abzugleiten, kann man im Walzer des dritten Satzes die Vorteile der alten deutschen Orchesteraufstellung mit den beiden Geigengruppen links und rechts vom Dirigenten entdecken, während das Finale mit der ganzen Schönheit des dunklen, warmen Tutti-Klangs prunkt. Das Tonhalle-Orchester Zürich kommt hier zu einem blendenden Auftritt.

Peter Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 5, Francesca da Rimini. Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi (Leitung). Alpha 659 (CD, Aufnahmen 2019/20, Publikation 2020). In der Schweiz sind die Aufnahmen bereits erhältlich, international und im Streaming erscheinen sie ab 6. November.

Eine Sternstunde für die Orgel im Konzertsaal

Von Peter Hagmann

 

Goldene Zeiten waren das – als Eduard Müller, der legendäre Hauptlehrer für Orgel an der Basler Musikhochschule, die damals noch «Konservatorium» hiess, im Münster zu Basel einen seiner Orgelabende gab. Dicht gedrängt sassen die Menschen, auch auf den Emporen; viele Junge hatten Stehplätze und lehnten sich rundherum an die Säulen. Die zahlreichen Schüler Müllers, die in Basel wirkten, nahmen die Tradition auf. An den verschiedenen Kirchen mit ihren oft wertvollen Instrumenten gab es Reihen von Orgelkonzerten, die spezifische Profile aufwiesen. Dazu kamen grosse Zyklen mit den Orgelwerken Johann Sebastian Bachs und Max Regers. Nach und nach schwand jedoch das Publikum, der Faden der Tradition wurde dünner, zum Riss kam es aber nicht. 2003 gab es nochmals Bewegung, als das Basler Münster eine neue Orgel erhielt, ein Instrument aus dem Glarner Hause Mathis.

Inzwischen scheinen Orgelmusik und Orgelspiel in Basel in einer besonderen Weise neues Leben zu erhalten. Grund dafür ist der von dem Büro Herzog & de Meuron konzipierte und durchgeführte Umbau des Musiksaals im Stadtcasino Basel (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 02.09.20). Im Rahmen dieser spektakulären Aktion erhielt der Saal eine neue Orgel – wie es auch in der Tonhalle Zürich geschehen wird. Ursprünglich wies der 1876 eröffnete Musiksaal des Architekten Johann Jakob Stehlin kein solches Instrument auf, erst bei seiner Neueinrichtung im Jahre 1905 erhielt der Saal eine Orgel. Bis 1945 wurde sie gespielt, dann verfiel sie zusehends. Nach Jahrzehnten des Klagens über den bedauerlichen Zustand des Instruments und die damit verbundenen künstlerischen Einschränkungen erhielt der Musiksaal 1971 eine neue Orgel; bezahlt wurde das von der Firma Orgelbau Genf erstellte Instrument von dem Mäzen und Dirigenten Paul Sacher.

Ursprünglich war im Sanierungsprojekt nur eine Revision dieses Instruments vorgesehen. Auf die Initiative einer privaten Gruppierung hin beschloss die Basler Casino-Gesellschaft als Bauherrin jedoch, den Raum mit einer neuen Orgel zu versehen. Die Mittel dafür, immerhin 2,5 Millionen Franken, wurden von privater Seite zusammengetragen. Jetzt steht sie, jetzt klingt sie, die neue Orgel aus dem Hause Metzler in Dietikon bei Zürich. 56 Register auf drei Manualen und Pedal sind im ursprünglichen, restaurierten Gehäuse von 1905 untergebracht – eine Forderung des Denkmalschutzes. Für die besonders grossen Pfeifen der tiefen Bassregister wurde zusätzlicher, nicht sichtbarer Raum hinter dem Gehäuse geschaffen.

Bedient wird das Instrument mit elektrischer Traktur an einem mobilen Spieltisch auf dem Orchesterpodium; versehen mit den neusten digitalen Segnungen, lässt er zum Beispiel die Registrierungen für einen ganzen Abend, nein: für mehrere ganze Abende voreinstellen, abspeichern und per Knopfdruck abrufen. Zusätzlich zum mobilen gibt es einen seitlich fest angebauten, mit mechanischer Traktur arbeitenden Spieltisch, der zudem auf einem vierten Manual das von Metzler propagierte Prinzip der «winddynamischen Orgel» verwirklichen lässt. Hierbei können alle Parameter, die das Entstehen des Orgeltons beeinflussen, in letzter Flexibilität beeinflusst werden. Darauf ist die Firma Metzler ebenso stolz wie auf die Tatsache, dass für den Bau des Instruments, insbesondere für die verwendeten Materialien, höchste ökologische und ethische Anforderungen galten.

Die Disposition vereinigt die klassische, an barocken Idealen orientierte Orgel des 20. Jahrhunderts, wie sie das auf 16 Fuss basierende Hauptwerk zeigt, mit Elementen der französischen Spätromantik im Geiste Aristide Cavaillé-Colls, repräsentiert durch das ebenfalls von 16 Fuss ausgehende Récit, und mit Farben der englischen Orgelkultur, dies auf einem Schwellwerk mit 8-Fuss-Grundlage. Das Pedal wiederum geht von zwei 32-Fuss-Registern aus und dient auf diesem gewaltigen Fundament allen drei Stilrichtungen. Klug durchdacht und schön ausgeformt ist das – und so war die Spannung beträchtlich, als das neue Instrument zum Ende eines zweiwöchigen Orgelfestivals seinen Auftritt an der Seite des Kammerorchesters Basel hatte. Und das im Rahmen eines Konzerts, das von der Länge her der üblichen Dimension entsprach, auch eine Pause enthielt, aber mit Maske und unter Einhaltung von Abstandsregeln zu besuchen war.

Das Programm galt der französischen Klanglichkeit. Es hob mit dem Zyklus «Ma mère l’Oye» von Maurice Ravel an und führte zu «Cyprès et lauriers», einem vollkommen unbekannten Stück für Orgel und grosses Orchester, mit dem Camille Saint-Saëns das Ende des Ersten Weltkriegs besang – es wurde in einer von Eberhard Klotz eingerichteten Fassung für Orgel und Kammerorchester geboten. Als Martin Sander als Solist die neue Orgel aufrauschen liess, war die klangliche Signatur des Hauses Metzler – einer Firma, die sich um die Wiederbelebung der Barockorgel besonders verdient gemacht hat – auf Anhieb zu erkennen. Nur hatte, was da in den Raum trat, mit den Klangidealen von Saint-Saëns, der während zweier Jahrzehnte an der Cavaillé-Coll Orgel der Pariser Madeleine wirkte, nicht sehr viel zu tun. Zu direkt, ja etwas trocken klang es, im majestätischen Tutti auch sehr kompakt, ausserdem geprägt durch kräftig zeichnende Mixturen. Die exzellente Akustik im Musiksaal des Basler Stadtcasinos trug es mit, brachte es zur Geltung – aber am Ende blieb doch ein Fragezeichen.

Nicht für lange freilich, denn nach Albert Roussels Concert pour petit orchestre und der «Pastorale d’été» von Arthur Honegger nahm Olivier Latry am Spieltisch Platz. Titulaire der grossen Orgel in Notre-Dame de Paris – das Instrument hat die Feuersbrunst des letzten Jahres fast unbeschadet überstanden, kann derzeit aber nicht benützt werden –, kennt sich Latry in den Gefilden der französischen Klanglichkeit wie kein Zweiter aus. Im frech-fröhlichen Orgelkonzert von Francis Poulenc liess er erkennen, was die Basler Metzler-Orgel auch kann. Es ist nicht wenig. Das Summen gehört dazu, das Näseln, das Schweben, aber auch das stolz, füllige, grundtönig eingekleidete Fortissimo. In einer ganz selbstverständlich wirkenden Virtuosität (und dank der digitalen Steuerungsmöglichkeiten) brachte er das Instrument zum Atmen, baute er geschmeidige Steigerungen auf und liess sie wieder in sich zusammenfallen, erzeugte er schimmernde Farbwirkungen. Ein Vergnügen erster Güte war das – aber es kam noch besser, in der Zugabe nämlich, in der Toccata aus Léon Boëllmanns «Suite gothique», einem Renner aus der Literatur der französischen Spätromantik, den Latry mit einem Drive sondergleichen durchzog. Die neue Orgel im Basler Musiksaal ist eine grossartige Maschine. Am Ende kommt es aber doch auf den Menschen an, der sie bedient.

Ein fantastischer Auftritt des so sehr mit der Kirche verbundenen Instruments im weltlichen Ambiente des Konzertsaals. Allein, das Kammerorchester Basel spielte dabei durchaus prominent mit, besonders fulminant in Poulencs g-Moll-Konzert. Die drei reinen Orchesterstücke liessen ein wenig die Fülle des gross besetzten Streicherapparats vermissen, lebten dafür, ein Verdienst des Dirigenten Pierre Bleuse, von klarer Zeichnung und subtiler Koloristik. Auffällig dabei war, dass der lange Nachhall, der bei dem wenige Wochen zurückliegenden Konzert des Sinfonieorchesters Basel und seines Chefdirigenten Ivor Bolton so stark in Erscheinung getreten war, in keiner Weise auffiel. Er war ganz einfach: genau richtig.

Altes Haus in neuem Glanz – der Musiksaal im Stadtcasino Basel nach umfassender Sanierung

Von Peter Hagmann

 

Aussenansicht des Anbaus| © Stadtcasino Basel | Fotografie: © Roman Weyeneth

Von aussen sieht es aus, als hätte es immer so ausgesehen. Der Anbau, den der Musiksaal im Stadtcasino Basel von den beiden Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron erhalten hat, wird nicht durch eine eigene, seiner Entstehungszeit verbundenen Formensprache geprägt, er nimmt vielmehr auf, was Johann Jakob Stehlin d. J. für die leider partiell zerstörte Basler Kulturmeile mit der Kunsthalle (1872), dem 1975 gesprengten Stadttheater von 1875, dem ein Jahr später eröffneten Musiksaal und der Skulpturenhalle (1887) entwickelt hat. Wer genauer hinschaut, wird jedoch kleine Unterschiede bemerken. Die Fassade des perfekt ins gegebene Gebäude eingefügten Anbaus verkleidet eine Konstruktion in Stahlbeton und ist in Holz ausgeführt, allerdings in derselben Farbe wie der Hauptbau gehalten. Einzig feine Lineaturen in den heraustretenden Quadern lassen erkennen, dass es doch kleine Unterschiede zwischen Alt und Neu gibt.

Auch grössere Unterschiede gibt es. Der Umbau und die Renovation des Basler Musiksaals haben dazu geführt, dass das Gebäude heute freisteht und ganz anders wahrgenommen werden kann. Zwischen dem vorderen Teil, dem der Gastronomie gewidmeten Stadtcasino, und dem Musiksaal gab es bis zum Beginn der Bauarbeiten 2016 einen Verbindungstrakt, der als Eingang und als Foyer genutzt wurde; er wurde errichtet, als 1939 das alte Stadtcasino abgerissen und durch einen bis heute nicht unumstrittenen Neubau ersetzt wurde. Im Bemühen, den Musiksaal auf jenen Zustand zurückzuführen, den er 1905 nach der Erweiterung durch den kleinen, der Kammermusik zugedachten Hans Huber-Saal  erreicht hatte, wurde die durch den Verbindungstrakt geschlossene Gasse wieder geöffnet – was auch als eine sehr plausible, ja beglückende städtebauliche Massnahme erscheint.

 

Das Foyer zum Balkon | © Stadtcasino Basel | Fotografie: © Roman Weyeneth

So betritt man den Musiksaal heute nicht mehr vom Steinenberg, sondern vom Barfüsserplatz her, und zwar durch zwei Eingänge an den beiden Ecken des neuen Foyers von Herzog & de Meuron. Schon die Türen und die Griffe lassen aufmerken; sie sind dergestalt den Originalen nachgebildet, wie im Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis Instrumente aus alter Zeit originalgetreu nachgebaut werden. Ist man erst einmal im Foyer drinnen, kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Mit letzter Liebe zum Detail sind hier Räumlichkeiten geschaffen worden, die mit der alten Bausubstanz spielen, sie aufnehmen und sie in die Gegenwart weiterführen. Die Tischlein und Tresen, auch die Geländer, die sich hier finden, zeichnen sich durch fein gedrechselte Holzarbeit aus; die Vorlage dafür haben die Architekten in einer nicht ausgeführten Skizze Stehlins gefunden.

Dies Foyer ist kein Foyer wie alle anderen. Man kann sich hier zugleich drinnen wie draussen fühlen: auf der einen Seite die Fenster auf den Barfüsserplatz, auf der anderen die ursprüngliche Aussenwand des Musiksaals. Und es ist ein Ort, an dem sich die Gemeinschaftlichkeit des Konzerts konkretisiert. Sehen und gesehen werden – das kann hier ungeniert geschehen, während dann drinnen im Saal das Hören dominiert. Als Bühne gibt sich dieses Foyer, und es tut es nicht ohne Basler Ironie. Die Wände sind mit Stofftapeten verkleidet, wie sie die noch existierende Firma Prelle in Lyon 1875 für die Opéra Garnier in Paris gewoben und jetzt wieder hergestellt hat. Das Parkett ist von Herzog & de Meuron selber entworfen; mit seinen Rhomben nimmt es Motive der Wandverkleidung auf. Luxuriös verspielt auch die ebenfalls von den Architekten entwickelten Leuchten.

Im Treppenhaus | © Stadtcasino Basel | Fotografie: © Roman Weyeneth

Der grosse Leuchtkörper in der Mitte des Raums dagegen ist eine Kopie der vier Luster im Musiksaal. Er reicht durch eine geschwungene Öffnung über die beiden Stockwerke, die das Parkett und den Balkon des Saals erschliessen; auf kleinem Raum lässt er die grosse Geste aufleben, die sich an vielen Bauten von Herzog & de Meuron beobachten lässt. Überhaupt stellt das neue Foyer das reine Gegenteil des alten dar. Es fehlt nicht an Platz, nicht für die im Untergeschoss angeordneten Garderoben, nicht für die Toiletten, nicht für die beiden Wendeltreppenhäuser und die hochmodern wirkenden, mit spiegelndem poliertem Chromstahl verkleideten Lifte. Grosszügigkeit schafft auch die Tatsache, dass die beiden Ebenen des Foyers durchlässig gestaltet sind; man kann von oben nach unten wie von unten nach oben blicken. Und immer wieder stösst man auf eine Nische mit einer Sitzbank – alles in opernhaftem Rot. Schon macht denn auch das Bonmot die Runde, das Foyer gehöre eigentlich zu einem Edelbordell.

 

Der Musiksaal | © Stadtcasino Basel | Fotografie: © Roman Weyeneth

Nun geht es aber nicht zu den Damen, sondern zu den Klängen. Beide Säle sind aufgefrischt und auf den Stand gebracht – wobei der Akzent ganz klar auf dem Musiksaal liegt. Auch hier sieht alles aus wie gehabt – oder fast alles. Die bunt belebte Farbgebung entspricht dem Zustand von 1905, wie er in der Grundanlage schon bei der letzten Renovation ab 1987 hergestellt worden ist. Dass es eine neue Orgel gibt, von privater Seite initiiert und finanziert, ist auch nicht zu sehen, der Prospekt blieb nämlich unangetastet. Aber sonst fallen doch merkliche Veränderungen auf. Die grossen, 1964 gegen den Verkehrslärm zugemauerten Fenster sind wieder geöffnet worden und lassen das Tageslicht in den Saal fliessen. Nicht aber die Umgebungsgeräusche; so wie die Strassenbahnen vor dem Musiksaal auf abgefederten Geleisen rollen, so schirmen die eigens gefertigten, mit extrem dickem Glas versehenen Doppelfenster den Saal nach aussen ab. Neu ist die Bestuhlung – es ist die alte, die originale, die nachgebaut, auf die Bedürfnisse der Akustik angepasst und bequem ausgeformt wurde. Nicht original, vielmehr auf dem heutigen Stand der Technik dagegen die Belüftung, die vollkommen geräuschlos für angenehmes Raumklima sorgt – womit ein uraltes Desiderat Erfüllung gefunden hat. Frischluft kommt aus dem Boden, Abluft entweicht aus dem wiederhergestellten Oberlicht.

Das Problem der Saalbelüftung war so lange liegengeblieben, weil eine Beschädigung der als höchststehend geschätzten Akustik befürchtet wurde. Nun hat der Saal (und mit ihm der Hinterbühnenbereich) eine derart tiefgreifende Auffrischung erfahren, dass um dieses Gut erst recht gebangt werden musste. Darum war von Anfang an die Münchner Firma Müller-BBM mit dem bekannten Akustiker Karlheinz Müller mit im Boot. Jede Entscheidung wurde im Dialog zwischen der Bauherrschaft, den Architekten, der Denkmalpflege und dem Akustiker getroffen. Denn alle Massnahmen – Oberlicht,   Fenster, Absenkung der Neigung auf dem Balkon, ein neuer, schwebender Fussboden, das neue Podium, der Anbau des Foyers, nicht zuletzt die Erweiterung der Unterkellerung – betrafen das akustische Gesicht des Saals. Dieses Erbe galt es um jeden Preis zu bewahren. Die Ambition ging aber noch weiter, die Akustik sollte, wie es Karlheinz Müller ausdrückt, «aufgefrischt» werden. Nichts verändert wurde am vergleichsweise grosszügigen Nachhall von gemessenen zwei Sekunden. Leicht modifiziert wurde dagegen die Balance, indem der Nachhall im Bereich der hohen Töne etwas verlängert wurde, was den Klang aufhellen sollte.

Der Musiksaal mit Balkon | © Stadtcasino Basel | Fotografie: © Roman Weyeneth

Der Eingriff ist gelungen – soweit sich das nach einem ersten Auftritt des Sinfonieorchesters Basel mit seinem Chefdirigenten Ivor Bolton, einem Extrakonzert für sein erneut gewachsenes Stammpublikum, zu beurteilen ist. Gewiss ist die hörende Wahrnehmung stets und in hohem Masse subjektiv bestimmt. Und natürlich müssen sich die Musikerinnen und Musiker wie ihr Dirigent erst an die neue geformte Akustik gewöhnen, sich in sie hineinleben, das liessen einige Schärfen der Blechbläser im Fortissimo erahnen. Für die Zuhörer gilt das Nämliche, zumal für jene unter ihnen, die sich an die Akustik vor dem Umbau erinnern. Aber insgesamt lässt sich festhalten, dass der Saal nicht nur optisch grossartig wirkt, sondern dass er auch ungebrochen herrlich klingt – das Sinfonieorchester Basel konnte sich jedenfalls von brillantester Seite zeigen. Vielleicht herrscht etwas weniger Wärme als ehedem, dafür gibt es jetzt strahlende Helligkeit. Dank dem üppigen Nachhall stellt sich blendende Opulenz ein, die Farben vermischen sich wunderbar, treten aber auch in ihren spezifischen Eigenheiten heraus. Seidenweich klingen die hohen Streicher, die tiefen Register sorgen für ein solides Fundament, während die Holzbläser ihre hochstehenden Qualitäten in besonders helles Licht rücken können. Gespannt sein kann man auch auf die Orgel der Firma Metzler, Dietikon; die Aufführung des Requiems von Gabriel Fauré im kommenden Juni dürfte hier die Nagelprobe liefern.

Ein besonderer Moment, dieses erste Konzert des Residenzorchesters nach der offiziellen Eröffnung. Zu Beginn gab es im dafür verdunkelten Saal eine «Einkreisung» durch acht im Saal verteilte Alphörner, ein neues Stück von Helena Winkelman, die für die Saison 2020/21 als «composer in residence» eingeladen ist. Nicht fehlen durfte darauf «Die Weihe des Hauses» Ludwig van Beethovens; die Tuttischläge der ersten Takte liessen gleich den fulminanten Nachhall hören. Danach ein Auszug aus den «Gymnopédies» Erik Saties in der feingliedrigen Orchestrierung von Claude Debussy und «Morgen» aus den Vier Liedern op. 27 von Richard Strauss mit der Sopranistin Christina Landshamer, welche die Spielzeit als «Artist in Residence» begleitet. Schliesslich eine Konzertarie von Felix Mendelssohn Bartholdy mit Christina Landshamer und dem Konzertmeister Axel Schacher – bevor man dann mit obrigkeitlicher Bewilligung in die Pause entlassen wurde, das Foyer bewundern oder auf dem Barfüsserplatz die Maske ablegen konnte. Der zweite Teil des Abends galt Antonín Dvořáks Sinfonie Nr. 9, die Ivor Bolton etwas hemdsärmlig anfasste.

Eine lange Geschichte hat ein glückliches Ende gefunden. Ein aufschlussreiches, reich bebildertes Buch von Esther Keller und Sigfried Schibli, dem langjährigen ehemaligen Musikredaktor der «Basler Zeitung», lässt das Werden des Basler Konzerthauses und die verschlungenen Wege hin zu seiner Instandstellung nachvollziehen. Seinen Anfang nahm der jüngste Prozess 2004 mit jenem Architekturwettbewerb, den Zaha Hadid mit einem Entwurf gewann, der in einer Volksabstimmung von 2007 jedoch abgelehnt wurde. Ein weiteres Projekt scheiterte 2010 am Widerstand des Basler Regierungsrates. Schliesslich beauftragte die Basler Casino-Gesellschaft das Büro Herzog & de Meuron mit einer Studie zur Erkundung des Potentials; diese Arbeit führte zu dem jetzt realisierten Umbau. Vier Jahre dauerten die Bauarbeiten, ein Jahr länger als geplant, unter anderem darum, weil die Archäologie tätig zu werden gewünscht hatte und die alten Pläne nicht der gebauten Realität entsprachen. Ganz im Plan blieben dagegen die Kosten von 78 Millionen Franken, von denen 49 Prozent durch die öffentliche Hand übernommen, der Rest dagegen von privater Seite gedeckt wurde. Wer bedenkt, dass neben Basel auch Bern, auch Zürich, auch Luzern und Genf für die Musik als Kunst gebaut haben oder noch bauen, kann den Zweiflern an der Zukunft des Konzerts mit geradem Rücken entgegentreten.

Esther Keller, Sigfried Schibli: Stadtcasino Basel. Gesellschaft, Musik, Kultur. Friedrich Reinhard-Verlag, Basel 2020. 269 S., Fr. 44.80.

Vor einem Neustart

Ein fulminanter Abend beim Collegium Novum Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

An der zunehmenden Segregation im Bereich jener Musik, die sich als Kunst versteht, der sogenannten E-Musik, scheint sich nichts zu ändern lassen. Die alte Musik, jene vor Mozart, hat sich längst ihr eigenes Feld geschaffen: mit einer Vielzahl an spezialisierten Ensembles, Festivals, Labels und Informationsmedien – und dort herrscht sprühendes Leben auf hohem Niveau. Für die neue Musik, jene des 20. Und des 21. Jahrhunderts, gilt Ähnliches; auch in diesem Bereich gibt es hochspezialisierte, für ihre Kunst berühmte Interpreten und Formationen, die unentwegt neue Stücke aus der Taufe heben, gibt es Aufnahmen solcher Stücke und Reflexionen dazu – und wer glaubt, das geschehe abseits und auf kleiner Flamme, sei an Veranstaltungen wie die Donaueschinger Musiktage, die Musica in Strassburg oder an Wien Modern erinnert.

Getrennt sind dabei die bloss Märkte, weniger die Musikerinnen und Musiker. Die interessantesten unter ihnen betätigen sich in allen Bereichen; mit ihrem schlanken, äusserst beweglichen Sopran bewährt sich zum Beispiel Anna Prohaska genauso gut bei Purcell wie bei Nono – oder aber bei Mozart. Die Zuhörer teilen sich da strenger. In Zürich etwa spricht das Tonhalle-Orchester das grosse Publikum für das klassisch-romantische Repertoire an. Wobei dort der Radius klar definiert ist: Sobald etwas von ausserhalb ins Angebot dringt, vielleicht ein Stück von Ravel oder gar Messiaen, regen sich Ablehnung und Widerstand. Vorklassische Musik findet in Zürich seinen Ort in der kleinen, allerdings äusserst lebendig erfüllten Nische des Forums für alte Musik, das zwei Mal pro Saison mit einem gut einwöchigen Festival von sich reden macht. Und für die neue, eigentlich: für die neuste Musik engagieren sich eine ganze Reihe von Formationen grösserer wie kleinerer Art, unter denen das Collegium Novum Zürich die prominenteste ist.

Vom Künstlerischen her ist die Aufteilung in Marktsegmente, so sehr sie zu verstehen ist, absolut zu bedauern, bildet die Musik als Kunst doch eine Einheit von den Meistern der Notre-Dame Schule aus dem 12. Jahrhunderts bis zu den neusten Kompositionen dieser Tage. Deshalb kommt den Aktivitäten in den Nischen eine wichtige Funktion zu – gerade im Fall der neuen Musik, die sich in besonderem Mass ausgegrenzt sieht. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert setzt sich das Collegium Novum Zürich für sie ein: mit kontinuierlichem Engagement und mit Resonanz bei einem vielleicht kleinen, aber ausgesprochen treuen Stammpublikum. Als Weiterführung des von Paul Sacher geprägten Collegium Musicum Zürich 1993 eingerichtet, verkörpert es den Gedanken des mobilen, aus Solisten zusammengesetzten Ensembles, wie er im späten 20. Jahrhundert durch Pierre Boulez und sein Ensemble Intercontemporain in die Welt gesetzt wurde.

Was das heisst: Solistenensemble – beim jüngsten Konzert des Collegium Novum war es mit Händen zu greifen. Der Anlass selbst war entspannt. Corona blieb ausgesperrt, Risikogrenzen standen nicht zur Diskussion. Man konnte sich ein wenig zu Hause fühlen: in der Familie rund um das Zürcher Ensemble, aber auch fast in der Atmosphäre des Abonnementskonzerts, denn nach einer Ouvertüre mit vier neuen Werken für Trompete und Posaune aus dem Kompositionswerkshop, den das Collegium Novum zusammen mit der Zürcher Hochschule der Künste anbietet, gab es ein Solokonzert und danach ein gewichtiges Instrumentalstück – so weit ausgreifend, als wäre es die Achte Bruckners. Das entspricht dem dramaturgischen Ansatz, den Jens Schubbe verfolgt hat, der künstlerische Leiter des Collegium Novum Zürich bis Ende letzter Saison und demzufolge noch verantwortlich für die die laufende Spielzeit. Nicht dem Neusten vom Neuen nachzuhecheln, sondern das Schaffen der Gegenwart in seiner ganzen Breite zu zeigen, in seiner stilistischen Vielfalt und seiner Geschichte – das war sein Ausgangspunkt.

Schubbes Überzeugung weist den richtigen Weg. Ganz allgemein, denn in der neuen Musik herrscht eine Fokussierung auf die Uraufführung, welche die Pflege des Bodens, auf dem neuen Werke gedeihen, sträflich vernachlässigt. Und im Besonderen gilt es für die Musikstadt Zürich, wo der Holzboden für alles, was nicht zwischen Beethoven und Brahms liegt, vernehmlich knarrt. Darum war ein Abend wie jetzt eben beim Collegium Novum so fruchtbar. Er brachte nach der Ouvertüre im Foyer «Le Ruisseau sur l’escalier» von Franco Donatoni (1927-2000), ein Konzert für Violoncello und 19 Instrumentalisten aus dem Jahre 1980. Ein vielschichtiger, bisweilen wild bewegter Dialog entwickelt sich da zwischen dem Soloinstrument, das nach allen Seiten Kontakt aufnimmt, sich aber auch durchaus solistisch in Szene setzt, und dem Ensemble, das die Bälle spielerisch aufnimmt und sie seinerseits für solistische Zwischenspiele nutzt. Mit ihrer Erfahrung und ihrer unaufdringlichen Virtuosität, mit ihrem sinnlich warmen Ton und ihrem zugreifenden Temperament war die Cellistin Martina Schucan, Gründungsmitglied des Collegium Novum, hier die berufene Protagonistin.

Das Ensemble wiederum, an diesem Abend von keinem Geringeren als Emilio Pomárico geleitet, erwies einmal mehr, dass es den internationalen Vergleich keineswegs zu scheuen braucht. Erst recht galt das für die Präsentation von Wolfgang Rihms «Jagden und Formen», einem knapp einstündigen, unerhört komplexen Werk für ein grosses Solistenensemble. Rasche, komplexe Bewegungen verschlingen sich in dieser Partitur nach immer wieder neuen Richtungen hin, Kraftfelder von hoher motorischer Energie und expliziter farblicher Wirkung dringen auf das Ohr – und kommt es, zwischendurch und ganz selten, zu Inseln der Beruhigung, so wirkt das geradezu überraschend. In einer ersten Version 1995 entstanden und seither, ganz à la Boulez, weiterentwickelt bis zu einem «Zustand 2008», entfaltet das Stück einen unglaublichen Sog, zumal sich das Ensemble mit einer Energie sondergleichen in das Unterfangen stürzte und der Dirigent das Geschehen unerbittlich vorantrieb. Am Ende des Abends in der Tonhalle Maag verbanden sich Erschöpfung und Begeisterung.

Inzwischen zeichnen sich Veränderungen ab. Die Nachfolge von Jens Schubbe, der nach zehn Jahren in der künstlerischen Leitung des Collegium Novum Zürich nach Dresden in die dortige Philharmonie weitergezogen ist, hat der Kulturmanager Johannes Knapp übernommen, der das Ensemble zusammen mit dem bisherigen Geschäftsführer Alexander Kraus leiten wird. Mit Jahrgang 1990 noch sehr jung, energiegeladen, hellwach, kommunikationsfreudig, soll Knapp neue Horizonte bilden, nicht zuletzt in Pflege und Erweiterung des Publikums – man darf gespannt sein. Und dies umso mehr, als die Lage nicht eben einfach ist. Auf die kommende Saison hin muss ein neuer Subventionsvertrag ausgearbeitet werden, der die bisherige Unterstützung in der Höhe von 480’000 Franken pro Jahr weiterführt. Das ist zentral, denn die Abhängigkeit des Ensembles von Sponsoren und Gönnern ist, wie sich in der Vorbereitung der laufenden Saison erwies, voller Risiken.

Dazu droht neues Ungemach mit der Wiedereröffnung der Tonhalle am See. Für die Benützung des von den Renovationsarbeiten nicht berührten Kleinen Saals, so ist zu vernehmen, verlange die Kongresshaus-Stiftung Zürich als Eigentümerin von Kongresshaus und Tonhalle eine deutlich erhöhte Miete, die sich das Ensemble nicht leisten könne. Ausserdem sei der Saal des zu kleinen Podiums wegen für Abende, wie sie das Collegium Novum anbietet, nur bedingt geeignet. Alternativen seien nicht in Sicht, da tue sich ein echtes Problem auf. Allein, warum sagt es niemand? Die räumliche Struktur für Projekte aus dem Bereich der neuen Musik liegt vor der Tür, in Zürich-West. Es ist die Tonhalle Maag, die nicht abgerissen, sondern auf der Höhe der fussfreien Reihe mit einer mobilen Wand versehen gehörte, die den Saal für die Bedürfnisse jenseits des Sinfoniekonzerts etwas verkleinerte. Die Tonhalle Maag auch als ein musikalischer Ort des Anderen, des Speziellen – damit wäre ein seit langem geäussertes Desiderat erfüllt. Voraussetzung wäre allerdings, dass die verantwortlichen Kreise – die Swiss Prime Site, die Stadt Zürich und die Tonhalle-Gesellschaft – zu einer Kulturpolitik zusammenfänden, die diesen Namen verdient.

Ein Haus, neu gesehen, anregend interpretiert

150 Jahre Wiener Musikverein

 

Von Peter Hagmann

 

Die Elbphilharmonie in Hamburg, das Kunst- und Kulturzentrum KKL in Luzern, die Philharmonie de Paris mit ihrer «Salle Modulable» in Ehren – der berühmteste Konzertsaal der Welt steht in Wien. Nicht weil jeweils am 1. Januar um elf Uhr Lokalzeit vierzig Millionen Menschen vor ihren Fernsehern oder ihrer Stereoanlage sitzen und das von neunzig Stationen in alle Welt ausgestrahlte Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker verfolgen – nein, der Wiener Musikverein ist ein Ort für Musik von ganz besonderer Dimension. Er ist der Ort für Musik schlechthin. Zu erfahren war es wieder in jenem Festkonzert, mit dem am 6. Januar 2020 an die Eröffnung des Hauses vor exakt 150 Jahren erinnert wurde. Das Gefühl für den aussergewöhnlichen Moment in der stolzen Geschichte dieses Musentempels und die auffallend prickelnde Atmosphäre im Goldenen Saal liessen das vormittägliche Dreikönigskonzert zu einem besonderen Ereignis werden. Ihren nicht ganz unwesentlichen Teil dazu beigetragen hat die bis heute unübertroffene Akustik. Das zu vermerken, mag als Banalität erscheinen. Dennoch, wenn im Goldenen Saal ein Sänger auf dem Podium wirkt, kann man die Stimme so konturiert, ja so körperlich wahrnehmen, dass einen doch wieder das Staunen überkommt.

Natürlich weiss jedermann, dass in keinem Konzertsaal der Welt auf allen Plätzen gleich gut gehört werden kann. Auch im Grossen Musikvereinssaal mit seinen zweitausend Sitzen hat die Gleichberechtigung aller Zuhörenden, die der Architekt Theophil Hansen im Kontrast zu Disposition in der fast gleichzeitig entstandenen Hofoper zu verwirklichen suchte, ihre Kratzer. Neben den akustischen Löchern, deren Verortung im Saal unter Eingeweihten durchaus bekannt ist, gehört dazu der Balkon, der Oben von Unten scheidet – auch wenn das nicht ganz ohne Preis geschieht. Solchen Fragen widmet sich Joachim Reiber, Redaktionsleiter in der Intendanz der Gesellschaft der Musikfreunde, in einem grossformatigen Band mit dem lapidaren Titel «Der Musikverein in Wien. Ein Haus für die Musik». Keine Festschrift, kein Huldigungsband, kein touristischer Führer liegt da vor, Reiber bietet vielmehr eine liebevolle Annäherung an das Haus, seine Geschichte, seine Geschichten.

Wer mit dem Autor die eiligen Touristen aus Fernost, die Tag für Tag ihre Selfies vor dem Musikverein schiessen, hinter sich lässt und durch die Eingangstüren schreitet, wer nicht gleich zu den Garderoben und dann zu seinem Platz eilt, der darf seine Wunder erleben. Denn Reiber schaut hin, lässt sich informieren und stellt das aufgespürte Detail in den Zusammenhang: den historischen, den ästhetischen, den musikalischen, den menschlichen. Auch wer den Musikverein zu kennen glaubt, entdeckt so manch Neues – und stösst nebenbei auf Menschen, die dem Haus sein Gesicht geben: auf die langjährige Abonnentin Evelyn Wanderer etwa, auf den Saalmeister Gerhard Schacher, der vor der Tür des Dirigentenzimmers wacht und alle Geheimnisse kennt, aber keines ausplaudert, auch auf Margarethe Gruder-Guntram, die ein Leben lang ganztags das Künstlerische Betriebsbüro leitete und für viele Musiker erste Bezugsperson war, nicht zuletzt aber auf den Intendanten Thomas Angyan und seine Gattin Eva Angyan, die für das Buch Stimmen grosser Musikerinnen und Musiker gesammelt hat. Mit Joachim Reiber schaut man genau hin, aber nicht nur mit ihm, sondern auch mit dem Photographen Wolf-Dieter Grabner, der mit seinen denkbar prächtigen Bildern den Blick des imaginären Flaneurs lenkt.

Und weil Reiber nicht beim Detail stehenbleibt, ihm vielmehr nachsinnt und kreativ, auch in einem subtil gestalteten Ablauf  Kontexte erschliesst, erfährt man gleichsam unter Hand das Wesentliche zu dem nun in der Tat eindrücklichen Werden des Wiener Musikvereins. Zur Gründung der bürgerlichen Gesellschaft der Musikfreunde 1812, zur selbstbewussten Bitte der Gesellschaft an den Kaiser um ein Grundstück auf der Fläche der geschliffenen Stadtmauer, zu den ästhetischen Prämissen, unter denen Theophil Hansen das Haus erstellt hat, zu seinen Umbauten und auch zu der grossen unterirdischen Erweiterung durch die vier Neuen Säle. Die dunklen Flecken in dieser Geschichte werden nicht verschwiegen. Kurz, aber eindringlich wird geschildert, wie die Nationalsozialisten gleich nach der Einverleibung Österreichs ins Deutsche Reich die in der Trägerschaft versammelten Bürger entmachteten und die Juden vertrieben, wie sie einen willfährigen Organisten an die Spitze stellten und den Musikverein für sich pachteten. Wie 1945 eine Granate durch die geborstenen Fenster auf die Pedaltastatur der Orgel fiel, dort aber nicht explodierte – auch dieses vielsagende Zeichen fehlt nicht.

Im Musikverein sei das Alte das Neue und das Neue das Alte, bemerkt Joachim Reiber bei der doch etwas kurz geratenen Erwähnung Nikolaus Harnoncourts. Das hat seinen speziellen Hintersinn. Denn Wien bleibt Wien, auch in den Strukturen: Anders als sonstwo im Bereich der Orchester und der Konzerthäuser, auch das ist dem Buch Reibers zu entnehmen, bildet im Musikverein das Abonnement nach wie vor die zentrale Stütze des inzwischen erheblich erweiterten Angebots an Konzerten. Dass die Tradition auch gefährdend wirken, zum Beispiel den Sinn für Innovation eintrüben kann, auch das ist im Wiener Musikverein hie und da zu erfahren – das Festkonzert vom Dreikönigstag 2020 deutete es an. Die Tatsache freilich, dass die Tradition, ohne die es keine Innovation gibt, auch in unseren Tagen bewegt am Leben bleiben kann, davon weiss das grandiose, zu Recht geliebte Haus am Karlsplatz auch im 150. Jahr seines Bestehens äusserst munter zu erzählen.

Joachim Reiber: Der Musikverein in Wien. Ein Haus für die Musik. Styria-Verlag, Wien 2019. 224 S., Euro 30.00.