Expressionistisch zugespitzt

«Salome» von Richard Strauss zur Eröffnung der Saison am Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Kostas Smoriginas (Jochanaan) und Elena Stikhina (Salome) in der Zürcher Inszenierung von Richard Strauss’ Einakter «Salome» (Bild Paul Leclaire / Opernhaus Zürich)

Es ist kaum zu glauben, aber jetzt geht es wieder los im Opernhaus Zürich. Mit Masken zwar, aber vor vollbesetzten Rängen, mit der in den Orchestergraben zurückgekehrten Philharmonia und Darstellern auf der Bühne, die vor dem auf der Bühne unabdingbaren Körperkontakt nicht mehr zurückzuschrecken brauchen. Möglich macht es das Zertifikat, will sagen: die Impfung, und darüber hinaus die regelmässige Testung. Und wie wenn das Lebenszeichen nicht hätte stark genug sein können, fanden sich zur Saisoneröffnung mit «Salome» von Richard Strauss auf dem edel versteinerten Sechseläutenplatz gut fünftausend Menschen ein, um sich bei allerschönstem Altweibersommerwetter die Übertragung der im Inneren durchgeführten Premiere zu Gemüte zu führen. Die Stimmung war ausgezeichnet. Das tat Not nach den gut eineinhalb Jahren der Einschränkungen – denen das Opernhaus Zürich, das darf wiederholt werden, mit Phantasie und Mut begegnet ist.

Nun ist das Feld wieder etwas freier, und so kann das Theater wieder zeigen, was es sein kann. Der Moment der Befreiung hinterlässt in der Zürcher «Salome» durchaus seine Spuren. Unerhörte Spannung trägt den Abend. Die hundert Minuten dieses Einakters gehen ja ohnehin schnell vorbei, aber so rasch wie jetzt in Zürich, so meine Empfindung, liegt der Kopf selten auf der Silberschüssel. Kaum hat die Prinzessin die Bühne betreten, macht sie deutlich, dass sie nur eines kennt: sich und ihre Wünsche. Elena Stikhina ist weder Girlie noch Matrone, vielmehr eine junge Frau von heute. Ihre Stimme hat einen samtenen Grund, lässt aber gewaltige Expansion zu. Und ihr Drängen nimmt derart obsessive Züge an, dass Narraboth, Mauro Peter gibt ihn als einen sensiblen, ehrlichen Soldaten, geradewegs handgreiflich werden muss – erst gegen die Prinzessin, die er in Verletzung der Etikette von ihrem Vorhaben förmlich zurückzureissen versucht, später mit fataler Folge gegen sich selbst.

Nicht nur von Salome geht elementare Kraft aus, dasselbe gilt für Jochanaan, den Kostas Smoriginas mit glänzendem, dabei nie monochromem, sondern grossartig wandelbarem Metall singt. In seiner Darstellung ist der heilige Mann aus der Zisterne gewiss ein Heiliger, vor allem aber ein Mann. Einer, der über ungeheure Ausstrahlung verfügt; und einer, der nicht lange fackelt. Während sein Erscheinen üblicherweise so bedrohlich wie elektrisierend gezeigt, vor allem aber mit Distanzierung versehen wird, ist er in Zürich fast tierischer Körper, jedenfalls ungezügelter Trieb und damit Salome verwandt. Bevor er die Prinzessin mit Donnerstimme verdammt, spreizt er ihr die Beine – unvermittelt und roh. Eine Vergewaltigung? Eine Bestrafung? Oder gar eine Projektion Salomes, auf der Bühne sichtbar gemacht? Die gleiche Frage stellt sich im Schleiertanz, an dessen Ende Herodes seiner Stieftochter einen Slip unter dem Jupe herunterziehen darf, nachdem Herodias zuvor von Jochanaan brutal genommen worden ist. Jochanaan also doch der rächende Prophet? Mag sein; hat er nicht dem nach dem Suizid noch röchelnden Narraboth den finalen Schnitt durch die Kehle zugefügt?

Darüber darf nachgedacht werden. Herodes und Herodias dagegen, das Paar sorgt auch in Zürich für Amusement. Sie, die auf ihre adlige Abkunft pocht, hat von der Kostümbildnerin Mechthild Seipel eine üppige Abendrobe in der Königsfarbe Rot auf den Leib geschneidert bekommen und ist die Domina: Michaela Schuster bringt das ausgezeichnet über die Rampe. Er, restlos übergekippt, aber durchaus noch seiner (angemassten) Funktion bewusst, zieht sich nicht mehr an, ihm genügt der seidene, mit aufgemalten Federn der über hundert königlichen Pfauen dekorierte Schlafanzug – was alles andere als daneben ist, wenn man bedenkt, wie beim Wiener Kongress 1815 die Herren Diplomaten ihre Verhandlungspartner im Schlafzimmer empfingen. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke ist die Traumbesetzung für diese Partie, die hell-klare Lineatur, die perfekte Diktion, das Understatement im Ausspielen der Demenz gelingen ihm perfekt. Überhaupt lebt die Inszenierung des Zürcher Hausherrn Andreas Homoki von scharf gezeichneten Figuren, zugleich aber von feinsinnig durchdachtem Kontext. Wenn Salome davon singt, dass sie seinen Mund küssen möchte, nimmt sie Joachanaans Kopf exakt so in die Hände, wie sie es dann am Ende der Oper, wenn dieser Kopf nicht mehr auf seinem Leib sitzt, tun wird – so werden mit Gesten szenische Subtexte geschaffen.

Zum gedanklichen Beziehungsreichtum trägt auch das Bühnenbild von Hartmut Meyer bei. Zwei Halbmonde, einer oben, einer unten, stehen im Mittelpunkt – so wie in «Salome» immer wieder auf den Mond angespielt wird. Es ist nicht der Mond in romantischer Verklärung, sondern jener des Expressionismus, die Metapher des Nächtlichen, die für Angstzustände und Grenzerfahrungen steht. Warum kommt an diesem Abend gar nicht selten die Erinnerung an Edward Munchs Gemälde «Der Schrei» auf? Es wird des Orchesters wegen sein, der Philharmonia Zürich, die von der Gastdirigentin Simone Young zu beinah schmerzvollem Dröhnen angetrieben wird. Wüst klingt die Partitur, auch in den Passagen, wo sie sinnliches Piano verlangt und sich die Dirigentin mit trockenem Mezzoforte begnügt. «Salome» als expressionistisches Musikdrama und, wie die Dirigentin durchaus zu Recht findet, als Sinfonische Dichtung mit eingelegten Singstimmen in Ehren, doch ein Gepolter, wie es von der in Grossbesetzung angetretenen Philharmonia zu hören ist, muss nicht sein. Zuspitzung braucht, zumal in einem kleinen Haus wie der Zürcher Oper, nicht oder nicht nur Lautstärke, sie braucht mehr noch Schärfungen in der Farbgebung, der Artikulation, der Akzentsetzung. Dass das geht und wie es geht, hat Michael Gielen vorgemacht: im Frankfurter «Ring des Nibelungen» aus den Jahren 1986/87, der mit instrumentaler Kraft nicht sparte und doch der Stimme wie dem Wort ihre Rechte beliess.

Ein Wahnsinn, diese Arie

«Lucia di Lammermoor» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Brautbett als Grab: Piotr Beczała als Edgardo und Irina Lungu als Lucia / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Nichts gegen Tatjana Gürbaca, überhaupt nichts – aber wäre «Lucia di Lammermoor», eine Sängeroper par excellence, nicht genau das Richtige für eine konzertante oder bestenfalls eine halbszenische Aufführung? Die Bösen sind die Bösen, die Liebenden sind die Liebenden, das ist zu hören, da braucht es keinen Blumenkranz, weder Totschläger noch Morgenstern, nicht einmal Theaterblut wäre vonnöten. Indes, die Oper Gaetano Donizettis ist nun mal eine Oper, und zu der gehört bekanntlich eine Bühne, weshalb ein Team von Bühnenkünstlerinnen und Bühnenkünstlern verlangt ist. Am Opernhaus Zürich, das nach der fulminanten Eröffnung mit Mussorgskys «Boris Godunow» die durch das Virus gründlich durcheinandergebrachte, wenn auch bewundernswert bewältigte Spielzeit mit «Lucia di Lammermoor» beschliesst, waren drei Frauen am Werk, neben der Regisseurin noch die Kostümbildnerin Silke Willrett und die Dramaturgin Beate Breitenbach.

Stimmt nicht, es waren deren vier. Denn am Pult der Philharmonia Zürich stand Speranza Scappucci, die Dirigentin aus Rom, die über einen zu Recht ausgezeichneten Ruf verfügt. Schon in der Einleitungsszene fielen jene goldrichtig gezügelten Tempi auf, die so unerhört Spannung schaffen. Und gleich wurde auch deutlich, wie sehr und wie erfolgreich sie mit dem Orchester auf rhythmische Präzision hingearbeitet hat – denn genau diese Prägnanz ist es, die den vergleichsweise einfachen musikalischen Verläufen Donizettis Spannung und Profil verleihen. Grossartig zudem die subtile Abstufung der Klangfarben, die erkennen liess, dass auch in dieser Musik nicht die Melodielinie allein zählt, dass es vielmehr selbst hier auf das Miteinander der verschiedenen Parameter ankommt. Für all das ein Extra-Kompliment, bitte sehr.

Leider lässt die vom Opernhaus vollmundig angepriesene Tonanlage, so der Eindruck auf einem Sitzplatz im ersten Rang, sehr zu wünschen übrig. Das in seinem Probensaal wirkende Orchester (wie auch der an diesem Abend hervorragende, von Janko Kastelic vorbereitete Chor), das über eine Standleitung mit dem Zuschauerraum verbunden ist, klingt topfig und zudem unrealistisch, scheinen in der speziellen raumakustischen Einrichtung die Geigen doch aus dem Hintergrund des zweiten Rangs zu kommen, wo in der Oper der Orchesterklang doch ganz einfach aus dem Graben emporsteigt. Verdienstvoll der lange Zeit vernachlässigte Einsatz der Glasharmonika am Ende der Oper. Kundig wird sie von Thomas Bloch im Zuschauerraum bedient, nur ist sie leider zu selten in der wünschenswerten Klarheit zu hören – zu laut sind die Stimmen auf der Bühne, zu laut ist das Orchester aus dem Lautsprecher. Ein Schuss in den Ofen. Vielleicht wäre es angebracht, das zarte Instrument mit einem Mikrophon zu versehen.

Die Lautstärke auf der Bühne und die (meistens) darauf abgestimmte Klangkraft der orchestralen Lautsprecher – da liegen die zentralen Probleme der Produktion. Es wird wieder einmal gebrüllt, dass es eine Art hat. Dass Enrico Ashton in der angespannten politischen Lage unter Druck steht und sich über eine gesellschaftlich wie politisch opportune Verheiratung seiner Schwester in Sicherheit zu bringen sucht, ist verständlich, aber muss das zu fast durchgehendem Fortissimo führen? Sein strahlkräftiger Bariton lässt annehmen, dass Massimo Cavalletti mehr kann als Dröhnen. Einen grobschlächtigen Haudegen gibt Iain Milne als Normanno, der Anführer von Ashtons Privatarmee, das ist immerhin rollendeckend. Wenn in diesem lautstarken Umfeld der auf Ausgleich bedachte Geistliche Raimondo mit seiner Hornbrille und seiner samtenen, milden Stimme zum durchsetzungsschwachen Intellektuellen gemacht wird, bleibt das allerdings ein zu dick aufgetragenes Klischee.

Auch Piotr Beczała, für die männliche Hauptrolle des Edgardo gewonnen, spart nicht mit Kraftentfaltung, nur bleibt er dabei hochkultiviert. Anfangs tut er noch derart zu viel des Guten, dass die Liebeserklärungen und der Treueschwur zur Karikatur verkommen. Bei seinem überraschenden Auftritt auf der erzwungenen Hochzeit seiner Geliebten und vollends am Schluss, wo er als böswillig Getäuschter in tiefste Verzweiflung sinkt, zeigt er dann freilich sein ganzes stimmliches Format. Irina Lungu dagegen, die Lucia des Abends, stellt zahlreiche Fragezeichen in den Raum. Auch sie gibt immer wieder viel zu viel Ton, das entspricht der stimmlichen Anlage ihres kompakten Soprans. Für die berühmte Wahnsinnsarie ist das freilich nicht die beste Voraussetzung. Weder in technischer noch in stilistischer Hinsicht vermag sie dieses überaus heikle Stück zu meistern. Die raschen Tonbewegungen geraten ihr nicht mit der nötigen Trennschärfe, die raffinierten Ausdrucksmittel des Belcanto scheinen ihr weitgehend terra incognita zu sein, das Wechselspiel mit der Glasharmonika kann, wenn sich die Stimme derart massiv über das Instrument legt, in keiner Weise wahrgenommen werden. Das alles ist betrüblich, zumal am Opernhaus Zürich, wo in den letzten Jahrzehnten ganz andere, unglaublich spannende Verwirklichungen dieser Arie zu hören waren.

So konnte man doch dankbar sein für die Präsenz des Szenischen, zumal Tatjana Gürbaca den beträchtlichen Anforderungen ihrer Aufgabe mit Geschick begegnet ist. Die Drehbühne ihres Bühnenbildners Klaus Grünberg, sie mag die unendliche Spirale der Gewalt versinnbildlichen, die zwischen den verfeindeten Familien Ashton und Ravenswood herrscht, und wenn anfangs die Vorgeschichte durch die Hauptpersonen im Kindesalter und am Ende Enrico Ashton als Erhängter sichtbar werden, sorgt das für klärende Einbettung. Scharf sind die Figuren gezeichnet, auch in den Nebenrollen. Sie hat zwar kaum zu singen, aber als Alisa, Lucias Kammerdame, setzt sich Roswitha Christina Müller erfolgreich ins Bild. Erst recht gilt das für Arturo, den von Enrico für seine Schwester ausgewählten Bräutigam, der sein Interesse an dieser Braut mit dem Leben bezahlt: Mit seinem hellen Tenor, seinem gedrungenen Körper und dem weissen Anzug erscheint Andrew Owens als ein richtiggehender Fremdkörper. Zu schauen, auch nachzudenken gibt es reichlich. Dennoch bleibt unter dem Strich mehr Bemühen als Gelingen in Erinnerung. Mag sein, dass die konzertante oder halbszenische Wiedergabe doch den besseren Weg zum Werk öffnet.

Schubert der Grosse

Paavo Järvi nimmt in C-Dur Abschied von der Tonhalle Maag in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Wenige Wochen noch, dann wird nicht nur diese als Folge der Pandemie so gründlich verunglückte Saison, sondern auch die Tonhalle Maag Geschichte sein. Eine stolze Tat war der Einbau dieses hölzernen Konzertsaals in eine ehemalige Industrie- und Eventhalle. Das Provisorium für gut 1200 Konzertbesucher bot dem Tonhalle-Orchester Zürich eine mehr als taugliche Heimstätte für die vier Jahre der Bauarbeiten am Stammsitz beim Bürkliplatz. Zentral war hier der in hellem Fichtenholz gehaltene Saal von Spillmann Echsle Architekten mit seiner Akustik von Müller-BBM München; er schuf ein Raumgefühl, das so rasch nicht vergessen gehen wird. Ebenso ins Gewicht fiel das Darumherum: die leichte Erreichbarkeit mit dem öffentlichen Verkehr, das sympathische Restaurant im seitlichen Anbau mit seinen zugigen Fenstern, vor allem aber das Foyer mit seinem industriellen Charme, seinen improvisiert wirkenden Heizstrahlern und seiner von der Tonhalle-Gesellschaft selbst geschaffenen, zum Verweilen einladenden Gastlichkeit. Da ist ein Ort der Kommunikation entstanden, von dessen Geist hoffentlich etwas ins angestammte Haus am See mitgenommen und dort weitergepflegt werden kann.

Aber eben, die stolze Tat war eine auf Zeit. Nach dem Auszug des Orchesters im Sommer wird der Konzertsaal in Teilen abgebaut und fürs erste umgewandelt in einen Room for Light Shows, ein «Lichtmuseum für immersive Kunst». Alle Bemühungen, den Konzertsaal als solchen zu erhalten, sind gescheitert; als unmöglich hat sich erwiesen, eine auf verschiedenen Schultern, nicht nur auf jenen der Tonhalle-Gesellschaft ruhende Trägerschaft zu errichten. Zürich ist nun einmal nicht Musikstadt genug, um neben der altehrwürdigen, nach einer umfassenden Renovation im Herbst dieses Jahres wieder aufgehenden Tonhalle einen zweiten, ähnlich konfigurierten Konzertsaal erfolgreich zu betreiben. Ebenso wenig scheint sich die die Idee eines Zentrums für alternative Formen von Kunstmusik in dieser Stadt realisieren zu lassen. Ein hochfliegendes Projekt endet im Sand. Darum geht es jetzt ans Abschiednehmen – an die Trennung von einer kulturellen Stätte, die vieles, was gewöhnlich nebeneinander in Erscheinung tritt, in ein fruchtbares Miteinander gebracht hat: Alt und Jung, Klassisches und Moderneres, Industrie (vergangen) und Kultur (trotz Corona lebendig), Versenkung und Sinnlichkeit.

Einer hat schon Abschied genommen. Es ist Paavo Järvi, Musikdirektor des Tonhalle-Orchesters Zürich. In den vergangenen Wochen war er kontinuierlich in Zürich, um mit dem Orchester zu arbeiten. Der Zyklus der Sinfonien (und anderer Orchesterwerke) Peter Tschaikowskys ist aufgenommen und zum Teil schon auf dem Markt. Ähnliches gilt für die Sinfonien (und weiteren Stücke) Felix Mendelssohn Bartholdys. Beide Aufnahmeprojekte sollen im Herbst, anlässlich der Eröffnung der Tonhalle am See, in Form von CD-Boxen erscheinen. Bei Tschaikowsky, so der Eindruck des bisher Gehörten (vgl «Mittwochs um zwölf» vom 31.10.19, 28.10.20, 27.01.21 und 14.04.21), fühlt sich Järvi restlos zu Hause. Seine musikalische Art entspricht dieser Musik in hohem Masse, und er entwickelt zu ihr anregende Deutungsansätze. Mit Mendelssohn aus Järvis Hand gibt es mehr Mühe. Mendelssohns kompositorische Sprache ist von ausgesprochen fein ziselierter Struktur, da trifft der klanglich handfeste Zugriff Järvis nicht wirklich – und das, obwohl das Tonhalle-Orchester auch hier, wie bei Tschaikowsky, hochstehende Leistungen erbringt. Beim «Sommernachtstraum», kürzlich in der «Global Concert Hall» des Streaming-Dienstes Idagio präsentiert, stellte sich schon in der Ouvertüre das Gefühl ein, hier werde eine Spur zu dick aufgetragen. Und der «Hochzeitsmarsch» akkurat gezügelt, aber auch einfach eins zu eins gegeben – und das ist gerade bei diesem Stück mit seiner ausgeprägten Rezeptionsgeschichte zu wenig. Keine Spur jedenfalls vom Brio und vom Enthusiasmus, den ein Dirigent wie Claudio Abbado bei dieser Musik aufscheinen liess. Nur dies noch: Die Damen der Zürcher Sing-Akademie hatten eine glänzende Stunde.

Von der Tonhalle Maag verabschiedet hat sich Paavo Järvi aber mit Franz Schubert, und zwar mit der Grossen C-Dur-Sinfonie, nach heutiger Zählung der Achten. Gross ist sie nicht nur im Gegensatz zur «Kleinen» C-Dur-Sinfonie Schuberts, gross wirkt sie auch – daran war schon darum kein Zweifel, weil Järvi die zahlreichen Wiederholungen, die von Dirigenten früherer Zeiten gerne ignoriert wurden, voll beim Wort nahm. Dafür schlug er in allen vier Sätzen überraschend flüssige Tempi an, pflegte er auch einen fest gefügten Klang eher spätromantischen Zuschnitts. Weg vom weichlichen Dreimäderlhaus-Schubert hin zum Visionär, der stilistisch weit über seine Zeit hinausdenkt, das war der Ansatz; er entspricht im Grundzug heutiger Auffassung und hat eine Plausibilität. Was jedoch einmal mehr zu denken gab, waren der Tonfall und, vor allem, die Lautstärke. Allzu gross klang Schuberts Musik immer wieder, allzu grob auch. Das insistente Moment der in ihrer Weise trotzigen, vielleicht mächtig gegen den biedermeierlichen Geist der Metternich-Zeit aufbegehrenden Komposition in Ehren, aber muss das so einseitig durch die Kraft, um nicht zu sagen: Kraftmeierei ausgedrückt werden, muss das Stück ein durch die Zeichengebung des Dirigenten auf die Spitze getriebenes Stampfen erreichen? Dirigenten mit Herkunft aus der alten Musik haben gezeigt, dass es auch anders geht. Eines hat Paavo Järvi aber fraglos erreicht: dass uns die Musik Franz Schuberts nicht angenehm unterhalten oder gar gleichgültig gelassen hat. Das ist schon viel.

In Fahrt auf dem Mediendampfer

Mit Tschaikowsky bieten das Tonhalle-Orchester Zürich und sein Chefdirigent Paavo Järvi dem Virus die Stirn

 

Von Peter Hagmann

 

Nicht dass hier alles zum Besten stünde. Auch beim Tonhalle-Orchester Zürich bleiben die Pforten geschlossen, wenigstens fürs Publikum. Und musste Ende März ein fürs Streaming angekündigter Auftritt mit Mendelssohns «Sommernachtstraum» infolge einer Infektion kurzfristig abgesagt werden. Doch während andere Schweizer Klangkörper verstummt sind – das Berner Symphonieorchester etwa schweigt seit langem, das Orchestre de la Suisse Romande hat infolge eines Ausbruchs von Covid-19 in seinen Reihen alle Konzerte bis zum Ende der laufenden Saison abgesagt –, bleiben das Tonhalle-Orchester Zürich und sein Chefdirigent Paavo Järvi präsent, dies wenigstens medial, dort aber in den vorderen Rängen.

Eben erst ist die Einspielung von Peter Tschaikowskys Sinfonie Nr. 5 in die vierteljährlich erhobene Bestenliste beim Preis der deutschen Schallplattenkritik aufgenommen worden. Und bereits liegt der nächste Band vor; er enthält die Sinfonien Nr. 2 und 4. Die übrigen Sinfonien sind ebenfalls eingespielt; wenn im kommenden Herbst die renovierte Tonhalle am See wieder in Betrieb genommen wird, sollen die sechs Sinfonien mitsamt weiteren Orchesterwerken Tschaikowskys physisch als CD-Box vorliegen. Und dies bei Alpha, einem kleinen, für sein hochstehendes Programm aber weitherum beachteten Label. Dass die Aufnahmen auch auf den einschlägigen Plattformen im Internet zu hören sind, versteht sich.

Nun also Tschaikowskys Vierte. Sie gehörte zu jenen Stücken, mit denen sich Paavo Järvi zu Beginn der Saison 2019/20 einführte – und mit denen er auch Stirnrunzeln auslöste. Geschmeidig und bewegt erklang sie Ende Oktober 2019 in der Tonhalle Maag, dem provisorischen Konzertsaal im Westen Zürichs, der in wenigen Monaten aufgegeben und abgebrochen werden soll. Aber auch: laut, viel zu laut. Man habe Gehörschutz getragen, so eine der Stimmen aus dem Orchester. Was ist nur los mit den Dirigenten, was mit den Musikerinnen und Musikern, welche die Lautstärke so gerne nach oben treiben? Schon beim Antrittskonzert des unglücklichen Lionel Bringuier im September 2014 noch in der Tonhalle am See hatte sich diese Frage gestellt, damals bei der Symphonie fantastique von Hector Berlioz. Fünf Jahre später dasselbe Bild.

Gewiss braucht es seine Zeit, bis ein Dirigent einen ihm wenig vertrauten Saal mit seiner Akustik wirklich in der Hand hat. Und bis er sich mit seinem Orchester so weit ins Benehmen gesetzt hat, dass die Probleme der Balance, auch jene zwischen dem Gesamtklang und dem Raum, gelöst sind. Und ohne Zweifel hat Paavo Järvi in jenem Konzert mit Tschaikowskys Vierter da und dort etwas zu sehr aufs Gas gedrückt, nicht nur aus Aufregung über den Moment des Neubeginns, sondern auch aus ästhetischen Gründen – vielleicht hätte das der Dirigent, hätte er sein eigenes Wirken im Saal miterleben können, sogar bestätigt. Eine Hoffnung gab es damals allerdings, denn die Konzerte wurden im Hinblick auf eine Veröffentlichung als Tondokument mitgeschnitten. So gab es die Hoffnung auf den Regler des Tonmeisters (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 31.10.19).

Jean-Marie Geijsen war im Aufnahmeraum tätig, und er hat dort segensreich gewirkt. Grossartig, wie das Tonhalle-Orchester Zürich in dieser Aufnahme klingt. Und hinreissend, wie die interpretatorischen Zielsetzungen Paavo Järvis fassbar werden. Nirgend in dieser Vierten Tschaikowskys herrscht ein Zuviel an Lautstärke, auch dort nicht, wo ein Optimum an Kraftentfaltung gefordert ist. Der gewaltige Schlag, mit dem das Finale anhebt – im Konzert hatte er die Wirkung des vorangehenden, im Pizzicato gespielten und attacca angeschlossenen Scherzos zerstört –, er geht auch in der Aufnahme an die Grenze, doch bleibt genau die richtige Dosis Luft, da anders als im Konzert zwischen dem letzten gezupften Achtel des Scherzos und der donnernden Eröffnung des Finales eine kleine Pause eingefügt ist.

Die Aufnahme einer Interpretation, die gerne als ein Surrogat, als etwas Zweitklassiges gegenüber dem Erstklassigen der live vorgetragenen Interpretation hintangestellt wird, kann eben auch ihre Vorteile haben. Im besten Fall steht sie für eine eigene, andere voll gültige Daseinsform des klingenden musikalischen Kunstwerks. In der Aufnahme von Tschaikowskys Vierter aus Zürich ist es mit Händen zu greifen. Sie ist so abgemischt, dass sich auf der einen Seite warme Fülle, auf der anderen aber helle Transparenz ergibt. Ganz tief lässt sich somit ins Orchester hineinhören. Weshalb das dort vom Komponisten angelegte Dialogisieren zwischen den einzelnen Instrumentengruppen scharfes Profil gewinnt und vielfarbige Vitalität im Kleinen entsteht. Da lässt sich denn auch verfolgen, wie der Dirigent durch subtile Arbeit an den Klangfarben und durch hier kleine, dort grössere Temponuancierungen für atmende Verläufe und emotionale Verdichtungen sorgt. Da liegt Järvis Ansatz: sich von dem durch den legendären russischen Dirigenten Ewgeny Mrawinsky diktierten und bis heute weiterwirkenden Imperativ der strengen Sachlichkeit und der gebändigten Emotionalität doch etwas zu lösen.

Tschaikowsky sagt ja das allermeiste zweimal. Sein Interpret in Zürich weiss damit etwas anzufangen. Das kommt auch der selten gespielten zweiten Sinfonie Tschaikowskys zugute. Paavo Järvi nutzt die repetitiven Verläufe gezielt, um Spannungen aufzubauen. Auf ein eröffnendes Andante, das von des Dirigenten Arbeit mit den Zeitmassen lebt, folgt im Kopfsatz ein Allegro, das nicht zuletzt vom Biss der Zürcher Streicher getragen wird. Gespenstisch das Andantino marziale des zweiten Satzes, in dem die Holzbläser mit blendenden Soli aufwarten. Hier fällt allerdings auch ins Ohr, dass es im klanglichen Bereich unterhalb von Mezzoforte noch Potential zur Verfeinerung gibt. Von federnder Präzision das Scherzo, dessen rhythmische Vertracktheiten hochelegant gelöst werden. So elegant wie im Fall der gewagten Modulationen, die sich der Komponist im Finale erlaubt. Auch wenn wohl niemand verhehlen kann, dass die Sinfonien vier bis sechs unter dem Strich doch ganz andere Dimensionen erreichen, erfährt Tschaikowskys Zweite in dieser Interpretation eine überzeugende Rehabilitation.

Peter Tschaikowsky: Sinfonien Nr. 2 in c-Moll und Nr. 4 in f-Moll. Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi (Leitung). Alpha 735 (CD, Aufnahme 2019/20, Publikation 2021).

«Orphée et Euridice» als kopfstehender Albtraum

Glucks Oper in der Fassung von Berlioz und Marthaler in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Wenn der Lift in die Unterwelt hochfährt: «Orphée et Euridice» in Zürich / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Ein Werk wie «Orphée et Euridice» von Christoph Willibald Gluck auf die Bühne zu bringen, erscheint geradewegs als ein Ding der Unmöglichkeit. Was Oper ausmacht – Intrige, Spannung, Personal in Haupt- und Nebenfunktionen –, es ist hier auf ein Minimum reduziert. 1762 in einer italienischen Fassung am Wiener Burgtheater aus der Taufe gehoben und 1774 in einer französischen Version an die Königliche Oper von Paris gebracht, steht das Stück für die Ideen der von Gluck gegen die in Künstlichkeit erstarrte Opera seria in Gang gesetzten Opernreform – für Einfachheit, Natürlichkeit, Wahrhaftigkeit. Nur drei Personen treten in Erscheinung, und die zwei Figuren neben dem Protagonisten sind nicht mehr als Impulsgeber. Eine umso wichtigere Rolle nehmen dafür Chor und Orchester ein.

Die Pariser Aufführung von 1774 brachte Gluck einen Erfolg enormen Ausmasses ein; das Stück blieb über Jahrzehnte hinweg im Spielplan. Als es 1859 in Paris wieder aufgeführt werden sollte, machte sich Hector Berlioz, ein glühender Anhänger Glucks, im Auftrag des Pariser Opernintendanten an die Arbeit und erstellte eine neue Fassung. Als Basis diente ihm die französische Version, er zog aber auch die italienische Ausgabe bei – und vor allem richtete er die Titelpartie, die in Wien von einem Kastraten, in Paris dagegen von einem hohen französischen Tenor gesungen worden war, für eine Altstimme ein, nämlich für die berühmte Sängerin Pauline Viardot-García. In dieser von mancher Seite kritisierten, aber mit einer grandiosen, auch dankbaren Hosenrolle versehenen Fassung kam «Orphée et Euridice» zu neuer Wirkung.

Zu einer Wirkung, die weniger im Aspekt des Gesamtkunstwerks als im rein Musikalischen verankert ist. Nummern wie das «Ballet des ombres heureuses» (der «Reigen seliger Geister» mit seinem Flötensolo) oder die Arie «J’ai perdu mon Euridice» (besser bekannt unter dem italienischen Incipit «Che farò senza Euridice») zeugen davon. In der soeben herausgebrachten Produktion von «Orphée et Euridice», die das Opernhaus Zürich der Pandemie wegen vor leeren Rängen zur Premiere gebracht hat und bis zum 5. April in seinem Streaming-Angebot zeigt, bestätigt sich das. Sowohl der von Ernst Raffelsberger vorbereitete Chor der Oper Zürich als auch die Philharmonia Zürich – beide Kollektive wie stets seit Beginn dieser Saison über Glasfaserkabel aus dem Probenraum am Kreuzplatz zugeschaltet – stellen sich kompromisslos in den Dienst dieser eingängigen und gerade darum so schwierigen Musik.

Entschieden befördert wird dies Engagement durch den Dirigenten Stefano Montanari, einen Repräsentanten der bekanntlich sehr umtriebigen italienischen Szene der historisch informierten Aufführungspraxis. Er lässt die Musik Glucks, wie sie von Berlioz gewandet ist, im Geist des 19. Jahrhunderts klingen: mit differenziert eingesetztem Vibrato und in einer klanglichen Transparenz, in der die Mittelstimmen zu pointiertem Leben finden. Zudem animiert er das Zürcher Opernorchester, das gibt schon die Ouvertüre zu verstehen, zu elegant federnder, energiegeladener Artikulation. Und nicht zuletzt arbeitet er die Farbtupfer, mit denen die Bläser den durchgehenden Streichklang bereichern, mit ebenso viel Sinn für den Effekt wie Sorgsamkeit heraus. Momente der gepflegten Langeweile, wie sie bei diesem Stück durchaus auftreten können, ergeben sich keine.

Dazu kommt nun aber: Nadezhda Karyazina, eine packende Darstellerin des Orphée. Mezzosopranistin sei die junge, in Moskau ausgebildete Sängerin. Das stimmt insofern, als sie ohne Mühe in die Höhe steigt, dort sicheren Halt findet und ausserdem eindrückliche Beweglichkeit vorführt. Vor allem aber vermag sie, bruchlos die Register überwindend, in geradezu bronzen klingende Tiefen zu steigen – ein betörender Stimmumfang. Auf dieser Basis gestaltet sie ihre Partie eindringlich, aber jederzeit so gezügelt, wie es der Musik des Opernreformators geziemt – ausser am Ende, wo Orphée seiner geliebten Euridice in herrischem Ton ansagt, wohin es jetzt des Wegs wäre. Die verstorbene, von der Unterwelt losgelassene Gattin wiederum wird von Chiara Skerath mit einem kraftvollen Sopran gegeben. Ganz anders dann aber Alice Duport-Percier, die als L’Amour, als der die Strippen ziehende Liebesgott, einen hellen, leichten, wunderbar zeichnenden Sopran einbringt. Sehr schön zusammengestellt, dieses Ensemble.

So weit, so gut – nur handelt es sich bei «Orphée et Euridice» hier um ein Stück Musiktheater, und das benötigt die Bühne. Entworfen hat sie, es ist so unverkennbar wie bei den Kostümen, Anna Viebrock. Zu sehen ist kein Styx, kein Hades, kein Elysium, vielmehr ein düsteres Foyer zu einem in zwei Räume geteilten Kaffeehaus, an dessen Tischen sich trefflich dösen, bisweilen aber auch auffahren lässt – und beides wird nach Massen getan, denn als Regisseur ist Christoph Marthaler am Werk. Genau der Richtige in dieser heiklen Lage. Der Chor darf nicht auf die Bühne, also bleibt Raum für eine Gruppe von Schauspielern mit dem krächzenden Graham F. Valentine an der Spitze; er ist der Einzige, der spricht: bedeutungsschwere Sätze zur Volatilität der Wahrnehmung am Anfang und solche über das Ende am Ende. Gezeigt werden dafür Mimik, Gesten und eine Vielzahl kurioser akrobatischer Bewegungen, das eine in Zeitlupe, das andere repetiert – wie es eben zur szenischen Handschrift Marthalers gehört. Und nicht unbedingt sinnstiftend gemeint ist. Immerhin, vieles unterstreicht das Klima eines lastenden Albtraums, etwa die quälenden Zuckungen der Akteure oder der unglaublich schwere Lavastein, auf dem Orphée seine Euridice erwartet. Wer mag, kann da an die zahlreichen Versuche der choreographischen Bewältigung von «Orphée et Euridice» denken.

Hin und wieder darf man sich aber auch ein wenig amüsieren in der ernsten, feierlichen Stimmung, in die man von Gluck und Berlioz versetzt wird. Zum Beispiel dann, wenn eine der beiden Schauspielerinnen, ich glaube, es sei Liliana Benini, mit einem Schlag nervös die obligate Handtasche durchsucht, ein Mikrophon zu Tage bringt und über dieses nach der Art des radiophonen Wunschkonzerts die Glückwünsche verkündet, die Bruno, Luigi und Goffredo ihrer Tante Francesca Nannini aus Bormio zu deren 75. Geburtstag übermitteln und dies mit Hilfe der Philharmonia Zürich und ihrem Dirigenten Stefano Montanari tun – worauf folgt: der «Reigen seliger Geister». Christoph Marthaler, wie er leibt und lebt.

Tschaikowskys Winterträume aus dem virtuellen Raum

Das Tonhalle-Orchester Zürich in der Global Concert Hall der Streaming-Plattform Idagio

 

Von Peter Hagmann

 

Eine eigentümliche Veranstaltung. Da sitzen sie im Konzertgewand, tragen Masken, sofern es die Tätigkeit zulässt, halten sichtbar Distanz, auch bei den Streichinstrumenten gibt es anders als gewohnt einzelne Pulte. Der Dirigent betritt das Podium, legte seine Maske ab und verneigt sich zusammen mit allen Musikerinnen und Musikern – vor dem leeren, ganz und gar stummen Saal. Schön ist anders, es ist mit Händen zu greifen, aber so verlangen es nun einmal die Zeitläufte. Angesichts dessen kann man nur einmal mehr festhalten: Besser so als nicht.

Natürlich ist ein Geisterkonzert kein wirkliches Konzert. Dennoch war der Auftritt, wie ihn das Tonhalle-Orchester Zürich und sein Musikdirektor Paavo Järvi jetzt in der «Global Concert Hall» der Streaming-Plattform Idagio absolviert haben, von ganz eigenem Interesse (leider und unverständlicherweise sind diese Streamings nur für kurze Zeit verfügbar). In der Simulation der Konzertsituation entstand viel von jener Spannung, die das Konzert von der Probe (und wohl ebenso von der Aufnahmesitzung) unterscheidet. Auch für den Zuschauer gab es Mehrwert. Der Blick tief ins Orchester hinein, der einem im Konzertbesuch weitestgehend verwehrt bleibt, gab zu erkennen, welche Höhe die Fokussierung bei jedem Orchestermitglied im Moment der Klangerzeugung erreicht, welches Mass an Konzentration, ja an Hingabe da gefordert ist – dies neben der technischen Zuverlässigkeit, die als selbstverständlich vorausgesetzt wird. So ist es nun einmal beim Musizieren im Orchester – bei einem Tun, das nur gelingen kann, wenn jedes der zahllosen Elemente, die es zum Ganzen fügen, sein adäquates Niveau findet. Darüber hinaus liessen die Kameras in der Tonhalle Maag aber auch manch amüsantes Detail sehen – zum Beispiel den Frackärmel über der rechten, ins Instrument eingeführten Hand, den der einmal mehr fabelhafte Solohornist Ivo Gass wohl aus spucktechnischen Gründen weit nach oben gekrempelt trug.

So waren sie denn wieder einmal allesamt auf dem Podium vereint – in voller Besetzung und guter Laune. Dazu beigetragen hat das Programm, das ausschliesslich Musik von Peter Tschaikowsky bot. Eröffnet wurde es von dem nicht eben gehaltvollen Festmarsch in D-Dur, den Tschaikowsky 1883 für die Krönungsfeierlichkeiten des Zaren Alexander III. 1883 komponiert hat. Eine Spur Ironie lag über der Wiedergabe – was freilich mehr auf die oft im Bild erscheinende Mimik Paavo Järvis als auf das klangliche Gewand zurückging. Es folgte das populäre «Capriccio italien» in A-Dur, eine 1880 in Rom entstandene Folge von Variationen über italienische Volkslieder, die das Orchester zu einem heiteren, wenn auch gleich wieder vergessenen Erlebnis machte.

Zentrum des angenehm dimensionierten, nämlich gut einstündigen Programms bildete jedoch die Sinfonie Nr. 1 in g-Moll, die in der Gesamtaufnahme der Sinfonien Tschaikowskys mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und Paavo Järvi noch aussteht (so Gott, Corona und Berset wollen, kommt sie vom 10. bis zum 12. März in der Tonhalle Maag live zur Aufführung). Vom Komponisten als Jugendsünde bezeichnet, aber ganz besonders geliebt, verfehlen die «Winterträume», so der von Tschaikowsky stammende programmatische Übertitel, ihre Wirkung nicht. In seinem Blick auf die Partitur setzt Järvi auf leichten Ton und weite, ruhige Gesten. Ausgeprägt tut er das im Kopfsatz, wo die Akzente federnd daherkommen und die Steigerungen in der Durchführung gezügelt ausgelebt werden – die zugespitzte, durch Tempowechsel unterstrichene Emotionalität, die seine Wiedergabe der Fünften kennzeichnet, ist da noch ganz fern. Besonders gelungen wirkte das Adagio des zweiten Satzes wo zwar nicht alles mit letzter Präzision geriet, die Atmosphäre aber ausserordentlich dicht war. Spritzig das ursprünglich als Klavierstück entstandene Scherzo, elegant in den kontrapunktischen Verschlingungen und kontrolliert majestätisch das Finale. Das Tonhalle-Orchester Zürich ist auferstanden. Wenigstens digital.

Die Kunst, sie lebt

Unter denkbar widrigen Umständen hat das Opernhaus Zürich eine neue Produktion herausgebracht. «Simon Boccanegra» von Giuseppe Verdi ist zu einem Musiktheaterabend von seltener Intensität geworden.

 

Von Peter Hagmann

 

Christian Gerhaher in der Titelpartie von Verdis «Simon Boccanegra» in Zürich / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Tatsächlich: Sie lebt, die Kunst.

Mehr als fünfzig Zuschauer durften nicht hinein zu Giuseppe Verdis «Simon Boccanegra», der jüngsten Premiere am Opernhaus Zürich – und das war es dann auch: Bis Ende Jahr und, wie man jetzt weiss, auch darüber hinaus sind alle weiteren Vorstellungen untersagt. Allein, das Opernhaus hat sich längst seinen Ausweg geschaffen. Die Premiere von «Simon Boccanegra» wurde live auf Arte Concert übertragen, und dort, auf www.arte.tv, ist die Produktion bis zum 5. März 2021 kostenlos als Video verfügbar. Auf diese Weise rettet das Haus sich selber wie sein Publikum, dem angesichts der Lage nichts als das stille Darben bliebe.

Gewiss, die Begegnung mit Verdis Oper am Bildschirm, und darum geht es in diesen Zeilen, vermag den realen Opernabend in keiner Weise zu ersetzen. In diesem besonderen Fall ergab sich ausserdem eine zusätzliche Schnittstelle, denn wie schon bei Mussorgskys «Boris Godunow» zur Saisoneröffnung (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 30.09.20) agierten Chor und Orchester nicht an der Stätte des Geschehens, sondern in einem ausserhalb des Hauses, wenn auch nahe gelegenen Probenraum, aus dem der Klang über ein Glasfaserkabel auf die nun wirklich hochstehende Lautsprecheranlage im Opernhaus übertragen wurde. Für die Beobachtung am Bildschirm spielte das keine Rolle, zumal Unsicherheiten in der Koordination so gut wie ausblieben.

Und natürlich, Surrogat ist vieles beim Verfolgen einer Oper am Bildschirm. Ganz besonders gilt das für die optische Seite. Während der Besucher im Saal nach eigenem Ermessen bestimmt, worauf er sein Augenmerk richtet, wird der Blick des Konsumenten am Bildschirm gesteuert durch die Entscheidungen des für die Aufzeichnung zuständigen Regisseurs. Wenn Simon Boccanegra als Doge von Genua seinen zum Widersacher gewordenen Mitstreiter Paolo verdammt, lässt Michael Beyer nicht den Protagonisten sehen, sondern den Adressaten des Fluchs – und das stark herangezoomt, auf dass jede Zuckung im Antlitz des Bestraften sichtbar werde. So bildet sich eine Metaebene der Interpretation aus, die das ohnehin schon vielschichtige Erleben des Geschehens erweitert.

Der Blick auf die Gesichter, das Lesen des Mienenspiels, erhält in dieser Inszenierung nun allerdings besonderes Gewicht. Andreas Homoki, dem Regisseur des Abends, ist es einmal mehr gelungen, die Darsteller zu unerhört intensivem, aus tiefer innerer Beteiligung genährtem Spiel zu animieren – was die von «Simon Boccanegra» exponierten Dilemmata als fürwahr bedrückend empfinden lässt. Bei einem Sänger wie Christian Gerhaher, der mit der Verkörperung der Titelpartie ein drittes Debüt am Opernhaus Zürich absolviert, ist das nicht weiter erstaunlich, die Zeichnung der Figur des Genueser Dogen entspricht seinem eigenen Wesen in hohem Masse.

Obwohl einer unteren Schicht entstammend – die Kostüme, die Christian Schmidt entworfen hat, lassen daran keinen Zweifel –, geht Boccanegra in der Zürcher Produktion nicht in Prachtentfaltung und Machtrausch auf, wie sie aus Inszenierungen älteren Datums in Erinnerung stehen. Der in angeblich freier Wahl vom Volk bestimmte Doge ist ein Anderer, ein Aufgeklärter, ja ein Intellektueller. Seine Mission sieht er darin, dem durch Kämpfe zwischen mafiösen Clans und durch machistische Ehrbegriffe gestörten gesellschaftlichen Zusammenhalt mit einem Aufruf zu Gewaltverzicht, Respekt und Liebe zu begegnen. Er verfolgt sie beharrlich und geschickt, mutig und unbedingt – jedenfalls ohne Rücksicht auf sein Leben. Sein durch das Gift des Widersachers ausgelöstes, langsames Zerfallen zeigt er körpersprachlich an: durch eine zunehmend gebückte Haltung. Grossartig ist das.

Und in keinem Augenblick durch Kitsch getrübt. Glasklar singt Gerhaher, in scharf gezeichneter Lineatur, ohne die Zuckerwatte der Italianismen, dafür mit makelloser Diktion. Und einmal mehr wird hier deutlich, wie aus strukturellem Bewusstsein heraus Emotion entsteht. Wenn des Dogen Faust auf den Tisch fällt, und das hat Verdi durchaus vorgesehen, verfehlt es seine Wirkung nicht. Weitaus stärker berühren jedoch die Momente der Innigkeit, das Erkennen von Vater und Tochter, der Ausgleich zwischen Boccanegra und dem stolzen Fiesco – den Christof Fischesser ganz im Gegensatz zu dem hellen Timbre des Protagonisten mit runder, fülliger Tiefe versieht. Da muss man bisweilen schon zweimal durchatmen, aber zu Hause am Bildschirm fällt es nicht weiter auf.

Überhaupt erscheint «Simon Boccanegra» in Zürich als ein Kammerspiel, ja fast als eine Partie Schach. Den herrschenden Umständen entsprechend bleibt die Öffentlichkeit des Volks in der Inszenierung Homokis weitgehend ausgespart; der von Janka Kastelic vorbereitete Chor singt im Off, und wenn für zwei, drei Momente Menschenansammlungen sichtbar werden, so sind Figuranten mit Masken am Werk. Als umso spannender tritt das von Arrigo Boito, dem Librettisten der Zweitfassung von «Simon Boccanegra», geschickt gesteuerte Timing heraus – Christian Schmidts Drehbühne mit ihren überhohen Türen, die sich an bezeichnenden Stellen öffnen oder schliessen, die auch überraschende Durchblicke gewähren, ermöglicht es und unterstreicht es.

Unter der Leitung von Fabio Luisi, der hiermit seine letzte Produktion als Generalmusikdirektor der Oper Zürich dirigiert, zieht auch die Philharmonia Zürich kompromisslos mit. Pointiert, dynamisch sorgfältig differenziert, vielfarbig prägt das Orchester die szenischen Entwicklungen. Und geschmeidig konzertiert der Dirigent mit den Solisten; ohne die Fäden aus der Hand zu geben, lässt er ihnen den Raum, den sie brauchen und den sie sich wünschen. So findet Jennifer Rowley zu bewegenden Auftritten als Amelia Grimaldi alias Maria Boccanegra; ihre Funktionen als Zünglein an der Waage und zugleich liebende Frau verkörpert sie auch stimmlich tadellos. Der Gabriele Adorno befindet sich bei Otar Jorjikia, der Paolo Albiani bei Nicholas Brownlee in besten Händen.

Ja, sie lebt, die Kunst. Wenn sie es will.

Im aussergewöhnlichen Normalbetrieb – das Tonhalle-Orchester Zürich mit Paavo Järvi

Mit Einfallsreichtum, Beweglichkeit und Zuversicht trotzt das Tonhalle-Orchester Zürich der schwierigen Lage. Die künstlerische Entwicklung schreitet jedenfalls kräftig voran, wie vor allem die neue CD mit der fünften Sinfonie Tschaikowskys erkennen lässt.

 

Von Peter Hagmann

 

Hervorragend konzipiert, tadellos eingerichtet sind die Schutzmassnahmen, die das Tonhalle-Orchester Zürich bei seinen Konzerten in der Tonhalle Maag walten lässt. Im Publikumsbereich gelten getrennte Wege für die beiden Seiten des Saals, Schachbrettmuster in dem nur zur Hälfte, also mit gut fünfhundert Besuchern belegten Saal, durchgehende Maskenpflicht, Verzicht auf Pause, Gastronomie und Programmheft (letzteres wird digital angeboten). Auch im Orchester wird Maske getragen, allerdings nur für Auf- und Abtritt. Dafür sind die Orchestermitglieder so weit als möglich auseinander aufgestellt; anders als vor dem Ausbruch der Pandemie steht nicht nur den Bläsern, sondern auch den Streichern je ein eigenes Notenpult zur Verfügung – ohne dass dies klanglich hörbare Folgen hätte. Dazu kommt die modernsten Ansprüchen genügende Klimaanlage, die auf voller Leistung läuft und für Verhältnisse sorgt, die jenen draussen vor der Tür gleichen sollen.

Eine neue Art Normalmodus also. Für den künstlerischen Betrieb dagegen gilt das Gegenteil, dort herrscht der reine Ausnahmezustand. Die Situation ist derart volatil, dass nur auf kurze Sicht geplant werden kann und im einzelnen Fall sehr flexibel reagiert werden muss. Für die Eröffnung der Saison 2020/21 Ende September war ein Auftritt des finnischen Pianisten und Dirigenten Olli Mustonen angesagt, eines der Residenz-Künstler dieser Spielzeit. Mustonen musste jedoch überraschend absagen, weil die Schweiz in Finnland damals soeben auf die Risikoliste gekommen war, er nach der Rückkehr aus Zürich also in Quarantäne hätte gehen müssen, was er nicht konnte. Dank dem Netzwerk von Marc Barwisch, dem Leiter des Betriebsbüros beim Tonhalle-Orchester, wurde rasch Ersatz gefunden – mit Lars Vogt prominenter Ersatz. Die Idee, das kaum je gespielte Violinkonzert Ludwig van Beethovens in des Komponisten eigener Transposition zum Klavierkonzert zu präsentieren, fiel jedoch dahin.

Die Umstände sind somit alles andere als einfach. Dennoch, das Tonhalle-Orchester Zürich hält die Fahne der Kunst hoch – mit Energie, mit Erfolg. Paavo Järvi ist in diesen schwierigen Tagen kontinuierlich präsent, in kurzen Folgen erarbeitet der inzwischen in seine zweite Saison eingetretene Chefdirigent und Musikdirektor mit dem Orchester neue Programme, die Konzerte werden durchgängig mehrfach geführt und sind ausgezeichnet verkauft – vor allem: Das Gastspiel im LAC in Lugano vor wenigen Tagen hat stattgefunden und die wichtige Reise in den Wiener Musikverein Mitte November ist derzeit noch nicht abgesagt. Dazu kommt eine ganze Reihe kleinerer Veranstaltungen, so sie denn möglich sind – das Team rund um die Intendantin Ilona Schmiel und die Orchestermitglieder sind da voll involviert. Mutig und beweglich wird agiert – und es ist möglich.

So wird denn trotz der aussergewöhnlichen Lage immer deutlicher, auf welches Profil Paavo Järvi hinarbeitet. Im Vordergrund steht ohne Zweifel «The Joy of Music», um einen berühmt gewordenen Buchtitel Leonard Bernsteins zu zitieren. Die Spielfreude, die das Tonhalle-Orchester zeigt, ist klar zu sehen und deutlich zu hören. Wobei nicht jeder für sich selbst loströtet, wie es vor einigen Jahren noch der Fall war; oberstes Ziel ist vielmehr die Lebendigkeit des Einzelnen im Ganzen der Gemeinschaft. Dabei hält das Engagement auch an, wenn schwierigere Stücke auf dem Programm stehen: letzte Saison die Werke von Erkki-Sven Tüür, diese Spielzeit die Musik von Arvo Pärt, beide Inhaber des Creative Chair. Im jüngsten Programm des Orchesters gab es zur Eröffnung von Pärt das Stück «Trisagion» für Streicher. Die Partitur – Übersetzung eines Gebets der orthodoxen Kirche in Musik – arbeitet mit streng limitiertem Material, das nach der Art des Gebetstextes strukturiert wird. Im Ergebnis, im Drehen um eine kleine Terz, führte das zu einer lange wirkenden Viertelstunde, da half auch die aktive und hochstehende Teilhabe des Orchesters nicht.

Aufschlussreicher fielen in den letzten Wochen zwei Begegnungen mit dem klassischen Repertoire aus. Mit seiner ungestümen Auslegung von Beethovens siebter Sinfonie, A-dur, zeigte Paavo Järvi an, dass er auch bei diesem zentralen Komponisten der Ära mit David Zinman eine Seite weiter blättert (gespannt sein kann man auf den für April nächsten Jahres vorgesehenen Abend, an dem Zinman mit Beethovens Fünfter zum Tonhalle-Orchester zurückkehrt). Während Zinman auf den Pfaden des fein ziselierten, durchhörbaren, dem Heroischen abgewandten Beethoven-Tons wandelte, wie ihn Frans Brüggen mit seinem Amsterdamer Orchester entwickelt und wie ihn Giovanni Antonini mit dem Kammerorchester Basel weitergeführt hat, neigt Järvi zu heftiger, bisweilen geradezu vor Energie berstender Kontur – was schon seine Gesamtaufnahme der Sinfonien Beethovens mit der Kammerphilharmonie Bremen zu erkennen gegeben hat. Die sprühende Vitalität und das mitreissende Temperament in Ehren, gerade bei Beethovens Siebter, aber wirkt dieses von geballter Eruption geprägte Beethoven-Bild in seinem Ansatz nicht doch merklich retrospektiv? Oder gar restaurativ?

Nicht dass die historisch informierte Aufführungspraxis alleinseligmachende Wege aufgetan hätte. Gleichwohl hat sie Prämissen geschaffen, an denen bei der Interpretation von Musik aus der Epoche der Klassik kein Dirigent, kein Orchester vorbei kann. Darüber sinnieren konnte man nach der Aufführung von Wolfgang Amadeus Mozarts Sinfonie in Es-dur, KV 543. Auch hier herrschte beim Tonhalle-Orchester Zürich ein frischer, unkompliziert lustvoller Ton – wobei nicht zu überhören war, mit welch wacher Sorgfalt Paavo Järvi das Geschehen steuerte. Aber ist die grosse sinfonische Besetzung mit so kompaktem Klang für das Schaffen Mozarts wirklich das Geeignete? Bleiben die Holzbläser nicht hinter den Streichern zurück, wie es vor fünfzig Jahren der Fall war? Und muss es wirklich durchgängiges Vibrato sein? Sollte in dieser Sinfonie die Musik nicht zum Sprechen finden statt sich, wie es in der langsamen Einleitung zum Kopfsatz geschah, in ebenmässiger Gleichförmigkeit zu verlieren? Fragen über Fragen; sie drängen sich auf. Es darf freilich auch festgehalten werden, dass der Zwei-Viertel-Takt des zweiten Satzes zu trefflichem Fluss fand. Und dass das Trio zum Scherzo von wunderbarer Kantabilität der Klarinetten lebte.

Vor einem ganz anderen Bild steht, wer sich der ersten Ausgabe der angekündigten Gesamtaufnahme der Sinfonien Peter Tschaikowskys zuwendet. Sie gilt der Fünften, jener in e-moll. Da ist Paavo Järvi ganz bei sich, da entwickelt er anregende Perspektiven. Die Tschaikowsky-Interpretation, sagt er, sei bis heute durch die Auffassungen und das Klangbild Jewegeny Mrawinskys beeinflusst, des legendären, langjährigen Chefdirigenten der St. Petersburger Philharmoniker: ja nicht zu viel Emotion, möglichst gerade im Schlag, streng im Ton, herb im Klang. Wie sich Järvi – der damit freilich nicht der Erste ist, wenn man etwa an Mariss Jansons denkt – von solchen Hörerwartungen distanziert, ist in hohem Mass eindrücklich. Furchtlos setzt er auf die emotionalen Dimensionen der Musik Tschaikowskys. So arbeitet er dezidiert und nuanciert mit dem Zeitmass, versieht er Verläufe, Phrasen, Gesten mit individuellen Tempi. Damit einher geht eine geschmeidige, sehr charakteristische Farbgebung, die vom Orchester in grossartiger Intensität ausgeformt wird und von der Tontechnik hervorragend eingefangen ist.

Und die Lautstärke? Als Paavo Järvi im Herbst 2019 mit seinem Zürcher Tschaikowsky-Zyklus begann, er tat es mit den Sinfonien Nr. 4 und 6, kam es im Publikum wie im Orchester zu Klagen über allzu hochgetriebene Dynamik – Klagen, die mir nur zu berechtigt erschienen (vgl. Mittwochs um zwölf vom 31.10.19). In einer Aufnahme kann das natürlich alles zum Besten ausbalanciert werden; die Einspielung von Tschaikowskys Fünfter, der die Tondichtung «Francesca da Rimini» zugefügt ist, lässt denn auch im Dynamischen keinen Wunsch offen. Mit äusserster Sorgfalt ist da alles ausgestaltet, man hört es, weil das Orchester sozusagen von innen heraus aufgenommen ist und die Spitzen der Lautstärke, die Järvi wohl um der instrumentalen Farben willen verlangt, ins Klangganze eingebettet sind. So findet der Kopfsatz nach der gehauchten langsamen Einleitung zu einer Erzählung aus einem einzigen Guss, erzeugt das Andante tiefe Berührung, ohne in Kitsch abzugleiten, kann man im Walzer des dritten Satzes die Vorteile der alten deutschen Orchesteraufstellung mit den beiden Geigengruppen links und rechts vom Dirigenten entdecken, während das Finale mit der ganzen Schönheit des dunklen, warmen Tutti-Klangs prunkt. Das Tonhalle-Orchester Zürich kommt hier zu einem blendenden Auftritt.

Peter Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 5, Francesca da Rimini. Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi (Leitung). Alpha 659 (CD, Aufnahmen 2019/20, Publikation 2020). In der Schweiz sind die Aufnahmen bereits erhältlich, international und im Streaming erscheinen sie ab 6. November.

Das Volk: unsichtbar anwesend – «Boris Godunow» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Der Gekrönte (Michael Volle als Boris Godunow), der Strippenzieher (John Daszak als Schuiski) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Not macht erfinderisch, ganz besonders im Opernhaus Zürich. Vom Normalzustand sind wir noch denkbar weit entfernt, die Pandemie bestimmt das Leben mit ungebrochener Kraft, aber die Saison sollte unbedingt anfangen. Und spektakulär sollte sie anfangen, als lautes und deutliches Lebenszeichen, nämlich mit einer fürwahr gross besetzten Choroper. So sagte es sich das Team um den Intendanten Andreas Homoki – und deshalb blieb es bei der von langer Hand geplanten Produktion von Modest Mussorgskis «Boris Godunow». Dies in der Urfassung von 1869 und in der originalen Instrumentation des Komponisten, aber mitsamt dem «Polen-Akt» und dem Schlussbild mit dem Gottesnarr, den beiden 1872 nachgereichten Teilen. Davon abgesehen war allerdings manches etwas ungewöhnlich.

Nicht nur die Lücken in den Reihen waren es – sie sind dem Umstand geschuldet, dass derzeit von den gut 1100 Plätzen des Hauses nur deren 900 verkauft werden. Und nicht nur die Masken, die zu tragen obligatorisch und überaus sinnvoll ist. Weitaus merkwürdiger mutete an, dass im Graben kein einziges Lämpchen auszumachen war, wo sich doch das Orchester schon voll im Einsatz befand. Ebenso gähnend die Menschenleere auf der Bühne, doch dort herrschte immerhin eine Versammlung grossformatiger Aktenregale, die von dienstbaren Geistern zu ebenso leichtfüssigem wie schwergewichtigem Tanz geführt wurden. Es gilt eben nicht nur die Maskenpflicht, sondern auch die Abstandsregel, welche die Aufstellung des Orchesters im Graben so unmöglich machte wie das körpernahe Singen des Chors auf der Bühne. Da war guter Rat teuer, zumal eine Kammerversion von «Boris Godunow» – etwa in der Art, wie es das Theater Basel demnächst mit «Saint François d’Assise» von Olivier Messiaen versucht – undenkbar ist.

Für die Lösung des Problems sorgte moderne Technik. Der von Ernst Raffelsberger vorbereitete Chor und das von Kirill Karabits geleitete Orchester agieren in ihrem Probenraum am Kreuzplatz, einen Kilometer von der Oper entfernt. Über Glasfaserkabel, zahllose Mikrophone, eine höchsten Ansprüchen genügende Beschallungsanlage und mit feinfühliger Steuerung durch ein Team von Technikern gelangen Ton und Bild vom Probenraum ins Opernhaus und zurück. Das mag man – mit dem Gedanken an Freiluftveranstaltungen, wie sie in Bregenz oder St. Gallen angeboten werden – als zweitklassig empfinden. Tatsächlich ersetzt kein Lautsprecher, sei er noch so hochstehend, die Eins-zu-Eins-Wirkung eines im Raum selbst entstehenden, direkt aufs Ohr treffenden Tons instrumentaler oder vokaler Abstammung. Allein, auch im Wissen darum gelingt es Laufe des Abends immer wieder, die technische Zurichtung zu vergessen und sich ganz und gar auf das musikalisch-szenische Geschehen einzulassen. Vor allem aber: besser ein Abend mit technischer Krücke als keiner.

Ja mehr noch: Die physische Abwesenheit des Chors, des Volks, verdeutlichte die zentrale Botschaft von «Boris Godunow» in aller Schärfe und unterstrich zudem, dass in diesem Stück – anders, als es das ausdrucksstarke Bühnenbild von Rufus Didwiszus mit seinen enormen Bergen von Archivalien suggerieren mag – nicht von einer fernen Vergangenheit die Rede ist, sondern schlechthin von der Jetztzeit. Wie es damals Boris Godunow mit dem legitimen Zarewitsch tat, verfahren heute Putin, Lukaschenko, Erdogan und Konsorten mit Andersdenkenden. Und wenn in der Oper Mussorgskis, das Libretto stammt vom Komponisten selbst, der Satz fällt, an der Wahrheit sei der Pöbel nicht interessiert, sind wir nochmal ganz nah an der Gegenwart. Auf der anderen Seite kommen die Einsamkeit, die Abgehobenheit, die Entfremdung von der Realität, wie sie den Machthaber Boris Godunow zeichnen, im Setting der Zürcher Produktion zu ganz besonderer Greifbarkeit. Dass der Zar am Schluss der Krönungsszene zwar in jenem prachtvollen Ornat, das ihm der Kostümbildner Klaus Bruns entworfen hat, aber ganz allein die Bühne betritt, führt zu einem szenischen Moment, der sich dem Besucher tief eingraben dürfte.

Dieser Zar, er ist denn auch ein durch und durch ungeheuerlicher Kerl – das führt Michael Volle in der Titelpartie eindringlich vor. Er stellt die labile psychische Verfassung Godunows, die Egomanie des Machtmenschen, sein grenzenloses Bedürfnis, geliebt zu werden, sein Leiden an einer verruchten Tat auf dem Weg zur Machtergreifung, schliesslich den Verlust des inneren Halts und das Zerbrechen schonungslos heraus – mit letztem Einsatz in der körperlichen Präsenz auf der Bühne und ohne Zurückhaltung in der Nutzung seiner stimmlichen Ressourcen. Blieb Matti Salminen, dem Godunow zurückliegender Tage, stets noch ein Rest an Vornehmheit, so dominiert bei Volle kunstvoll gestaltete Rohheit. Unterstützt wird er dabei vom Dirigenten Kirill Karabits, der mit der engagiert zupackenden Philharmonia Zürich die Ecken und Kanten in Mussorgskys herber Partitur zu schneidender Wirkung bringt.

Fällt ein scharfer Lichtstrahl auf den Protagonisten, so gibt die hochtheatralisch zugespitzte Inszenierung von Barrie Kosky zu erkennen, dass kein Diktator allein ist. Auch Boris Godunow sieht sich in einem Spinnennetz von Kräften gefangen, die seinen Ambitionen entgegenwirken. Da ist der Klosterbruder Pimen, ein selbstloser Chronist, der zu Beginn der Oper die fragile Basis von Godunows Machtergreifung offenlegt und zum Schluss durch die Macht des angeblich Faktischen den Gewaltmenschen in Wahnsinn und Tod treibt – Brindley Sherratt setzt das vorzüglich um. Und da ist der undurchsichtige Fürst Schuiski, dem an nichts mehr gelegen ist als am Stolpern des Zaren, auf dass er sich selbst an dessen Stelle setzen könne – grossartig, wie John Daszak die Durchtriebenheit dieses Intriganten über die Rampe bringt. Es gibt aber auch die Mitläufer, etwa den ungebildeten, jedoch gefährlich mit Macht versehenen Bürokraten Schtschelkalow, den Konstantin Shushakov blendend verkörpert.

Einen markanten Kontrast bildet der in Polen angesiedelte Mittelteil, in dem sich die Bühne öffnet. Hier tritt zutage, wie sich die Gegenkräfte formieren. Edgaras Montvidas als der Prätendent Grigori und Oksana Volkova als die gelangweilte Adlige Marina bilden das Zentrum der Kräfte – aber gesteuert werden sie von dem Jesuiten Rangoni, einem virtuosen Wortkünstler, den Johannes Martin Kränzle mit seiner ihm eigenen Lust zu einem effeminierten Schmarotzer macht. Barrie Kosky arbeitet nun einmal sehr wirkungsvoll an den einzelnen Figuren – genau so effizient, wie er sich ausladende sprechende Räume schaffen lässt. Am Schluss wird die Bühne von einer Riesenglocke beherrscht, dem Zeichen jener Macht, auf der die politischen Intrigen fussen. Hier schlägt denn die Stunde des Gottesnarren (Spencer Lang), der den ganzen Abend als stummer Zeuge verfolgt hat und nun sein trauriges Fazit zieht. Die präzis geschneiderten Anzüge für die Herren an den Schalthebeln unterstreichen, dass dieses Fazit nach wie vor Gültigkeit hat.