Vokale Künste – und eine instrumentale Überraschung

Eröffnung der Osterausgabe des Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Zwei Mal Maihof und zwei Mal gespannte Erwartung – so hob die diesjährige Osterausgabe des Lucerne Festival an. Als Veranstaltungsort ist sie nicht ungeeignet, die 1941 eingeweihte Maihofkirche, aber die repräsentative Ausstrahlung des KKL hat sie natürlich nicht. Das tat aber keinerlei Abbruch, denn die beiden Sängerinnen, die in dieser Eröffnung zu Wort kamen, sorgten für Glanzlichter erster Güte. Nicht so sehr gilt das für den Tenor Rolando Villazón, der stimmlich nicht mehr dort steht, wo er stand und das kompensiert durch Chargieren im Auftritt und wortreiches Moderieren – dies in seiner Eigenschaft als «Mozart-Botschafter» der Salzburger Stiftung Mozarteum. Neben Villazón freilich trat eine junge Frau auf, die sich die allergrössten Hoffnungen als Sopranistin machen kann. Es ist Fatma Said, eine 1991 geborene Ägypterin, die als Sängerin in der Oper von Kairo aufgewachsen ist. Ihre Ausbildung erhielt sie aber an der Hanns-Eisler-Hochschule für Musik in Berlin sowie im Opernstudio der Mailänder Scala. Dort ist sie jetzt auch in einer Neuinszenierung von Mozarts «Zauberflöte» aufgetreten.

Fatma Said verfügt über eine ganz ausserordentliche Ausstrahlung. Schon nur, wenn sie dasteht und auf ihren Einsatz wartet, nimmt sie das Publikum gefangen. Hebt sie dann zu singen an, ist man ganz Ohr. Ihr Timbre ist von seltener Rundung und zugleich ausgebautem Glanz, ihre Technik ohne Fehl und Tadel, die Diktion absolut bewundernswert. Was sie kann, erwies sie nicht im Duett «Là ci darem la mano» aus Mozarts «Don Giovanni» mit Villazón, da war sie das penetrant in die Hand genommene Werkzeug des berühmten Kollegen – der hier in einer stimmschonenden Baritonpartie auftrat. Zur Geltung kam es in «Ach, ich fühl’s, es ist verschwunden», der Arie der Pamina aus Mozarts «Zauberflöte», die eine Innigkeit sondergleichen verströmte. Stilistisch steht die junge Sängerin allerdings nicht auf dem letzten Stand; ihre Phrasierung zeigt noch Unarten, die längst überwunden sein sollten – aber vielleicht sind die neueren Erkenntnisse zum Mozart-Gesang noch nicht bis in die Korrepetitorenstuben der Scala vorgedrungen.

Nicht minder erstaunlich die 1989 geborene, aus dem Fernen Osten Russlands stammende Sopranistin Julia Lezhneva. Sie ist die Nachfolgerin von Emma Kirkby und Edita Gruberova in einer Person und sichert der vokalen Koloratur die Zukunft. Atemberaubend, mit welch geradezu instrumentaler Brillanz sie die Läufe rollen lässt, wie selbstverständlich sie den «stile concitato» beherrscht, die ganz schnellen Repetitionen auf ein und derselben Tonhöhe, wie einfallsreich sie mit den Verzierungen umgeht – und das alles in keinem Augenblick aufgesetzt, sondern ganz und gar natürlich in ihr Singen eingebaut. Ja, Julia Lezhneva ist ganz einfach auch eine ausgezeichnete Sängerin – das führte sie an ihrem Liederabend im Maihof vor. Klar, Generalbass auf einem Steinway, das hat seine problematische Seite – zumal dann, wenn das Instrument halb geschlossen und sein farbliches Potential unterspielt bleibt. Und dass sich der Pianist Mikhail Antonenko, der sich als braver Korrepetitor bewährte, noch mit zwei solistischen Beigaben tröstete, erschien ebenfalls als Notlösung – erst recht darum, weil gerade bei Schuberts Impromptu in Ges-dur die Verwendung eines Hammerflügels angebracht gewesen wäre.

Dann wären auch die drei Lieder Schuberts, die Julia Lezhneva ausgewählt hatte, zur Vollendung gekommen. In «Nacht und Träume» etwa liess sie hören, dass sie eben nicht nur über eine «geläufige Gurgel» verfügt, dass sie vielmehr auch herrliche Kantilenen zu ziehen und sie durch bewusst eingesetztes Vibrato zu beleben weiss, dass sie vorbildlich aus der Sprache heraus phrasiert und ihr Timbre voll aufblühen lassen kann. Dass die junge Sopranistin auch den feinen Humor pflegt, liess «La regata veneziana» von Gioachino Rossini erkennen. Hier begleiten wir Zuhörer, die Zuhörerinnen sind eingeschlossen, die hübsche Anzoleta, die von ihrem am Canal grande gelegenen Balkon aus das Wettrennen der Barken verfolgt und dabei ihren Geliebten Momolo anfeuert. Der feurige Gondoliere hat Glück, er erringt das rote Banner des Siegers und ertrinkt demzufolge in einem Meer an Küssen. Köstlich wie Julia Lezhneva diese kleine Szene darbot.

Fast die grösste Überraschung boten indessen das Iberacademy Orchestra und sein Künstlerischer Leiter Roberto González Monjas. Das Jugendorchester aus Kolumbien, eine sozial-kulturelle Institution im Geiste des venezolanischen Sistema, bot die «Eroica», Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 3 in Es-dur, und das wie es jüngst das Tonhalle-Orchester Zürich getan hat, ohne Dirigent. Roberto González Monjas, ein erstklassiger, ausserordentlich vielbeschäftigter Geiger, führte die Musiker als Konzertmeister an – in einer Funktion, die er von seiner Tätigkeit bei der Santa Cecilia in Rom und beim Musikkollegium Winterthur her kennt. Nur liess er hier seiner sagenhaft mitreissenden Energie freien Lauf; bisweilen jagte er von seinem erhöhten Sitz auf und wandte sich, durchwegs heftig weiterspielend und seine Identifikation auslebend, den einzelnen Orchestergruppen zu – was zur Folge hatte, dass die jungen Musiker aus Südamerika nicht nur sogleich an die Stuhlkante rutschten, sondern sich ihrem nur wenig älteren Vorspieler auch einschränkungslos hingaben. Das führte zu einer Wiedergabe, welche die Bedeutungszusammenhänge rund um die «Eroica» fürwahr handgreiflich werden liessen. Und zugleich agierte das Orchester stilistisch auf hohem Niveau und lebte es von manch gelungenem solistischem Beitrag. Anders als beim Simon-Bolívar-Orchester stand hier die Musik und nur sie im Vordergrund.

Langes Warten – und dann dieser Höhepunkt

Daniil Trifonov am Weltklaviergipfel des Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Er ist auch nur ein Mensch, er mag auch einmal einen weniger guten Tag haben. Gehyped und gepushed wie kein Vertreter seiner Generation, ist der 26-jährige Russe Daniil Trifonov so gut wie allgegenwärtig. Das kann auch für Igor Levit gelten, nur tritt der Aspekt des Marketings bei dem um vier Jahre älteren Landsmann Trifonovs – beide Pianisten stammen übrigens aus derselben sibirischen Stadt Nischni Nowgorod – nicht so merklich in den Erscheinung. Als Igor Levit vor Jahresfrist beim Piano-Festival des Lucerne Festival die Goldberg-Variationen Johann Sebastian Bachs spielte, und er tat das auf einzigartiger Höhe (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 30.11.16), herrschte im voll besetzten KKL eine Stimmung konzentrierter Einkehr. Ganz anders diesen Herbst beim Auftritt Daniil Trifonovs. Das Haus so ausgebucht, die Publikumsbereiche rund um den Konzertsaal so belegt, die Atmosphäre so aufgekratzt wie selten. Schon nach den ersten Stücken gab es Bravo-Rufe, schon nach dem ersten Teil zeichnete sich Stehapplaus ab.

Allein, gemessen an der tatsächlich sagenhaften Begabung Trifonovs und seinem bisherigen Leistungsausweis war der Abend eine Enttäuschung. Wenig hatte er zu tun mit der schlechterdings sensationellen Mitwirkung Trifonovs an Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 1 beim Tonhalle-Orchester Zürich und seinem Gastdirigenten Kent Nagano (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 11.01.17), und schon gar nicht liess sich die Darbietung vergleichen mit der Bewältigung der «Etudes d’exécution transcendante» von Franz Liszt, die der Pianist 2015 für die Deutsche Grammophon aufgenommen hat (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 22.02.17). Seltsam unfassbar wirkte Trifonov an diesem Freitagabend in Luzern, ein Windhauch, jedenfalls alles andere als geerdet und in sich verankert.

Mag sein, dass das auch, vielleicht sogar in erster Linie, am Programm lag. Der erste Teil des Abends bot im wesentlichen einen Auszug aus Trifonovs jüngster CD, die Werke von Chopin und solche über Chopin zusammenführt. Meist handelt es sich dabei um Miniaturen von wenigen Minuten Dauer – was keine Äusserlichkeit darstellt, für den Rezeptionsvorgang vielmehr von Belang ist. «Chopin» von Robert Schumann hat seinen Platz im Zyklus «Carnaval», aus dessen Kontext das Stück seine Wirkung gewinnt; daraus losgelöst, wie es Trifonov in Luzern darbot, steht es einsam da – und so romantisch verhaucht, wie es Trifonov spielt (das muss man freilich erst einmal können), erscheint es als eine Petitesse, die es in Wirklichkeit nicht ist. Effektiv als Petitessen erkennbar waren dagegen «Hommage à Chopin» aus den «Stimmungen» von Edward Grieg, ein kitschiges Nocturne des Amerikaners Samuel Barber und «Un poco di Chopin» von Peter Tschaikowsky.

Eingerahmt wurden die Kleinigkeiten von zwei Zyklen mit Variationen über Themen von Frédéric Chopin. Der erste stammte aus der Feder des Katalanen Federico Mompou, den man bestenfalls noch dem Namen nach kennt. Das braucht sich nicht zu ändern, die zwölf Variationen über die Nummer sieben aus Chopins Préludes op. 28 sind eine nette Spielerei, mehr nicht. Ebenfalls ein Prélude aus dem Opus 28, nämlich die würdige harmonische Studie in c-moll der Nummer 20, nahm sich Sergej Rachmaninow vor – doch wie gern bei dem grossen russisch-amerikanischen Pianisten und Komponisten erzeugte die Folge der 22 kurzen Stücke wohlige Kaminfeueratmosphäre. Bei all dem wurden das unglaubliche Vermögen und das ernsthafte Bemühen des Interpreten spürbar; dennoch kam immer wieder der Eindruck auf, Trifonov, der dieses Programm in Abwandlungen landauf, landab spielt, bleibe im Grund aussen vor. Da droht Gefahr.

Das blieb so, als es zur Sache selbst ging, nämlich zur Klaviersonate in b-moll op. 35 von Chopin. Endlich wieder einmal dieses grandiose Stück – aber: welche Ernüchterung. Im Kopfsatz nahm das Agitato der Achtelbewegungen so wild nervöse Kontur an, dass der Reiz bald verflogen war, und als dann die Akkordwiederholungen einsetzten, verhinderte das rasante Tempo das Ausbrechen der Energie. Erst recht gilt das für das apokalyptische Finale, das als Wolkenfetzen vorüberzog, abgesehen von den deutlich herausgehobenen Stütztönen aber nur in Umrissen verständlich wurde. Wesentlich überzeugender gelangen die lyrischen Momente im Kopfsatz und die kantable Versenkung im Trio zum Scherzo des zweiten Satzes – und dort, in den leuchtenden Binnenstimmen, wurde deutlich, wie viel Transparenz dieser Pianist zu erzielen in der Lage ist.

Einsamer Höhepunkt dieses im Grunde wenig geglückten Rezitals war der Trauermarsch. Da schien Trifonov bei sich selbst, und er schuf in diesen etwas mehr als achtzig Takten eine kleine, aber ausserordentlich intensive Szene. Sehr langsam, sehr leise hob er an; die Quinten in der linken Hand versah er mit so viel Gewicht, dass die tiefe Resonanz heraustrat und das Schwarze des Moments betont wurde. Die von Chopin nicht ausgeschriebene, von der Komposition aber nahegelegte Steigerung erzeugte Trifonov vornehmlich durch die schreitende Wechselbewegung der linken Hand; trotz des unendlich gebremsten Tempos ergab sich so der Eindruck eines heranziehenden Trauerzugs. Der Innenteil in Des-dur geriet dann zur reinen Himmelsmusik: zeitlos, unendlich schön, ohne Grenzen traurig. Danach aber, wie der Trauermarsch wieder Raum greift, stellte sich eine durch Mark und Bein dringende Heftigkeit ein, die einen abrupt auf die Erde zurückholte. In der Partitur steht an dieser Stelle «piano», das von Trifonov gespielte Fortissimo sorgte nicht nur für einen beinah szenischen Schock, sondern formte auch die Dramaturgie des nun wieder abziehenden Trauerzugs, der sich schliesslich in einem ersterbenden Pianissimo verlor. Extravaganzen solcher Art haben sich die grossen Pianisten der Romantik erlaubt; werden sie so überzeugend aufgenommen, wie es Daniil Trifonov tut, kann niemand etwas dagegen haben.

Hie Stillstand, dort Aufbruch

Lucerne Festival – Brennspiegel der Orchesterkultur

 

Von Peter Hagmann

 

Reich bestückt ist inzwischen der Garten rund ums Schloss, und zahlreich sind die darin beschäftigten Gärtner. Es gibt dort Zonen für die Kleinsten unter uns und solche für die Liebhaber kürzerer Veranstaltungen, es gibt Sektoren für das Neuste vom Tage und sogar ein eigenes, sehr schön ausgebautes Haus für die vertiefende Ausbildung in diesem Bereich. Allein, im Zentrum steht nach wie vor das Schloss selber – und das ist in der Sommerausgabe des Lucerne Festival die Reihe der fast dreissig Sinfoniekonzerte. Eine Plattform, auf der sich innerhalb von gut vier Wochen die bedeutendsten Orchester der Welt mit ihren Dirigenten begegnen, existiert meines Wissens nirgendwo sonst. Und das Interesse an dieser Art Kür scheint ungebrochen; von diesen Konzerten aus auf Zerfallserscheinungen irgendwelcher Art zu schliessen, wäre jedenfalls verkehrt. Sie haben Zukunft, das zeigt die Gegenwart.

Eine der Besonderheiten besteht darin, dass angesichts der Luzerner Konkurrenzsituation die gastierenden Orchester, jedenfalls die meisten unter ihnen, in erstklassigen personellen Konstellationen und mit Produktionen auftreten, die auf Hochglanz poliert sind. Das führt immer wieder zu Konzerterlebnissen der ganz eigenen Art. Die Berliner Philharmoniker zum Beispiel sind diesen Sommer zum letzten Mal mit Simon Rattle nach Luzern gekommen – wie stets auf dem Rückweg von den Salzburger Festspielen und wie jedes Jahr zum Ende des Sommers. Im ersten ihrer beiden Auftritte gab es ein neues Werk von Georg Friedrich Haas und «Die Schöpfung» von Joseph Haydn. Womit Rattle noch einmal in Erinnerung rief, in welcher Weise er in seinem anderthalb Jahrzehnte umfassenden Wirken als Chefdirigent das Repertoire und die Spielkultur des Orchesters erweitert hat. Zu einem wahrhaft fulminanten Abschied geriet jedoch der zweite Auftritt, der zwei Sinfonien von Dmitri Schostakowitsch aufeinander folgen liess: die erste und die letzte.

Fast fünfzig Jahre liegen zwischen den beiden Werken – zwischen der aufschiessenden, extravertierten, hoffnungsvollen Examensarbeit von 1925 und dem in sich gekehrten, hörbar depressiven und klanglich extrem ausgedünnten Schwanengesang von 1971. Was für ein Leben, was für ein Schaffensbogen tut sich auf – das in einem Konzertprogramm bewusst zu machen, ist allein schon ein Verdienst. Und dann die klingende Umsetzung. Unglaublich zart, mit dem Silberstift gezeichnet, dazu in höchsten Masse anteilnehmend die fünfzehnte Sinfonie in A-dur. Hochpräzise im Rhythmischen, geschmeidig in den vielen brechenden Taktwechsel, leuchtend im Farbenspiel zwischen den verschiedenen, häufiger getrennt als gemeinsam agierenden Orchestergruppen. Die erste Sinfonie in f-moll dagegen: virtuos gesetzt vom Komponisten und vom Orchester blendend realisiert. Eine sagenhafte klangliche Palette tat sich da auf – mit Streichern in kompakter Wärme, mit strahlenden Blechbläsern, mit charakteristischen Holzbläsern. Das Lucerne Festival Orchestra wird sich gewaltig anstrengen müssen, so der Eindruck danach. Und grosse Schuhe sind das, die für Kirill Petrenko im nächsten Sommer bereitstehen.

Noch bemerkenswerter als der einzelne Höhepunkt erscheint in der Abfolge der Luzerner Sinfoniekonzerte jedoch die Möglichkeit, den Puls der Orchesterkultur zu fühlen und aktuelle Tendenzen aufzuspüren. In besonders krasser Weise war das vor zwei Tagen möglich: beim ersten der beiden traditionellen Auftritte des Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam. Eines allseits und sehr geschätzten Klangkörpers – als Bernard Haitink, als Riccardo Chailly, als Mariss Jansons das Zepter führten. Mit dem derzeitigen Chefdirigenten Daniele Gatti hat das Orchester kein Glück, wie die Wiedergabe von Anton Bruckners Sinfonie Nr. 9 erwies. So aufgeplustert und öde, so langsam und zugleich unerfüllt, so grob und hart im Klang war das Stück im Konzertsaal des KKL vielleicht noch gar nie zu hören. Der Kopfsatz fürchterlich altmodisch in Stein gehauen, das (unerklärlicherweise attacca angeschlossene) Scherzo stampfend, als ob eine Armee daherkäme, der langsame Satz mit seinen drei gewaltigen Ausbrüchen ohne klaren dynamischen Aufbau – wie ist so etwas möglich?

Immer wieder hat Gatti dabei, übrigens vergeblich, die Faust geballt. Genau das ist es, was Gott sei Dank vorbei ist. Die Sommerausgabe des Lucerne Festival hat gezeigt, dass der interessante Wind aus anderer Richtung weht. Mit seinem harschen Zugriff bei den Tondichtungen von Richard Strauss hat das auch Riccardo Chailly am Pult des Lucerne Festival Orchestra erfahren; soll das ausserhalb der Rankings stehende Niveau erhalten bleiben, wird er auf das Orchester und seine ganz anders gelagerte, in der Kammermusik, im gegenseitigen Zuhören und darum im Leisen verankerte Mentalität zugehen müssen. Die besten Momente haben sich diesen Sommer dort ergeben, wo Parameter solcher Art herrschten: beim Chamber Orchestra of Europe, das mit Bernard Haitink in ungeahnte Tiefen des musikalischen Empfindens vorgedrungen ist (vgl. die Besprechung vom 23.08.17), bei den Berliner Philharmonikern, deren Potential Simon Rattle grossartig genutzt und weiterentwickelt hat, vor allem aber beim City of Birmingham Symphony Orchestra, das mit seiner jungen Chefdirigentin Mirga Gražinytė-Tyla zu neuen Ufern aufgebrochen ist (vgl. die Kritik in der NZZ vom 05.09.17). Das gibt Hoffnung.

Theater zum Hören

Lucerne Festival III – John Eliot Gardiner und die Opern Monteverdis

 

Von Peter Hagmann

 

Ein Exerzitium war das, ebenso aufschluss- wie erlebnisreich. An drei langen Abenden die drei Opern, die von Claudio Monteverdi überliefert sind, und das in strenger Kost, ohne die Wirkungen eines Bühnenbilds und ohne die Segnungen szenischer Interpretation, vielmehr ganz und gar auf die Musik konzentriert. Das war die Idee, die sich John Eliot Gardiner zusammen mit den von ihm begründeten Formationen des Monteverdi Choir und der English Baroque Soloists für den halbrunden vierhundertfünfzigsten Geburtstag des Komponisten ausgedacht – und zur Verwirklichung gebracht hat. Tatsächlich läuft das gewaltige Vorhaben seit April diesen Jahres; es macht Station in einer ganzen Reihe europäischer Städte, darunter eben Luzern.

Ohne Kompromiss

Gardiner ist nun einmal nicht Musiker allein, er wirkt auch als Unternehmer. Als sein Vertrag mit der Deutschen Grammophon auslief, dockte er nicht irgendwo anders an, sondern gründete, damals war das noch keineswegs üblich, sein eigenes Label: Soli Deo Gloria – so lautete die Zeile, mit der Johann Sebastian Bach seine Werke zu signieren pflegte. Zum dreihundertsten Geburtstag des Thomaskantors, dem er inzwischen auch ein überaus anregendes Buch gewidmet hat, brachte er dessen Kantaten zu einer Gesamtaufführung und veranstaltete damit eine Tournée durch eine Reihe bedeutender Kirchen Europas. Wenn Gardiner etwas will, will er es und bringt es auf den Punkt.

Entsprechend radikal das Monteverdi-Unternehmen – in logistischer wie in künstlerischer Hinsicht. Ein Team über fast ein Jahr für Arbeitsphasen unterschiedlicher Länge zusammenzuhalten und es bis nach Chicago und New York zu bringen, ist mit beträchtlichem logistischem Aufwand verbunden. Und unter den beteiligten Sängern waren einige, die an mehr als einem Abend in tragenden Rollen mitwirkten. Die Sopranistin Hana Blažícková zum Beispiel sang die Euridice in «L’Orfeo» sowie die weibliche Hauptrolle und die der Glücksgöttin in «L’incoronazione di Poppea» – und sie tat das mit einer hellen, überaus beweglichen Stimme und ganz selbstverständlichem Umgang mit den technischen Prämissen im Bereich der alten Gesangstechnik.

Anforderungen stellte das Monteverdi-Projekt nicht zuletzt auch ans Publikum – und da stellte sich Erstaunliches ein. Die Reihen waren dicht besetzt, die Bereitschaft, sich einzulassen und die Konzentration zu wagen, schien hoch, der Geräuschpegel hielt sich jedenfalls sehr in Grenzen, und am Ende gab es die berühmte standing ovation: das anspruchsvolle Angebot des Lucerne Festival war auf Resonanz gestossen. Wer sich den drei Werken öffnete, konnte tatsächlich eine Erfahrung der eigenen Art machen. Konnte zum Beispiel dem schöpferischen Kosmos eines Künstlers nahekommen, der vor fast einem halben Jahrtausend gelebt hat, konnte in seine musikalische Welt eintauchen und sie sich in einer Weise aneignen, wie sie im Alltag des Musikbetriebs kaum je möglich ist. Dabei konnte er ganz bewusst wahrnehmen, wie Monteverdi das Fundament baute für das, was wir heute als Oper kennen – oder anders gesagt: wie die Oper als Gattung entstand.

Sprechend singen, singend sprechen

Der frühe «Orfeo» ist noch sehr überkommenen Modellen verpflichtet. Davon zeugt der reichliche Einsatz des Chors, wovon der Monteverdi Choir mit seiner kompakten Strahlkraft glänzendes Zeugnis ablegte. Mit den Zinken, den leicht gebogenen Blasinstrumenten mit ihrem an die Trompete erinnernden Klang, und der Gruppe der fünf Posaunisten, mit den Violini piccoli und dem schnarrenden Regal für die Sphäre der Unterwelt boten die English Baroque Soloists, das ganz und gar auf seinen Dirigenten eingeschworene Ensemble, farbliche Interventionen von hohem Reiz. Aber schon in diesem Stück trat zutage, wie individuell die Figur des Orfeo gezeichnet ist. Mit seiner Kunst vermag der Sänger angriffige Tiere, ja sogar den finsteren Caronte zu bändigen, und doch ist er ein Mensch wie alle – einer mit Selbstgewissheit wie Unsicherheit. Krystian Adam brachte das mit einem etwas engen Timbre, aber hoch entwickelter Technik packend zur Geltung. Und das mit den damals neuen, von Monteverdi entwickelten Mitteln des rezitativischen Singens: mit dem Leben der Melodielinie über einem harmonisierten Bass.

Mitten in die fröhlichen Vorbereitungen zur Hochzeit von Orfeo und Euridice platzt die Botin mit der entsetzlichen Nachricht, dass die Braut einem Schlangenbiss zum Opfer gefallen sei. Was das heisst, rezitativisches Singen, und was es vermag, liess Lucile Richardot erfahren. Von einem Lautenisten begleitet, strebte sie von hinten durch den Konzertsaal des KKL auf das Podium, wo sie Schrecken und Verzweiflung auslöste – allein durch ihr Singen. Eine grossartige Künstlerin war da kennenzulernen, eine Sängerin mit einem stupenden Stimmumfang zwischen tenoraler Tiefe und zarter Höhe und eine Darstellerin von schwindelerregender expressiver Kraft. Herzerweichend sang sie im «Ritorno d’Ulisse in patria» die im Warten auf ihren Odysseus erstarrte, am Ende wieder zur Frau werdende Penelope, erheiternd in der «Incoronazione di Poppea» die Amme der ehrgeizigen Thronanwärterin.

Da sind wir im Zentrum dieser überwältigenden Operntrilogie angelangt. Nicht nur machte sie bewusst, wie gegenwärtig diese vierhundert Jahre alten Werke sind; das kindische Stampfen des narzisstischen Kaisers Nero, das der Sopranist Kangmin Justin Kim fabelhaft umsetzte, liess durchaus an einen Präsidenten unserer Tage denken. Sie führte auch exemplarisch vor, worin die epochale Leistung Monteverdis liegt. Ohne die Monodie wäre die Oper nicht geworden, was sie wurde. Und diese Art des Singens ist, wenn sie so exemplarisch ausgeführt wird, wie es in Luzern der Fall war, von einer Kraft, dass sie auch lange Abende zu tragen vermag. Im Zentrum des Ausdrucks steht, das wurde im Durchgang durch «Ulisse» und «Poppea» immer fassbarer, das Wort – das in italienischer Sprache gehaltene Wort, das an diesen drei Abenden ohne Makel ausgesprochen und weitestgehend verständlich war.

Dem Wort schmiegt sich die Musik an – und wie das realisiert wurde, war grandios. Das Ensemble der Vokalsolisten wies nicht nur Glanzlichter auf, das schon, aber alle seine Mitglieder gaben sich mit letztem Elan dem sinnerfüllten, weil eben den Text musikalisch aussprechenden Singen hin. Und das von John Eliot Gardiner mit höchster Konzentration geleitete Instrumentalensemble stand den Sängerinnen und Sängern in einer unerhört flexiblen Präzision zur Seite. Besonderen Effekt machte hier der Generalbass, der, auf zwei Seiten des Podiums plaziert, mit zwei Cembali, zwei Orgeln und vier Lauten (zum Teil unterschiedlicher Bauart) sowie einer Gambe, einem Cello und einem Kontrabass so reichhaltig wie sparsam besetzt war. Auf dieser instrumentalen Basis kamen zum Teil hinreissende vokale Momente zustande. Im «Ulisse», wo Furio Zanasi die Titelpartie mit allem technischen Raffinement versah, gelang Robert Burt ein unglaublich komischer Auftritt des Gourmands Iro und zeigte Silvia Frigato als der das Geschehen steuernde Liebesgott, was Barockgesang sein kann. Mit von der Partie waren aber auch Sänger aus dem sozusagen konventionellen Bereich – denn auf einen so klangvollen Bass wie den von Gianluca Buratto (Caronte) mag niemand verzichten.

Oper aus Musik

Alles, was die drei Abende zu Opernabenden machte, entstand allein in der Musik und aus ihr heraus. Des Szenischen war kein Bedarf. Was John Eliot Gardiner zusammen mit Elsa Rooke, dem Lichtgestalter Rick Fisher und der Kostümbildnerin Isabella Gardiner hier einbrachte, sorgte für nette Abwechslung, wirkte bisweilen aber doch recht zufällig, wenn nicht hausbacken – in der Körpersprache wurde jedenfalls nicht dieselbe Professionalität erreicht wie im musikalischen Geschehen. Das war indessen von wenig Belang, denn an den drei Abenden, an denen das Drama aus der Musik allein entstand, ging es ums Zuhören. Schon Robert Wilson hat gezeigt, wie weit das Szenische entmaterialisiert werden kann, ohne dass die dramatische Wirkung leidet. Dasselbe, wenn auch ganz anders und unter dem Strich vielleicht noch stärker, hat das Luzerner Monteverdi-Projekt erwiesen. Oper ist auch ohne Bühne Oper. Und vielleicht sogar ohne Salle Modulable.

Das Konzert als magischer Moment

Lucerne Festival – Bernard Haitink am Pult des Chamber Orchestra of Europe

 

Von Peter Hagmann

 

Verächter des Lucerne Festival – die gibt es – behaupten nach wie vor, nach Luzern brauche man nicht zu reisen, die grossen Orchester, die dort in verdichteter Folge auftreten, könne man in jeder Weltstadt hören: beim Musikfest Berlin oder im Wiener Musikverein, in der Philharmonie de Paris oder einem der Konzertsäle in London. Damit hat es etwas auf sich; vieles, was das Lucerne Festival bietet, basiert auf Tourneen – jetzt zum Beispiel der dreiteilige Monteverdi-Zyklus mit John Eliot Gardiner, der seit April dieses Jahres durch Europa zieht. Was die Verächter jedoch übersehen, ist der Wandel, der sich beim Lucerne Festival in den vergangenen fünfzehn Jahren ereignet hat. Der mit Emphase vertretene Fokus auf neue Musik gehört ebenso dazu wie die Förderung nachrückender Musiker sowie die Pflege junger und jüngster Publikumsschichten – da hat sich rund um die Sinfoniekonzerte ein Angebot ausgebildet, das seinesgleichen sucht. Gewachsen ist aber auch der Anteil an Eigenproduktionen und damit die Stärkung der eigenen Marke, wie sie das Lucerne Festival Orchestra und das Lucerne Festival Academy Orchestra ermöglichen. Eine bedeutsame Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch das Chamber Orchestra of Europe, das seit Jahren als heimliches Residenzorchester am Lucerne Festival mitwirkt.

Und dies nicht nur, aber vor allem, weil Bernard Haitink ebenfalls seit Jahren als heimlicher «Conductor in Residence» bei den Luzerner Festivals auftritt, und das oft und besonders gerne mit dem Chamber Orchestra of Europe. Ganze Zyklen sind so entstanden; die Sinfonien und Instrumentalkonzerte Ludwig van Beethovens, Robert Schumanns und Johannes Brahms’ hat sich Haitink mit dem 1981 gegründeten, eng mit dem Denken und Wirken Claudio Abbados verbundenen Orchester erarbeitet – animiert durch die Möglichkeiten, die dieser verhältnismässig klein besetzte, agile und ästhetisch offene Klangkörper bietet. Für den hoch in den Jahren stehenden, über eine Erfahrung sondergleichen verfügenden Dirigenten war mit dieser Zusammenarbeit nochmals ein echter Aufbruch verbunden. Und das Orchester, das ist zu sehen wie zu hören, schätzt die Kooperation mit dem alten Meister über die Massen. So haben diese Konzerte, inzwischen fester Bestandteil des Festivals, immer wieder zu tief berührenden Hörerlebnissen geführt – zu Erlebnissen, die so eben nur in  Luzern möglich geworden sind.

Diesen Sommer erreichte das Wechselspiel zwischen dem Chamber Orchestra of Europe und Bernard Haitink eine ganz besondere Qualität. Nicht wegen der Sinfonie in C-dur, KV 425, der «Linzer», von Wolfgang Amadeus Mozart. Die war ein Vorspiel – wenn auch eines, das erkennen liess, in welchem Mass Haitink in der Gegenwart steht, wie offen er sich gegenüber den Strömungen dieser Zeit verhält und wie kreativ er den Wandel der Paradigmen für sich nutzbar macht. Nein, zum Ereignis wurden elf ausgewählte Lieder aus der Sammlung «Des Knaben Wunderhorn» von Gustav Mahler. Sie liessen den Zuhörer, die Zuhörerin sprachlos zurück: existentiell berührt durch Dimensionen der musikalischen Vertiefung, die ganz selten nur zutage treten. Das Konzert als magischer Moment, fürwahr. Was Achim von Arnim und Clemens Brentano in ihrer Sammlung von Gedichten zu Papier gebracht haben, spitzt alltägliche Situationen immer wieder in fast unerträglicher Manier auf Katastrophen hin zu, und Mahler hat das in ungeheuer treffende, mit wenigen Strichen arbeitende Musik gefasst. Zusammen mit der jungen Sopranistin Anna Lucia Richter, die Haitink in Luzern kennen und schätzen gelernt hat, und dem Bariton Christian Gerhaher haben Orchester und Dirigent diese Wunderwerke zu erschütternder Wirkung gebracht.

Zu Beginn, in «Der Schildwache Nachtlied», mochte man fürchten, Christian Gerhaher sei nicht voll bei Stimme, die Schilderung des Lebens im Krieg aus der Sicht des seiner Hoffnungslosigkeit bewussten Soldaten klang wie markiert. Es war aber gerade umgekehrt, Gerhaher befand sich bereits im Modus des Ultraleisen, fast Gesprochenen, das Haitink hier im Sinn hatte, während das Orchester noch eine Spur zu laut war. Bei «Des Antonius Fischpredigt» befanden sich Vokales und Instrumentales dann auf gleicher Ebene, die Ironie des Textes trat ungeschmälert heraus. Äusserst witzig der vom Esel entschiedene Wettbewerb zwischen Kuckuck und Nachtigall, den Anna Lucia Richter mit ihrer hellen und gleichwohl körperhaften Stimme und ihrer fabelhaften Diktion schilderte. Danach wurde es arg und ärger, sang die Sopranistin von der Mutter, die dem hungrigen Kind nicht rechtzeitig ein Stück Brot zu reichen vermag, und schilderte Gerhaher mit seinem einzigartigen Vermögen, die Worte in Klang zu bringen und doch Worte zu lassen, von den Soldaten in Reih und Glied und dem Tambourgesell, der zum Galgen schreitet. Schliesslich: «Urlicht», eine Begegnung mit letzten Dingen. Dieses ebenso niederschmetternde wie tröstliche Gedicht, das hier nicht einer Frauenstimme übertragen war wie in der zweiten Sinfonie, sondern von Gerhaher intoniert wurde – es klang noch leiser als möglich, noch eindringlicher als denkbar. Am Schluss erstarb die Musik und wurde zu jener Stille, aus der sie kommt.

Vgl. auch: Im Garten der Identität. Ein Luzerner Wochenende mit Riccardo Chailly und Heinz Holliger (Bericht aus der NZZ vom 23.08.17)

Neustart mit Stolpersteinen

Lucerne Festival – Richard Strauss, das Festival Orchestra und Riccardo Chailly

 

Von Peter Hagmann

 

Die linke Hand nicht in der Hosentasche: Riccardo Chailly dirigiert Strauss / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

 

Über Identität wird diesen Sommer beim Lucerne Festival nachgedacht – da war beim Eröffnungskonzert mit dem Lucerne Festival Orchestra Richard Strauss genau der Richtige. Die Tondichtungen seiner frühen Jahre – nur die «Symphonia domestica» und die «Alpensinfonie» fallen in die Zeit nach 1900 – nehmen diverse Sujets in den Blick, richten ihre Aufmerksamkeit vor allem aber auf: Richard Strauss. Der Komponist als Herzensbrecher, als tragischer Held, als Übermensch, als Nonkonformist: stets geht es weniger um die Sache selbst als um die mit ihr verbundene, ja intendierte Pose – Daniel Ender hat das in seiner anregenden Strauss-Biographie luzide herausgearbeitet (vgl. NZZ vom 14.11.14). Komponist sein, das heisst ja nicht nur Musik erfinden, sondern auch seinen Beruf darstellen, seine Berufung verkörpern. Darin war Strauss ein Meister. Schon früh ging er daran, seine Identität zu erschaffen – eine Identität als bedeutender Komponist, als fortschrittlicher Künstler, als öffentliche Person. Dies in steter Auseinandersetzung mit seiner Umgebung, vor allem seinem Vater, einem geschätzten Hornisten, der dem drängenden, strebenden Sohn unablässig zu Mässigung riet.

Dass die Sommerausgabe 2017 des Lucerne Festival mit den drei Tondichtungen «Also sprach Zarathustra», «Tod und Verklärung» und «Till Eulenspiegels lustige Streiche» anhob und in der Zugabe ausserdem zum Schleiertanz aus «Salome» führte, war aber noch in anderer Hinsicht bedeutsam. Mit aller Eindeutigkeit hat das Programm klar gemacht, dass für das Lucerne Festival Orchestra jetzt eine neue Zeitrechnung beginnt. Auch mit einem neuen Repertoire. Um Richard Strauss hat Claudio Abbado einen weiten Bogen gemacht – was wenig erstaunt. Für einen Musiker seiner Generation und einen Intellektuellen eher linker Prägung war Strauss, was Theodor W. Adorno in seinem grossen Essay zum hundertsten Geburtstag des Komponisten umriss: ein Ausbund an bürgerlicher Spiessigkeit, ein Anpasser an autoritäre Ideologie, ein rücksichtsloser Vertreter eigener, nicht zuletzt pekuniärer Interessen. Dieses wirkungsmächtige Verdikt ist inzwischen revidiert. Heute können die Tondichtungen von Strauss oder seine Opern, und zwar auch «Der Rosenkavalier» oder «Capriccio», ohne Verdacht auf politische Inkorrektheit geschätzt werden. Ähnlich wie im Falle Wagners werden die musikalischen Qualitäten für sich selber genommen.

Genau da, in den musikalischen Qualitäten, liegt nun freilich die Crux dieses grossartig erfundenen Eröffnungskonzerts. Mit Mahlers Achter, inzwischen wie alle anderen Sinfonien Mahlers mit dem Lucerne Festival Orchestra auf DVD erschienen, hat sich Riccardo Chailly letzten Sommer respektvoll vor seinem Vorgänger und Mentor verneigt. Dieses Jahr richtet sich der Blick auf die neuen Horizonte, die geballte Strauss-Ladung hat es deutlich gemacht – nur eben leider in der Art eines Paukenschlags, wie er dieser Musik nicht unbedingt entspricht. Schwergewichtig schon der Anfang von «Also sprach Zarathustra»: mit herrlich vibrierender Basswirkung das liegende C, aber nicht in einem Pianissimo, wie es die Partitur für alle beteiligten Instrumente ausser der Orgel vorsieht. Strahlend später die über eine Quint aufsteigende Oktav der vier Trompeten – so strahlend, wie es vielleicht doch nur beim Lucerne Festival Orchestra möglich ist. Und dann er erste Ausbruch des gesamten Orchesters: laut und grobkörnig, weil wenig strukturiert in der Klangfülle. Die Symptome, die sich hier anzeigten, traten in der Folge immer wieder auf. Die Fuge «Von der Wissenschaft» in der Stückmitte erhob sich aus einem reichlich muskulösen Pianissimo, im «Tanzlied» gegen das Ende hin wogte der Dreivierteltakt einigermassen handfest. Das heikle hohe Ende, das auch bei berühmten Orchestern misslingen kann, geriet aber vorzüglich.

Indes sind das keine Fragen der Qualität, weder auf Seiten des Orchesters noch beim Dirigenten. Es ist Ausdruck der ästhetischen Differenz. In dem Jahrzehnt der Existenz mit Claudio Abbado hat das Lucerne Festival Orchestra den Charakter eines vergrösserten Kammerorchesters ausgebildet. Man könnte sogar sagen, dass es sich, auch wenn es im Endeffekt für den einzelnen Musiker doch keine Möglichkeit der direkten Entscheidungskompetenz gab, als eine Demokratie etabliert hat – Abbado selbst hat ja bemerkt, dass er am liebsten bloss den ersten Einsatz gäbe und dann verschwände, um den in eigener Verantwortung agierenden Musikern das Feld zu überlassen. Riccardo Chailly dagegen scheint ein Orchester eher in einem hergebrachten Sinn als ein feudales System zu verstehen – gewiss nicht als eine absolute Monarchie, aber doch als ein Gebilde mit einer eindeutigen Ausrichtung auf eine entscheidende und führende Zentralfigur. Im Fall des Lucerne Festival Orchestra stellt das einen Paradigmenwechsel dar, der sich nicht von heute auf morgen und schon gar nicht von selbst einrichtet. Mit anderen Worten: Es braucht Zeit, damit die beiden Seiten aufeinander zugehen können. Damit sich die Orchestermitglieder mit dem ganz anders gelagerten Temperament ihres neuen Chefdirigenten auseinandersetzen können und dass umgekehrt Chailly das besondere Potential dieses nach wie vor einzigartigen Klangkörpers erkennen und in sein Wirken einbauen kann.

Dazu kommt, dass Chailly nicht nur einen ausgeprägten Gestaltungswillen lebt, sondern auch den geschlossenen, festgefügten Klang pflegt. Bei der Musik von Strauss birgt das Gefahren. Gewiss lässt es den hohen Anspruch an die technische Virtuosität hinreissend heraustreten; ein Orchester, das so kompakt klingt, wie es Chailly mag, und sich gleichzeitig so schlangenartig agil bewegt, wie es Strauss einfordert, kann sich der Bewunderung sicher sein. Auf der anderen Seite unterstreicht es den präpotenten, ja auftrumpfenden Charakter, den der Komponist (nicht nur) in seiner Musik zu erkennen gibt, und das kann ganz schön unangenehm werden. Zumal die Momente ironisierender Brechung, mit denen Strauss immer wieder lustvoll spielt, von der Kraftentfaltung zugedeckt und damit vernichtet werden. Überhaupt ist es so, dass in Chaillys Zugriff die kleinen, reichhaltigen Verästelungen, die ja alle kontrapunktisch gesteuert sind, viel weniger zur Geltung kommen als in einem hellen, aufgelichteten Klangbild – wo dann nicht zuletzt auch dem Jugendstil in dieser Musik Gerechtigkeit widerfährt.

Strauss selbst hat das kontrapunktische Netzwerk, das unter seinen Melodielinien und der chromatisch reizvoll geschärften Harmonik liegt, als Mittel der Selbstvergewisserung eingesetzt: der Komponist auch, ja vor allem als solider Handwerker. Auf diesem Fundament steht seine Identität – bis in die letzten Lebensjahre. Mehr davon war am Eröffnungsabend im KKL Luzern bei «Tod und Verklärung» zu erfahren. Dort herrschte hörbar weniger Anspannung als im «Zarathustra». Und dort trug auch Chaillys oft bewiesener Mut zum Zügeln der Tempi seine Früchte. «Till Eulenspiegel» geriet dann wieder dröhnend, bisweilen grell – aber dort, wo es dem armen Helden an den Kragen geht, blieb die klangliche Zuspitzung in den Holzbläsern ausgespart. Am Ende verbreitete sich einige Ratlosigkeit; das Lucerne Festival Orchestra musste mit einem lauen Applaus Vorlieb nehmen wie bisher noch niemals. Das war nun doch etwas ungerecht. Aller Anfang ist schwer, besonders in diesem hochkomplexen Fall. Die Perspektiven aber sind, wenn sie in geeigneter Weise wahrgenommen werden, ausgesprochen vielversprechend.

 

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 8. Vokalsolisten, Chöre, Lucerne Festival Orchestra, Riccardo Chailly (Leitung). Accentus 20390 (DVD).

Luzerner Osterklänge

Bachs Johannes-Passion und Rihms «Requiem-Strophen» im KKL

 

Von Peter Hagmann

 

Kurz vor Ostern ballt sich das Geschehen zu einmaliger Dichte. Bringt die klassische Musik – womit hier wie immerdar die Kunst-Musik im allgemeinen gemeint ist – in einer Art Frühlings-Explosion ans Licht, dass sie alles andere als einen Endzustand erreicht hat, dass sie vielmehr farbenfroh lebt und Publikum in hellen Scharen anzieht. Die Osterfestspiele der Berliner Philharmoniker im Festspielhaus Baden-Baden prunken mit einer «Tosca», bei der Simon Rattle den Taktstock führt und Kristine Opolais, Marcelo Alvarez und Evgeny Nikitin auf der Bühne stehen. Zu gleicher Zeit ereignen sich die durch Herbert von Karajan 1967 ins Leben gerufenen Osterfestspiele Salzburg, die mit einer «Walküre» aufwarten – dies mit Christian Thielemann am Pult der Staatskapelle Dresden und in einer szenischen Produktion, für welche die Regisseurin Vera Nemirova in einem Nachbau jenes Bühnenbilds arbeitet, das Günther Schneider-Siemssen vor fünfzig Jahren für Karajan gebaut hat. Exquisit die Besetzung mit Anja Harteros und Anja Kampe, mit Peter Seiffert und Georg Zeppenfeld. Ohne die Sensation der Oper kommt dagegen das Osterfestival Luzern aus; es sorgt still und leise, aber ausgesprochen nachhaltig für künstlerische Bereicherung.

Zum Beispiel durch eine Aufführung der Johannes-Passion Johann Sebastian Bachs mit dem Dirigenten Thomas Hengelbrock und den Kräften des Balthasar-Neumann-Ensembles. Wie üblich im Bereich der alten Musik und der historisch informierten Aufführungspraxis hat der Dirigent Sängerinnen und Sänger, Instrumentalistinnen und Instrumentalisten um sich geschart, die ihm eng verbunden sind und sich seine Intentionen restlos zu eigen gemacht haben. Und ähnlich wie Philippe Herreweghe lässt Hengelbrock die vokalsolistischen Nummern von den Mitgliedern des Chors ausführen – mit Ausnahme der Partien des Evangelisten und des Jesus. Da nun stellten sich im KKL Luzern Momente einzigartiger Verdichtung ein. Mit der Helligkeit und der leuchtenden Lineatur seines Tenors zeigte Daniel Behle, dass der Evangelist der Johannes-Passion weder ein neutral berichtender Erzähler noch ein das Geschehen aufplusternder Dramatiker sein muss, dass es vielmehr einen dritten Weg gibt. Sein stimmliches Vermögen, das von einem lyrischen Grundansatz durchaus auch packende Expansion einschliesst, erlaubte es Behle, ganz aus der Sprache heraus zu einer musikalischen Griffigkeit zu finden, die den Zuhörer restlos in Bann schlug. Nicht weniger anziehend Markus Butter, der mit seinem kernigen Bariton die Worte Jesu in eine Atmosphäre geradezu herrscherlicher Selbstgewissheit kleidete.

Das passte ganz ausgezeichnet – zunächst zur Johannes-Passion, die den Gekreuzigten weniger als ein Empathie auslösendes Opfer denn als Überwinder zeigt. Vor allem aber passte es zur zweiten Fassung der Passion, die Bach ein Jahr nach der Uraufführung 1725 in Leipzig vorgestellt hat. Dass das Werk in nicht weniger als vier Versionen existiert, ist kaum jemandem bewusst, weil für Aufführungen gewöhnlich ungefragt auf die Neue Bach-Ausgabe zurückgegriffen wird. Anders Thomas Hengelbrock, in Sachen Quellenforschung nicht weniger akribisch als Nikolaus Harnoncourt; er entschied sich für eine von Bach selbst stammende Ausfertigung. Anstelle des Eingangschors steht in der zweiten Fassung der Passion eine grosse Choralbearbeitung, während diverse neu eingefügte Arien von der hohen Kunstfertigkeit des Komponisten zeugen. Die im Ton zurückhaltende, in Ausdruck wie Wirkung aber ausserordentlich starke Aufführung hob diese Seite der Passion exzellent heraus. Mit dem prominenten Konzertmeister Daniel Sepec als Energiezentrum spielte das Orchester ungemein beweglich, in den konzertierenden Beiträgen zudem glanzvoll virtuos. Und der Chor, dessen Mitglieder im Solistischen nicht allesamt gleichermassen überzeugten, liess an Deutlichkeit der Textgestaltung wie an klanglicher Homogenität keinerlei Wunsch offen.

Wurde an diesem Abend ein bekanntes Werk in ein neues Licht gerückt, so präsentierte das erstmals durchgeführte Stifterkonzert der Ernst von Siemens-Musikstiftung, für das der Chor und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks München mit dem Chefdirigenten Mariss Jansons nach Luzern gekommen waren, eine neue Komposition. Und ein Werk in grosser Besetzung. «Requiem-Strophen» heisst es, und es stammt von Wolfgang Rihm, der hier sehr persönlich und musikalisch ausserordentlich berührend spricht. Die 2015/16 im Auftrag der Reihe «musica viva» des Bayerischen Rundfunks entstandene Partitur orientiert sich nur vage an der katholischen Totenmesse. Näher steht sie dem «Deutschen Requiem» von Johannes Brahms, das mit einer vom Komponisten selbst zusammengestellten Abfolge von Texten arbeitet. Rihm hält es ähnlich; die Verbindung zu Brahms wird gleich zu Beginn deutlich, wo Rihm den Propheten Jesaja sprechen lässt. Alles Sterbliche sei wie das Gras, das verdorrt – wie Brahms, der den Apostel Petrus herbeiruft und in seinem Requiem darauf hinweist, dass am Ende das Gras «verdorret und die Blume abgefallen» sei. Rihms Textwahl kreist einerseits um die «Missa pro defunctis», andererseits um Rainer Maria Rilke, der mit Versen aus «Das Buch der Bilder», aber auch mit Übersetzungen von Sonetten Michelangelos vertreten ist. Die in vierzehn Schritte gegliederte, äusserst stimmige Textwahl ist geprägt durch Wiederholungen, die dazu führen, dass einzelne Textpassagen in immer wieder anders geartete Kontexte geraten und dergestalt eine Art Kommentierung erhalten. In seiner subtilen Vielschichtigkeit ist allein schon das Textbuch ein Kunstwerk höchsten Anspruchs.

Aber es ist ja in Klang gebracht, und was die Musik Wolfgang Rihms vermag, zeigt sich besonders frappierend im überraschenden letzten, dem vierzehnten Schritt seiner «Requiem-Strophen». Hier greift der Komponist nach dem Gedicht «Strophen» von Hans Sahl, einem Autor der Weimarer Republik. Der Moment des Todes ist in diesen zwei sich gleichenden und sich ebenso voneinander abhebenden Strophen in zart gelassene Worte gefasst. Die Musik nimmt da einen sequenzierenden Charakter an, und wenn es am Schluss heisst «…als wär ich nie gewesen oder kaum», zieht sie sich in allerleiseste Sphären zurück – unglaublich, wie der Chor das meisterte – und verstummt dann auf dem zweitletzten Wort, dem unversehens zur Frage gewordenen «oder». Für die Einleitung zu diesem Finalteil sorgen zwei Bratschen, deren Linien sich eng verschlingen – so wie es die beiden Soprane (grossartig Mojca Erdmann und Anna Prohaska) im Lauf des Stückes immer wieder tun. Ihnen gegenüber steht ein Bariton, dem die drei Sonette Michelangelos übertragen sind; Hanno Müller-Brachmann versah diese Aufgabe mit Strahlkraft und Sicherheit in jedem Bereich seines weiten Ambitus, ausserdem mit einer Diktion, die hörend erleben liess, wie bei Wolfgang Rihm Sprache zu Musik werden kann. Hier zu einer sich organisch ausfaltenden, geschmeidig fliessenden, selten eruptiven, ihren Reichtum viel eher im Leisen findenden Musik. Dass sich Mariss Jansons diesem wunderbaren Stück mit der ihm eigenen Einlässlichkeit widmete und dass er damit bei der «musica viva» debütierte, kann dem Dirigenten nicht hoch genug angerechnet werden.