Der Aufbruch hat begonnen

Paavo Järvi mit Mahlers Fünfter beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

So nah an der Stuhlkante agierten die Mitglieder des Tonhalle-Orchesters Zürich schon länger nicht mehr – so nah wie gestern Abend, als der designierte Chefdirigent Paavo Järvi beim Tonhalle-Orchester Zürich seinen vorläufigen Einstand gab. Vorläufig, weil Järvi erst von der kommenden Spielzeit an seines Amtes walten wird. In der laufenden Saison kommt er jedoch schon verschiedentlich zum Orchester. Nach drei Konzerten mit zwei Programmen in dieser Woche geht es Ende Monat auf eine zehntägige Konzertreise nach Asien. Im Januar und im April kommenden Jahres wird Järvi dann weitere Male ans Pult treten.

Und nun ist sie da, die frische Brise. Sehr frisch wirkt sie, und sie durchzieht das Orchester von A bis Z – bis hin in die Administration, wie aus deren Reihen zu vernehmen war. Ohne Scheu packt Järvi den Stier bei den Hörnern. Zielt er auf das Erbe, das David Zinman hinterlassen hat. Und zeigt er, wie es auch anders gehen kann – bei Gustav Mahler und bei Ludwig van Beethoven. Womit er den Wesenskern des musikalischen Kunstwerks herausstellt. Das nur existiert, wenn es immer und immer wieder gespielt und damit ins klingende Leben versetzt wird. Und das so einem kontinuierlichen Transformationsprozess unterworfen ist.

Wer die Gesamtaufnahme der Sinfonien Beethovens kennt, die Järvi mit der von ihm geleiteten Kammerphilharmonie Bremen erarbeitet hat, wird sich leicht ausmalen können, dass Beethoven mit dem Tonhalle-Orchester und Järvi etwas ganz Anderes sein wird als Beethoven mit dem Tonhalle-Orchester und Zinman. Dass das auch für Mahler gilt, war jetzt am Beispiel von dessen fünfter Sinfonie zu erleben – höchst eindrücklich war das. Auffallend zunächst die Spielfreude: die Lust, Musik zu machen und genau diese Musik zu machen. Mit kräftigem Körpereinsatz ging Paavo Järvi dem Orchester voran, die Musikerinnen und Musiker wiederum reagierten mit höchster Aufmerksamkeit, letztem Engagement und glänzender Leistung – im Einzelnen wie im Gesamten.

Mit seinem untadeligen, von Järvi nicht dirigierten Einstieg in den Kopfsatz setzte der Solo-Trompeter Philippe Litzler die Vorgabe für diese Aufführung von Mahlers Fünfter. Ihm folgte später der Solo-Hornist Ivo Gass, der im Scherzo die Partie des corno obligato, für die er eine eigene Position am rechten Rand des Orchesters einnahm, auf der Höhe seines Könnens blies – mit prallem Ton und strahlender Geschmeidigkeit. Überhaupt liessen die Bläser hören, welches Potential in ihnen steckt – wobei der Dirigent die Balance zwischen Kraftentfaltung und Einbettung ins Ganze optimal herzustellen verstand. Die Streicher wiederum – sie waren nach deutscher Manier aufgestellt, mit den beiden Geigengruppen links und rechts vom Dirigenten und den Bässen als Keil hinter den Celli und erreichten so eine Präsenz sondergleichen. Das berühmte Adagietto gelang ihnen (zusammen mit der zugezogenen Harfenistin Anne-Sophie Bertrand) ganz ausgezeichnet; es war von warmer Expressivität getragen, ohne dass je auch nur eine Spur von Kitsch gedroht hätte.

Ausdrücklichkeit, das macht das Mahler-Bild aus, das Paavo Järvi an diesem Abend zu erkennen gab. Er geht anders zu Werk als Bernard Haitink, der Mahlers Neunte diesen Sommer in Luzern am Pult des Amsterdamer Concertgebouworkest allein aus seinem inneren Empfinden und seinem leuchtenden Charisma heraus erstehen liess. Anders auch als Jukka-Pekka Saraste, der das nämliche Stück mit dem Tonhalle-Orchester zur Eröffnung seiner Saison auf Nüchternheit hin zügelte (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 14.09.18). Järvi macht aus einer Betroffenheit kein Hehl. Das zeigt sich nicht zuletzt in den Tempi, die er vielgestaltig nuanciert, es aber so feinfühlig tut, dass man die musikalischen Verläufe als natürlich atmendes Geschehen empfindet. Zugleich schärft er die farblichen Eigenheiten der Partitur so, dass die ironische Doppelbödigkeit und die grotesken Fratzen unüberhörbar zutage treten. Muskulös wirkt Mahler, wie er an diesem Abend in der Tonhalle Maag zu erleben war. Dabei aber auch ausserordentlich konturiert in seiner Erzählung. Für das Tonhalle-Orchester Zürich zeichnet sich da ein neuer Weg ab. Spannend, wie es weitergehen wird.

Bruckner in Grösse und Menschlichkeit

Bernard Haitink zu Gast beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Eine Sinfonie Anton Bruckners, zumal die Siebte, mit dem Dirigenten Bernard Haitink – das ist nach wie vor ein Moment des besonderen musikalischen Erlebens. Auch und gerade, das darf betont werden, wenn das Tonhalle-Orchester Zürich am Werk ist. In der Tonhalle Maag, die, was Beleuchtung und Akustik betrifft, in der Sommerpause einige Verbesserungen erfahren hat, geben die Musikerinnen und Musiker dann jeweils ihr Bestes. Und dass das nicht wenig ist, erwies sich gerade vor der Erinnerung an den Abend mit Bruckners Siebter, den das Lucerne Festival Orchestra und sein Chefdirigent Riccardo Chailly vor Monatsfrist im KKL Luzern absolvierten. Technisch stand es beim Tonhalle-Orchester jedenfalls zum Besten; selbst die hinsichtlich der Intonation äusserst heikle Stelle der vier Wagner-Tuben und der Kontrabasstuba im zweiten Satz gelang vorzüglich.

Auffällig war einmal mehr, dass Bernard Haitink am Pult von der Zeichengebung her kaum direkt aufs Orchester einwirkte; es waren einzig die Vorstellungskraft (und, damit verbunden, das Voraushören), die Intensität der musikalisch-emotionalen Anteilnahme und das schwer in Worte zu bringende Charisma des Dirigenten, die das Geschehen steuerten. Schon der aufsteigende E-dur-Akkord, der im dritten Takt des Kopfsatzes anhebt, wurde zu einem veritablen Hörereignis. Weil sich, zum einen, die Celli und die Hörner so einzigartig mischten. Und weil, zum anderen, der Aufstieg in die Oberquint von einer unaufdringlichen, aber wirkungsvollen Spannung erfüllt war – einer Spannung, die sich wenige Takte später, bei der Wiederholung des Motivs, in einem wunderbar zart hinzugefügten E-dur-Dreiklang der Hörner erfüllte. Das (unter vielem anderem) ist, was Haitink in so unverkennbarer Weise versteht: Gewichte zu setzen, Abmischungen zu steuern und für Leben in den Einzelheiten zu sorgen.

In den grossen Verläufen dagegen herrschte auch in dieser Auslegung von Bruckners Siebter jene unnachahmliche Gelassenheit, die Haitinks spätes Bruckner-Bild auszeichnet. Den Kopfsatz nahm er gleichsam in einem einzigen, durchgehenden Tempo; wenn sich Veränderungen des Grundschlags ergaben, waren sie so diskret ausgeführt, dass sie sich ganz natürlich anhörten. Noch eindrucksvoller geriet in dieser Hinsicht das Adagio des zweiten Satzes, das sich in getragenem Zeitmass unter einen einzigen riesigen Bogen spannte und schliesslich in dem berühmt gewordenen Beckenschlag kulminierte. Der Grösse dieser musikalischen Erfindung blieb Haitink auch diesmal nichts schuldig. Indessen fehlten, da die musikalische Grossform durch subtile Nuancierungen im Kleinen aufgehellt wurde, auch hier nicht die Züge des Menschlichen. Des Atmenden, des Pulsierenden.

Etwas beiläufig erschien das Scherzo mit seinem im Inneren liegenden Trio. Das ist ein Satz, in dem vielleicht – die Tempovorschrift «sehr schnell» deutet es an – eine Art drängender Energie walten muss, die Haitink hinter sich gelassen hat. Um so zwingender das Finale. «Bewegt, doch nicht schnell» soll es genommen werden – und genau so tat es Bernard Haitink. Wieder blieb er klar im Schlag, auch im lyrischen zweiten Thema, das dafür von hauchzarter Beimischung der beiden Klarinetten profitierte. Nicht dass Haitink zu einem Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis mit ihrer sprechenden Musizierweise geworden wäre, doch die zwei Viertel, die in der Folge so markant in den Vordergrund treten, liessen bei ihm hörbar zwei unterschiedliche Gewichte erkennen. Und dann, rund hundert Takte vor dem abschliessenden Doppelstrich, begannen sich die Entwicklungen zu verdichten, wechselten sich Vorwärtsdrängen und Zurückhalten so vital ab, dass das allerletzte Viertel durchaus als Erlösung genommen werden konnte. Stehapplaus, tiefe Dankbarkeit.

Gustav Mahler – in der Tonhalle Zürich und beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Viele Wege führen nach Rom, auch in Sachen Mahler – das war dieser Tage wieder in aller Eindrücklichkeit zu erleben. Beim Lucerne Festival, dessen Sommerausgabe übermorgen zu Ende geht, kamen in kurzem Abstand die Sinfonien Nr. 9 (mit dem Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam) und Nr. 3 (mit dem Boston Symphony Orchestra) zur Aufführung, mit der Nr. 9 wiederum eröffnete das Tonhalle-Orchester Zürich seine Saison. Nicht dass, wer die drei Aufführungen vor dem geistigen Ohr durchziehen liesse, mit falschen Ellen mässe. Das Tonhalle-Orchester kann sich sehr gut an der Seite des Concertgebouworkest zeigen. Beide Formationen sind derzeit ohne Leitung. Das Tonhalle-Orchester hatte vier Jahre lang einen schwachen, allerdings selbstgewählten Chefdirigenten, das Concertgebouworkest hat Daniele Gatti eben erst in die Wüste geschickt, nachdem unangebrachtes Verhalten des Dirigenten gegenüber einigen Musikerinnen an die Öffentlichkeit gebracht worden waren.

In geradezu berauschendem Aufwind befindet sich dagegen das Boston Symphony Orchestra – und mit ihm sein Music Director Andris Nelsons, der an der Spitze dieses legendären Klangkörpers unglaublich an Format gewonnen hat. Das Gastspiel der Bostoner im KKL Luzern war schlechterdings umwerfend; es bildete den krönenden (vorläufigen) Abschluss der Perlenkette an Orchestergastspielen, mit denen das Lucerne Festival nach wie vor punktet. Wie in einem Brennspiegel lässt sich an ihnen zuhörend beobachten, was sich in diesem bedeutenden Segment des Musiklebens tut. Und dass sich in Boston sehr vieles tut, gehört mit in die Reihe der erfreulichen Beobachtungen, die sich in der nicht überall gleich überzeugenden, im Ganzen aber äusserst hochstehenden Serie der Luzerner Sinfoniekonzerte anstellen liessen. Mit zur Exzellenz der Luzerner Veranstaltungen gehören übrigens die von der Dramaturgin Susanne Stähr betreuten Programmhefte, die nicht nur informative Texte mit attraktiven Bebilderungen bringen, sondern dieses Jahr, dem Motto des Festivals entsprechend, eine Reihe liebevoll erzählter «Kindergeschichten» enthielten.

Lenkte Jörg Handsteins Werkeinführung im Programmheft die Aufmerksamkeit des Zuhörers zu Recht auf das nach den ersten Aufführungen vom Komponisten allerdings zurückgezogene Programm zu Mahlers Dritter, so konnte man in der Aufführung selbst auch ganz anders gelagerte Eindrücke gewinnen. Andris Nelsons, der das Orchester mit weniger Bewegungsaufwand als gewohnt, zudem so gut wie einhändig, wenn auch mit äusserst präzisen Zeichen des Taktstocks leitete und der von ihm einfach alles erhielt – Nelsons ist nun einmal ein Ausdrucksmusiker erster Güte. Und er hat in den vier Jahren an der Spitze der fabulösen Sinfoniker aus Boston in dieser Richtung klar zugelegt. Die vom Orchester erzählte Geschichte ist mit festem Strich gezeichnet und nimmt äusserst konkrete Gestalt an, auch wenn sie in der Einzelheit des Inhaltlichen natürlich abstrakt bleibt. Jedenfalls hört man die Musik Mahlers selten so haptisch, so stark in der Evokation von Bildern.

Es sind Klang-Bilder, die von der mächtigen Geste der selbstgewissen, wenn nicht sogar überheblichen Gründerzeit berichten, die mit den unerbittlichen Militärmärschen und den gewalttätigen Ausbrüchen aber auch prophetisch auf das darauf folgende Unheil des Grossen Kriegs vorausweisen. Zugleich künden sie von der Unbeschwertheit eines in den  Menschen selbst verwurzelten Volksmusikguts, vor allem aber auch von jener unstillbaren Sehnsucht nach dem Gestern, die im dritten der sechs Sätze durchbricht. Und schliesslich gelingt es Nelsons, den Finalsatz zu einer Insel des Friedens werden zu lassen – zu einem Ort, an dem alle Fragen beantwortet sind. Darum hat er den Satz auch nicht in eine pompöse Steigerung und zu einem Letzten an Lautstärke geführt, sondern vielmehr in einen Moment überwältigender klanglicher Grösse. Wie Nelsons dabei die Steigerung kontrollierte, wie sorgsam er sich die Spannung aufbauen liess, das zeugte von der tiefen Musikalität des Dirigenten. Das Orchester (und mit ihm die Mezzosopranistin Susan Graham sowie die Chöre aus dem Leipziger Gewandhaus) folgte ihm dabei kompromisslos. Wann ja hat man die Posaunensoli derart kernig, wann das aus den Echokammern in den Saal dringende Posthorn so klangvoll hören können?

Gründlich anders gelagert die in ihrer Qualität nicht minder hochstehende Aufführung von Mahlers Neunter mit dem Tonhalle-Orchester Zürich. Ähnlich, wie es Bernard Haitink mit dem Amsterdamer Concertgebouworkest beim Lucerne Festival tat, ging Jukka-Pekka Saraste, der für den erkrankten Semyon Bychkov eingesprungen ist, von der Musik als Musik aus. Im Geiste Eduard Hanslicks arbeitete er mit der «tönend bewegten Form» – doch während Haitink auch in der Luzerner Aufführung von Mahlers Neunter das Geschehen ganz aus sich selber erstehen lässt, stellte Saraste seinen pointiert strukturbezogenen Ansatz deutlich in den Saal. In eher flüssigen Tempi zog er die Sätze durch. Gewiss wurde phrasiert und geatmet, doch das Orchesterrubato, das die Expression erhöht, war auch hier seine Sache nicht. Viel eher machte er sich die Differenzierungen im Dynamischen und die Beziehungen zwischen den einzelnen Instrumentalfarben zu eigen.

Drängend entfaltete sich der Kopfsatz, die punktierten Rhythmen wirkten geradezu springend, und schon hier kam es zu glänzenden Soli, etwa zwischen Horn und Flöte. Der Ländler des zweiten Satzes geriet so derb, wie es sich Mahler möglicherweise gewünscht hat, unglaublich wuchtig auch in den rechts vom Dirigenten sitzenden zweiten Geigen, während die Burleske des dritten Satzes in ihrem Schwung fast beängstigende Züge annahm. Sehr fliessend und damit geradezu als ein Stück moderner Musik klingend schliesslich das Finale, das vielleicht etwas vordergründig klang, am Schluss aber zu jener Ruhe fand, die hier geboten ist. In seiner Konsequenz überzeugte der Zürcher Mahler nicht weniger als der Luzerner. Denn: Viele Wege führen nach Rom.

Der Jungmeister

Krzysztof Urbánski beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Wie Herrgötter spielten sie, die Musikerinnen und Musiker des Tonhalle-Orchesters Zürich. Und das Publikum in der Tonhalle Maag, es sprang nach dem Verklingen des Schlussakkords sogleich von den Sitzen. Das nach einem so gut wie ausverkauften, sonst aber ganz gewöhnlichen Sonntagsspätnachmittagskonzert. Das heisst: So gewöhnlich war das Konzert nicht. Am Pult erschien nämlich Krzysztof Urbánski, der 35-jährige Geheimtip aus Polen, der zurzeit so mächtig von sich reden macht. Und das zu Recht.

Wer Krzysztof Urbánski zum ersten Mal zuschaut, während er ihm zuhört, mag denken, da sei einer am Werk, der sich das Dirigieren durchs Ausprobieren vor dem Spiegel beigebracht und das Handwerk der Körpersprache anhand von Videos mit grossen Dirigenten erlernt habe. In der Tat erscheint seine Zeichensprache als eine Choreographie, die Schaulust erster Güte bietet. Und tatsächlich finden sich in Urbánskis Bewegungsmustern Gesten, die Dirigenten vergangener Zeit aufleben lassen. Der extralange Taktstock, den Urbánski mit letzter Eleganz führt, erinnert an Claudio Abbado, das kleine Fingerspiel der linken Hand an Herbert von Karajan, wenn er einen Chor vor sich hatte, das bisweilen ekstatische Ausbrechen an Lorin Maazel. Da ist vieles durchaus auf Effekt getrimmt, so wie die steile Frisur an ein gesellschaftliches Segment erinnert, das im Konzertsaal gewöhnlich weniger vertreten ist.

Allein, wer nicht nur zuschaut, sondern auch zuhört, wird sogleich bemerken, dass der optische Effekt zwar kalkuliert sein mag, aber ganz und gar nicht im Sinne der Show für das Publikum, sondern in jenem der durch Körperausdruck übermittelten Botschaft an die Adresse des Orchesters. Im Konzert manifestierte sich das darin, dass jede noch so kleine Geste Urbánskis etwas Musikalisches auslöste. Das Tonhalle-Orchester Zürich reagierte so hellwach, wie es nur in den ganz grossen Momenten geschieht, seine Mitglieder handelten in enger Verbundenheit mit dem Dirigenten und gaben allesamt ihr Bestes. Dafür verbrachten sie die Zeit ihrer anspruchsvollen Arbeit in einem Klima der freundlichen Zuwendung – ja, um es etwas plakativ mit Leonard Bernstein zu sagen: der Freude an der Musik. Am Schluss gab es für den Dirigenten auch vonseiten des Orchesters hörbaren Beifall.

Kein Wunder. Krzysztof Urbánski ist unerhört begabt. Und unglaublich anspruchsvoll, vor allem sich selber gegenüber. Vielleicht darum, weil ihm trotz seiner Begabung nichts in die Wiege gelegt war. 1982 in der Kleinstadt Pabianice südlich von Łódź geboren, wuchs Urbánski in einer Familie auf, in der klassische Musik nicht vorkam. Als es um die Wahl eines Instruments für die Musikschule ging, galt seine Neigung der Gitarre – für die es jedoch eine lange Warteliste gab. Plätze frei waren beim Horn, weshalb es dieses Instrument wurde. Über die Hornkonzerte von Richard Strauss und dessen Tondichtung «Don Juan», an der sich das Feuer entzündete, kam Urbánski zum Beschluss, Komponist zu werden – einer wie Richard Strauss. Mit fünfzehn schrieb er eine Sinfonie, bei deren Uraufführung durch Mitschüler er zum ersten Mal dirigierte. So begann es. Urbánski ging zur Ausbildung an die Musikhochschule in Warschau und assistierte dann dem polnischen Dirigenten Antoni Wit in der Warschauer Philharmonie. Das Eigentliche erlernte er in der Provinz, in Trondheim und in Indianapolis. Inzwischen, zum Senkrechtstarter geworden, liegt das Debüt bei den Berliner Philharmonikern hinter ihm.

Mit dem Ruf sind auch die Ansprüche gewachsen. In Hamburg, wo er seit 2015 als Erster Gastdirigent dem NDR Elbphilharmonie Orchester verbunden ist, sagte er einem Journalisten, er dirigiere im Prinzip auswendig, in den Konzerten ohnehin, aber auch in den Proben. Erst wenn er ein Stück restlos memoriert habe, glaube er es verstanden zu haben – der Satz könnte von Abbado stammen. Und wie Abbado lernt er nicht nur auswendig, er prüft auch bis in alle Einzelheiten, was er sich aneignet. Für seine Aufnahme von Antonín Dvořáks Sinfonie Nr. 9 in e-moll konsultierte er das Autograph sowie die Orchesterstimmen, die für die Uraufführung 1894 in New York verwendet wurden. Manches ist ihm durch die eingehende Beschäftigung mit dem Notentext klar geworden. Zum Beispiel die Tatsache, dass im Kopfsatz die langsame Einleitung in einem einzigen Tempo durchgezogen und daraus das Zeitmass für den schnellen Teil des Satzes abgeleitet werden muss. Auch die gerne ausgelassene Wiederholung in diesem Satz ist ihm heilig, die Proportionen gewännen dadurch ganz andere Fasslichkeit. Auf dieser Basis hat er das Stück mit dem Hamburger Orchester erarbeitet. Die Aufnahme ist eine Sensation; sie bildet den Höhepunkt in der Reihe der bisher drei vorliegenden CDs, die ausserdem von Witold Lutosławski das Konzert für Orchester und die Sinfonie Nr. 4 sowie Igor Strawinskys «Sacre du printemps» enthält.

Mit Dvořáks Neunter hat Krzysztof Urbánski nun auch seine zweites Gastspiel beim Tonhalle-Orchester Zürich abgeschlossen. Eine überaus bewegende Auslegung war da zu erleben, ungefähr das Gegenteil all der unzähligen Deutungen, die den knalligen Amerikanismus in den Vordergrund rücken. Schon die Artikulation des ersten Themas im Kopfsatz liess aufhorchen, weil der viertaktige Verlauf unter einen einzigen Bogen genommen war. Später beim Eintritt des zweiten Themas verzichtete Urbánski auf die hier übliche, von der Partitur aber nicht geforderte Verlangsamung, was der formalen Geschlossenheit ebenfalls förderlich war. Sehr langsam, aber emotional hochgradig erfüllt das Largo des zweiten Satzes; es wurde zu einem autobiographischen Moment, zum Ausdruck von Trauer und Sehnsucht. Das Orchester trat da förmlich aus sich heraus. An seinem Englischhorn schien Martin Frutiger aufstehen zu wollen, so intensiv und glühend blies er seine wunderbaren Solopassagen. Und das Pianissimo war – selbst in den Oboen und den Fagotten, die mutig an ihre Grenzen gingen – derart auf ein hauchzartes Schimmern zurückgenommen, dass das Vergehen der Zeit aufgehoben wirkte. Besonders überraschend aber der Schluss des Satzes, wo sich die Musik Schritt für Schritt entfernt, indem sie bis auf ein Streichtrio der Stimmführer reduziert wird: Was Urbánski da durch das Herausheben des Cellos gegenüber der Geige an Färbungen erzielte, wie wörtlich er ausserdem die Fermaten nahm, war absolut berückend. Ein für altvertraut gehaltenes Stück ist hier wie neu erschienen – das ist es, was Interpretation im besten Fall zu leisten vermag.

Nicht minder eindrucksvoll war der Einstieg mit der «Moldau» gelungen, dem ersten Teil aus der Sinfonischen Dichtung «Mein Vaterland» von Friedrich Smetana. Auf den ersten Blick war offenkundig, dass Urbánski nicht wirklich den Takt schlug; die notwendigen Zeichen gab er, vor allem aber setzte er Energien in Gang und steuerte er den Fluss: eine silberglänzende Moldau, die sich mit leichtem Wellenschlag durch milde Landschaften schlängelte, an einem belebten, aber nicht tollpatschigen Bauerntanzfest vorbeikam und sich dann in heller Ferne verlor. Sehr poetisch war das und sehr bildhaft, dabei klanglich delikat und bis in letzte Verästelungen austariert. Grossartig zu erleben, dass das Tonhalle-Orchester Zürich dazu in der Lage ist; und alles andere als selbstverständlich, dass es sich im Rahmen eines Gastdirigats ereignete – Krzysztof Urbánski ist eben alles andere als ein Spiegeldirigent, er ist ein Jungmeister seines Fachs. Hochinteressant in der Mitte dieses rein tschechischen Programms auch die Begegnung mit dem ersten Konzert für Violoncello und Orchester von Bohuslav Martinů, einem vielgestaltigen Stück, dem Sol Gabetta mit der Schönheit ihres Tons, der Klugheit ihres Phrasierens und der ihr eigenen Energie starkes Profil verlieh.

Aufnahmen mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester Hamburg und dem Dirigenten Krzysztof Urbánski:
Witold Lutosławski: Konzert für Orchester, Kleine Suite, Sinfonie Nr. 4. Alpha 232 (2015)
Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 9 in e-moll («Aus der Neuen Welt»), Heldenlied. Alpha 269 (2017)
Igor Strawinsky: Le Sacre du printemps. Alpha 292 (2017).

Unten durch und ganz zuoberst

Zwei sehr spezielle Abende in der Tonhalle Maag Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Konzerte können ganz schön aufregend sein. So war es vor gut dreissig Jahren, als Viktoria Mullova zum ersten Mal in Zürich auftrat. Etwas über zwanzig Jahre alt, war die bei Moskau geborene Geigerin aus der Sowjetunion in den Westen geflohen und hatte dort rasch auf sich aufmerksam gemacht. Ebenso rasch wurde sie von der Plattenindustrie entdeckt und als die kühle Schlanke aus dem Osten als Gegenbild zu Anne-Sophie Mutter aufgebaut. In dichter Folge erschienen grandiose Aufnahmen aus dem Kanon der Geigenliteratur, zum Beispiel das Violinkonzert von Jean Sibelius, bei dem sie vom Boston Symphony Orchestra und seinem damaligen Chefdirigenten Seiji Ozawa begleitet wurde: ein Highlight. Des in jeder Hinsicht anforderungsreichen Lebens als reisende Virtuosin überdrüssig, zog sie sich aber nach und nach zurück. Sie begann, sich der Improvisation zuzuwenden wie auch der neuen Musik und der historisch informierten Aufführungspraxis.

Jetzt ist sie in ihre Stammlande zurückgekehrt und mit dem Violinkonzert von Sibelius in die Tonhalle Maag gekommen. Das hätte sie nicht tun sollen, die Darbietung war peinlich. Schon technisch wollte es nicht klappen, wie die beträchtlichen Intonationstrübungen und die geschmacklosen Glissandi hören liessen. Ein Ton darf daneben gehen, gewiss, ein Legato mit Lagenwechsel kann zu einem Schmierer werden – wenn die Interpretation soviel attraktives Profil ausbildet, dass sie die technischen Mängel kompensiert. Genau das war bei Viktoria Mullova nicht der Fall. Lieblos und gleichgültig spielte sie ihren Part herunter, all die vielen Momente des Spannungsaufbaus, auch in der Gemeinschaft mit dem Orchester, liess sie verstreichen, das in diesem wunderbaren Stück so naheliegenden wie notwendigen Singen auf der Geige gelang ihr nicht, auch weil ihr Ton eigenartig matt blieb. Es klang, als hätte sie sich einer Pflichtübung zu entledigen. Traurig. Was Viktoria Mullova kann und mag, das erwies der als Encore nachgereichte Bach.

Dabei wären die Voraussetzungen nicht schlecht gewesen. Der Auftritt erfolgte im Rahmen einer Tournee, die das Estnische Festivalorchester und seinen Dirigenten Paavo Järvi durch Europa führt. Das vom designierten Chefdirigenten des Tonhalle-Orchesters Zürich gegründete Elite-Orchester darf sich in der Tat hören lassen. Im Konzert von Sibelius blieb Järvi zuverlässig bei der Stange, in der sechsten Sinfonie, h-moll, von Dmitri Schostakowitsch, die neben zwei Kompositionen des Esten Arvo Pärt erklang, kamen dann das Können und die Spiellust der meist jungen Menschen um Järvi zu bester Geltung. Der Kopfsatz war die reine Depression, im Mittelsatz begann sich das Temperament des Komponisten zu regen, und im Finale kam es zu einem höllisch überdrehten, allerdings hochvirtuos dargebotenen Kehraus. Dass das Publikum danach von den Sitzen sprang, lag nahe. Leider haben nicht ganz alle daran gedacht, was Schostakowitsch mit diesem Tsching-Bumm gemeint hat.

Übrigens war der provisorische Konzertsaal in der Tonhalle Maag dem lautstarken Auftritt der Gäste aus dem Baltikum durchaus gewachsen – wie es zwei Tage zuvor beim Requiem Giuseppe Verdis der Fall gewesen war. Mit von der Partie war dort der schlicht sagenhafte Monteverdi Choir unter der Leitung seines Gründers John Eliot Gardiner; er setzte auch in diesem Saal den Massstab, dem sich alle anderen hier auftretenden Chöre und Akademien zu stellen haben. Nach dem gehauchten, nur selten von strahlendem Forte unterbrochenen Eröffnungssatz liess Gardiner das «Dies irae», den Tag des Zorns, zu einem wahren Weltuntergang werden. Unglaublich die Kraft, die der Chor hier an den Tag legte, und die klangliche Schönheit, die er auch in den Augenblicken der Explosion zu bewahren wusste. Mit dabei war das Tonhalle-Orchester Zürich, dessen Streicher im Umgang mit dem vibratolosen Spiel nun schon bewandert sind und dementsprechend berückende Wirkung erzielten. Grossartig vor allem der Cimbasso anstelle der Kontrabasstuba – auffällig vor allem deshalb, weil die Blechbläser fürs Fortissimo aufzustehen hatten. Schade nur, einmal mehr soll es gesagt sein, dass die Mitglieder des Chors im Programm namentlich angeführt waren, dasselbe für das Orchester aber nicht galt. Das ist keine gute Entscheidung, auch wenn ist das Programmheft inzwischen kostenlos zu haben ist.

Sensationelles begab sich an diesem Abend in der Reihe der an der Rampe agierenden Vokalsolisten. Sopran und Bass waren in allerletzter Minute eingesprungen; beide liessen sie empfinden, welchen Seiltanz Musizieren bedeuten kann, und beide legten sie tadellos Auftritte hin. Die Sopranistin Corinne Winters, die junge Amerikanerin, die in Zürich als Mélisande zu hören war und inzwischen, von Basel aus, als Violetta Valéry durch die Opernhäuser der Welt zieht, berückte durch ein prachtvoll ausgebautes Brustregister und eine ganz zarte, lichte Höhe, vor allem aber auch durch makellose Diktion. Während der Bass Tareq Nazmi, der in Beethovens Neunter zur Eröffnung der Tonhalle Maag mitgewirkt hatte, eine angesichts der Situation geradezu meisterliche Sicherheit erkennen liess. Grossartig die Mezzosopranistin Marianna Pizzolato, die nicht nur die Finessen der italienischen Gesangskunst souverän beherrscht, sondern auch intensiv gestaltet: mit geschmeidigem Wohlklang und aus einer ganz spontanen Musikalität heraus. Bei Michael Spyres schlösse man, wüsste man nicht, dass er Amerikaner ist, auf italienische Herkunft – so idiomatisch bewegte er sich in seinem Part. Der Saal war ausverkauft, die Stimmung aufgeheizt – so aufregend können Konzerte sein.

Wunder, nicht erklärbar

Mozart mit Pires, Bruckner mit Haitink

 

Von Peter Hagmann

 

Das war nun also ihr letzter Auftritt in Europa. Maria João Pires, mittlerweile 73 Jahre alt und gegenüber dem Konzertbetrieb schon immer skeptisch eingestellt, in diesem Umfeld aber auch berühmt geworden, zieht sich vom Podium zurück – so heisst es beim Tonhalle-Orchester Zürich. In der Tonhalle Maag spielte sie das letzte Klavierkonzert Wolfgang Amadeus Mozarts, jenes in B-dur (KV 595), das im Todesjahr 1791 entstanden ist. Sie tat es so wie immer, auf der Höhe ihres Könnens und mit jener Sinnlichkeit, die den Zuhörer berührt und glücklich zurücklässt. Ihr Klang weich und geschmeidig, nuanciert durchgeformt im Leisen, im Lauten aber auch durchaus stolz und prangend – und: von einer stillen, doch sehr intensiv erzählenden Gesanglichkeit. Für die raffinierte Einfachheit, die Mozart in diesem Konzert sucht, ist Maria João Pires genau die Richtige; sie ist es geblieben, seit sie vor drei Jahrzehnten mit diesem Konzert beim Tonhalle-Orchester Zürich debütiert hat.

Genau der Richtige war auch Bernard Haitink. Mit seinen 88 Jahren selber zart und fragil geworden, stand der Meister am Pult der Solistin fürsorglich, geradezu väterlich zur Seite. Unübersehbar beim Auftritt, im Moment des Beifalls, den sie beide nicht sonderlich mögen, den Bernard Haitink dann aber doch zu einer spontanen Bezeugung der inneren, musikalischen Verbundenheit nutzte. Die Umarmung fasste in ein sichtbares Zeichen, was vordem zu hören gewesen war. Das Tonhalle-Orchester Zürich, sparsam besetzt, hell und agil klingend, trug die Pianistin förmlich auf Händen. Es bereitete ihr den Boden, auf dem sie ihren Garten anlegen konnte, es nahm aber auch leise und feinfühlig auf, was die Solistin an interpretatorischen Ideen entwickelte. Es war ein Geben und Nehmen im Stillen, das sehr an jene späten Aufnahmen von Klavierkonzerten Mozarts erinnerte, die Maria João Pires mit dem Orchestra Mozart und Claudio Abbado realisiert hat.

Klanglich ganz anders, in der interpretatorischen Mentalität aber durchaus vergleichbar entfaltete sich im zweiten Teil des ausverkauften Abends in der Tonhalle Maag die vierte Sinfonie Anton Bruckners. Einmal mehr durfte man bestaunen, wie souverän Bernard Haitink in dieser grossformatigen Musik das Kleine mit Leben erfüllt und so die fünf Viertelstunden anspruchsvoller Musik unter einen durchgehenden Spannungsbogen fasst. Haitink hat ja durchaus seine pragmatische, ja nüchterne Seite. Den Anfang mit dem berühmten, geliebten, aber unvorstellbar heiklen Quintsprung des Ersten Horns legte er dynamisch ganz auf Sicherheit an, so dass der Solohornist Ivo Gass seinen Einsatz glänzend meistern konnte. (Warum werden die Namen der Orchestermitglieder im Programmheft nicht mehr genannt? Gespräche im Publikum zeugen davon, dass es Interesse dafür gibt, dass das Kollektiv nicht als solches, sondern als Versammlung von Individuen beobachtet wird.)

Auch die Tempogestaltung hat ihre ganz sachliche Basis. Während in früheren Zeiten (und bisweilen sogar heute noch) nach Massen beschleunigt und verlangsamt wurde, um der angeblich steifen Musik Bruckners Leben einzuhauchen, hat die Bruckner-Interpretation neuerer Ausprägung den durchgehenden Puls entdeckt – Bernard Haitink ist einer der Dirigenten, der dieses eher moderne Prinzip seit vielen Jahren vertritt. Auch bei dieser Aufführung von Bruckners «Romantischer» war wieder zu bewundern, mit welcher Konsequenz Haitink einen einmal eingeschlagenen Weg verfolgt und mit welcher Ruhe er die formalen Verläufe sich erfüllen lässt. Allein, Veränderungen des Tempos gibt es bei Haitink sehr wohl, sie sind jedoch kaum zu bemerken, weil sie eben allesamt in Relation zum durchgehenden Puls stehen. Das ergibt jene eigenartige Mischung aus Klarheit, Geschlossenheit und zugleich Emotionalität, die Haitinks Bruckner-Deutungen auszeichnet.

Für den Wermutstropfen, der zu jeder auch noch so guten Aufführung gehört, sorgte der Saal. Er lässt das Orchester (wie das Rascheln der Bonbon-Papierchen) in letzter Transparenz leuchten. Ich glaube noch nie in einer Auslegung der Vierten Bruckners so genau gehört zu haben, wie sich das Ganze aus Einzelnem bildet, wie ausdrücklich die weiten Entwicklungen durch motivische Verästelungen im Inneren getragen werden. Noch nicht wirklich beherrscht ist jedoch die volle Kraft. Auf einem Platz in der vierzehnten Reihe klang das Tonhalle-Orchester, obwohl es sein Bestes gab, in den Momenten der hohen Lautstärke grob, mit einer deutlichen und darum störenden Dominanz der Posaunen. Im Sinne der Erfinder, in jenem Bruckners oder Haitinks, kann das unmöglich sein. Ob sich da etwas justieren lässt?

Ein Provisorium, das dauern darf

Eröffnung der Tonhalle Maag in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Die Tonhalle Maag am Eröffnungsabend / Bild Tonhalle-Orchester Zürich, Priska Ketterer

 

Schön ist er geworden, der neue Konzertsaal in Zürich, spektakulär schön. Von aussen sieht es noch schwer nach Zahnradgiessen aus, aber das ist ja gerade das Besondere an diesem einzigartigen kulturpolitischen Wurf: dass die Lokalität, die das Tonhalle-Orchester Zürich nun drei Jahre lang bespielt und selbst betreibt, nämlich an andere Veranstalter weitervermietet – dass diese Lokalität sich so grundlegend von der zurzeit in Renovation befindlichen Tonhalle am See unterscheidet. Das gilt schon für den Eingang, für die Kasse (ein zweiter Schalter befindet sich im Sitz der Credit Suisse am Paradeplatz) und für die Garderobe, erst recht aber für das Foyer, das von früheren Verwendungszwecken des Raums zeugt, aber ideenreich und witzig an die neue Funktion angepasst wurde.

Eine ganz andere, ganz eigene Anmutung strahlt jedoch der Konzertsaal aus. Ganz neu, ist er in eine bestehende Hülle hineingebaut. Das helle Fichtenholz lasse, so wurde behauptet, an eine finnische Sauna denken; nun gut, die Assoziationen sind frei. Ohne zu schwitzen – das verhindern die zahllosen kleinen, in regelmässiger Abfolge in den Boden gebohrten Öffnungen, durch die unmerklich, auch so gut wie unhörbar, Frischluft in den Saal strömt – stehe ich dazu, dass mir das Farbenspiel der lichten Wände, der etwas dunkleren Akustikpaneele in der Höhe und hinter ihnen der schwarzen Bemalung der Saaldecke angenehme Eindrücke beschert. Den Architekten Annette Spillmann und Harald Echsle ist da ein ästhetisch sehr ansprechender Entwurf gelungen.

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Wenig zu wünschen übrig lässt die Funktionalität des Saals. Gewiss, der Zugang der Orchestermitglieder zum Podium kann zu Berührungen mit dem Publikum führen, wovon eine wohl doch eher humoristisch zu nehmende weisse Linie am Boden zeugt, die den schmalen Gang in zwei noch schmalere Hälften teilt, in eine für die Ausführenden und eine für die Zuhörenden. Und ohne Zweifel hätten Armlehnen an den bequemen, viel Beinfreiheit bietenden Sitzen dem i sein Tüpfchen beigefügt. Aber man darf doch feststellen, dass sich die Zuhörerin, der Zuhörer in dem neuen Saal sogleich zurechtfinden und sich ohne Bedenken niederlassen kann. Und die Erreichbarkeit der Tonhalle Maag, zumal mit dem öffentlichen Verkehr, ist vorbildlich, jedenfalls entschieden besser als bei der Tonhalle am See. Wie sich auch die Vielfalt des gastronomischen Angebots in der Umgebung sehen lassen kann.

Gut 1200 Plätze gibt es in dem neuen Saal, 300 weniger als im alten, mehr ging in die gegebene Kubatur nicht hinein – und das ist vielleicht auch gut so. Die Tonhalle-Gesellschaft hat jetzt die Aufgabe, den Saal mit Leben und Publikum zu füllen, was nicht einfach sein wird, aber durchaus gelingen könnte. Vier Fünftel der Abonnenten haben Treue bewiesen, und dazukommen werden nach und nach all jene, die neugierig sind und am Ende vielleicht gar hängenbleiben. Dass diese hochstehende, auch kostspielige, übrigens weitgehend privat finanzierte Übergangslösung Risiken mit sich bringt, versteht sich; ebenso sehr sollten aber die Chancen in Betracht gezogen werden. In erster Linie stellt diese Art der vorübergehenden Bleibe ein grossartiges Bekenntnis zur klassischen Musik und ihren Akteuren dar – das Tonhalle-Orchester Zürich kann sich jedenfalls weitaus glücklicher schätzen als die Klangkörper in Basel und Bern, welche die Zeit der Bauarbeiten an ihren Sälen unter weit weniger favorablen Umständen hinter sich zu bringen haben.

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Inzwischen ist die Tonhalle Maag eröffnet, und so lässt sich nun auch über die Akustik sprechen. Erste Schwierigkeit dabei bildet der Umstand, dass die akustische Wahrnehmung etwas hochgradig Subjektives darstellt. Dazu kommt, dass sich das neue Gefüge erst einmitten muss; der Saal mit seinen noch brandneuen Materialien muss ebenso in Schwingung kommen, wie sich das Orchester und seine Dirigenten ins Raumgefühl einfinden müssen, ganz zu schweigen vom Publikum, das sich an die ganz anderen Verhältnisse in Zürich-West erst gewöhnen muss. Aussagen zur Akustik sind also mit Vorsicht zu geniessen – dennoch: Für mich klingt der durch die Akustiker von Müller-BBM München feingestimmte Konzertsaal ganz ausgezeichnet, weitaus besser jedenfalls, nämlich persönlicher als das hölzerne Provisorium, das die Internationalen Musikfestwochen Luzern im Sommer 1997, als das alte Kunsthaus abgerissen und das neue KKL noch nicht erstellt war, in der von Moos-Stahlhalle in Emmenbrücke betrieben haben.

Den warmen Mischklang der Tonhalle am See wird man hier allerdings nicht finden, auch kaum erzeugen können;, die Tonhalle Maag liegt näher beim heute so geschätzten Spaltklang, wie er vom KKL Luzern her bekannt ist. Das Tonhalle-Orchester Zürich klang beim Eröffnungskonzert von letzter Woche merklich heller, auch deutlich transparenter als gewohnt: Wer es kennt, kann dieselbe Erfahrung machen wie der Begleiter einer Tournee, der das gewohnte Orchester in ungewohnten Umgebungen wahrnimmt und sozusagen neu entdeckt. Wunderbar präsent waren am Eröffnungsabend die einzelnen Instrumente, etwa das glühende Englischhorn von Martin Frutiger oder die bisweilen einzigartig leise Klarinette von Michael Reid. Auf der anderen Seite entbehrte das Tutti der Kompaktheit, fehlte es zudem an Basswirkung und schien der Obertonglanz etwas gemindert. Was davon auf den Saal, was auf das Orchester und seinen Chefdirigenten Lionel Bringuier, was schliesslich auf die Ohren des Zuhörers zurückgeht, war im Augenblick nicht auszumachen.

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Denn die musikalische Arbeit hat erst begonnen. Bis jetzt gab es ein Galakonzert und zwei weitere Abende mit Beethovens Neunter sowie übers Wochenende einen Erlebnistag nach Luzerner Art mit einer vierten und letzten Aufführung des Feststücks par excellence. Beethovens Neunte, das mag auf den ersten Blick konventionell gewirkt haben, die Wahl erinnerte indes an das erste Konzert 1895 in der damals neuen Tonhalle am See. Und wie seinerzeit mit dem «Triumphlied» von Johannes Brahms, dirigiert vom Komponisten, eine Novität dazukam, war hier der Sinfonie Beethovens das Bratschenkonzert von Brett Dean vorangestellt – ein Stück des australischen Bratschers, Dirigenten und Komponisten, der in dieser Spielzeit den «creative chair» innehat. Seiner Zürcher Position entsprechend griff Brett Dean für den ersten Teil des Abends selbst zu seinem Instrument, während er danach, wie es weiland der Cellist Yo-Yo Ma tat, als hinterster, überaus engagierter Bratscher mit von der Partie war.

Deans Violakonzert ist ein Stück, das unverkrampft mit dem Paradigmen der neuen Musik umgeht und attraktive Spannungsverläufe bietet, insgesamt aber doch etwas beliebig wirkt. Denselben Eindruck erzeugte die Auffassung, die Lionel Bringuier zu Beethovens Neunter entwickelt hat. In der stilistischen Ausrichtung nicht wirklich greifbar, kämpfte seine Interpretation mit den bekannten Problemen des Stücks, im Finalsatz zum Beispiel mit der für die Sänger anforderungsreichen Höhe und mit der dichten Folge der dynamischen Spitzen. Die Zürcher Singakademie, erstmals von Florian Helgath vorbereitet, klang merklich besser als in früheren Zeiten, blieb aber gleichwohl noch einen deutlichen Schritt entfernt von den Qualitäten der Spitzenchöre. Schön besetzt, wenn auch vom Dirigenten nicht immer in befriedigender Balance gehalten das Solistenquartett mit Christiane Karg (Sopran), Wiebke Lehmkuhl (Alt), Maximilian Schmitt (Tenor) und Tareq Nazmi (Bass).

Womit der Saal eingeweiht wäre und es losgehen kann. In drei Jahren, wenn die Tonhalle am See in frischem Glanz erstrahlt, muss es, ja wird es mit der Tonhalle Maag weitergehen – wie auch immer: das Schauspielhaus kennt ja auch seinen Schiffbau. Ein solches Juwel zurückzubauen, wie es mit der Opéra des Nations in Genf geschehen wird, wäre gewiss die am wenigsten attraktive Option.

 

Das Eröffnungskonzert in Tonhalle Maag / Bild Tonhalle-Orchester Zürich, Priska Ketterer

Paavo Järvi – genau der Richtige für Zürich

Der 54jährige Este wird Chefdirigent und Künstlerischer Leiter beim Tonhalle-Orchester

 

Von Peter Hagmann

 

Ilona Schmiel und Paavo Järvi in der Tonhalle Zürich / Bild Priska Ketterer, Tonhalle-Orchester Zürich

Nun ist das Team komplett, echt komplett. Als Ilona Schmiel 2014 ihre Aufgabe als Intendantin des Tonhalle-Orchesters Zürich übernahm, war Lionel Bringuier als Chefdirigent gesetzt. Sie hatte den jungen Mann, der über keinerlei Erfahrung im Umgang mit einem Orchester und einer Institution vom Rang der Zürcher Körperschaft verfügte, zu akzeptieren; seine Berufung war vom Orchester dringend gewünscht worden, und der Vorstand der Trägergesellschaft hatte dem Wunsch entsprochen. Doch um die Chemie zwischen Chefdirigent und Intendantin scheint es von Anfang an nicht zum Allerbesten gestanden zu haben, das lassen allein schon die leicht verkrampften Bilder erkennen, die anlässlich des Amtsantritts der beiden kursierten. So erstaunt auch aus diesem Blickwinkel nicht weiter, dass die vier Jahre Bringuiers beim Tonhalle-Orchester zum Zwischenspiel wurden; vor der Sommerpause 2016 wurde bekannt, dass sein Vertrag nicht verlängert werde.

Mit Paavo Järvi als neuem Musikdirektor des Tonhalle-Orchesters Zürich ab 2019/20 geht es nun aber richtig los, daran liess die eilig einberufene Medienkonferenz vom gestrigen Dienstag keinen Zweifel. Martin Vollenwyder, der Präsident der Tonhalle-Gesellschaft, strahlte Stolz und Zuversicht aus, Ilona Schmiel funkelte nach Massen, und sogar der distinguierte Paavo Järvi trat ein wenig aus dem Busch hervor. Als Järvi, das liess er an der Medienkonferenz erkennen, im Dezember vergangenen Jahres ein geschickt als ganz normaler Anlass verkleidetes Probekonzert gab, wusste er schon, dass er möglicherweise für die Aufgabe angefragt würde – und er habe damals auch schon gewusst, dass er im Fall der Fälle zusagen würde. Wir Kommentatoren wussten es eigentlich auch schon. Nach diesem ausserordentlich geglückten Konzert, insbesondere nach der hinreissenden Darbietung von Schumanns dritter Sinfonie (https://www.peterhagmann.com/?p=851), stand Järvis Name ganz oben auf der Liste denkbarer Chefdirigenten. Einer wusste es am Ende noch besser: Der Gerüchtekoch Norman Lebrecht, der vor keinem Hinterzimmer Halt macht, liess es sich nicht nehmen, zwei Stunden vor der Medienkonferenz auf seiner Website zu verkünden, wer die Nachfolge Bringuiers antritt.

Und wer, so muss man es sagen, in die Fussstapfen David Zinmans tritt. Darum geht es, und dafür ist Paavo Järvi genau der Richtige. Schon die Tatsache, dass Järvi, anders als Bringuier, wieder die doppelte Funktionsbezeichnung als Chefdirigent und Künstlerischer Leiter trägt, lässt auf klare Einlässlichkeit hoffen. Die initiative und ideenreiche Intendantin Ilona Schmiel muss sich dadurch in keiner Weise bedrängt fühlen, hat sich Järvi an der Medienkonferenz doch ausdrücklich als Teamplayer zu erkennen gegeben (vgl. NZZ vom 31.05.17). Kommt dazu, dass Järvi von Alter, Erfahrung und Bekanntheitsgrad her optimal nach Zürich passt. Das Tonhalle-Orchester braucht jemanden am Pult, der mit beiden Beinen in der Gegenwart steht, der den Musikerinnen und Musikern aber auch noch etwas voraus hat – nicht zuletzt eine eigenständige, plausible Sicht auf die Werke. Die Reihe der von Järvi bislang eingenommenen Chefpositionen – sie reicht von den Stockholmer Philharmonikern über das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main bis zum Orchestre de Paris und dem NHK Symphony Orchestra in Tokio – lässt erahnen, dass der 54jährige Dirigent aus Estland sein Handwerk kennt. Und die Gesamteinspielung der Sinfonien Beethovens, die er mit der seit 2004 von ihm geleiteten Kammerphilharmonie Bremen erarbeitet hat, zeigt viel von seinem hellwachen Umgang mit dem Notentext. Ihr kristalliner Ton und ihre Kompromisslosigkeit in der Attacke eröffnen einen ganz anderen Weg als die helle, transparente, spritzige Leichtigkeit, die David Zinman in seinen Beethoven-Aufnahmen mit dem Tonhalle-Orchester Zürich so erfolgreich beschritten hat. Nicht auszuschliessen, dass das Orchester mit Paavo Järvi tatsächlich ein neues Kapitel seiner Geschichte aufschlägt.