Im Irrgarten

Mozarts «Figaro» mit Barbara Frey in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Oksana Sekerina (Gräfin), Flavio Mathias (Antonio), Thomas Lehman (Graf), Sarah Brady (Susanna) im Basler «Figaro» / Bild Lucia Hunziker, Theater Basel

Anfangs ahnt man wenig. Das fensterlose Zimmer mit seiner floralen Ausstattung nimmt sich ein wenig eng aus – klar, es ist ein Dienerzimmer, in dem sich Figaro und Susanna nach ihrer Eheschliessung niederlassen sollen. Doch je weiter in «Le nozze di Figaro», der «commedia per musica» Wolfgang Amadeus Mozarts, das Geschehen vorankommt, desto mehr öffnet sich die von Bettina Meyer hinreissend gestaltete Bühne. Wie ein grosses Labyrinth zieht sie sich weit in die Tiefe; zwischen die einzelnen durchgehend gleich gestalteten Schichten sind Gänge gelegt, in denen die Menschen nur zur Hälfte sichtbar werden  – ganz so wie bei den aus Buchs gestalteten Labyrinthen adliger Gärten aus dem 18. Jahrhundert. Da ist er, der Irrgarten der Gefühle – und dies am Vorabend der französischen Revolution.

Vom Wandel der Zeiten, der sich in dem ungeheuer provokanten Stück von Beaumarchais ankündigt und den Mozart zusammen mit seinem Librettisten Lorenzo Da Ponte am Kaiser und seinen Instanzen vorbei in eine freche musikalische Komödie gegossen haben, sprechen im Theater Basel zuallererst die Kostüme von Bettina Walter, die von der Anmutung und der Aussage her auf derselben Höhe stehen wie das Bühnenbild. Perücke und Robe sind ausrangiert, das Bürgertum hat sich bereits eingerichtet, die Herren tragen also Anzug und Krawatte. Der einzige, der sich bloss ein Halstuch umgebunden hat, ist Figaro – der Standesunterschied ist noch nicht verschwunden. Oder noch nicht ganz, denn Susanna schmückt sich mit einem Hut, was der Dienerin im alten System verwehrt gewesen wäre. Wenn am Ende der Graf düpiert auf die Knie fällt und seine Rosina um Vergebung bittet, tragen Gräfin und Dienerin exakt dasselbe Kleid – dies natürlich nicht nur um der Verkleidung willen.

Die Welt ist aus den Fugen geraten, leicht kann man sich im Labyrinth der Gefühle verirren. Das wird von Barbara Frey, der ehemaligen Direktorin des Schauspielhauses Zürich, als Regisseurin des Abends nicht lustig, heissa, hopsassa vorgeführt, wie es in früheren Zeiten bei «Le nozze di Figaro» gern gepflegt wurde, sondern mit feinem Humor, mit dem szenischen Silberstift, auch mit stilisierenden Anklängen an die formalen Gegebenheiten, denen die Musik gehorcht. Davon spricht das Trio Marcellina (Jasmin Etezadzadeh), Bartolo (Andrew Murphy) und Basilio (von Karl-Heinz Brandt als ein herrlich süffisanter Musiker verkörpert), wenn es im falschen, nämlich dem genau richtigen Moment im Gleichschritt durch einen der Gänge im Labyrinth huscht. Auch Symmetriebildungen spielen eine Rolle. So ist die kleine Rolle der Barbarina mit dem formidablen Sopranisten Bruno de Sá besetzt, einem Mann in der Rolle einer Frau und somit das Gegenstück zu Cherubino, dem jungen Mann, der von einer Frau dargestellt wird.

Diese junge Frau als junger Mann nimmt im neuen Basler «Figaro» eine besondere Position ein. Zunächst darum, weil Kristina Stanek ein auffallendes Profil einbringt. Klar in der Tiefe verankert, steigt ihr kerniger Mezzosopran ohne Bruch in eine sicher fokussierte Höhe – ein stimmliches Potential, das noch manchen künstlerischen Entwicklungsschritt in Aussicht stellt. Dazu kommt nun aber eine auffallende szenische Präsenz; Kristina Stanek ist jederzeit voll da, ihr Gesicht spricht, ihr Körper agiert äusserst beweglich. Cherubino als die junge Ausgabe des Grafen, als ein heftig erwachter, nach allen weiblichen Seiten hin begehrlicher Youngster, dem man mit Wohlwollen begegnet, weil die Eierschalen hinter den Ohren nicht zu übersehen sind. Süss, wie Cherubino sich der Gräfin an die Schulter wirft und wie er ihr im Durcheinander des Finales einen Kuss abstiehlt – das ist alles sensibel aus der Musik heraus entwickelt und ebenso liebevoll wie detailbewusst ausgearbeitet.

Anders als des Frühlings Erwachen bei Cherubino ist beim Grafen der Herbst angebrochen. Natürlich muss er noch immer nach jedem Weibchen grabschen, natürlich will er das «ius primae noctis», das er den Zeichen der Zeit gehorchend abgeschafft hat, wieder in Kraft setzen, aber hier, bei Barbara Frey, wirkt er doch deutlich abgewetzt – mag sein, dass das auch auf die monochrome Stimmgebung von Thomas Lehman zurückgeht. Nicht so Figaro, der bei Antoin Herrera-Lopez Kessel ebenfalls farblich etwas engen Ton findet, aber so viel szenisches Temperament entfacht, dass klar wird, woher die gesellschaftliche Erneuerung kommen wird. Ähnlich nimmt es sich bei der Gräfin und ihrer Dienerin aus. Während Sarah Brady als Susanna, zumal im ersten Teil des Abends, stimmlich wie darstellerisch frisch und agil wirkt, dringt Oksana Sekerina nicht wirklich in jene Gefilde der Melancholie vor, die der Partie der Gräfin eingeschrieben sind.

Wie im zweiten Akt von «Don Giovanni» kann es in «Le nozze di Figaro» zu Durchhängern kommen, namentlich zu Beginn des vierten Akts, wo sich das Geschehen merklich verlangsamt. Dass das in Basel zu spüren war, erstaunt nicht, denn in der musikalischen Formung bleibt die Produktion weit hinter der szenischen Verwirklichung zurück. Es liegt nicht am Sinfonieorchester Basel, das mit seinen Naturhörnern und Naturtrompeten, auch mit den klassischen Bögen für die Streicher einen Klang von herrlicher Geschmeidigkeit und vibrierender Wärme hervorbringt. Die Verantwortung dafür trägt der Mann am Pult. Wie bei «Don Giovanni» vor einem halben Jahr in Strassburg zieht Christian Curnyn in erbarmungsloser Gleichförmigkeit durch die Partitur Mozarts (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.06.19). Stoisch den Takt schlagend, lässt er keinerlei Raum zum Atmen, geschweige denn zum sprechenden Ausgestalten der Phrasen. So erstaunt auch nicht, dass das stilwidrige Sitzenbleiben auf den Schlusssilben der Wörter hier besonders grassiert. Was Nikolaus Harnoncourt angelegt, was René Jacobs aufgenommen, was Teodor Currentzis auf die Spitze getrieben hat – kein Spur davon. Ein Mozart im Klang von heute, aber im Geist von gestern.

Ein Haus, neu gesehen, anregend interpretiert

150 Jahre Wiener Musikverein

 

Von Peter Hagmann

 

Die Elbphilharmonie in Hamburg, das Kunst- und Kulturzentrum KKL in Luzern, die Philharmonie de Paris mit ihrer «Salle Modulable» in Ehren – der berühmteste Konzertsaal der Welt steht in Wien. Nicht weil jeweils am 1. Januar um elf Uhr Lokalzeit vierzig Millionen Menschen vor ihren Fernsehern oder ihrer Stereoanlage sitzen und das von neunzig Stationen in alle Welt ausgestrahlte Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker verfolgen – nein, der Wiener Musikverein ist ein Ort für Musik von ganz besonderer Dimension. Er ist der Ort für Musik schlechthin. Zu erfahren war es wieder in jenem Festkonzert, mit dem am 6. Januar 2020 an die Eröffnung des Hauses vor exakt 150 Jahren erinnert wurde. Das Gefühl für den aussergewöhnlichen Moment in der stolzen Geschichte dieses Musentempels und die auffallend prickelnde Atmosphäre im Goldenen Saal liessen das vormittägliche Dreikönigskonzert zu einem besonderen Ereignis werden. Ihren nicht ganz unwesentlichen Teil dazu beigetragen hat die bis heute unübertroffene Akustik. Das zu vermerken, mag als Banalität erscheinen. Dennoch, wenn im Goldenen Saal ein Sänger auf dem Podium wirkt, kann man die Stimme so konturiert, ja so körperlich wahrnehmen, dass einen doch wieder das Staunen überkommt.

Natürlich weiss jedermann, dass in keinem Konzertsaal der Welt auf allen Plätzen gleich gut gehört werden kann. Auch im Grossen Musikvereinssaal mit seinen zweitausend Sitzen hat die Gleichberechtigung aller Zuhörenden, die der Architekt Theophil Hansen im Kontrast zu Disposition in der fast gleichzeitig entstandenen Hofoper zu verwirklichen suchte, ihre Kratzer. Neben den akustischen Löchern, deren Verortung im Saal unter Eingeweihten durchaus bekannt ist, gehört dazu der Balkon, der Oben von Unten scheidet – auch wenn das nicht ganz ohne Preis geschieht. Solchen Fragen widmet sich Joachim Reiber, Redaktionsleiter in der Intendanz der Gesellschaft der Musikfreunde, in einem grossformatigen Band mit dem lapidaren Titel «Der Musikverein in Wien. Ein Haus für die Musik». Keine Festschrift, kein Huldigungsband, kein touristischer Führer liegt da vor, Reiber bietet vielmehr eine liebevolle Annäherung an das Haus, seine Geschichte, seine Geschichten.

Wer mit dem Autor die eiligen Touristen aus Fernost, die Tag für Tag ihre Selfies vor dem Musikverein schiessen, hinter sich lässt und durch die Eingangstüren schreitet, wer nicht gleich zu den Garderoben und dann zu seinem Platz eilt, der darf seine Wunder erleben. Denn Reiber schaut hin, lässt sich informieren und stellt das aufgespürte Detail in den Zusammenhang: den historischen, den ästhetischen, den musikalischen, den menschlichen. Auch wer den Musikverein zu kennen glaubt, entdeckt so manch Neues – und stösst nebenbei auf Menschen, die dem Haus sein Gesicht geben: auf die langjährige Abonnentin Evelyn Wanderer etwa, auf den Saalmeister Gerhard Schacher, der vor der Tür des Dirigentenzimmers wacht und alle Geheimnisse kennt, aber keines ausplaudert, auch auf Margarethe Gruder-Guntram, die ein Leben lang ganztags das Künstlerische Betriebsbüro leitete und für viele Musiker erste Bezugsperson war, nicht zuletzt aber auf den Intendanten Thomas Angyan und seine Gattin Eva Angyan, die für das Buch Stimmen grosser Musikerinnen und Musiker gesammelt hat. Mit Joachim Reiber schaut man genau hin, aber nicht nur mit ihm, sondern auch mit dem Photographen Wolf-Dieter Grabner, der mit seinen denkbar prächtigen Bildern den Blick des imaginären Flaneurs lenkt.

Und weil Reiber nicht beim Detail stehenbleibt, ihm vielmehr nachsinnt und kreativ, auch in einem subtil gestalteten Ablauf  Kontexte erschliesst, erfährt man gleichsam unter Hand das Wesentliche zu dem nun in der Tat eindrücklichen Werden des Wiener Musikvereins. Zur Gründung der bürgerlichen Gesellschaft der Musikfreunde 1812, zur selbstbewussten Bitte der Gesellschaft an den Kaiser um ein Grundstück auf der Fläche der geschliffenen Stadtmauer, zu den ästhetischen Prämissen, unter denen Theophil Hansen das Haus erstellt hat, zu seinen Umbauten und auch zu der grossen unterirdischen Erweiterung durch die vier Neuen Säle. Die dunklen Flecken in dieser Geschichte werden nicht verschwiegen. Kurz, aber eindringlich wird geschildert, wie die Nationalsozialisten gleich nach der Einverleibung Österreichs ins Deutsche Reich die in der Trägerschaft versammelten Bürger entmachteten und die Juden vertrieben, wie sie einen willfährigen Organisten an die Spitze stellten und den Musikverein für sich pachteten. Wie 1945 eine Granate durch die geborstenen Fenster auf die Pedaltastatur der Orgel fiel, dort aber nicht explodierte – auch dieses vielsagende Zeichen fehlt nicht.

Im Musikverein sei das Alte das Neue und das Neue das Alte, bemerkt Joachim Reiber bei der doch etwas kurz geratenen Erwähnung Nikolaus Harnoncourts. Das hat seinen speziellen Hintersinn. Denn Wien bleibt Wien, auch in den Strukturen: Anders als sonstwo im Bereich der Orchester und der Konzerthäuser, auch das ist dem Buch Reibers zu entnehmen, bildet im Musikverein das Abonnement nach wie vor die zentrale Stütze des inzwischen erheblich erweiterten Angebots an Konzerten. Dass die Tradition auch gefährdend wirken, zum Beispiel den Sinn für Innovation eintrüben kann, auch das ist im Wiener Musikverein hie und da zu erfahren – das Festkonzert vom Dreikönigstag 2020 deutete es an. Die Tatsache freilich, dass die Tradition, ohne die es keine Innovation gibt, auch in unseren Tagen bewegt am Leben bleiben kann, davon weiss das grandiose, zu Recht geliebte Haus am Karlsplatz auch im 150. Jahr seines Bestehens äusserst munter zu erzählen.

Joachim Reiber: Der Musikverein in Wien. Ein Haus für die Musik. Styria-Verlag, Wien 2019. 224 S., Euro 30.00.

Liebe, Macht und Ohnmacht

«Salome» in Luzern, «La Bohème» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Jason Cox (Jochanaan) und Heather Engebretson (Salome) in Luzern / Bild Ingo Hoehn, Luzerner Theater

Wie das? Trägt Greta nun keinen dunkelblonden Rossschwanz mehr, dafür einen schwarzen Bubikopf? Nicht doch, es ist ja nicht Greta, die auf der Bühne des Luzerner Theaters erscheint, sondern Heather Engebretson, immerhin schon 29 Jahre alt und nicht weniger als 1,52 Meter gross. Salome in der gleichnamigen Oper von Richard Strauss als eine Kind-Frau – so zeigt es Herbert Fritsch, wie stets Regisseur und Bühnenbildner in einer Person. Er tat es in gleicher Weise wie Maurice Béjart 1983 im Genfer Grand Théâtre, als der Choreograph die Oper von Strauss mit der Sängerin und Tänzerin Julia Migenes inszenierte. Eine unvergesslich perfekte Lolita stand damals im Licht, nur verfügte sie nicht über das hier geforderte Stimmvolumen, weshalb die Sängerin für ihren Monolog mit dem abgeschlagenen Kopf des Jochanaan auf einer Rampe über den Orchestergraben hinweg ans Publikum herangeführt wurde.

Bei Heather Engebretson in Luzern war das nicht nötig. Sie sang nicht zu leise, sondern überhaupt nicht, eine Infektion hatte es verhindert. An ihrer Stelle nahm Sera Gösch von der Seite aus ihre Partie wahr, und sie tat das auf bewundernswertem Niveau, mit einer Spannung jedenfalls, die sich direkt übertrug. An die Aufspaltung der Figur hätte man sich gewöhnen können, wenn das füllige Timbre der Sängerin zur feingliedrigen Erscheinung der Darstellerin gepasst hätte, aber so ist das Leben, zumal im Theater – und immerhin war die Premiere gerettet. Ein erneuter Besuch der Produktion drängt sich auf, denn was Heather Engebretson darstellerisch leistet, ist dermassen aufregend, dass man auf die stimmliche Ergänzung ausgesprochen neugierig wird.

Mit einer Agilität sondergleichen und nicht nachlassendem Elan durchmisst sie die Bühne und beherrscht so die ganzen Raum. Trotzig aufbegehrend ist ihre Salome – ein Kind zwar, aber ein erwachendes und damit eines, das um seine Möglichkeiten weiss. Erhält sie nicht, was sie begehrt, rast sie von der einen Seite auf die andere und schlägt voll auf das Portal. Und was für ein sprechendes, lachendes, tobendes Gesicht zeigt sie; jede Regung ihres Inneren, auch dann, wenn sie zuhört, spiegelt sich in ihren Zügen. Einschmeichelnd kann sie blicken, im Handumdrehen aber wieder bös, ja zornig –genauso wie Greta, wenn sie den Mächtigen der Welt die Leviten liest. Hört diese Salome die Stimme Jochanaans, Jason Cox lässt sie mächtig aufklingen, bricht sich das Begehren eruptiv Bahn. Nur knapp vermag sich der Prophet dem Verrat an seiner Mission zu entziehen.

Klein an Wuchs, aber mächtig in ihrer Ausstrahlung – so schlägt die Salome der Heather Engebretson alle Figuren rund um sie in ihren Bann und führt sie an unsichtbaren Strippen auf das fatale Ende zu. Ihr verfallen ist Herodes, an dem Hubert Wild mit seiner dürftigen Stimme kapital scheitert, ihr hörig ist ihre Mutter Herodias, die Solenn’ Lavanant-Linke zu einer grossartigen Theater-Karikatur macht, ihr verfallen ist Narraboth (Robert Maszl), der sich angesichts seiner Niederlage entleibt. Alles wird, so ist es bei Herbert Fritsch und seiner Kostümbildnerin Victoria Behr, zugespitzt und auf den Punkt der grösstmöglichen Theaterwirkung gebracht – das macht an diesem Abend, vom grossartigen Eröffnungsbild mit dem nächtlich blauen Hintergrund, dem riesigen Mond und den Figuren im Scherenschnitt über die beiden absurden Thronsessel für das Herrscherpaar bis hin zu dem aus dem Boden ragenden Kopf des Jochanaan, gewaltig Effekt. Dabei wird hier nicht Regie geboten, nur Theater. Das aber nah am Text, sinnreich deutend und lustvoll vorführend. Dass das Luzerner Sinfonieorchester unter der Leitung von Clemens Heil so akkurat mitzieht, sorgt für ein deutliches Tüpfelchen auf dem i.

Im Theater Basel herrschen umgekehrte Vorzeichen. Mit «La Bohème» von Giacomo Puccini wird dort ein ähnlicher Reisser wie «Salome» gebracht – ein Rührstück, dessen emotionale Kraft auch heute noch ungebrochen ausstrahlt. Unterstrichen wird es zum Beispiel vom Sinfonieorchester Basel, das unter der Leitung der neuen Basler Musikdirektorin Kristiina Poska seine Funktion voll ausspielt – in herrlich opulentem Sound, bisweilen etwas zu laut, aber mit farblichen Reizen, wie sie gewöhnlich nicht zu hören sind. Der Akzent auf dem Instrumentalen unterstreicht, dass es in «La Bohème» durchaus nicht nur die vokale Linie gibt. Dass dieser Irrglaube bei Puccinis Oper leider noch immer zu den Rezeptionsmustern gehört, erwiesen die Reaktionen des Premierenpublikums, das auch in den zartesten Momenten mit lautstarkem Beifall in die abschliessenden Passagen einfiel.

Wer zuhört, kann eine Besetzung erleben, die sich in mancher Hinsicht den hergebrachten Erwartungen entgegenstellt. Cristina Pasaroiu, die übrigens nicht selten mit Heather Engebretson auftritt, gibt eine sensible, wenn auch alles andere als unterwürfige Mimì; mit eigenem Stolz ergibt sie sich ihrem Schicksal. Während Davide Giusti als ein Rodolfo von lyrischer Qualität und weicher Linienführung erscheint, jedenfalls denkbar fern jener Exposition vokalen Potenz, wie sie bei dieser Partie nicht selten gepflegt wird. Noch markanter gezeichnet ist das Nebenpaar mit dem aufbrausenden Marcello von Domen Križaj und der ganz und gar nicht soubrettenhaften, vielmehr selbstbewussten und zielstrebigen Musetta von Valentina Mastrangelo. So gibt es, auch dank dem solide besetzten Ensemble, im Musikalischen manch überzeugenden, ja bezaubernden Moment.

Daniel Kramer freilich, er hat den Abend inszeniert, scheint nicht ans Stück zu glauben. Er muss in Regietheater machen, will sagen: den künstlerischen Entwurf von 1896 an die Gegenwart heranholen. Der Maler Marcello agiert mit der Spraydose, die Rosenstickerin Mimì stirbt nicht an der Schwindsucht, sondern, gezeichnet von der Chemotherapie, an einem Krebs, Schaunard (Gurgen Baveyan) und Colline (Paull-Anthony Keightley) sind, damit sie auch jemanden an ihrer Seite haben, ein Männer-Paar. Vor allem aber sorgen Marius und Ben de Vries mit markigem, ganz selten an «La Bohème» erinnerndem Sound aus dem Lautsprecher für ein musikalisches Ambiente, das die angeblich gestrige Musik Puccinis mit der Gegenwart konfrontieren oder verbinden soll – ein überflüssiges Vorhaben, denn was hier beigefügt wird, kann der sich Opernbesucher in der Pause auf dem Theatervorplatz besorgen. Davon abgesehen herrscht weitgehend Konvention. Annette Murschetz hat im ersten Akt statt der Dichterstube über den Dächern von Paris einen Ort der Verlorenheit geschaffen, an dem die brotlosen Künstler Weihnachtsbäume feilhalten. Sehr zu Recht, denn im zweiten Akt geht es um Weihnachten, in Basel allerdings weniger um das ausgelassene Fest im Quartier Latin als um Konsum und Kaufrausch heutiger Ausprägung. So weit, so gut. Am Ende der Oper lässt sich wenig schrauben, Mimìs Tod ist Mimìs Tod, es darf geweint werden. Puccinis Oper lässt sich nichts anhaben.

Davide Giusti (Rodolfo) und Cristina Pasaroiu (Mimì) in Basel / Bild Priska Ketterer, Theater Basel

Beziehungsgeflechte

Yaara Tal mit einem Programm aus dem Hause Schumann

 

Von Peter Hagmann

 

1839 war für sie ein goldenes, aber auch ein schwieriges Jahr. Clara Wieck und der neun Jahre ältere Robert Schumann hatten versucht, die von Claras Vater hintertriebene Eheschliessung durch einen Gerichtsbeschluss zu erzwingen, worauf eine lange Zeit bangen Wartens folgte. Die Liebe aber, sie war überschäumend – nur: Es gab noch eine andere, es gab noch Julie. Drei Jahre jünger als Robert Schumann, brannte Julie von Webenau ebenfalls für den Komponisten.

Von dem nicht gerade ausbalancierten Dreieck geht die Pianistin Yaara Tal in ihrer jüngsten, wiederum geistreich konzipierten und hochstehend realisierten CD aus. Zwei Fantasiestücke, von Julie Webenau 1839 Schumann gewidmet, eröffnen das Programm. «L’Adieu» und «Le Retour» nennen sie sich, was sofort zu hören und noch leichter zu verstehen ist – Schumann jedenfalls verstand, konnte aber nicht im gewünschten Sinn antworten. Nicht erstrangige, aber doch hübsche Musik ist das. Mutatis mutandis gilt das auch für die drei Romanzen, die im selben Jahr 1839 Clara Wieck als Zwanzigjährige ihrem Bräutigam zugeeignet hat. Anregend, sich in diese Stücke einzuhören und dabei zu erkunden, wo und wie sich die Handschriften von Clara und Robert berühren.

Das gelingt umso besser, als Yaara Tal nicht nur ein sensibles, das Verträumte subtil unterstützendes Rubato einbringt, sondern auch sorgfältig, wenngleich ohne Penetranz, die Strukturen aufscheinen lässt. Das kommt vor allem dem zweiten Teil des CD-Programms zugute. Er gilt Clara Schumann, die drei Jahre nach ihres Gatten Tod als Vierzigjährige, als allseits gefeierte Virtuosin eine Romanze mit Theodor Kirchner durchlebte – und dafür von dem vier Jahre jüngeren Komponisten sein Opus 9, eine Reihe von Präludien, zugeeignet bekam. Im Cantabile der Nummer zehn zeigt Yaara Tal sehr schön die Nähe des Tonfalls zu jenem des jungen Schumann – als ob sich Kirchner ein Stück Identität Schumanns hätte aneignen wollen.

Johannes Brahms, Hausfreunde bei den Schumanns, hatte das nicht nötig. Er blieb sich selber. Ein fescher Kerl, war er dankbar für die grosszügige Förderung durch Robert; ausserdem hatte er nicht wenig übrig für Clara. Von Brahms finden sich auf der CD die Variationen über ein Thema von Robert Schumann für Klavier zu vier Händen op. 23 – ein unerhört animiertes, phantasievolles Werk, das Yaara Tal im Duo mit ihrem Gatten Andreas Groethuysen zu prächtiger, klanglich opulenter Wirkung bringt. Allerdings sind diese Variationen nicht Clara Schumann gewidmet, sondern ihrer Tochter Julie, der Brahms als stiller Verehrer zugetan war.

Als Julie Schumann 1869 heiratete, fungierte Brahms als Trauzeuge – dies mit mässiger Begeisterung. Wie schwer ihn diese Eheschliessung niederdrückte, lässt die Rhapsodie für Alt, Männerchor und Orchester hören, die Brahms als Hochzeitsgabe mitbrachte. «Aber abseits wer ist’s? / Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, / Hinter ihm schlagen / Die Sträucher zusammen. / Das Gras steht wieder auf, / Die Öde verschlingt ihn.», heisst es da in den Worten Goethes, und Brahms’ Vertonung unterstreicht es.

Dies düstere Werk, so sehr es der Stimmungslage Brahms’ entsprach, sei kein Brautgeschenk, wendet Yaara Tal im Booklet ein. Weshalb sie das Stück kurzerhand neu setzen liess: für Tenor, Frauenchor und Klavier (wobei die Fassung mit Klavier anstelle des Orchesters von Brahms selbst stammt). Das ist fürwahr frappant, zumal Julian Prégardien mit seiner Tiefe und seinem wunderschönen Non-Vibrato für starken Ausdruck sorgt, während die Damen aus dem Chor des Bayerischen Rundfunks für engelsgleiche Töne sorgen. Die Umkehrung der vom Komponisten geschaffenen Besetzung drängt sich nicht auf, sie stellt jedoch die biographische Situation, der die Alt-Rhapsodie verpflichtet ist, klar heraus. So wie es alle Stücke dieser wunderbaren CD tun.

und Theodor Kirchner sowie von Johannes Brahms die Variationen über ein Thema von Robert Schumann für Klavier op. 23 zu vier Händen und Rhapsodie op. 53. Yaara Tal (Klavier), Andreas Groethuysen (Klavier), Julian Prégardien (Tenor), Chor des Bayerischen Rundfunks (Yuval Weinberg, Leitung). Sony 19075963082 (1 CD, Aufnahme 2018/19).

Unentwegt auf der Suche nach der musikalischen Wahrheit

Letzte Begegnungen mit Mariss Jansons

 

Von Peter Hagmann

 

Natürlich: «Was ist Wahrheit?». Die Frage des Pontius Pilatus bleibt im Raum. Vielleicht, weil es die Wahrheit an sich nicht gibt, weil nur verschiedene Wahrheiten denkbar sind. In der Musik als klingendem Kunstwerk ist es definitiv so. Die Partitur ist ein vieldeutiges Zeichensystem, und die Interpreten, die sich auf die Suche nach den Geheimnissen in diesem Zeichensystem aufmachen, stehen alle für ihre je eigenen Sichtweisen ein. Dennoch kommt es, im Konzert noch mehr als in der Oper, immer wieder zu Momenten, da sich beim Zuhörer das Gefühl einstellt, der Wahrheit begegnet zu sein – allem Wissen zum Trotz, dass diese eine Wahrheit nicht existiert. Bei Mariss Jansons, der am 30. November 2019 76-jährig in St. Petersburg gestorben ist, ereignete sich das noch und noch.

Ich denke zurück an die beiden Opernproduktionen bei den Salzburger Festspielen, für die Markus Hinterhäuser den Dirigenten hatte gewinnen können. Bei «Lady Macbeth von Mzensk» von Dmitri Schostakowitsch im Sommer 2017 blieb Jansons der Brutalität des Stoffs und der Härte seiner Vertonung nicht das Geringste schuldig. Wie es seine Art war, durchdrang er die Partitur bis in letzte Einzelheiten und gewann dort Energie und Legitimation für seine Art der klanglichen Schärfung. Zugleich aber war er, wie es ebenfalls zu seinem Künstlertum gehörte, den Figuren und ihren musikalischen Erscheinungen empathisch verbunden, weshalb Schostakowitschs freches Jugendwerk nicht allein seine Fratze zeigte, sondern auch Schönheiten und menschlich anrührende Seiten offenbarte. So also kann dieses Werk erscheinen, mochte man damals denken und sich einer Art Wahrheit nahe fühlen.

Ähnlich und doch gerade umgekehrt lag der Fall bei «Pique Dame» von Peter Tschaikowsky im Jahr darauf. Diese Produktion stand ganz im Zeichen des Dirigenten – trotz dem Regisseur Hans Neuenfels an seiner Seite. Jansons begegnete der Partitur mit unverstellter emotionaler Anteilnahme, liess die Musik glühend aufrauschen und führte sie in einen warmen, vielfarbigen, ruhig voranstrebenden Zug. Weil er aber auch hier den Notentext so beim Wort nahm, wie er es immer tat, gelang es ihm, jeder Sentimentalität aus dem Weg zu gehen – grossartig, hinreissend war das, auch als Leistung des Ensembles und vor allem der Wiener Philharmoniker. In einer ganz eigenen Reinheit, denkbar fern jeden Gedankens an die Verurteilungen Adornos und einer unmittelbar berührenden Schönheit erstand hier die Musik Tschaikowskys. Und Schönheit heisst: Wahrheit.

Die letzte grosse Orchesterliebe Mariss Jansons’ galt dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in München. Als er im Herbst 2003 sein Amt antrat, stellte sich durchaus die Frage, welche Optionen da noch offen stünden, denn Jansons’ Vorgänger Lorin Maazel hatte das Orchester zu glanzvoller Ausstrahlung gebracht – die zirzensisch angereicherte «Rosenkavalier»-Suite von Strauss, vor allem aber der Mahler-Zyklus zum Abschluss seiner Ära hatten starke Markenzeichen gesetzt. Aber dann kam Jansons mit seiner akribischen, wenn auch nie pedantischen Probenarbeit, mit der gern unterschätzten Weite seines ästhetischen Horizonts, mit seiner Fähigkeit, die Musiker in eine gemeinsame Idee einzubinden – und verlieh dem Orchester eine ganz neue Identität. Nicht dass es noch besser geworden wäre, das war gar nicht die Frage, das BR-Symphonieorchester ist anders geworden – aber wie.

Zu hören war es etwa an den Osterfestspielen Luzern, die das Orchester, über viele Jahre in Residenz, mitgestaltet hat. Aber auch in den zahlreichen Konzertmitschnitten, die auf dem Label des Bayerischen Rundfunks publiziert worden sind. Anton Bruckners Symphonie Nr. 8 zum Beispiel, selbstverständlich in der Originalfassung, lässt es klar erleben. Grosszügig schwingen die Linien aus, plausibel werden die weitgespannten Verläufe durch die Tempogestaltung strukturiert, mächtig, aber ohne jede Grobheit erhebt sich der Klang. Getragen wird das ruhig atmende Geschehen durch jene Genauigkeit im Einzelnen, die Mariss Jansons ein Leben lang verfolgt hat. Ein Star war er nicht, er war nur Dirigent, nur Musiker, das jedoch ohne Kompromisse.

Schön, aber nicht mehr

Evgeny Kissin spielt Beethoven

 

Von Peter Hagmann

 

Das Beethoven-Jahr 2020 ist schon mächtig angelaufen. Die ersten Monumentalboxen mit dem Gesamtwerk Beethovens in den allerbesten der besten Aufnahmen sind angekündigt. Einzelveröffentlichungen wie die neun Sinfonien mit Andris Nelsons und den Wiener Philharmonikern oder die (freilich sehr bemerkenswerte) Deutung der 32 Klaviersonaten durch Igor Levit machen von sich reden. Und in den Programmen der Konzertveranstalter für die Saison 2019/20 manifestiert sich unübersehbar die Verlegenheit angesichts des Problems, das Alltägliche zum Aussergewöhnlichen zu machen.

Jetzt hat sich auch Evgeny Kissin den Klaviersonaten Beethovens zugewandt. Er hat sie natürlich schon lange im Programm, zu seinem Kernrepertoire gehören sie aber nicht – weshalb sein Beethoven-Abend in der Klavierwoche des Lucerne Festival besondere Neugierde erregte. Drei grosse Sonaten aus früheren Schaffenshasen standen auf dem Programm: die «Pathétique» in c-Moll op. 13, «Der Sturm» in d-Moll op. 31 Nr. 2, die «Waldstein-Sonate» in C-Dur op. 53. Der allgemeine Eindruck war der eines sehr gepflegten, nuancenreichen, klangschönen Klavierspiels, dem es nicht an Inspiration fehlte, wohl aber an Identifikation, an persönlicher Involviertheit, ja an der nun einmal auch notwendigen Unanständigkeit.

Die «Waldstein-Sonate» stand besonders im Fokus, denn mit diesem Stück hat der unaufhaltsam nach oben strebende Igor Levit beim Lucerne Festival dieses Sommers die Geister verstört. Wie schnell soll das Allegro con brio des ersten Satzes klingen, bis an welche Grenze können die Achtel der repetierten Akkorde gehen? Und was soll diesbezüglich für das Prestissimo im abschliessenden Rondo gelten? Igor Levit sagte sich: noch schneller als möglich. Für ihn scheint es keine Grenzen zu geben, für das menschliche Hörvermögen allerdings schon – jedenfalls war da mitzukommen und zu verstehen schlicht ausgeschlossen. Nur, Levit möchte Beethoven auch als Stachel im Fleisch des Zuhörers zeigen – des Zuhörers von heute, der die Exaltiertheiten der Spätromantiker kennt und mit den technischen Möglichkeiten des modernen Steinway rechnet. Bei Evgeny Kissin ist von all dem nichts zu vernehmen. Er bleibt im Mass, lässt im Kopfsatz die inneren Dialoge klar heraustreten, führt im Adagio molto gefühlvoll, aber nicht mit wirklichem Pianissimo ins attacca anschliessende Rondo über und eröffnet dort Klangräume von ganz  besonderer Atmosphäre. Die Geläufigkeit lässt nichts zu wünschen übrig – aber: Das Ich bleibt verborgen. Darum erscheint diese verrückte Musik hier etwas brav, etwas fad.

Eher auf der Höhe der Komposition wie seiner selbst war Kissin bei den Variationen mit Fuge über ein eigenes Thema in Es-Dur op. 35. Diese «Eroica-Variationen» – so  benannt, weil Beethoven das Thema später ins Finale seiner dritten Symphonie eingebaut hat – sind von einer Kunstfertigkeit sondergleichen; sie leben von stupendem Einfallsreichtum und überraschendem Witz. Allein schon die vierteilige Einleitung, in welcher der Bass des Themas zuerst einstimmig vorgestellt und danach zwei-, drei- und vierstimmig eingekleidet wird, lässt die Ohren spitzen – und wenn sie so richtig schön gespitzt sind, fahren drei Achtel ein, dass es einen vom Sitz hebt. Erst dann wird das Thema in vollständiger Form präsentiert und daraufhin fünfzehn Mal in je neuem Licht gezeigt, bis endlich eine gewaltige Fuge fürs Finale sorgt. Kissin kostete das nach seinen eigenen Massen aus: technisch auf höchstem Niveau, klanglich vielgestaltig, interpretatorisch jederzeit geschmackvoll und kontrolliert, auch durchaus mit Humor.

Das war’s. Das Lucerne Festival am Piano, wie es bis vor kurzem noch hiess, ist Geschichte. Warum das so sein soll, weiss niemand wirklich plausibel zu machen. Es hat sein Richtiges wie sein weniger Gutes. Tatsache ist, dass das Luzerner Klavierfestival in mancher Hinsicht merklich an Ort getreten ist – ein Energieschub wäre gewiss sinnvoll, ohne Zweifel auch möglich gewesen. Auf der anderen Seite kann der Wegfall der herbstlichen Konzertreihe – die, was den Publikumszuspruch wie die Kasse betrifft, bekanntlich nicht wesentlich schlechter lief als das Hauptfestival im Sommer – nicht laut genug beklagt werden. Der grosse Klavierabend, einstmals eherner Bestandteil des Musiklebens, ist am Verschwinden, heute gibt es nur mehr Spurenelemente davon. Vor einem halben Jahrhundert gaben sich in den Schweizer Musikstädten Grössen wie Arrau, Benedetti Michelangeli, Rubinstein die Klinke in die Hand; wo gibt es das noch?

Dafür wartet das Lucerne Festival Anfang April 2020 mit einer Novität auf – mit einer Personale, die sich «Teodor» nennt und während einer halben Woche Licht auf den von allen Seiten begehrten Dirigenten Teodor Currentzis und seine Formation «musicAeterna» wirft. Mit einem Programm, das den Bogen von Hildegard von Bingen bis zu György Ligeti spannt, beginnt der Reigen. Er führt weiter über die selten gegebene Choroper «Tristia» des Franzosen Philippe Hersant und über einen Tag der Begegnung mit dem Musiker hin zu einer Aufführung von Beethovens Neunter. Ein Interpret, der wie zurzeit kein Zweiter Publikum anzieht, der aber auch bereit ist, Vertrautes mit Unbekanntem zu würzen, Gewohnheiten zu hinterfragen und so frische Luft ins Zimmer zu lassen – als Denkansatz verspricht das nicht wenig.

Gesungen und gesprochen

Brahms’ Violinsonaten mit Alina Ibragimova und Cédric Tiberghien

Von Peter Hagmann

 

Sie sind für Klavier und Violine geschrieben, nicht umgekehrt – so sah es Johannes Brahms bei seinen drei Geigensonaten vor, so steht es auch auf den Titelblättern der Notenausgaben. Selten freilich wird es derart klar, derart plausibel wie in der vorzüglichen Aufnahme der Sonaten, die Alina Ibragimova zusammen mit dem Pianisten Cédric Tiberghien bei Hyperion vorlegt. Besonders deutlich wird es im Adagio der ersten Sonate, dessen Hauptthema vom Klavier mit grossem Ton und explizitem Rubato vorgestellt wird. Kommt dann die Geige dazu, tritt der Pianist einen Schritt zurück, um der Geigerin Raum zu lassen. Niemand steht hier im ersten, niemand im zweiten Glied, die Balance ist gewährleistet – und nicht nur das, sie ist sinnreich erfüllt. Aber auch im Kopfsatz dieser G-Dur-Sonate ist zu erleben, wohin Kammermusik mit zwei einander ebenbürtigen, einander auch schätzenden Partnern führen kann. Sehr sorgfältig sind die in dieser Sonate so wichtigen Tonwiederholungen ausgeformt, sanft wird das Tempo modifiziert, sensibel wird beim Streichinstrument das Vibrato eingesetzt.  Der musikalische Verlauf findet dadurch zu einem erzählerischen Profil, das den Zuhörer, auch die Zuhörerin mächtig ins Geschehen hineinzieht. Brahms erhält hier alles an Expression, was seine Musik verlangt, ohne dass irgendwo irgendwie gedrückt würde. Merklich anders und zugleich verwandt die A-Dur-Sonate op. 100. Mit ihren nach oben strebenden Kantilenen, bei denen es auf der Geige leider zu einigen unschönen Schleifern kommt, wirkt sie ausgesprochen dem Diesseits zugewandt. Ein Stück Leben kommt hier zum Ausdruck; Brahms komponierte die Sonate in Hofstetten am Thunersee, wo er glückliche Sommertage verbrachte und süsse Gefühle hegte. Auch enorm farbig klingt die Sonate; am Anfang des Mittelsatzes zeigt Alina Ibragimova mit ihrer herrlichen tiefen Lage das Spezielle des musikalischen Moments. Einen kammermusikalischen Höhepunkt bietet die dritte Sonate, d-Moll, und zwar im Finale. Cédric Tiberghien kleidet die Hymne, die dort auftritt, in ruhige Würde, bleibt aber voll dabei, wenn Alina Ibragimova eingreift und mit ihrer Geige den Ton ins Lyrische wendet. Wer Brahms kennenlernen möchte, hier kann er es tun.

Johannes Brahms: Sonaten für Klavier und Violinen Nr. 1-3. Alina Ibragimova (Violine), Cédric Tiberghien (Klavier). Hyperion 68200.

«Spätlese» – in ausgezeichnetem Jahrgang

Herbstausgabe der Badenweiler Musiktage

 

Von Peter Hagmann

 

Wer nach Badenweiler fährt – zum Beispiel zu den dort zwei Mal im Jahr an je einem verlängerten Wochenenden durchgeführten Musiktagen – sieht es auf den ersten Blick: Die liebliche Landschaft ist vom Weinbau geprägt; kein Fleck zu klein, ein Rebberg zu sein. «Spätlese», das Motto, das sich Lotte Thaler als Künstlerische Leiterin der Musiktage für diesen Herbst ausgedacht hat, lag darum in gewisser Weise nahe. Und das umso mehr, als es nach den Konzerten wieder das von den lokalen Winzergenossenschaften offerierte Glas Wein gab, bei dem sich die Künstler und das Publikum zu Begegnung und Austausch treffen können – eine exzellente Idee, die sich bei einem kleinen, aber feinen Festival wie den Badenweiler Musiktagen geradezu anbietet und dort absolut dazugehört, die aber auch etwas für das etablierte Abonnementskonzert wäre.

Anlass zum Diskurs gab es sehr wohl, denn auch diesen Herbst bot das musikalische Angebot in Badenweiler wieder, wie Lotte Thaler sagt, etwas für Sinne und Geist. Ihre Programme sind bewusst gebaut, sie verfügen über ihre ganz eigene Konsistenz. Unter dem Motto «Spätlese» versammelten sich in der jüngsten Ausgabe der Musiktage Stücke, die allesamt einen Bezug zu Herbstlichem haben – weil sie als Spätwerke entstanden oder weil sie erst spät entdeckt worden sind. Zur sinnreichen Durchführung des Mottos tritt in Badenweiler eine Reihe weiterer Prinzipien. Stars begegnen dort Aufsteigern, also folgte die Bratscherin Tabea Zimmermann auf das Dover Quartet. Verbreitetes trifft auf Verkanntes, diesmal etwa ein Streichquartett von Johannes Brahms auf Musik von Mieczysław Weinberg. Vor allem kommt Deutsches mit Französischem zusammen. Das Markgräflerland und das Elsass, wiewohl durch den Rhein getrennt, sind sich nah durch Dialekt und Mentalität. Das hat schon Klaus Lauer, den Gründer der Badenweiler Musiktage, dazu bewogen, die Nähe zwischen den beiden Kulturkreisen an einer ihrer Schnittstellen zu beleuchten. Seine Nachfolgerin tut das in gleichem Masse.

So hat sie zur Eröffnung der diesjährigen Herbstausgabe den ausserordentlich profilierten, mächtig aufstrebenden Franzosen Bertrand Chamayou verpflichtet. Der Pianist aus Paris brachte einerseits späte (und mittlere) Musik von Franz Liszt mit, andererseits Werke von Maurice Ravel und Camille Saint-Saëns, von dem ausser dem «Carnaval des animaux» und der «Orgel-Symphonie» im Konzert so gut wie nichts gespielt wird. Die «Jeux d’eau à la Villa d’Este» aus dem dritten Band der «Années de pèlerinage» von Liszt brachte Chamayou zu glänzender Wirkung, weil er die Tremoli ohne Anstrengung und klanglich jederzeit kontrolliert meisterte, weil er ausserdem dramaturgisch Übersicht bewahrte und so zu geschickten Steigerungen fand. Den «Feierlichen Marsch zum heiligen Gral» aus Richard Wagners «Parsifal», den Liszt für Klavier gesetzt hat, legte der Pianist mit einem berückenden Mass an klanglicher Sensibilität aus, aber auch mit ausgeprägtem Sinn fürs Grosse, was bei ihm weder mit Lautstärke noch mit Pathos gleichzusetzen ist. Von herrlicher Kraft das Fortissimo, ins Ätherische verschwimmend die Episoden des ganz Leisen. Auf die «Lugubre gondola» Nr. 2, die sich auf Wagners Tod in Venedig bezieht, folgte schliesslich «Venezia e Napoli» aus dem zweiten Band der «Années de pèlerinage» – ein Dreiteiler in funkelnder Virtuosität.

Er leitete über zu den «Miroirs» von Maurice Ravel – und hier feierte die Klavierkunst französischer Provenienz ihr Fest. Nach allen Seiten flexibel die «Noctuelles», sinnlich in ihren tiefen Akkorden «Une barque sur l’océan», von umwerfender Klangmagie «La Vallée des cloches». Die Glocken klangen gleich weiter, nämlich in «Les Cloches de Las Palmas» von Camille Saint-Saëns, einem weit vorausblickenden Stück, das denkbar wenig zu tun hat mit dem Klassizismus, ja der akademischen Haltung des Komponisten denkbar entfernt steht. Nach zwei Mazurken schliesslich die horrible Etude en forme de valse, die Bertrand Chamayou – nicht aus dem Ärmel schüttelte, aber selbst in den heikelsten Passagen geradezu schwerelos darbot. Danach musste man erst einmal tief durchatmen.

Im nächsten Frühjahr, Ende April und Anfang Mai 2020, steht der grossartige, unerhört vielseitige Geiger Ilya Gringolts im Licht. Er beginnt seine Residenz in Badenweiler mit einem reinen Soloauftritt und geht weiter zu einem Duo-Abend mit Kristian Bezuidenhout, mit dem er ein neues Stück des französischen Komponisten Brice Pauset für Violine und Hammerflügel aus der Taufe hebt, ein von den Musiktagen Auftrag gegebenes Werk. Weiter stellt er sich mit dem von ihm geleiteten Streichquartett vor und findet sich schliesslich mit diesem und seinen Kollegen vom finnischen Streichquartett Meta4 zu einem bunten Programm zusammen, das in das selten gespielte Streicheroktett von Georges Enescu mündet.

Ein Ende und neue Anfänge

Friedrich Cerha, «die reihe» und Fortsetzungen beim Festival Wien Modern

 

Von Peter Hagmann

 

Ohne Anfang kein Ende, das versteht sich. Weniger gegenwärtig ist die Umkehrung, dass nämlich ohne Ende kein Anfang sei. Das gilt vorab für unsere Wahrnehmung der wirtschaftlichen Zeitläufte. Wächst die Wirtschaft in einer bestimmten Periode weniger stark als in jener zuvor, erzeugt das Sorgenfalten. Selten macht man sich aber bewusst, dass Wachstum nicht unaufhörlich sein kann – die Natur führt es ja vor. Gedanken in dieser Richtung macht sich derzeit das Festival Wien Modern, das seit dem Amtsantritt von Bernhard Günther vor drei Jahren wieder beträchtlich an Profil gewonnen hat. Die 1988 von Claudio Abbado ins Leben gerufene Institution gibt die Richtung gleich selbst vor, indem sie diesen Herbst zwanzig Prozent weniger Anlässe bietet als im vergangenen Jahr. Hundert Konzerte mit ausschliesslich neuer Musik sind in den fünf Wochen des Monats November vorgesehen: ein enormes Angebot, das so nicht existierte, wenn es keine Nachfrage gäbe. Dass die neue Musik ihre Nische längst verlassen hat, ist nicht überall zu spüren, bei Wien Modern jedoch mit aller Macht.

Die Protagonisten von damals: Friedrich Cerha und Kurt Schwertsik, die Gründer des Ensembles «die reihe», in der Mitte Gertraud Cerha / Bild Markus Sepperer, Wien Modern

Wachstum als Ausdruck von Werden und Vergehen, vor allem auch von Veränderung – dazu setzte Wien Modern jetzt ein klares Zeichen. Das zur Hauptsache im Konzerthaus Wien, aber bei weitem nicht nur dort durchgeführte Festival bot nämlich den Ort, an dem sich das Ensemble «die reihe» mit einem allerletzten Konzert von seinem Publikum verabschiedete. Das war fürwahr ein historischer Moment. Wann gibt es das schon, dass sich eine musikalische Körperschaft aus (mehr oder weniger) freien Stücken aus der Öffentlichkeit zurückzieht? Und dann noch eine Einrichtung wie «die reihe», die sich in einer ganz besonderen Weise um die Verbreitung der neuen Musik in Österreich und weit darüber hinaus verdient gemacht hat? Die Besonderheit an diesem Abschied bestand aber darin, das mit dem 93-jährigen Komponisten und Dirigenten Friedrich Cerha und seinem 84-jährigen Kollegen Kurt Schwertsik die beiden Gründer des Ensembles anwesend waren und in einem hoffnungslos überfüllten Podiumsgespräch vor dem Konzert an ihren Erinnerungen teilhaben liessen.

Diese Erinnerungen haben durchaus heroischen Seiten – Gertraut Cerha, die Gattin des Komponisten, die musikalisch wie organisatorisch eng mit dem Ensemble verbunden war, zeichnet es in einem profunden Beitrag zum dreiteiligen Programmbuch von Wien Modern nach. Man darf nicht vergessen, dass Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg auch kulturell weitgehend am Boden lag: von den internationalen Entwicklungen abgeschnitten und von militant konservativen, wenn nicht alt-nationalsozialistischen Kräften beherrscht. Dass Cerha und Schwertsik 1958 auf der Rückreise von einem Besuch der Darmstädter Ferienkurse für neue Musik den Entschluss fassten, ein Ensemble zu gründen und mit ihm die neuen Strömungen in der Musik bekannt zu machen, war darum so mutig wie notwendig. Nach intensiven Diskussionen, an denen auch der Komponist György Ligeti, von dem die Bezeichnung des Ensembles stammt, beteiligt war, und langer, entbehrungsreicher Probenarbeit kam es am 22. März 1959 im damals von Egon Seefehlner geleiteten Konzerthaus Wien zum ersten Auftritt der «reihe». «Le Domaine musical», 1953 in Paris von Pierre Boulez gegründet, hatte Nachbarschaft bekommen.

Zahlreich waren die Hindernisse, die zu überwinden waren. Die Ensemblemitglieder mussten technisch hervorragend, ästhetisch offen und finanziell anspruchslos ein – und dennoch bildete sich um Cerha und Schwertsik rasch ein Stammensemble. Und die bürokratischen Schwierigkeiten waren enorm, wovon der legendär gewordene Satz eines Ministerialbeamten zeugt, der auf ein Subventionsgesuch der «reihe» mit der Bemerkung geantwortet haben soll, da könne ja jeder Würstelverkäufer kommen. Die Konzerte waren jedoch so ausserordentlich gut besucht, dass das Konzerthaus bald einen grösseren Saal zur Verfügung stellen musste. Im Mozart-Saal kam es dann Ende 1959 nach einer Aufführung des Klavierkonzerts von John Cage zu einem Tumult, der würdig an das Wiener Skandalkonzert von 1913 anschloss. Danach folgte kontinuierliche Arbeit im Dienst an der Sache, die von wachsendem Erfolg gekrönt war. 1968 floh das Ensemble aus dem Konzerthaus, das in konservative Hände geraten war, zehn Jahre später kehrte es, von Hans Landesmann gerufen, triumphal zurück und bot einen auf fünf Jahre angelegten, sofort ausverkauften Zyklus mit dem Titel «Wege in unsere Zeit». Nicht nur das Neuste vom Neuen, auch das Werden der neuen Musik sollte in ganzer Breite gezeigt werden. 1983 gab Friedrich Cerha die Leitung des Ensembles ab, Schwertsik und HK Gruber übernahmen – und damit griff eine ganz andere Vorstellung von neuer Musik. Das war einer der Gründe, warum Beat Furrer 1985 die «Association de l’art acoustique» gründete, die 1989 zum Klangforum Wien wurde.

Eine bewegte Geschichte – das von Gertraud Cerha konzipierte Abschiedskonzert im Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses liess sie anschaulich Revue passieren. Auf die «Intégrales» von Edgar Varèse, die HK Gruber sehr massiv anging, folgten die Sechs Stücke op. 6 von Anton Webern in der Fassung für Kammerorchester sowie «Bruchstück, geträumt» von Friedrich Cerha, mit deren Interpretation sich das Ensemble unter der Leitung von Christian Muthspiel vorteilhaft ins Licht brachte. Äusserst zartgliedrig, atmosphärisch dicht und farbenreich gewandet das 2009 entstandene Stück Cerhas, für das Muthspiel den rechten Sinn aufbrachte. Zu erleben war hier, in welcher Weise das klangliche Denken Weberns weitergeführt und verwandelt wurde. Vom Einschnitt bei der «reihe» nach Cerhas Rücktritt kündete der zweite Teil des Abends mit den «4 Kinder-Toten-Liedern» von Kurt Schwertsik und der «Kleinen Dreigroschenmusik» für Blasorchester von Kurt Weill, die HK Gruber wiederum unerhört grob klingen liess. Am Ende wurden alle Beteiligten gross gefeiert, mit etwas Wehmut gewiss, in erster Linie aber mit viel Respekt vor einem Stück künstlerischer Lebensarbeit.

Protagonistin von heute: die Cellistin Myriam García Fidalgo vom Schallfeld Ensemble / Bild Markus Sepperer, Wien Modern

Ein Abschied, das Gegenteil von Wachstum – aber rund herum spriessen Pflänzchen verschiedenster Art. Zum Beispiel das Schallfeld Ensemble aus Graz, das 2013 von Alumni des Klangforum Wien gegründet worden ist. Im Auftritt der jungen Musikerinnen und Musiker unter der Leitung von Leonhard Garms ging es um das, was heute unter dem Begriff «neue Musik» verstanden werden mag. Die in Zürich lebende Niederländerin Cathy Eck lieferte den Rahmen des Abends, indem sie unter dem Titel «Stumme Diener» die Notenständer als das unentbehrliche Hilfsmittel eines (fast) jeden Konzerts in den Blick nahm. Sie versah einige Exemplare mit Kontaktmikrophonen und liess zwischen den Stücken die Geräusche, die beim Aufstellen und Einrichten der Notenständer entstehen, in den Saal projizieren. Klangkunst nennt sich das, und es verband Werke von Sylvain Marty («Discreet»), Lorenzo Troiani («La fine è senza fine»), Diana Soh («Modicum») und Hannes Kerschbaumer («tektono»), die allesamt mit Geräuschen operierten – Geräuschen, die mit den unterschiedlichsten Mitteln auf den Instrumenten, aber auch auf Alltagsgegenständen erzeugt wurden. Das war eine Entdeckungsreise eigener Art. Inwieweit sie mit Musik zu tun hatte, das darf dahingestellt bleiben.