Wo steht das Streichquartett?

Begegnungen mit dem Cuarteto Casals, dem Ulysses Quartet und dem Chiaroscuro Quartet

 

Von Peter Hagmann

 

Seit eh und je, und das gilt bis heute, wird das Streichquartett als Inbegriff der musikalischen Kunst erlebt: als «Königsdisziplin», wie gerne gesagt wird. Tatsächlich wird im Zusammenwirken von vier Stimmen und vier Instrumenten in unterschiedlicher Höhe, aber vergleichbarer Farbe das musikalische Geschehen in einer Reinheit und einer Nähe wie nirgendwo sonst erfahrbar. Das interessiert nicht alle Musikfreunde gleichermassen; diejenigen unter ihnen, die sich davon angesprochen fühlen, sind jedoch mit besonderer Hinwendung, auch mit auffallender Kompetenz dabei. Besonders angezogen von der Gattung fühlten und fühlen sich zudem die Komponisten; bis heute werden von den bedeutenden Vertretern dieser Zunft Werke für zwei Geigen, Bratsche und Cello vorgelegt; von Wolfgang Rihm zum Beispiel stammen nicht weniger als fünfzehn Streichquartette, entstanden zwischen 1966 und 2011. Auch an Interpreten fehlt es nicht – gerade heutzutage nicht, da die Musikhochschulen allüberall höchstqualifizierte Instrumentalisten auf den Markt werfen, wo sie nicht eben mit offenen Armen empfangen werden. Jedenfalls sind in den letzten Jahrzehnten Streichquartette in Menge gegründet worden. Nur mit der Kommerzialisierung will es nicht recht klappen. Auftritte von Streichquartetten sind nun einmal für kleinere Räume gedacht und werden von einer geringeren Zahl an Zuhörern besucht, während die Kosten, darunter aber nicht die Gagen, beständig steigen. Den Kassenwarten bereitet das wenig Freude.

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Dennoch: In der Nische des Streichquartetts herrscht pralles Leben, es darf einmal mehr betont werden. Zu den Bannerträgern gehört hier die Gesellschaft für Kammermusik Basel, die seit 1926 im Basler Stadtcasino Streichquartetten ihr Podium bietet. Klein, aber fein ist dieser private, allein von den Mitgliederbeiträgen, den Konzerteinnahmen und den Zuwendungen von Sponsoren lebende Verein. Dank seiner stolzen Vergangenheit und dank seinen derzeit acht Konzerten pro Saison stösst er auf internationale Beachtung – jedenfalls kommen die führenden Ensembles der Szene regelmässig nach Basel. Wenn das Quatuor Ebène zu Gast ist (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 03.11.22), ist der Hans Huber-Saal mit seinen knapp fünfhundert Plätzen voll besetzt und herrscht in dem altersmässig gut durchmischten Publikum zuerst knisternde Spannung, dann eine Begeisterung sondergleichen. Nämliches gilt für den Abend mit dem Cuarteto Casals, das vor einem Vierteljahrhundert in Madrid gegründet wurde und längst zur ersten Garde der Streichquartette gehört.

Anders als die meisten der berühmten Ensembles früherer Zeit lebt das Cuarteto Casals Flexibilität der Besetzung und Freiheit im interpretatorischen Zugang. Vera Martínez Mehner, in der Besetzungsliste des Ensembles als Primgeigerin genannt, und Abel Tomàs Realp als Zweiter Geiger wechseln regelmässig ihre Funktionen; einmal spielt sie, einmal er die Erste Geige. Das hat insofern seinen besonderen Reiz, als da zwei sehr gegensätzliche musikalische Persönlichkeiten alternieren. Gerade Abel Tomàs Realp tritt als unerhört impulsiver, klanglich phantasievoller Geiger in Erscheinung, der viel Energie ins Ensemble leitet. Sie wird vom Cellisten Arnau Tomàs Realp, vor allem aber von dem rechts vorne sitzenden Bratscher Jonathan Brown kraftvoll aufgenommen – die Viola erhält dadurch herausgehobenes Profil und straft die über dies Instrument noch immer kursierenden Klischees entschieden Lügen.

Auch gegenüber den Erkenntnissen der historisch informierten Aufführungspraxis zeigt sich das Cuarteto Casals offen. Darmsaiten verwenden sie nicht, schon allein aus Gründen der Praktikabilität nicht, aber für ältere Musik kommen klassische Bögen zum Einsatz. So zum Beispiel für die vier Stücke aus der «Kunst der Fuge» Johann Sebastian Bachs, die in Basel den «Reflections on the Theme B-A-C-H» der mittlerweile 91-jährigen, seit langem in Deutschland lebenden Russin Sofia Gubaidulina vorangingen – neue Musik gehört beim Cuarteto Casals ebenso selbstverständlich dazu wie die alten Bögen. Indessen wird die historische Praxis nicht ideologisch, sondern pragmatisch eingesetzt. In Joseph Haydns Streichquartett in A-dur, op. 20 Nr. 6, gerät das Adagio darum so empfindsam, weil der Klang, dafür sorgen die Tongebung und der subtile Umgang mit dem Vibrato, ganz ruhig wird, während das Finale mit seinem Fugencharakter leicht und spritzig daherkommt. Ebenfalls mit einer Fuge schliesst das Klavierquintett in Es-dur von Robert Schumann, für das sich der Pianist Claudio Martínez Mehner zum Ensemble gesellte. Grosse Kammermusik mit offenem gestalterischem Blick gab es da.

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Das ist Kunst. Kunstmusik. Sie verdankt sich natürlich der technischen Grundlage, und mehr noch dem Imaginationsvermögen in der Spontaneität des Moments, vor allem aber reicher Erfahrung. So weit ist das Ulysses Quartet aus New York noch nicht – aber das heisst wenig. Vier junge Leute haben da 2015 zusammengefunden, so wie viele andere auch, eine Einrichtung wie die für 2024 wieder angekündigte Streichquartett-Biennale von Amsterdam erzählt von diesen Entwicklungen. Sehr amerikanisch, um das Klischee zu bemühen. Unkompliziert, frisch-fröhlich treten sie auf. Christina Bouey, das Temperamentsbündel an der Ersten Geige, singt auch sehr ordentlich, wie sie im «Sonett CXXVIII» für Sopran und Violine des hierzulande unbekannten, im Konzert anwesenden Komponisten Joseph Summer zusammen mit Rhiannon Banerdt an der Zweiten Geige bewies. Als ebenfalls vorne rechts sitzender Bratscher, Schlagzeuger und Podiumstechniker in einer Person bewährte sich Colin Brookes, während Grace Ho am Cello die Ruhe selbst war. Und alle sprachen sie zum Publikum, teils in liebevollen Versuchen auf Deutsch, teils in rasantem US-Englisch; sie dankten fürs Zuhören, lobten den Saal und charakterisierten die Stücke.

Zum Beispiel das Streichquartett Nr. 2, op. 7, von Pavel Haas, welches das Ulysses Quartet nach dem einleitenden Werk «Raegs» der Aserbaidschanerin Frangis Ali-Sade und dem Werk von Joseph Summer darboten. Der in Auschwitz ermordete Schüler Leoš Janáčeks schildert in dieser energiegeladenen Programmmusik eine Reise durch das mährische «Affengebirge» mit Blicken in die Weite der Landschaft, mit Kutschenfahrt und Mondaufgang wie einer wilden Nacht. Das Ulysses Quartet gab sich all dem mit drängender Leidenschaft hin – von mitreissender Wirkung war das. Für Ludwig van Beethovens Streichquartett in a-moll, op. 132, namentlich für dessen weit ausholenden «Dankgesang eines Genesenen in der lydischen Tonart», reicht Leidenschaft allein freilich noch nicht. Bei allem Respekt vor dem Ausloten der Extreme: Um die Zerklüftungen der Partitur Musik werden zu lassen, um über die Brüche hinaus Zusammenhänge zu schaffen, braucht es mehr – mehr an Vermögen, Strukturen klanglich erfahrbar zu machen, aber auch mehr an musikalisch wirksamer Empathie, vor allem aber mehr an interpretatorischem Weitblick. Die Kunst des Musizierens im Streichquartett hat sich in den letzten Jahrzehnten doch beträchtlich verändert; beim Ulysses Quartet ist das erst in Spurenelementen angekommen. Eine Laufbahn als Streichquartett mit diesem Stück zu beginnen, wie die Geigerin Rhiannon Banerdt verriet, zeugt von jugendlicher Verwegenheit. Dass daraus etwas wird, steht noch in den Sternen, ist jedoch, gute Beratung vorausgesetzt, nicht auszuschliessen.

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Spitzenleistung beim Cuarteto Casals, Jugendfrische beim Ulysses Quartet – die Avantgarde des Streichquartetts allerdings, die wird durch ein Ensemble verkörpert, das seine Wurzeln in der alten Musik und in deren Aufführung durch adäquate Mittel der Darstellung findet. Die Rede ist vom Chiaroscuro Quartet. Es verwendet Instrumente mit Baujahren zwischen 1570 und 1780, es spielt auf Darmsaiten und tut das mit den entsprechenden Bögen. Das ergibt ein gänzlich anderes als das gewohnte Klangbild des Streichquartetts – ein hochattraktives, weil es dem künstlerischen Anspruch der Gattung besonders nahekommt. Hell, leicht, schlank und dementsprechend transparent klingt das 2005 in London gegründete Ensemble. Da lässt sich tief in die Musik hineinhören. Auf dieser Basis kann auch die Bandbreite der Tempi vergrössert werden und lässt sich eine Attacke pflegen, die federnde Energie versprüht, aber nie Druck oder Grobheit empfinden lässt. Was das heisst, hat das Chiaroscuro Quartet in zahlreichen Aufnahmen dokumentiert: mit Werken von Haydn und solchen von Mendelssohn oder Schubert, jüngst mit Quartetten von Beethoven und Mozart (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 23.11.22).

Darum war die Stadtkirche Brugg, in der das Chiaroscuro Quartet auf Einladung der Konzertreihe Stretta vor kurzem aufgetreten ist, genau der falsche Ort. Was das Ensemble zu bieten hat, ging, so jedenfalls der Eindruck auf einem Platz zuhinterst in der Kirche, im reichlichen Hall und der diffusen Abstrahlung unter – dennoch nahmen die jubelnden Reaktionen des Publikums in der so gut wie vollbesetzten Kirche enorme Ausmasse an. Trotz der hinderlichen Rahmenbedingungen war eben zu spüren, mit welcher besonderen Auffassung von Balance das Quartett zu Werke geht. Die Primgeigerin, die seit langem in London lebende Russin Alina Ibragimova, ist eine Solistin ersten Ranges; sie spielt Neustes ebenso wie Klassisch-Romantisches, und sie wechselt, wie sie vor einiger Zeit im Gespräch erläuterte, von einem Tag zum anderen umstandslos von Darm- zu umsponnenen Stahlsaiten, vom klassischen zum modernen Bogen. Als Solistin wirkt sie auch im Quartett, nicht dominierend, sondern freundschaftlich motivierend und mitziehend. Sie kann das problemlos tun, weil ihr in der Französin Claire Thirion eine Cellistin gegenübersitzt, die den Bass als solides Fundament markiert und ihn als Gegenpart zum Diskant herausstellt – das alles ohne Kraftgehabe, das verhindert der Gesamtklang des Ensembles. Dazu kommen die ebenfalls pointiert konturierten Mittelstimmen mit dem Spanier Pablo Hernán Benedí an der Zweiten Geige und der Schwedin Emilie Hörnlund an der Bratsche. Übrigens tritt das Quartett in der traditionellen Aufstellung auf, aber ausser beim Cello im Stehen. Und gespielt wird aus dem iPad, man ist keineswegs von gestern.

Das Programm, das die Vier in Brugg vorstellten, nahm sich konventionell aus, doch welche Entdeckungen waren im Zuhören zu machen. Aufhorchen liess schon der Kopfsatz von Haydns Streichquartett in B-dur, op. 33 Nr. 4. Als sich dort die Exposition auf die Durchführung hin zu einer kleinen Stretta auswuchs, wurde offenkundig, dass das Quartett die Freiheiten der Tempogestaltung, die sich neuerdings als eine althergebrachte Praxis wieder zu verbreiten beginnt, mit Lust und Gewinn aufnimmt. Sehr berührend das zarte Trio zum Scherzo, erst recht der in schlichtem geradem Ton genommene Einstieg ins Largo. Und unerhört witzig das abschliessende Presto, das in hohem Mass von der leichtfüssigen Virtuosität der Primgeigerin lebte. Ähnliches ist zu Beethovens Streichquartett in f-moll, op. 95, zu berichten, wo im Kopfsatz die Oktavparallelen zwischen Violine eins und zwei in grossartiger Reinheit erklangen, wo das Cello im Allegretto des zweiten Satzes die absteigenden Gesten klar phrasierte und wo im dritten Satz dank der Darmsaiten die dynamischen Kontraste haptisch, aber niemals schwer heraustraten. Zum Ereignis wurde dann aber das späte G-dur-Quartett Franz Schuberts, dessen enorme Dimension meisterhaft gefasst und in eine Erzählung voller Geheimnisse übergeführt wurde. Nichts wurde verharmlost; im Kopfsatz kam es zu Einbrüchen des Geschehens von erschreckender Drastik – die dynamische und klangliche Spannweite ermöglichte es. Und wo im zweiten Satz auf drei Takte mit ruhigen Akkordwiederholungen im Pianissimo punktierte Ausbrüche im Fortissimo folgen, schüttelte es einen förmlich durch. Nebenbei: Was so etwas Simples wie ein Dreiklang sein kann, einmal ohne, einmal dann aber mit Vibrato – hier, mit dem Chiaroscuro Quartet, war es zu erleben. In der Nische kann manch Bekanntes ein überraschend neues Gesicht zeigen.

Reiz und Gewinn der Unvernunft

Das Quatuor Ebène bei der Kammermusik Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Ein voller Saal, das Publikum durchmischt mit Alt und Jung, Beifall von geradezu stürmischer Intensität, und das nach György Ligetis Streichquartett Nr. 1 aus den Jahren 1953/54 – sieht so das Ende des Konzerts, der Kammermusik, der «klassischen» Musik überhaupt aus? Dieses Ende wird gern herbeigeredet, zumal von jenen, die nichts mit Musik als Kunst am Hut haben; es steht aber keineswegs vor der Tür, der jüngste Abend bei der Kammermusik Basel führte es vor. Angesagt war ein alles andere als einfaches, gar eingängiges Programm, allerdings mit einem der allerersten Streichquartette dieser Tage. Nur hatte das Quatuor Ebène ein Problem, hatte sich Raphaël Merlin, der Cellist des Ensembles, doch vor kurzer Zeit den Ellbogen gebrochen. Er konnte ersetzt werden durch Simon Dechambre, den Cellisten des Quatuor Hanson – und dieses Ensemble hat nicht nur beim Quatuor Ebène seinen Feinschliff erhalten, sondern hat das frühe Streichquartett Ligetis auf CD aufgenommen. Ein Glücksfall, wie er nicht jeden Tag eintritt.

Ungewöhnlich schon die Eröffnung des Abends mit sechs Streicherfantasien von Henry Purcell aus dem Jahre 1680. Nicht einfach zu hören, diese Musik; sie gibt sich tonal, steht aber noch ausserhalb der harmonischen Tonalität, wie sie sich damals auszubilden begann, bis nach dem Ersten Weltkrieg dominierte und bis heute unser Hören prägt. Auch spielen lassen sich diese Stücke nicht mit links; sie warten mit manch überraschendem Harmoniewechsel auf, sie enden nicht selten auf der Dominante, an einem Punkt also, an dem für heutige Ohren noch ein Ende folgen sollte, und sie fordern die vier Interpreten mit teilweise höchst anspruchsvollem Laufwerk. Besondere Anforderungen stellt hier jedoch die Reinheit der Intonation, und das bei einem Spiel, das in der Regel ohne Vibrato auskommt. Grossartig, mit welcher Präzision das Quatuor Ebène mit seinem temporären Cellisten diese Anforderungen meisterte. Und klar, warum das Ensemble seinen Auftritt mit diesen Stücken anheben liess: Sie bringen die Vier auf eine Linie und schweissen sie zusammen.

Das war auch dringend geboten, denn das Streichquartett Nr. 1 von György Ligeti, noch vor seiner Emigration in den Westen nach dem Volksaufstand 1956 erfunden, verlangt alles, was von einem Streichquartett verlangt werden kann – wenn nicht noch mehr. In zwölf Schritten führt das verrückte Stück durch ein irres Spiegelkabinett. Seine dynamische Bandbreite reicht vom fast unhörbaren Wispern zum explosiven Aufschrei inklusive Bartók-Pizzicato, von gleichförmig liegenden Flächen zu rasenden Läufen – und das alles in denkbar komplexer Verbindung zwischen den vier Stimmen. In der Begegnung mit diesem Stück blieben nur das Staunen ob der Phantasie eines Komponisten, der in seiner durch die Kommunisten beherrschten Heimat von den Strömungen der Avantgarde weitgehend abgeschnitten war, und die Bewunderung der geradezu zirzensischen Agilität, mit der das Quatuor Ebène das Dickicht dieses Urwalds durchstreifte. Klar führend war dabei der Primarius Pierre Colombet, als zentrale Figur, kommunikativ wie musikalisch, wirkte aber Gabriel Le Magadure an der Zweiten Geige, während Marie Chilemme an der Bratsche ungewöhnliche, begeisternde Präsenz zeigte.

Nachdem es durch Purcell zusammengefunden und bei Ligeti die Extremregionen erkundet hatte, war das Quatuor Ebène in seiner ganz eigenen Art bereit für das Streichquartett Nr. 1 in a-moll aus dem Opus 41 von Robert Schumann. Auch hier: ein besonderer Moment. Schon allein deshalb, weil von Schumann der Liederfrühling, die «Davidsbündlertänze» oder die Sinfonien geliebt werden, seine Streichquartette jedoch so gut wie nie auf die Programme kommen. Dabei bietet das a-moll-Quartett enorm viel Anregung – durch den kreativen Umgang mit dem Zusammenfügen von vier Einzelstimmen zu einem Ganzen, vor allem aber auch durch die Auseinandersetzung mit dem Vorbild Mendelssohn. In mancher Wendung scheint dessen Handschrift durch, handgreiflich am Schluss des Werks, wo der Dudelsack an die Schottland-Reise des um ein Jahr älteren Kollegen und ihre musikalischen Echos erinnert.  Das Quatuor Ebène stellte die Komposition in helles Licht, indem es, was das Ausdrucksspektrum betrifft, keinerlei Kompromisse zuliess, die Verläufe vielmehr nach Massen ausleuchtete und in mutiger Zuspitzung zur Geltung brachte. Dass das Streichquartett nicht nur ein Gespräch unter vier vernünftigen Leuten vorführt, sondern auch recht unvernünftig werden kann und gerade darum ganz nah an die musikalische Substanz führt – hier war es zu erleben.

Das Quatuor Ebène tritt am 4. Dezember in der Kammermusikreihe des Tonhalle-Orchesters Zürich auf. Es spielt dort dasselbe Programm mit Werken von Purcell, Ligeti und Schumann.

Ohne Live kein Life

Lucerne Festival (3):
Die Wiener Philharmoniker
als Verkörperung neuer Diversität

 

Von Peter Hagmann

 

Die Saxophonistin Valentine Michaud und der Dirigent Esa-Pekka Salonen am Werk / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Keine Frage: Als das Lucerne Festival 2016 den Sommer der Frau, nicht zuletzt der Frau am Dirigentenpult, ausrief, ergab sich ein Wellenschlag von nachhaltiger Wirkung. Nicht dass das damals lebhaft verfolgte Festival-Motto der eigentliche Katalysator gewesen wäre, dafür lag das Thema zu sehr in der Luft. Doch ist ebenso wenig zu übersehen, dass die Frau in leitenden musikalischen Funktionen inzwischen eine viel weiter verbreitete, auch selbstverständlicher akzeptierte Erscheinung darstellt als noch vor fünf, sechs Jahren. Dass Joana Mallwitz, ab 2023 Chefdirigentin des Konzerthausorchesters Berlin, bei den Salzburger Festspielen Mozarts «Così fan tutte» leitet, notabene mit den Wiener Philharmonikern, dass bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth Oksana Lyniv aus Lemberg, Generalmusikdirektorin am Teatro Comunale in Bologna, den «Fliegenden Holländer» dirigiert und ihr im kommenden Jahr Nathalie Stutzmann mit «Tannhäuser» folgt, dass die Sopranistin Barbara Hannigan nicht nur singt, sondern auch das sie begleitende Orchester anführt – all das gehört heute zum courant normal. Dass das Gleichgewicht hier wie in vielen gesellschaftlichen Bereichen noch keineswegs erreicht ist, steht auf einem anderen Blatt.

Diesen Sommer lautet das Schlagwort nun «Diversity» – englisch, wie es beim Lucerne Festival üblich ist und wie es in diesem Fall sogar angebracht sein mag. Diversität wurde hier nämlich nicht etwa ästhetisch verstanden als Vielfalt in der Einheit der Kunstmusik, wie sie etwa in den Sinfonien Gustav Mahlers erscheint. Das Motto verstand sich vielmehr in rein gesellschaftlicher Sicht als Aufruf zu vermehrter Inklusion vermeintlicher Minderheiten in den Bereich der musikalischen Kunst – ja als Forderung, zum Beispiel Menschen mit farbiger Haut mehr Teilhabe an dieser Kunst zu ermöglichen. Die Reaktionen auf das Motto fielen äusserst kontrovers aus. Auf der einen Seite wurde in gewissen Medien geradezu hyperventiliert, wurde ultimativ das Aufbrechen der sogenannt elitären, also ausschliessenden Kunst verlangt, wurde die Rolle des schöpferischen oder leitenden Individuums in Frage gestellt, das Luzerner Intendantenmodell als veraltet bezeichnet und Michael Haefliger, der das Festival seit 1999 leitet, als Sesselkleber verurteilt. Die Gegenseite wiederum hat das Thema als imageschädigende Anbiederung an den Zeitgeist und als peinliche, ausserdem wenig geglückte Kopie eines vom Davos Festival im letzten Sommer entwickelten Denkansatzes gegeisselt.

So geriet «Diversity» unter dem Strich zu einem Schuss in den Ofen. Das Motto führte zu einer Verschiebung des Fokus vom Künstlerischen auf das Gesellschaftliche, wo es beim Lucerne Festival doch in erster Linie um Musik ginge. Über das am Eröffnungsabend von Anne-Sophie Mutter gespielte Geigenkonzert von Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges, wurde weniger unter musikalischen Gesichtspunkten diskutiert als unter dem Aspekt der Hautfarbe: dass dem sogenannten schwarzen Mozart nun endlich Gerechtigkeit widerfahren sei. Übersehen wird dabei, dass Diversität längst gelebt wird, etwa beim Philadelphia Orchestra, beim London Symphony Orchester, selbst bei den Wiener Philharmonikern. Und nicht zuletzt präsentierte die Kasse die Quittung. Die vergleichsweise schwache Auslastung der Sinfoniekonzerte von 74 Prozent mag auf Angst vor Ansteckung durch schniefende Sitznachbarn, auf Entwöhnung in den bisher gut zwei Jahren der Pandemie, auf die Sorgen rund um Krieg, Inflation und Klimawandel zurückgehen; keineswegs auszuschliessen ist aber auch, dass das Motto, das so eng mit den heiklen Fragen der Migration verbunden ist, in stärkerem Mass abschreckend gewirkt hat als gedacht.

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Diversität, nun aber im ästhetischen Sinn, führten die Wiener Philharmoniker vor. Ihr wie stets zweiteiliges Gastspiel absolvierten sie unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen, dem das Orchester mit auffallender Wertschätzung begegnete – mit seiner jugendlichen Ausstrahlung, seiner mitreissenden Bühnenpräsenz und seiner Kompetenz war der 64-jährige Finne für die beiden Programme genau der Richtige. Wer am zweiten Abend den Saal im KKL Luzern betrat, sah sich empfangen von Schwaden an Bühnennebel, aus denen dann der Festivalintendant Michael Haefliger und die Saxophonistin Valentine Michaud erschienen. Die noch nicht 30-jährige Französin, die seit über zwanzig Jahren in der Westschweiz lebt, wurde von Haefliger vorgestellt als die Trägerin des Credit Suisse Young Artist Award von 2020, die ihren Preis und damit ihr Debüt mit den Wiener Philharmonikern in Luzern aus bekannten Gründen mit einer Verspätung von zwei Jahren erhielt. Mit wenigen, sehr sympathischen Worten stellte sie vor, was sie danach zu bieten gedachte. Danach heisst: nach «Le Tombeau de Couperin» von Maurice Ravel, einem Herzensstück Salonens, schon 2010 hat er es in Luzern vorgestellt, damals mit dem Philharmonia Orchestra. Sehr verinnerlicht, geradezu still liess er diese Musik vorbeiziehen, wenn auch alles andere als unbeteiligt, das gab seine Körpersprache bei aller Sparsamkeit zu erkennen. Die Wiener Philharmoniker wiederum glänzten mit ihrem transparenten, leuchtenden Ton.

Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Dann schlug die Stunde von Valentine Michaud – und ging es zur Sache. Aber wie. Für ihr Début mit den Wienern hatte sie sich die «Peacock Tales» des 68-jährigen Schweden Anders Hillborg ausgesucht, ein unkonventionelles, in unendlich vielen Farben des Pfauenrads schillerndes, auch aberwitzig virtuoses Stück. Ursprünglich als Klarinettenkonzert für Martin Fröst geschrieben, hat Hillborg das Werk auf Anregung und Wunsch der Solistin in eine verkürzte Fassung für Sopran-Saxophon und Orchester gegossen. Da gibt es ebenso zu sehen wie zu hören, vor allem aber zu staunen. Denn hier herrscht nicht nur ein freier, verspielter Tonfall, die Anweisungen für die Aufführung lehnen sich auch ungeniert an die Praktiken im Bereich der Popularmusik an: Diversität der anderen Art. In völliger Dunkelheit tastete sich Valentine Michaud auf das Podium; wie die gezielt eingesetzte, durch besagte Rauchschwaden unterstützte Erhellung eintrat, war eine Musikerin in ausladender, wohl gewiss wieder selbst entworfener Robe zu sehen, deren wehende Teile an einen Vogel denken liessen – und tatsächlich hatte sich Valentine Michaud, so will es der Komponist, auch eine Tiermaske aufzusetzen. Sie tanzte, spielte um ihr Leben und liess sich von den Wienern einen wunderschön gesummten Dreiklang servieren. Was Anders Hillborg, ein talentierter Eklektiker, der von der «Sadomoderne» zu sprechen liebt, von der Solistin verlangt, es ist nicht zu fassen. Ebenso wenig, wie souverän, gleichsam selbstverständlich sie mit den Anforderungen umging.

Darauf die zweite Sinfonie von Jean Sibelius, welche die Wiener Philharmoniker auf der Höhe ihres Vermögens darboten. Esa-Pekka Salonen wandte das Stück, in dem eine eigenartig kreisende Lebenskraft gegen die Melancholie anzukämpfen und sich am Ende durchzusetzen scheint, ohne Scheu, doch jederzeit kontrolliert ins Grosse – hinreissend war das. Ähnliches gilt für den ersten Abend, an dem die «Turangalîla-Sinfonie» Olivier Messiaens angesagt war, ein zehnteiliges Riesenwerk von knapp eineinhalb Stunden Dauer, in dem sich kompromisslose Nachkriegs-Modernität mit der Sinnlichkeit der französischen Spätromantik verbindet. Anstelle der am Handgelenk verletzten Yuja Wang zog der Franzose Bertrand Chamayou, dem bekanntlich nichts zu schwer ist, in bewundernswerter Weise durch die Multiplikation der Töne, während sich an den Ondes Martenot, dem frühen elektronischen Instrument, Cécile Lartigaut bewährte – hie und da vielleicht etwas zu leise. Wer glaubte, die Wiener Philharmoniker könnten nicht laut und schön zugleich klingen, durfte sich durch die üppigen Akkorde in Quintlage mit Sixte ajoutée eines Besseren belehren lassen – Esa-Pekka Salonen machte es möglich. Und klar: Eine derartige Farben- und Formenwelt ist in ihrer Eindringlichkeit nur live im Konzertsaal zu erleben.

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Während Wien sich gerne, und nicht immer zu Recht, als Welthauptstadt der Musik, natürlich der Kunstmusik, versteht, darf sich Luzern, das hat sich in diesem Sommer wieder eindrücklich bestätigt, als Welthauptstadt der Orchesterkultur sehen. In den 33 Sinfoniekonzerten dieses Sommers gab es wieder eine Vielzahl an Überraschungen (vgl. dazu «Mittwochs um zwölf» vom 26.08.22 und vom  02.09.22). Zum Beispiel beim Luzerner Sinfonieorchester, das mit seinem Chefdirigenten Michael Sanderling einen enormen Qualitätssprung hingelegt hat. Die Sinfonie Nr. 6 in h-moll von Peter Tschaikowsky, die «Pathétique», geriet jedenfalls überaus eindrücklich: in vollem, gerundetem Klang der grossen Besetzung und in berührender, nie überschiessender Emotionalität. Zuvor hatten die «Vier letzten Lieder» von Richard Strauss erwiesen, dass Diversität noch keine Qualität garantiert: Die Sopranistin Joyce El-Khoudry stammt zwar aus dem Libanon und zeigte dunklere Hautfarbe, blieb in ihrem vokalen Vortrag jedoch bestenfalls gepflegt. Mitreissend wenig später auch die «Scheherazade» von Nikolai Rimsky-Korsakow, die Antonio Pappano mit dem hochstehenden Orchestra Nazionale di Santa Cecilia aus Rom in einen schwungvoll durchgezogenen musikalischen Erzählfluss band. Und das so geschickt tat, dass die Redseligkeit von Rimskys Handschrift für einmal gar nicht auffiel.

Einen ganz eigenen Glanzpunkt an orchestraler Kultur brachte das London Symphony Orchestra mit seinem Noch-Chefdirigenten Simon Rattle ein. Die Aufführung von Anton Bruckners Sinfonie Nr. 7 in E-dur litt unter einem erschreckenden Beginn, fiel doch ein Hornist dort im Kopfsatz, wo das Hauptthema zum zweiten Mal aufscheint, einem Schwächeanfall zum Opfer und musste vom Podium geführt werden. Ersetzt wurde er sur place von der assistierenden fünften Hornistin, was der jungen Musikerin beim Schlussbeifall einen von Rattle mit der Hand über ihrem Kopf gezeichneten Heiligenschein einbrachte. Der zweite Anlauf führte dann ins Glück. Die Orchestermitglieder hören einander zu und bilden eine unverbrüchliche Einheit mit ihrem Dirigenten. So klang Bruckner trotz grosser Besetzung, übrigens mit auffallendem Frauenanteil, kammermusikalisch leicht und hell, sogar in den Momenten gesteigerter Lautstärke. Und so traten die Instrumentalfarben deutlich heraus, jene der Trompeten bisweilen zu scharf, jene der beiden Flöten hochgradig sinnlich. Mit vorbildlicher Sorgfalt wurde abphrasiert, im raschen Dreivierteltakt des Scherzo waren die Gewichte innerhalb des Taktes klar gegliedert – beides versteht sich keineswegs von selbst, führt aber mit zu jener Lebendigkeit, welche die Wiedergabe auszeichnete.

Lebendigkeit und Intensität brachen auch im Auftritt des Philhadelphia Orchestra aus. Yannick Nézet-Séguin, sein Chefdirigent seit zehn Jahren, weiss sich und das Orchester effektvoll zu inszenieren. Die Damen und Herren ganz in Schwarz. Rot dagegen die Unterlagen auf den Notenpulten, rot der Teppich auf dem eigens aus den USA herbeigeschafften Podest für den Dirigenten, und rot die Sohlen unter dessen Lackschuhen. Das hat seine amüsante, weil ironisch verspielte Seite, steht ihm aber vielleicht etwas im Weg – wo Nézet-Séguin doch ein genuin begabter, ausgezeichnet informierter Musiker ist, wie auch seine vor kurzem bei der Deutschen Grammophon erschienene Gesamtaufnahme der Sinfonien Ludwig van Beethovens hören lässt. Mit aller Feinfühligkeit begleitete er Lisa Batiashvili im ersten Violinkonzert von Karol Szymanowski wie im Poème für Geige und Orchester von Ernest Chausson – und dann setzte er sich ans Orchesterklavier, um der Geigerin bei einer Zugabe zu assistieren. Nach der Pause schliesslich eine feurige Wiedergabe von Antonín Dvořáks Sinfonie Nr. 7 in d-moll. An Effekt fehlte es nicht, und doch verkam das Werk nicht zur Showpiece. Wie kaum je liess es vielmehr die Urkraft spüren, die in dieser Musik steckt.

Grossartig. Wo, wenn nicht am Lucerne Festival, lässt sich solches erleben?

Reiz und Sinn der Exzellenz

Lucerne Festival (2):
die Berliner Philharmoniker
zwischen Höhenflug und Diensterfüllung

 

Von Peter Hagmann

 

Nach wie vor, und trotz all der wahrhaft aufwühlenden Diskussionen um Hautfarbe und Geschlecht in der sogenannten klassischen Musik, gilt beim Lucerne Festival das Primat der Kunst. Unbarmherzig, wie der Stand der besetzten Sitze im Saal des KKL Luzern erweisen. Und unbeirrbar, was die künstlerische Qualität betrifft. Beispiel dafür war das Klavierrezital des 38-jährigen Isländers Vikingur Ólafsson: neunzig Minuten unterbrechungslose Konzentration, die das Publikum am Ende sogleich von den Sitzen aufspringen liess. Wie er es auf seiner 2021 bei der Deutsche Grammophon vorgelegten CD tat, schuf er ein klingendes Porträt Wolfgang Amadeus Mozarts in seinen späteren Jahren, dies aber nicht nur mit Werken des Komponisten, sondern auch und vor allem mit Stücken aus dessen künstlerischer Umgebung.

Namen wie die von Carl Philipp Emanuel Bach, Domenico Cimarosa, Baldassare Galuppi tauchten da auf – Namen, die nie auf Konzertprogrammen erscheinen. Und Stücke erklangen, die von auffallender Originalität waren, die gleichzeitig aber auch das Genie Mozarts nur umso deutlicher aufscheinen liessen. Und das in einem wunderbar geschlossenen, im Inneren jedoch vielfältig bewegten Bogen. Der Grund für diese Geschlossenheit lag in dem Umstand, dass das Programm streng nach den Regeln des Quintenzirkels gebaut war, dass die Werke also in verwandten Tonarten zueinandergestellt waren. Nur zweimal gab es Rückungen, anfangs einmal von a-Moll nach h-Moll, am Ende einmal von c-Moll nach h-Moll – das fuhr in dieser wohltemperierten Anordnung überraschend ein.

So erzeugte die Werkfolge nach allen Regeln der Kunst einen Bann sondergleichen – auch und gerade nach den Kriterien der Interpretation. Vikingur Ólafsson kann nicht nur unerhört schnell spielen; das kann er selbstverständlich auch. Und er kann nicht nur unerhört grossen Ton hervorbringen, auch das kann er natürlich. Noch beeindruckender ist aber sein dynamisches Spektrum im Leisen: Was kann der Mann flüstern auf dem Konzertflügel, und welche Ruhe herrscht dann im Saal – es entstehen da Momente der Introspektion, die es im Kosmos des Klavierspiels selten genug gibt. Nicht weniger hinreissend des Pianisten Vermögen, die Verläufe beim Wort zu nehmen, sie gegebenenfalls bis fast in zum Zerreissen zu dehnen und dabei dem Einzelnen nachzuhorchen, nachzuspüren. Das führte in Mozarts d-Moll-Fantasie KV 397 oder seiner Sonate in c-Moll KV 457 zu unglaublicher Vertiefung und stellte auch ein Werk wie die sattsam bekannte Sonata facile in C-dur KV 545 in ganz neues Licht. Joseph Haydns h-Moll-Sonate Hob. XVI:32 ging Ólafsson an, wie es auf einem Steinway möglich und erlaubt ist, nämlich jenseits jeder Annäherung an den Klang des Hammerklaviers. So wie es Franz Liszt in seiner Adaption des «Ave verum» aus Mozarts Requiem getan hat; zu Bergen wohlklingender Kraft erhob sich hier die Musik Mozarts, um schliesslich im Verstummen zu enden. Das ist Exzellenz, wie sie für das Lucerne Festival steht.

Das Nämliche ereignete sich einige Tage später, am ersten der beiden Gastspiele der Berliner Philharmoniker, die wie stets den Höhepunkt des Festivals darstellten. Damit verbunden war freilich einiges Pech. Kirill Petrenko, der Chefdirigent der Berliner, hatte sich am rechten Fuss verletzt, wurde erfolgreich operiert und muss sich nun im Interesse der vollständigen Wiederherstellung Schonung auferlegen. So konnte er nur eines der beiden Konzerte dirigieren. Im zweiten Auftritt glänzte Tabea Zimmermann mit einer intensiven, auch wohlklingenden Auslegung des Bratschenkonzerts von Alfred Schnittke, worauf die vierte Sinfonie Anton Bruckners erklang. Die Berliner gaben das Stück auf ihrem Niveau, am Pult stand Daniel Harding, der dazu den Takt schlug, ohne Nennenswertes zu erzielen. Harding zeigte Dinge an, die im Orchester nicht geschahen, dort wiederum geschahen Dinge, denen er beflissen folgte. Das Tutti war eine Katastrophe; weder am Schluss des Kopfsatzes noch am Ende der Sinfonie war der kennzeichnende Hornruf zu vernehmen, er ging im Getöse unter. Genug; mit Exzellenz hatte das nichts zu tun, mit Dienst allerdings schon.

Gerade umgekehrt war es bei Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 7 am Abend zuvor, einem zerklüfteten, dementsprechend selten gespielten Stück (in Luzern stand es, wie das einmal mehr sehr informative Programmheft mitteilt, erst 85 Jahre nach seiner Prager Uraufführung von 1908 auf dem Programm). Wie es Vikingur Ólafsson gelang, band Kirilll Petrenko die fünf Viertelstunden in einen schlüssigen Verlauf, ohne die Individualität der fünf Sätze zu unterspielen oder ihre Diskontinuitäten auszuebnen. Im Gegenteil, er stellte die Schärfe der Partitur, ihre Gebrochenheit, auch ihren Zeitbezug in aller Unerbittlichkeit heraus und blieb, auf der anderen Seite, der sehrenden Melancholie und ihrer fast schon gläsernen Schönheit nichts schuldig.

Die Eröffnung des Kopfsatzes breitete gleich die grandiose Farbpalette der Berliner Philharmoniker aus. Das zweite Thema nahm Petrenko langsam, und schon da war zu hören, welche Flexibilität der Tempogestaltung er anstrebt und ihm das Orchester verwirklicht. In bewundernswerter Übersicht zog er durch den Satz, Drängen stellte sich neben das Schwelgen, scharfe Blitze fuhren in die gelöste Ruhe. Den Marsch am Ende des Satzes nahm Petrenko so schneidend, dass mit Händen zu greifen war, was der Komponist im Augenblick der Niederschrift ahnte. Darauf der Mittelteil mit den beiden Nachtmusiken und dem schattenhaft dahinhuschenden Scherzo. Grossartig in der ersten Nachtmusik das eröffnende Hornsolo und sein Echo, atmosphärisch treffend die Herdenglocken, ungeheuer die diskrete, untergründige  Spannung, die nicht zuletzt durch die explizite Körpersprache des Dirigenten erzeugt wie unterstützt wurde. Freundlicher Serenadenton und ausgefeilte Kammermusik prägten die zweite Nachtmusik, in der die Gitarre und die Mandoline, rechts aussen platziert, einmal nicht nur als Geräusch, sondern mitsamt ihren Tonhöhen zu hören waren. Dies auch darum, weil die Berliner Philharmoniker nicht nur über ein glänzendes Forte verfügen, sondern auch über eine Kultur des Leisen, deren Wurzeln im Wirken Claudio Abbados liegen. Im Rondo-Finale schliesslich brach der selbstbewusste Lärm der Jahrhundertwende von 1900 aus, freilich jederzeit kontrolliert durch vorzügliche Balance, so dass auch Nebensachen zu gebührender Wirkung kamen. Höchste Orchesterkultur und sinnreiche Imagination des Interpreten am Pult kamen da in bezwingender Weise zusammen.

Notfallsternstunde

Lucerne Festival (1):
Riccardo Chailly und Jakub Hrůša beim
Lucerne Festival Orchestra

 

Von Peter Hagmann

 

Diversität hin, Putin her – die Hauptsache am Lucerne Festival sind noch immer die Abende mit den bedeutenden Orchestern der Welt. Zum Beispiel mit dem Lucerne Festival Orchestra – das am vierten seiner fünf Konzerte eine Sternstunde erlebte, die sich geradewegs ins Geschichtsbuch eingetragen hat. Und das kam so.

Als Chefdirigent des Orchesters hatte sich Riccardo Chailly für ein Programm mit Musik von Gustav Mahler entschieden, mit den «Liedern eines fahrenden Gesellen» und der Sinfonie Nr. 1 in D-dur. Das war eine Herausforderung eigener Art, denn die Musik Mahlers bildete den zentralen Nervenstrang im Wirken Claudio Abbados als Initiant des Lucerne Festival Orchestra. Die Probenarbeit muss in der für Chailly charakteristischen Sorgfalt abgelaufen, die Generalprobe am Abend vor dem Konzert soll zu einem Moment des Glücks geworden sein – und dann, am Morgen darauf, die Hiobsbotschaft: Riccardo Chaillly musste sich krankmelden und den abendlichen Auftritt absagen. Da war guter Rat teuer, sehr teuer.

Bereits in Luzern angekommen war an jenem Tag Jakub Hrůša, der Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, der für das fünfte Konzert des Lucerne Festival Orchestra verpflichtet war. Es geschah, was niemand zu träumen gewagt hätte: Hrůša übernahm das Konzert, er dirigierte den Abend als Einspringer in denkbar wörtlichem Sinn, nämlich ohne jede Probe, wenn auch mit den Partituren Chaillys auf dem Pult. Das Orchester stand dem Dirigenten in jeder Sekunde in beispielhafter Solidarität bei, die Musikerinnen und Musiker gaben allesamt ihr Letztes an Können und Achtsamkeit – und so kam es zu einer Aufführung von Mahlers Erster, die das Publikum förmlich von den Sitzen riss. Das war wieder einmal das Lucerne Festival. Und das Lucerne Festival Orchestra.

Mit gutem Recht kann man Mahlers Erstling (inklusive seines mehr oder weniger geheimen Programms unter dem ironischen Titel «Titan») als ein Gebilde im Zeichen des Jugendstils sehen, als eine äusserst fein ziselierte Zeichnung, wie sie der Beginn des Kopfsatzes vorgibt. Man kann, muss aber nicht, wie Jakub Hrůša auf der von Riccardo Chailly gelegten Grundlage gezeigt hat. Mit dem Tschechen am Pult erschien das Werk als ein stürmisch jugendlicher Geniestreich, als ein Gebilde mit griffiger Kontur und pointierten Kontrasten. Nach dem «Naturlaut» mit seinen wunderbar von Ferne herklingenden Trompetenfanfaren kam er erste Satz weniger gemächlich als burschikos in Gang, die Steigerung der Temperatur gelang darum ebenso heftig wie zwingend. Während der zweite Satz logisch anschloss und durchführte, was der erste angelegt hatte – die Agilität des Orchesters und seine klangliche Wandelbarkeit ermöglichten es beispielhaft. Besonders ausgeprägt der Trauermarsch des dritten Satzes mit dem tadellos gelungenen Kontrabass-Solo zu Beginn. Er führte im Finale zu einem Ausbruch sondergleichen, und hier kam die Körperlichkeit des Klangs, die Hrůša zu erzielen weiss und die er mit fulminanter Zeichengebung beförderte, zu herrlichster Wirkung. Die Aufführung lebte von starker atmosphärischer Wirkung, und vor allem liess sie wieder einmal hören und fühlen, was das ist: ein schönes Fortissimo.

Vorab hatte es die vier «Lieder eines fahrenden Gesellen» gegeben – den Zyklus Mahlers, der aus der gleichen Lebensphase des Komponisten stammt und in enger Verbindung mit der ersten Sinfonie steht. Der junge, enorm aufstrebende Bariton Andrè Schuen setzte mit allem Gewinn auf sein warm leuchtendes, samtenes Timbre und brachte die vier so unterschiedlich schimmernden Lieder zu bester Geltung. Insgesamt blieb er im Ausdruck vielleicht ein wenig zu verhalten, doch mochte das der Aufregung der Situation geschuldet sein.

In seinem zweiten Konzert, einige Tage zuvor, waren das Lucerne Festival Orchestra und Riccardo Chailly weitergegangen in ihrem Zyklus zum genius loci, zu Sergej Rachmaninow, seinen Klavierkonzerten und seinen Sinfonien. Dieses Jahr hatte das seine besondere Sinnfälligkeit, wird doch das Haus, das sich der Komponist nächst Luzern erbauen liess, strukturell neu aufgestellt und unter der Leitung der Flötistin und Kulturmanagerin Andrea Loetscher mit Leben erfüllt. Zwei Mal die Nummer zwei bot der Rachmaninow-Abend im Luzerner KKL. Zuerst das Klavierkonzert Nr. 2 in c-moll op. 18 von 1901 – das hier leider zu einem Konzert für Orchester mit Klavierbegleitung wurde. Der junge Japaner Mao Fujita mag für die Klaviersonaten Wolfgang Amadeus Mozarts, die er demnächst bei Sony herausbringen wird, der Richtige sein, im Konzert Rachmaninows erschien er als wenig geeignete Besetzung.

Schon die Einleitung zum Kopfsatz, dem Klavier allein überlassen, liess die Begrenzungen seiner Kraftreserven deutlich werden – und Kraft, ja Metall, vor allem auch Obertöne braucht es für dieses Stück allemal. Gewiss liesse sich darüber nachdenken, ob sich das c-moll-Konzert Rachmaninows auch in etwas lyrischerem Licht darstellen liesse, nur müsste dann das Orchester dabei mitmachen. Riccardo Chailly, der als Dirigent direkt hinter dem Flügel steht und die akustische Wirkung im Saal vielleicht zu wenig in Rechnung stellte, liess das Lucerne Festival Orchestra aber prächtig aufrauschen, so dass dem Solisten nur mehr die Rolle des murmelnden Kommentators blieb. Die erfüllte er freilich tadellos: mit aktivem Konzertieren, mit geschmeidigem Rubato, mit perlender Geläufigkeit.

Klangrausch, weit ausschwingend, dann auch bei der 1907 abgeschlossenen Sinfonie Nr. 2 in e-moll op. 27 – aber, und das macht die Besonderheit aus, jederzeit sorgfältig kontrollierter Klangrausch. Kontrolle im Hinblick auf die Ausstrahlung des Orchesters, das hier tatsächlich seine ganze, nach wie vor einzigartige Farbenpalette erstrahlen liess. Kontrolle aber auch mit dem Zweck, die formalen Verläufe fassbar zu machen. Ein Leichtes ist es, sich den stetig wiederholten Klangwellen Rachmaninows hinzugeben und sich mit ihnen aufschaukeln zu lassen, nur ist das nicht alles. Das Stück an die Kandare zu nehmen, seine Redseligkeit zu bändigen und erlebbar zu machen, dass auch diese Musik ihren Plan hat, das ist weitaus schwieriger. Nicht zuletzt darum, weil neben der Einlässlichkeit, ohne die eine packende Interpretation nicht gelingen kann, ein hohes Mass an Distanz und Übersicht gefordert ist. Die Verbindung zwischen diesen beiden Polen ist Riccardo Chailly hervorragend gelungen. Mit seinen dunklen Violinen, den satten Hörnern und dem tragenden Bassfundament hatte das Lucerne Festival nicht wenig Anteil daran.

Hier galt’s der Kunst

Notizen zu den Salzburger Festspielen 2022

Von Peter Hagmann

 

Im Schatten der Debatten

Erstes Gesprächsthema im «Café Bazar» oder im «Triangel»: Teodor Currentzis und Russland, Russland und Teodor Currentzis. In unerbittlicher Schärfe wird die Konfrontation geführt. Ein Dirigent, der das von ihm gegründete Orchester mitsamt seinem Chor von Institutionen aus dem Umfeld des Kremls finanzieren lässt und der bis heute kein klares Wort gegen den abscheulichen Krieg der Russen in der Ukraine gefunden hat – ein solcher Dirigent habe bei den Salzburger Festspielen nichts verloren, betont die eine Seite, darunter ein deutscher Journalist, der durch seine vorlaute Ausdrucksweise auffällt. Markus Hinterhäuser dagegen, der Intendant der Salzburger Festspiele, hält eisern an Currentzis fest. Für ihn wiegt der künstlerische Verlust, der durch den Verzicht auf Currentzis einträte, zu schwer. Und er sieht das moralische Dilemma des Dirigenten, der durch ein einziges Wort die Existenz von Hunderten hochqualifizierter, erfolgreich tätiger Musiker aufs Spiel setzte. Der Fall ist komplex und nichts für den populistischen Zweihänder, der in und um Salzburg immer gern ergriffen wurde – man denke nur an die Reaktionen auf die ersten Auftritte des noch jungen Nikolaus Harnoncourt an der Mozartwoche oder auf den Amtsantritt Gerard Mortiers bei den Festspielen.

 

Endspiele

Judith (Ausrine Stundyte) und Blaubart (Mika Kares) (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Was die Kunst betrifft, und darum geht es bei den Salzburger Festspielen zuallererst, liess Teodor Currentzis keine Wünsche offen. «Herzog Blaubarts Burg» von Béla Bartók war musikalisch eine Offenbarung. Das Gustav Mahler-Jugendorchester klang warm, voll und farblich reichhaltig. Den grossen Moment in C-Dur, da Judith die fünfte Tür öffnet und in die Weite von Blaubarts Landen blickt, das dreifache Forte der riesigen Orchesterbesetzung mit den von der Seite in die Felsenreitschule hineinklingenden Blechbläsern habe ich noch nie so majestätisch gehört, derart wohlgeformt durch Mark und Bein gehend. Absolut geglückt auch die Besetzung mit Mika Kares (Blaubart) und Ausrine Stundyte (Judith). Und bezwingend die szenische Umsetzung aus der Hand von Romeo Castellucci, der die schauerliche Geschichte von der zum Scheitern verurteilten Annäherung der liebenden Frau an den in seine Vergangenheit verstrickten Mann als ein Seelenritual zeigt, das unaufhaltsam voranschreitet und dennoch in jedem Moment von vibrierender Empathie lebt.

Da waten sie denn durch das knöcheltiefe Wasser, das die Bühne bedeckt. Es mag für die unerhört direkte erotische Anziehung stehen, durch die Judith und Blaubart in dieser Inszenierung verbunden sind. Vor den ersten Tönen erklingen Laute eines Neugeborenen: Judith hat Blaubart ein Kind geboren, das im Verlauf des Stücks seine Rolle spielt. Beides, das Wasser wie das Kind, wird uns später wieder begegnen; es ist Teil jenes Denkens in Netzwerken, jenes Schaffens gleichsam unterirdischer Fährten, wie sie die Programmgestaltung Markus Hinterhäusers seit je ausgezeichnet haben. Dazu kommt, dass in den drei Neuinszenierungen dieses Sommers insgesamt sechs Einakter angesetzt waren. Denn auch Leoš Janáčeks «Katja Kabanova» ist, wiewohl abendfüllend und in Akte gegliedert, von der Wirkung her ein Einakter, während Giacomo Puccinis «Trittico», wie der Titel andeutet, drei Einakter unter einen Bogen bindet.

Dass auf «Herzog Blaubarts Burg» das Mysterienspiel «De temporum fine comoedia» von Carl Orff folgte, liess nun allerdings erstaunen. Das späte Werk des Bayern wurde zwar 1973 bei den Salzburger Festspielen aus der Taufe gehoben, und dies von keinem Geringeren als Herbert von Karajan, steht ästhetisch dem derzeit gelebten Profil der Festspiele aber denkbar fern. Gerade darum, um der Horizonterweiterung willen, mag Markus Hinterhäuser Orffs Werk gewählt haben – vielleicht aber auch wegen der höchst aktuellen Thematik. Orff schildert hier einen Endzustand der Welt, von dem wir möglicherweise weniger weit entfernt sind, als wir annehmen. Und er geht der Frage nach, warum in der Schöpfung dem Bösen, Zerstörerischen so viel Gewicht zukomme.

Orff stellt sich der Frage aus der Erfahrung zweier Weltkriege heraus. Und er begegnet ihr mit theologischem Handwerk und zugleich auf der Basis tiefen katholischen Glaubens. Verhandelt wird der Gegenstand mit den Mitteln, die der Komponist in langen Jahren entwickelt und zu seinem Personalstil gemacht hat: mit Sprechchören in stampfenden Rhythmen, mit nervös gespannten Tonrepetitionen, mit heftigen Schlägen eines Orchesters, das mit enormem Schlagwerk und zahlreichen tiefen Instrumenten besetzt ist – Teodor Currentzis ging auch hier beherzt zur Sache. Ein anderer Orff als jener der «Carmina burana» war da zu entdecken: ein Gewinn. Etwas quälend war dieser zweite Teil des Abends aber schon, trotz der vielschichtig belebten Szenerie Romeo Castelluccis. Wie am Schluss die Leiber der Verstorbenen aus dem Bühnenboden stiegen und sich die Felsenreitschule nach und nach mit Choristen in rosa Trikots füllte, wie sich endlich Lucifer in dreimaligem Ausruf seiner Schuld bekannte und sich Gottvater unterwarf, war die Erleichterung mit Händen zu greifen.

 

Sängerinnenkult

Zur Horizonterweiterung gehört auch die Wiederentdeckung Giacomo Puccinis. Hatte Gerard Mortier für sich noch festgehalten, dass Puccini in Salzburg ebenso wenig Platz finde wie Luciano Pavarotti, sieht das Markus Hinterhäuser gelassener. Ja, mehr noch, er schliesst sich den gerade in der deutschsprachigen Musikwissenschaft kursierenden Versuchen an, das Schaffen Puccinis in neues Licht zu stellen. In der ehemals prononciert progressiven, seinerzeit von Heinz-Klaus Metzger begründeten Schriftenreihe «Musik-Konzepte» zum Beispiel ist ein Band erschienen, in dem nachzuweisen versucht wird, dass Puccini keineswegs allein ein Meister im Umgang mit der Tränendrüse gewesen sei, dass sich in seiner Musik vielmehr reichlich gutes Handwerk finde – Handwerk nach deutscher Art mithin? Ob der Ansatz Zukunft hat, darf dahingestellt bleiben.

In der Salzburger Produktion von «Il trittico» war davon nichts zu spüren. Schön, gepflegt kam der Dreiteiler, in seiner vollständigen Form bei den Festspielen zum ersten Mal dargeboten, im Grossen Festspielhaus daher. Dass die drei Teile nicht in der vom Komponisten erdachten Abfolge erschienen, war freilich zu bedauern; «Il tabarro» als dräuendes Drama, «Suor Angelica» als Rührstück, «Gianni Schicchi» als witziger Kehraus – das hat seine bezwingende Logik. Der Regisseur Christof Loy dagegen stieg mit dem erheiternden Erbschaftsstreit ein, der aus Dantes «Divina commedia» stammt, stellte die tödlich endende Eifersuchtsgeschichte in die Mitte und schloss mit dem berückenden Porträt der jungen Frau, die eines unehelich geborenen Kindes wegen ins Kloster verbannt ist. Trotz Loys unverkennbarem Können und trotz der klaren Stimmungen in den Bühnenbildern von Etienne Pluss packte das nicht wirklich, es mag jedoch der übergeordneten Dramaturgie der Festspiele geschuldet sein. Tatsächlich führt Angelica nicht nur ihr Lebensende eigenhändig herbei, auf Anraten Loys blendet sie sich auch noch, worauf ihr kleiner Sohn, von dessen Tod sie erfahren hat, ebenso leibhaftig auf der Bühne erscheint wie das Kind Judiths.

Asmik Grigorian als Giorgetta (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Vor allem aber diente die Änderung in der Abfolge der heimlichen Protagonistin des Abends, denn die drei tragenden Frauenrollen im «Trittico» wurden von ein und derselben Sängerin verkörpert. Asmik Grigorian, in den letzten Jahren als Marie aus Bergs «Wozzeck», als Salome, als Chrysothemis aus Richard Strauss’ «Elektra» gefeiert, erfüllte auch diese Aufgabe hinreissend. Im Stimmlichen wie im Szenischen gleichermassen präsent, war sie das junge Mädchen Lauretta, deretwegen Gianni Schicchi (der vitale Misha Kiria) ans Totenbett des verstorbenen Buoso Donati gerufen wird, verkörperte sie dann die brennende Sehnsucht der Giorgetta im «Tabarro», berührte sie schliesslich als die unglückliche Nonne Angelica, als welche die Sängerin ihre ganze Emotionalität ausspielte. Wenig überzeugend hingegen der Auftritt der bösen Fürstin, die Angelica den Tod ihres Sohnes verkündet; als aufgeregte Managerin im grauen Hosenanzug wirkte Karita Mattila bei weitem nicht so bedrohlich, als es die Situation erforderte. Auch nicht ganz auf ihrer Höhe die Wiener Philharmoniker, die matt agierten und wenig koloristischen Reiz zeigten, zudem von Franz Welser-Möst zu einem Fortissimo von unschöner Schärfe angehalten wurden.

 

Zwangsjacke aus grauem Tuch

Die Hölle auf Erden, sie stand allenthalben im Raum – in der düsteren Burg Blaubarts, in der Apokalypse Orffs, in der Seelenpein der in unmöglicher Liebe entbrannten Giorgetta und jener der unter Nonnen gefangengehaltenen Angelica. Auch für Katja, die Titelheldin in Leoš Janáčeks «Katja Kabanova», gleicht das Leben einer Hölle. Sie ist eingemauert in einer Gesellschaft, die für enges Normendenken steht – Barry Kosky hat dafür in seiner meisterlichen Inszenierung von Janáčeks Oper ein ebenso stupendes wie treffendes Bild gefunden. Er liess die ganze Breite der Felsenreitschule vom Bühnenbildner Rufus Didwiszus vollstellen mit einer dichtgedrängten Menge an menschengrossen, von der Kostümbildnerin Victoria Behr in graues Tuch gekleideten Schaufensterpuppen, die immer wieder anders, aber jederzeit sinnreich angeordnet wurden, wenngleich nur von hinten zu sehen waren. Umso stärker wirkte die Weite der Bühne, welche die jungen Leute auf der Suche nach ihrem eigenen Leben für sich erkundeten und einnahmen.

Unter ihnen eben Katja, die mit dem offenkundig zu nichts fähigen Tichon verheiratet ist (Jaroslav Březina gibt diesen Ehemann grandios), in Wirklichkeit aber restlos unter der Fuchtel ihrer Schwiegermutter Kabanicha steht (auch Evelyn Herlitzius lässt hier keinen Wunsch offen). Eine Geschäftsreise Tichons gibt Katja den Raum, sich ihrem Herzensmann Boris (David Butt Philip) hinzugeben – was die junge Frau jedoch in derartige Gewissensnöte stürzt, dass ihr nichts anderes zu bleiben scheint als die Selbstbefreiung durch den verzweifelten Sprung in die Wolga. Da ist es wieder, das Wasser, das hier den tödlichen Endpunkt bildet, das Blaubart und Judith verband, das vor allem auch in dem von Ivo van Hove auf der Perner-Insel krass danebeninszenierten Schauspiel «Ingolstadt» nach Marieluise Fleisser eine Hauptrolle spielt. Vielleicht sind es tatsächlich diese kleinen Merker, die in dem immensen Angebot der Salzburger Festspiele für Kontextbildung sorgen.

Corinne Winters als Katja (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Zusammenhalt ergibt sich aber auch durch die Höchstleistungen einzelner Darsteller – Darstellerinnen, muss man hier sagen. Denn wie Asmik Grigorian sorgt auch Corinne Winters in der Hauptrolle von «Katja Kabanova» für einen sensationellen Auftritt. Was spielt sich in ihrem Gesicht nicht alles ab, was zeigt sie mit ihrer körperlichen Agilität nicht an innerer Bewegung, was bringt sie mit ihrer hellen, jugendlichen Stimme nicht alles zum Ausdruck. Alles ist hier Identifikation, vom Zuschauerraum aus verfolgt man es gebannt und bange, beglückt und hingerissen – dafür gehen Menschen ins Theater, ins Musik-Theater, und dafür brechen sie dann in Jubel aus. Corinne Winters hatte das Glück, von einem wunderbaren Orchester getragen zu werden. Am Werk waren erneut die Wiener Philharmoniker, nun aber unter der energischen, zielgerichteten Leitung von Jakub Hrůša, einem Dirigenten für heute und einem für morgen. Mit ihm entfalten sie ihr ganzes Potential: in der Farbenpracht, in der klanglichen Rundung, in der Kompetenz der Sängerbegleitung.

 

Mozart, ganz in der Jetztzeit

Eine Sternstunde anderer Art ereignete sich im Mozarteum – mit den drei letzten Sinfonien Wolfgang Amadeus Mozarts. Mit dabei war das Mozarteumorchester Salzburg, das vor Jahresfrist beim Lucerne Festival einen ausgesprochen mittelmässigen Auftritt hatte. Hier nun, mit Riccardo Minasi am Pult, brach Frühlings Erwachen aus: Das Orchester wuchs förmlich über sich hinaus und war nicht wiederzuerkennen. Minasi ist ein fulminanter Geiger, der sich, was die historisch informierte Aufführungspraxis betrifft, bis in die innersten Gemächer auskennt; das in den letzten Jahrzehnten ausgebaute Rüstzeug steht ihm zur Gänze und in aller Selbstverständlichkeit zur Verfügung, er weiss es auch mit einem hohen Mass an Phantasie einzusetzen. Reduktion der Besetzung, nuancierter Einsatz des Vibratos, ganztaktige Phrasierung, differenzierte Artikulation zwischen ausgespieltem Legato und scharfem Akzent, Gewichtungen innerhalb des Taktes – all das bringt er ein. Er tat es mit einer Lust am Musizieren, mit freundschaftlicher Kommunikation, mit einem Temperament, dass man selbst beim Zuhören ausser sich geriet – übrigens genau gleich wie die Orchestermitglieder, die ihrem Tun nicht nur mit hörbarem, sondern auch ersichtlichem Vergnügen nachgingen. Jedenfalls: Die Musik Mozarts klang, als wäre sie von heute; der Gegensatz zu den ausgeebneten Wiedergaben mit einem grantelnden Dirigenten am Pult hätte grösser nicht sein können. Ob das Finale der g-Moll-Sinfonie KV 550 so rasch genommen werden muss, bleibt Geschmackssache; es geriet jedenfalls untadelig. Und ebenso grossartig wie das Finale der C-Dur-Sinfonie KV 551, dessen komplexe Struktur in aller Helligkeit leuchtete. Hier galt’s der Kunst, fürwahr.

Entdeckungen, Überraschungen

In den Schweizer Konzertsälen herrscht Leben

Von Peter Hagmann

 

Biel – und Joseph Lauber

Sechs Sinfonien hat er geschrieben, keine einzige ist bekannt, keine wird gespielt. Wie bedauerlich das ist, lässt sich jetzt allerdings nachprüfen – und vielleicht hat das Folgen. Denn das Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn und sein Chefdirigent Kaspar Zehnder haben es sich zusammen mit dem von Graziella Contratto geleiteten Label Schweizer Fonogramm zur Aufgabe gemacht, Joseph Lauber der musikalisch interessierten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Lauber? Nie gehört, noch vergessener als Joachim Raff oder Hans Huber. Dabei waren die Voraussetzungen nicht schlecht: Als Sohn eines Schneidermeisters im Luzerner Hinterland geboren und bei Neuchâtel aufgewachsen, konnte Joseph Lauber (1864-1952) dank einem von den Chocolatiers Suchard gewährten Stipendium in Zürich bei Friedrich Hegar, in München bei Josef Gabriel Rheinberger und in Paris bei Jules Massenet studieren. Bald zog es ihn nach Genf, wo er am Theater als Kapellmeister wirkte und am Konservatorium Komposition unterrichtete – zu seinen Schülern, allerdings auf privater Ebene, zählte auch Frank Martin. In der Schweizer Musikszene wurde seine Stimme gehört, die grosse Karriere suchte er jedoch nicht. Dafür schrieb er über zweihundert Werke, die in der Universitätsbibliothek Lausanne aufbewahrt werden.

Mit Hans Huber, dessen Name immerhin noch einen Basler Konzertsaal ziert und dessen Sinfonien in den 1990-er Jahren von dem schwedischen Label Sterling vorgelegt wurden, teilt Joseph Lauber die Verankerung in der deutschen Spätromantik und die Nähe zu Johannes Brahms – wobei Laubers Musik durchaus auch französische Farben kennt. Seine sechs Sinfonien, zwischen 1895 und 1918 mit einem Nachzügler 1949 entstanden, gehören zum Anregendsten aus dem Bereich der Schweizer Musikgeschichte vor dem Ende des Ersten Weltkriegs. In ihnen verbindet sich ästhetische Weltläufigkeit mit dem Duft der Heimat – eigenartig schweizerisch, jedoch ohne eine Spur ohne Enge klingt diese Musik. Und leicht geht sie ins Ohr, denn das Material ist geschickt erfunden und ebenso geschmeidig wie vielschichtig verarbeitet.

Auf den drei Compact Discs von Schweizer Fonogramm lässt sich das ausgezeichnet nachvollziehen. Nicht zuletzt dank der hervorragenden Aufnahmetechnik von Frédéric Angleraux. Schweizer Fonogramm sieht sich als «ein Label von Musikern für Musiker». Im Vordergrund stehen Sachbezogenheit und Qualitätsanspruch, wovon auch die informativen Booklets zeugen. Ausserdem wird konsequent an der Studioaufnahme und an der CD als netzunabhängigem Tonträger festgehalten, obwohl die Aufnahmen, wenigstens zum Teil, auch im Internet greifbar sind. Zentral bleibt jedoch die interpretatorische Qualität. Das Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn zeigt sich von allerbester Seite, es legt Zeugnis ab von dem erfolgreichen Weg, den es mit Kaspar Zehnder in den vergangenen zehn Jahren zurückgelegt hat. Jetzt strebt der Chefdirigent nach neuen Ufern. Unter seiner Leitung hat das Orchester einen deutlichen Qualitätssprung vollzogen, das war in vielen der unter schwierigen Bedingungen, zum Beispiel in engen räumlichen Verhältnissen entstandenen Opernproduktionen zu erfahren, das war auch im Abschiedskonzert Kaspar Zehnders zu hören (hier vermerkt als Abend in dem wunderschönen Konzertsaal von Solothurn). Sehr bildhaft die Rumänische Rhapsodie Nr. 2 von George Enescu, farbenreich und brillant die «Nächte in spanischen Gärten» von Manuel de Falla mit der virtuosen Pianistin Judith Jáuregui, vital und klangschön die Achte Sinfonie Antonín Dvořáks. Der Leistungsausweis darf gezeigt werden.

 

Zürich – Streichquartett im sakralen Raum

;on wegen «Konzertsaal»: In Zürich wird für manches Konzert, für Kammermusik zumal, nicht die Kleine Tonhalle gemietet, sondern in die Kirche St. Peter ausgewichen. Der barocke Raum verfügt über eine reiche, füllige Akustik, die gerade das Streichquartett herrlich umhüllt, ohne die Transparenz zu erschweren. Eben erst bestätigte es sich wieder in einem der vier Quartettprogramme, welche die von Jürg Hochuli betreute Neue Konzertreihe Zürich von Frühsommer bis Frühherbst in St. Peter anbietet. Angesagt war das Schumann-Quartett, eines der berühmtesten unter den Ensembles jüngerer Generation. Es hat einen neuen Bratscher; Veit Herstenstein heisst er, und er passt haargenau zu den drei Brüdern Erik Schumann (Erste Geige), Ken Schumann (Zweite Geige) und Mark Schumann (Cello). Hertenstein passt darum so gut, weil er als Kammermusiker äusserst aktiv mitwirkt. Mit seinem kernigen Ton und seiner pointierten Artikulation verhilft er zusammen mit dem ohnehin aussergewöhnlich präsenten Sekundgeiger den Binnenstimmen zu einem Profil, das dem musikalischen Geschehen im Quartett spannendes Gleichgewicht verschafft. Nicht Erste Geige und Cello geben den von Zweiter Geige und Bratsche grundierten Ton an, alle vier gemeinsam tun es – das trifft man in dieser Ausprägung nicht alle Tage.

Geschwister auch im Programm: Fanny Hensel, geborene Mendelssohn, ging ihrem gut drei Jahre jüngeren Bruder Felix Mendelssohn Bartholdy auf dem Weg der Musik voran. Eine schöne Idee, die in der Verwirklichung jedoch nicht aufging. Fanny Cäcilie Mendelssohn Bartholdy hatte es bekanntlich nicht leicht. Als Frau blieb ihr die musikalische Laufbahn versagt, nämlich von der Familie untersagt, und als Künstlerin stand sie hinter ihrem Bruder zurück. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht, wie ihr Streichquartett in Es-dur von 1834 ahnen liess. Die Begabung ist klar zu hören, zugleich schliesst das Werk aber auch immer wieder und unverkennbar, in einzelnen Wendungen wie im Tonfall, an das neun Jahre zuvor entstandene Streicherokett in Es-dur des Bruders an. Dennoch setzte sich das Schumann-Quartett mit Verve für Fanny Hensel ein, besonders in der Romanze des dritten Satzes, in der die Viola voranging. Mit mehr Erfolg tat es Ensemble beim späten, nach dem Tod der Schwester komponierten Streichquartett in f-moll von Felix Mendelssohn Bartholdy. Die Interpretation orientierte sich eindeutig an der biographischen Situation, das geradezu orchestrale Forte, zu dem das Schumann-Quartett in der Lage ist, bot es an; ein weiter Bogen spannte sich zwischen dem zornigen Tränenausbruch im Kopfsatz und dem Grabgesang im Adagio. Beispielhafte Kammermusik war das. Am 21. August folgt das Pavel Haas-Quartett, am 11. September das Simply Quartet.

 

Basel – weiterhin im Aufbruch

Besonders quirliges Leben herrschte im grossartig renovierten Musiksaal des Basler Stadtcasinos, in dem das Sinfonieorchester Basel zusammen mit dem Gastdirigenten Jukka-Pekka Saraste zum Abschluss seiner sinfonischen Saison auftrat. Gut gefüllt der Saal und besetzt mit auffallend vielen jungen Menschen – wie schaffen das Hans-Georg Hofmann als Künstlerischer Direktor und Franziskus Theurillat als Orchesterdirektor? Vor mir drei Girls, die Mahlers Erste gewiss noch nie gehört hatten, die nach den Beckenschlägen aufgeregt wisperten und beim stürmischen Einsatz des Finales nach dem gemessenen Trauermarsch des dritten Satzes sichtbar erschreckten – die aber das Gebotene mit aller Aufmerksamkeit aufnahmen und heftig applaudierten. Ach ja, es wird bald aussterben, das Sinfoniekonzert…

Auch auf dem Podium wird in Basel das Gegenteil bewiesen. Das Sinfonieorchester Basel lebt weiterhin im Zeichen des Aufbruchs, obwohl (oder gerade weil?) sein Chefdirigent Ivor Bolton mehr durch Abwesenheit glänzt als durch das Gegenteil. In seiner Existenz als freies, wenn auch von der öffentlichen Hand unterstütztes Orchester gibt es seine zehn bisweilen doppelt geführten Abonnementskonzerte, bietet es aber auch ein breites Spektrum an Konzertformaten anderer Art, in denen es direkt auf sein angestammtes Publikum zugeht und gleichzeitig neue Hörerschichten anzusprechen sucht. Vor allem aber erwies es bei seinem Saisonbeschluss (vor einem wegen der Pandemie verschobenen Chorkonzert mit Hans Hubers Oratorium «Erfüllung und Weissagung» am 20. August) seine anhaltend hochstehende Form, und zwar in klanglicher wie in technischer Hinsicht.

Ganz eng an der Seite des Solisten Steven Isserlis stand das Sinfonieorchester Basel beim Cellokonzert von William Walton, einem für kontinentaleuropäische Ohren etwas seltsam wirkenden und dementsprechend selten gespielten Werk. Was Isserlis, ein Ausdrucksfanatiker erster Güte, aus der Partitur herausholte, wie er aus ihrer Schrägheit kein Hehl machte und, umgekehrt, ihre Kantabilität zu ungeschmälerter Wirkung brachte, war schon eindrücklich genug. Vollends trat das aber bei der Sinfonie Nr. 1, D-dur, von Gustav Mahler heraus, die Jukka-Pekka Saraste in gelassener Souveränität, dabei aber mit allem Temperament anging. Und als im Finale die Hornisten nicht nur ihre Schalltrichter in die Höhe hoben, sondern sich, wie es der Komponist verlangt, von ihren Sitzen erhoben, gab es sogar Ungewöhnliches zu sehen.

Der Leuchtturm in Genf

Besuch beim Orchestre de la Suisse Romande

 

Von Peter Hagmann

 

Die Konzertsäle und Opernhäuser hätten Mühe, ihr Publikum zurückzugewinnen, die Musik als Kunst sei am Ende, sie müsse aktiv und mit allen, auch mit ungewöhnlichen Mitteln unter die Leute gebracht werden, unter die jungen Leute vor allem, denn die älteren wiesen nicht das notwendige Potential auf. So wird geschrieben, so wird gesprochen, aber wohl doch eher von Menschen, die nicht in die Oper, nicht ins Konzert gehen, bestenfalls Statistiken lesen. Wer die Branche kennt, wird wissen, dass sich eine zwei Jahre dauernde Zwangspause nicht von heute auf morgen bereinigt, dass es also verfehlt ist, vom aktuellen Zustand im Vergleich mit den Verhältnissen vor dem Ausbruch der Pandemie auf die Zukunft zu schliessen. Und wer ihn und wieder ein Konzert anhört oder eine Opernaufführung besucht, wird gut und gerne von vollen Rängen berichten können – Momentaufnahmen, gewiss, aber doch Wirklichkeit. Bruckners Fünfte mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und dem Dirigenten Herbert Blomstedt, «Rheingold» in der Inszenierung von Andreas Homoki und unter der musikalischen Leitung von Gianandrea Noseda im Opernhaus Zürich stehen als zwei beliebige Beispiele aus jüngerer Zeit dafür, dass von einem allgemeinen, grundlegenden Zerfall keine Rede sein kann.

So gedacht auch eben erst in der Genfer Victoria Hall, wo das Orchestre de la Suissse Romande mit seinem Chefdirigenten Jonathan Nott aufgetreten ist: im Abschlusskonzert der Saison und mit einem Programm eher konventionellen Zuschnitts (was ja keineswegs verboten ist).  Gut besucht war der Saal, das Publikum durchaus gemischt, die Stimmung ausgezeichnet. Vielleicht ist es, so der spontane Gedanke dazu, doch ganz einfach eine Frage der Qualität. Das Genfer Orchester hat eine Stufe der Kompetenz erreicht, die sich vergleichen lässt mit den dank der Schallplatte noch immer lebendigen Ära mit dem Gründer Ernest Ansermet und später dem Goldenen Jahrzehnt mit Armin Jordan.

Nott hat das klangliche Profil der Formation entschieden geschärft, und die Ausstrahlung des Dirigenten im Moment des Konzerts trägt ganz wesentlich zum Gelingen der künstlerischen Projekte bei. Notts Handschrift ist jedenfalls klar und auf Anhieb erkennbar, das bezeugt auch die sehr spezielle, in ihrer Weise sensationelle Doppel-CD mit einer von Nott erstellten Suite aus der Oper «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy und der gleichnamigen Tondichtung Arnold Schönbergs (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 12.01.22) – kein Wunder, ist die CD-Produktion durch den Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet worden.

Die besondere Qualität trat an besagtem Abend im angestammten Genfer Konzertsaal beim Violinkonzert von Johannes Brahms heraus. Frank Peter Zimmermann bewältigte den Solopart auf seiner ihm so sehr ans Herz gewachsenen, inzwischen wieder zur Verfügung gestellten Stradivari mit dem Namen «Lady Inchquin» mit einer Souveränität sondergleichen. Üppig und warm der Ton, innig die Musikalität der Wiedergabe. Das Orchester wiederum stand dem vom Publikum gefeierten Solisten in grossartiger Übereinstimmung und geradezu kammermusikalischer Flexibilität zur Seite.

Besonderes Aufsehen erregte jedoch die zu Beginn des Abends gespielte Sinfonie Nr. 5 von Jean Sibelius. Im Norden Europas hat der Bannstrahl Theodor W. Adornos, der die Musik Sibelius’ aus den Konzertsälen des deutschsprachigen Kulturbereichs verbannte, weniger Wirkung entfaltet. Gleich Simon Rattle, Brite wie jener, geht Jonathan Nott vorurteilslos und unverkrampft an Sibelius heran. Nicht weil er eine ganz natürliche Neigung für Pathos und Pomp hätte, wie sie etwa in der Musik von Edward Elgar zum Ausdruck kommt. Sondern weil er das Moderne bei Sibelius hört, die seelische Verlorenheit, das hilflose Kreisen, im musikalischen Ausdruck aber auch die Anklänge an den Impressionismus und die harmonischen Wagnisse.

In seiner Auslegung von Sibelius’ Fünfter betont er das durch einen leichten Klang, durch sensible, differenzierte Artikulation und hohe Durchhörbarkeit – all das bot ihm das Orchestre de la Suisse Romande mit seinen wunderbaren Bläsern und seinen bestens austarierten Streichern. Das Anrührende der Musik ergibt sich da von selbst: nicht durch Druck wie weiland bei Herbert von Karajan, sondern gerade umgekehrt durch Empfindlichkeit gegenüber der Struktur – und dort, in der Struktur, sind bekanntlich die Geheimnisse verborgen. Ein Beispiel dafür bietet ein kleines, aus fünf Tönen bestehendes  Motiv im zweiten Satz, das entweder mit einem Aufstieg oder mit einem Abstieg beginnt und auf der Wiederholung zweier gleicher Töne endet. Diese beiden Töne werden üblicherweise einfach wiederholt. Jonathan Nott versteht sie aber aus dem Kontext ihrer Position im Takt heraus und lässt den ersten, schweren Ton etwas länger, den zweiten, leichteren etwas kürzer und ein wenig leiser spielen. Interpretierende Arbeit am Detail, das macht es eben aus.

Ist hier beispielhaftes Niveau erreicht, zeigt sich die kulturpolitische Lage in Genf einigermassen schwierig. Nach der verlorenen Abstimmung zu der als privat finanziertes Projekt gedachten Cité de la Musique, in der die Musikhochschule wie das Orchester adäquate räumliche Verhältnisse hätten finden können, herrscht beim Orchestre de la Suisse Romande ein gewisser Katzenjammer. Der Intendant Steve Roger sieht keine Perspektiven zur erneuten Behandlung der infrastrukturellen Probleme. Es bleibt dabei, dass sich das Orchester für Proben und Konzerte in der städtischen Victoria Hall einmietet, dort aber nicht die nötige Planungsflexibilität und vor allem nicht die Nebenräume findet, die für einen vernünftigen Betrieb vonnöten wären. Schwierigkeiten gibt es aber auch beim Grand Théâtre, dessen Renovation zahlreiche Nachtragskredite erforderlich machte. Überdies wurde bekannt, dass beim Weiterverkauf der von der Comédie Française in Paris übernommenen und in Genf erweiterten Holzkonstruktion, der «Opéra des Nations», in der das Grand Théâtre die Jahre der Renovation zwischen 2016 und 2019 überdauerte, Probleme aufgetreten seien, die zu einer Klage des aus China stammenden Käufers gegen die Genfer Oper geführt hätten. Diese Klage habe nun mit Hilfe eines Vergleichs abgewendet werden können. Über die damit verbundenen Kosten erfährt die Öffentlichkeit aber nichts. Dem Vertrauen in die Kulturpolitik ist das nicht eben förderlich.

Kunst und Gunst des Alters

Bruckners Fünfte mit Herbert Blomstedt

 

Von Peter Hagmann

 

Alles hatte seine Stimmigkeit an diesem Abend des Tonhalle-Orchesters Zürich – fast alles, doch davon später. Der fünften Sinfonie Anton Bruckners mit ihren knapp eineinhalb Stunden Spieldauer etwas voranzustellen, hat seinen Sinn. Erst recht, wenn es von Johann Sebastian Bach stammt, dem Meister jener Kunst des Kontrapunkts, der sich Bruckner nicht nur im Finale seiner Fünften, dort aber mit besonderer Inständigkeit hingegeben hat. Wenn aber das Vorangestellte von Bach kommt und für Orgel geschrieben ist, dann ist ein Optimum erreicht. So war es beim Auftritt des Tonhalle-Orchesters im Rahmen der erstmals durchgeführten Internationalen Orgeltage. Zu Beginn des Abends spielte der Organist Christian Schmitt, der zusammen mit Peter Solomon am Bau der neuen Orgel in der Tonhalle wesentlich beteiligt war und die erste Saison des Orchesters im neu erstrahlenden Saal als Fokus-Künstler begleitet, Bachs Fantasie mit Fuge in g-moll (BWV 542) – und führte vor Ohren, dass das Instrument der Firma Kuhn aus Männedorf nicht nur eine präzis auf die Bedürfnisse der Chöre und Orchester abgestimmte Konzertsaalorgel ist, dass auf ihr vielmehr auch Werke der Barockzeit adäquat dargeboten werden können. Mit einem Ausschnitt aus dem «Livre du Saint-Sacrement» des grossen Olivier Messiaen, eines wie Bruckner tiefgläubigen Katholiken und Organisten, konnte er das Publikum ausserdem in die Welt der französischen Klanglichkeit entführen.

Im hellsten Licht, wo es ihm wohl gar nicht so behagt, stand aber Herbert Blomstedt, der amerikanische Dirigent schwedischer Herkunft, der in Kürze seinen 95. Geburtstag begehen kann – und der nach den drei Zürcher Konzerten vier weitere Auftritte in Hamburg, Bremen und Berlin im Kalender stehen hat. Raschen Schrittes, ohne jede Gehhilfe, absolvierte er seine Auftritte, aufrecht, mit etwas hochgezogener linker Schulter, aber das tat er schon in jüngeren Jahren, stand er vor dem Orchester, das ganze Werk hindurch ohne Sitzpause – es ist zum Staunen. Verzicht auf Fleisch, Alkohol und Nikotin sowie auf jede Form von Liften und Rolltreppen, das soll seinen eigenen Worten gemäss das Rezept sein. Vollends unbegreiflich ist aber, wie er in diesem methusalemischen Alter in der Lage ist, ein derart ausgreifendes, derart komplexes Werk wie Bruckners Fünfte so souverän zu meistern, wie es ihm am dritten seiner drei jüngsten Zürcher Abende gelang. Es ist natürlich Frucht ausgeprägter Begabung und lebenslanger Erfahrung, vielleicht aber auch, um es mit Bruckner zu sagen, eine Gnade Gottes. Das Tonhalle-Orchester Zürich fing jedenfalls sogleich Feuer und blieb dem Dirigenten in letzter Aufmerksamkeit zugewandt. Von strahlender Kraft das Tutti, pointiert und bestens integriert die Farben der Bläser, weshalb der Tonsatz jederzeit durchhörbar blieb.

Von Feuer zu sprechen ist aber vielleicht doch verkehrt; das ist es gerade nicht, was Blomstedt im Sinn hat. Er pflegt vielmehr einen sachlichen, strukturbezogenen Bruckner. Davon zeugt der helle, etwas strenge Klang, den er mit dem Tonhalle-Orchester erzielt – das reine Gegenteil zu der runden, emotional durchdrungenen Wärme, die Bernard Haitinks, auch Claudio Abbados Sache war. Für einen modernen Zugang zu Bruckner stehen aber auch die vergleichsweise flüssigen Tempi und der sparsame Einsatz der agogischen Unterstreichung; sie gehören zu den Kernmerkmalen von Blomstedts Auffassung. Am deutlichsten trat es im Finale zutage, wo sich der Dirigent mit geradezu neckischer Verspieltheit den Vertracktheiten hingab, wie sie die Kunst der Fuge bietet. Mit den kleinen Handzeichen, die er, ohne Taktstock schlagend, seit langem pflegt, wies er auf die jeweils erklingenden Hauptsachen hin, auf die Vergrösserungen, auf die Umkehrungen – und es war zu hören, was er sehen liess. Doch schon im Eröffnungssatz war deutlich geworden, aus welcher Übersicht heraus er die Bögen zu spannen und dennoch das Ganze zusammenzuhalten weiss. Sehr getragen, doch ohne jeden Bombast das Adagio des zweiten Satzes, entspannt, ja keck das Scherzo mit seinem Trio. Welche Erleuchtung.

Alles schön, alles gut, wäre nicht der Beginn vor dem Beginn gewesen. Der herrliche Frühsommerabend lud dazu ein, die neue Terrasse vor dem Foyer, die bei der Eröffnung der Tonhalle mit Nachdruck als deren neues Highlight bezeichnet wurde, zu erkunden und einen Blick über den See in die Glarner Alpen zu werfen. Allein, justament dort, wo die Aussicht am schönsten wird, stand wieder einer jener schwarzgewandten Aufseher, der die herandrängenden Konzertbesucher in barschem Ton darauf hinwies, dass hier weiterzugehen untersagt sei; wer es dennoch wage, werde nicht mehr in den Konzertsaal kommen. Wir salutierten und wandten uns um zurück ins Foyer, wo die unsäglichen Kordeln, die das Publikum in Zugelassene und Ausgeschlossene teilten, verschwunden waren, aber deshalb nicht viel bessere Atmosphäre herrschte. Was waren das für Zeiten im Maag-Areal, ohne Aussicht zwar, dafür aber mit Gastfreundlichkeit und ausgesuchter Höflichkeit. Vielleicht wäre es doch endlich an der Zeit, das Kongresshaus von Aufgaben zu entbinden, die es offenkundig nicht zu bewältigen in der Lage ist.

PS., erfreulicher: Am kommenden Sonntag, 12. Juni 2022, um 11.15 kommt die neue Orgel in der Grossen Tonhalle nochmals zu Wort. Anlässlich einer Matinee im Rahmen der Reihe «Literatur und Musik» spielt Christian Schmitt zusammen mit Mitgliedern des Tonhalle-Orchesters Zürich Werke von Johann Sebastian Bach, Frank Martin und Petr Eben. Dazwischen liest Stefan Kurt Gedichte von Rainer Maria Rilke.