Identität und Camouflage

Verdis «Falstaff» an den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Regieassistent fliegt, Orson Welles schimpft, Falstaff beobachtet / Bild Ruth Walz, Salzburger Festspiele

Das Einzige, was Christoph Marthaler zu seiner Inszenierung von Giuseppe Verdis «Falstaff» an den Salzburger Festspielen vorgehalten werden könnte, ist das Zuviel. Ein Zuviel des Szenischen. Gewiss, die breite Bühne des Grossen Festspielhauses fordert ihren Tribut; soll nicht leerer Raum dominieren, gibt es nichts anderes als Betriebsamkeit. Und natürlich bietet «Falstaff» trotz kammermusikalischer Anlage so viel Personal auf, dass sich das va-et-vient beinah von selbst ergibt. Nur: Aktiv zuzuhören und wach wahrzunehmen, es fiel schwer an diesem Abend. Das ist bedauerlich.

Denn Verdis Partitur hat es in sich; sie bietet mehr als den Spass, den der Schlusschor besingt, auch mehr als die heilige Einfalt, die sich in mancher Inszenierung breitmacht, zum Beispiel in jener von 2013 an den Salzburger Festspielen mit dem quirligen Regisseur Damiano Michieletto und Zubin Mehta am Pult. «Falstaff» ist ein Stück sprühender Imagination und höchststehenden Handwerks, musikalisch reich an Anspielungen und struktureller Komplexität – ein aufschlussreicher Text des Verdi-Spezialisten Anselm Gerhard im Programmbuch vermittelt einen Eindruck davon. Wer trotz der Absorption durch die Bühne ein Ohr offen hatte, konnte das Potential wahrnehmen, denn Ingo Metzmacher, bekannt für seinen luziden Verdi-Ton, setzte auf Leichtigkeit, legte die Stränge frei und behielt, zumal in den grossen Ensembles wie in der achtstimmigen Schlussfuge, die sich zum Teil eklatant widerstrebenden Verläufe souverän im Griff. Die Wiener Philharmoniker, die bekanntlich auch sehr anders können, standen einhellig an der Seite des Dirigenten und schöpften aus ihrer immer wieder erstaunlichen Wandelbarkeit.

Je weiter der Abend voranschritt, desto deutlicher wurde, dass Christoph Marthaler mit seiner unverkennbaren, zirzensischen Handschrift auf exakt denselben Pfaden wandelte wie der Dirigent. Er liess sehen, auf wie vielen ganz unterschiedlichen Ebenen sich «Falstaff» ereignet. Das gelang ihm, indem er eine weitere Ebene einzog – eine schillernde Ebene des Interpreten, die Distanz schuf und den Blick schärfte. Das Zauberwort hierfür heisst: Orson Welles. Der Schauspieler und Regisseur, von seinem Äusseren und seinem Lebensverhalten her dem Titelhelden von Verdis Oper nicht unähnlich, hat sich verschiedentlich mit der Figur des Falstaff beschäftigt, auch und gerade mit Fragen nach seiner Identität. Tja, wer genau ist Falstaff? Ist er tatsächlich einfach ein beleibter Ritter a.D., der aus Lust oder aus Not den Schürzenjäger gibt? Ist er ein Trump, wie die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz in ihrem erfrischenden Essay im Programmbuch nahelegt? Ein gemütlicher, ein bisschen lächerlicher Kerl, aber doch ein Macho, der am Ende mit kurzen Hosen dasteht? Und damit ein Verwandter zumindest von Graf Almaviva aus Mozarts «Figaro»  (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 09.08.23)?

Aber wer ist Falstaff auf der Bühne (und in den Kostümen) von Anna Viebrock? Gerald Finley vielleicht? Nicht doch. Von einem umgebundenen Dickbauch will der hochgewachsene, elegante Kanadier nichts wissen; mit barscher Geste weist er die Assistentin, die ihm das Ding schmackhaft zu machen sucht, in die Kostümabteilung zurück. Er singt auch äusserst gepflegt, ja vornehm, mit sonorem Klang und tadelloser Ausgestaltung. Zugleich tummelt sich jemand auf der Bühne, der mit seinem gewaltigen Bauch sehr an Falstaff erinnert. Er ist es jedoch nicht wirklich, er ist vielmehr Orson Welles (Marc Bodnar), der, das halbvolle Whiskyglas in der Hand und immer wieder gestenreich verzweifelnd, in einem Film über Falstaff Regie zu führen sucht. Marthaler hat ihn als sein alter ego ins Geschehen eingeführt. Und zu sehen ist eine Art «Making of».

Spielort ist ein FiImset mit notdürftigen Kulissen, links ein Vorführraum für die Begutachtung erster Ausschnitte, in der Mitte das nur wenig möblierte Gasthaus «Zum Hosenband», rechts eine Andeutung des Gartens der Familie Ford mit einem leeren, aber wohl doch gepolsterten Bassin, in das immer mal wieder jemand hineinfällt, nur nicht der Protagonist, denn in den Wäschekorb flüchtet nicht er, in ihn setzt sich immer und immer wieder ein wendiger Regieassistent (Joaquin Abella). «Falstaff» ohne korrekt gefüllten und richtig ausgeleerten Wäschekorb – das geht natürlich ebenso wenig wie «Lohengrin» ohne Schwan. Weshalb auch in der zweiten Vorstellung das Publikum in ein wütendes Buh zuhanden des nicht mehr anwesenden Regisseurs ausbrach.

Zu Unrecht. Der neue Salzburger «Falstaff» ist (bei allem optischen Überangebot) Massarbeit vom Feinsten. Schon allein darum, weil sich das clowneske Naturell Christoph Marthalers in so lustvoller Präzision auslebt, wie es bei diesem eminenten Theaterkünstler der Fall sein kann. Den Höhepunkt diesbezüglich bildet jener Moment im zweiten Akt, da Mister Ford, als Signor Fontana verkleidet, den in Geldnöten steckenden Falstaff dafür gewinnt, für ihn, den camouflierten Ehemann, die eigene Gattin zu einem Stelldichein zu animieren – was Falstaff, schwer von Begriff und nichtsahnend, noch so gerne übernimmt. Als Ford bietet Simon Keenlyside, stimmlich in blendender Verfassung, schauspielerisch ganz auf seiner Höhe, ein wahres Kabinettsstück.

Darstellerisch etwas weniger ausgeprägt das Damenquartett, dafür singen Elena Stikhina (Mrs. Alice Ford), Cecilia Molinari (Mrs. Meg Page), Giulia Semenzato mit ihrem hellen, leichten Timbre als Nannetta sowie Tanja Ariane Baumgartner mit ihrer herrlichen Tiefe in der Partie der Vermittlerin Mrs. Quickly allesamt vorzüglich. Das fällt darum ins Gewicht, weil die Inszenierung auch in diesem Fall musikalisch fundiert ist – Marthaler hört gut zu, bevor er seinem Theatersinn Lauf lässt. Je mehr der Librettist Arrigo Boito das Tempo anzieht und je dichter die Partitur wird, desto mehr lichtet sich die Bühne, bis der junge Fenton (Bogdan Volkov, sehr anrührend) sein Ständchen vortragen kann. Erreicht die Verwirrung im Park von Windsor (auch an diesem Moment lässt Mozarts «Figaro» grüssen) ihren Höhepunkt, rollt ein Menschenknäuel heran, in das sich auch Falstaff verwickelt – eine szenische Metapher von eigener Drastik.

Schliesslich die achtstimmige Fuge, von der Verdi ausgegangen sein soll, als das von allen Seiten grossartig gemeisterte Finale des Abends. «Tutto nel mondo è burla, l’uom è nato burlone.» «Alles in der Welt ist Scherz, der Mensch wird als Spassmacher geboren.» Was zu beweisen war.

Spielarten des Bösen

Mozarts «Figaro» und Verdis «Macbeth»
an den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Die Zeit sei aus den Fugen, stellen die Salzburger Festspiele mit Shakespeares Hamlet fest. Das kann man wohl sagen. Ebenso liegt auf der Hand, dass eine Einrichtung wie die Salzburger Festspiele sich nicht in den Elfenbeinturm der künstlerischen Höchstleistung zurückziehen kann, dass sie vielmehr bewusst die Zeitläufte in den Blick zu nehmen hat. Ist das doch eingeschrieben im Erbgut einer Idee, die sich nicht zuletzt als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg konkretisiert und 1922 erstmals ihre Form gefunden hat. Dass mit Markus Hinterhäuser, der seit 2016 als Intendant die künstlerische Gesamtverantwortung trägt, etwas expliziter, etwas weniger immanent gelebt wird als ehedem, auch das liegt nahe. Schon in den frühen neunziger Jahren, als er in Salzburg noch eine Randfigur war, sprach Hinterhäuser davon, dass ihn der Krieg in Jugoslawien als Pianisten nicht gleichgültig lasse, die Grenze zu Slowenien sei nicht sehr weit von Salzburg entfernt.

So erstaunt nicht, dass das Opernprogramm der Salzburger Festspiele 2023 unseren so ungut bewegten Tagen den Spiegel vorhält. Grosse Werke der Vergangenheit erzählen dem Publikum von der Gegenwart. Zum Beispiel, in Mozarts «Nozze di Figaro», vom Grafen Almaviva, einem Grapscher, der über Geld und Privilegien verfügt und sich darum alles erlauben zu können glaubt – ganz unbekannt kommt einem das nicht vor. Oder, in Verdis «Macbeth», von einem Offizier, der eine Machtgier sondergleichen an den Tag legt, der über jede Leiche geht und alles zerstört, am Ende sich selbst – auch das löst nicht eben angenehme Assoziationen aus. Falstaff sodann, in Verdis gleichnamiger Oper, auch er ist ein Mannsbild, wie es im Buche steht; dass er am Ende über sich selber stolpert, schafft eine Art Gerechtigkeit. Einen ganz besonderen Gegenwartsbezug weist «Die griechische Passion» auf, die 1961 in Zürich uraufgeführte, selten gespielte Oper von Bohuslav Martinů, die ein Drama um die Ankunft türkischer Flüchtlinge in einem griechischen Dorf zum Gegenstand hat. Ein Programm in solcher Konsistenz muss zuerst einmal erfunden werden.

«Le nozze di Figaro»

Die Idylle trügt… «Le nozze di Figaro» / Bild Matthias Horn, Salzburger Festspiele

Und dann, vor allem, realisiert werden. «Le nozze di Figaro» von Wolfgang Amadeus Mozart hätte problemlos die leicht tänzelnde, von zartem Humor getragene opera buffa werden können, als die das Stück in weiten Kreisen geliebt wird. Damit hatte der Regisseur Martin Kušej bei seiner Inszenierung im Haus für Mozart rein gar nichts am Hut, er schälte vielmehr heraus, mit welch unbarmherziger Präzision das Stück von Beaumarchais, Da Ponte und Mozart den gesellschaftlichen Gegebenheiten auf den Grund geht und die sich andeutenden tektonischen Verschiebungen skizziert. Dass «Le nozze di Figaro» 1786 in der Wiener Hofoper zur Uraufführung kommen konnte, dass Joseph II. die beissende Kritik zuliess, wo die Komödie Beaumarchais’ in Wien auf der Bühne doch verboten war, nur als Buch in deutscher Übersetzung kursierte – es kann immer wieder erstaunen. Auf den Einfluss Da Pontes am Hof allein ist es nicht zurückzuführen, eher noch auf die Einkleidung der fürwahr scharfen Aussagen in feingliedrige Ironie. Indessen steht genau diese Ironie in unseren Tagen dem Stück im Weg, sie verschleiert seine Brisanz. Dem suchte Kušej entgegenzuwirken. Er tat es in der drastischen Art, die für ihn charakteristisch ist – durchaus erfolgreich, wenn auch nicht zu durchgängiger Begeisterung der Kritik.

Almaviva ist das, was heute ein toxischer Mann genannt wird. Dem Ius primae noctis, das kein Gesetz war, doch ein durch die Praxis sanktioniertes Vorrecht, hat er zwar abgeschworen, er tat es aber nur öffentlich. Wenn er von der versammelten Angestelltenschaft des Schlosses dafür gefeiert wird, wirft eine Gruppe junger, weissgekleideter Mädchen ihre von Blutspuren getränkte Unterwäsche gegen eine Glasscheibe (Kostüme: Alan Hranitelj). Mit Susanna, der mit zauberhaft schlanker Stimme und grossartiger Stilsicherheit agierenden Sabine Devieilhe, geht es jedenfalls klar zur Sache – nur braucht es dafür am Ende doch deren zwei. Zum einen scheint Susanna mit ihrem Bräutigam Figaro (Krzysztof Bączyk) nicht wirklich glücklich zu sein, zum anderen mag sie die Gräfin zum Vorbild nehmen (Adriana González versieht ihre Partie mit warmem Klang und starker Ausstrahlung) – die Rosina aus dem Umfeld eines Barbiers von Sevilla, die durch die Verheiratung mit einem gewissen Almaviva gesellschaftlich einen Schritt nach oben getan hat.

Vielleicht schwimmt sie auch nur im Fahrwasser der nicht nur, aber vor allem erotischen Entfesselung, die im Hause Almaviva herrscht. Dafür steht die fast nackte junge Frau, die den Herrn des Hauses sorgfältig einkleidet. Dafür steht aber auch der juvenile, triebgesteuerte Cherubino, den Lea Desandre körperlich agil und stimmlich unerhört berührend verkörpert. Dafür steht in erster Linie aber Almaviva selbst, dem die Pistole locker im Halfter sitzt – selbst dann, wenn er im Schlafzimmer seiner Gattin eine Tür aufbrechen will. Der allseits gepflegte Griff zur Waffe spricht fvom Heraufdämmern der Revolution mit ihren Gewaltausbrüchen und Blutorgien (der Dramaturg Christian Longchamp hat dazu einen informativen Text verfasst, er steht allerdings im Programmbuch von «Macbeth»). Cherubino springt denn auch nicht in einen Garten, sondern in einen Haufen grosser Müllsäcke. Am Ende, nach den vielschichtigen Verirrungen in dem süssen Dickicht des Bühnenbildners Raimund Orfeo Vogt, hat sich der tiers état erhoben, steht Figaro aufrecht auf einem kleinen Hügel, während der Graf – es ist André Schuen, der über ein samtenes Timbre, aber nicht die nötige Tiefe verfügt – auf den Knien vor seiner Gattin um Verzeihung bittet.

Keine Revolution, aber doch so etwas wie einen Aufstand gab es bei den Wiener Philharmonikern, die sich nicht mit dem Mann am Pult anfreunden mochten. Markus Hinterhäuser versucht hartnäckig, den ästhetischen Horizont des Spitzenorchesters aus der Welthauptstadt der Musik zu erweitern. Darum hat er für den «Figaro» Raphaël Pichon engagiert, einen pointierten Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis, der mit seinem Ensemble Pygmalion hervorragende Arbeit leistet. Ein mit Spezialisten besetztes Ensemble und die Wiener Philharmoniker sind wahrlich zwei verschiedene Paar Stiefel, zumal wenn der Dirigent stilistisch auf dem neusten Kenntnisstand zu Werk geht. Am Ende haben sich die beiden Parteien aber gefunden. Pichon konnte vielleicht nicht alles realisieren, was er sich vorgenommen hatte, jedenfalls klangen die Wiener Philharmoniker nicht so, als wäre bei ihnen 1789 ausgebrochen. Aber insgesamt durfte sich der musikalische Ansatz des Abends sehr wohl hören lassen. Die Tempi hielten sich jederzeit in natürlichem Rahmen und waren ausgezeichnet aufeinander abgestimmt. Der Klang blieb leicht, transparent, vor allem von federnder Energie und rhythmischer Präzision geprägt. Und das Zusammenwirken mit der Bühne liess in der dritten Vorstellung nichts zu wünschen übrig.

«Macbeth»

Trautes Ehegespräch… «Macbeth» / Bild Bernd Uhlig, Salzburger Festspiele

Wie sich ein Orchester doch wandeln kann. Unter dem energischen Zugriff des Dirigenten Philippe Jordan klangen die Wiener Philharmoniker bei Giuseppe Verdis «Macbeth» grundlegend anders: unglaublich kraftvoll, ja muskulös, ohne dass die klangliche Schönheit gelitten hätte und die Balance gestört worden wäre, auch ohne jeden Moment der Bedrängnis für die durchs Band ausgezeichneten Sängerinnen und Sänger. Zugleich gelang Jordan dort, wo es die Partitur forderte, der Blick nach innen, hin zu den Befindlichkeiten der einzelnen Figuren und zu den solistischen Einwürfen der Bläser – Verdis Instrumentation erschien an diesem Abend, der zweiten von sechs Vorstellungen von «Macbeth», in neuem, glanzvollem Licht. Hinreissend auch der Auftritt der ausserordentlich gross besetzten Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, die von Jörn Hinnerk Andresen vorbereitet worden war.

Alles war da ins Grosse gerichtet – wohl der einzig mögliche Ansatz auf der Riesenbühne im Grossen Festspielhaus. Als Ausstatterin liess Małgorzata Szczęśniak die gesamte Spielfläche benutzen – was insofern eigene Ansprüche stellte, als das Stück nur wenige personalintensive Aufzüge kennt. Sie löste das Problem durch die Vervielfältigung der Zahl der Mitwirkenden und die simultane Präsenz von Nebenschauplätzen. Die immer wieder auftauchenden Hexen sind ein Chor blinder Frauen im Saal eines Behindertenheims, die Geister zahlreiche Kinder mit überlebensgrossen Köpfen, während die Bediensteten in ihrer schwarzen Kluft mit den weissen Handschuhen ohne Zahl sind. Dazu gibt es Videoprojektionen in unterschiedlichen Formaten. Von allem so viel, dass das konzentrierte Zuhören fast unmöglich wird.

Nur, was soll der arme Regisseur machen in einem Stück, das zwar den grossen Gefühlsausbruch kennt, sich aber in kleinen Schritten auf das unabwendbare schreckliche Ende hin zubewegt? Krzysztof Warlikowski stellt sich dem oratorischen Zug von «Macbeth» und positioniert den Chor gerne in schwarzen Gewändern an den Rändern der Bühne. Und er arbeitet gezielt mit Nähe und Ferne, mit Weitblick und Fokus. Zu Beginn rollt eine enorm in die Breite gezogene Sitzbank in den Vordergrund, auf der sich die beiden Feldherren Macbeth und Banco über ihre Erfolge freuen – beide, Vladislav Sulimsky wie Tareq Nazmi, in glänzender Verfassung. Dazu darf man über Video einer in einem seitlichen Tunnel vollzogenen gynäkologischen Untersuchung beiwohnen, an deren Ende Lady Macbeth erfährt, dass sie kinderlos bleiben wird. Das ist der Startschuss für den unglaublichen Antrieb zum Bösen, den die offenkundig zutiefst verletzte Frau auslebt, und der Auftakt zu einer sängerischen Grossleistung von seltenem Format. Asmik Grigorian reiht hier einen weiteren Salzburger Stern an Marie, Salome, Chrysothemis und Suor Angelica. Für das Trinklied im Zentrum des Werks mag ihr das letzte Quentchen an Kraft fehlen, aber vielleicht ist die Zurückhaltung auch gewollt, herrscht hier doch nur gespielte Ausgelassenheit. Schliesslich beginnt schon da der Niedergang; bald sitzt Macbeth, Vladislav Sulimsky fasst das stimmlich bewundernswert, vom Schlaganfall niedergestreckt im Rollstuhl, während sich seine irr gewordene Gattin durch ihre Wahnvorstellungen schleppt. Beide Opern, «Figaro» wie «Macbeth», enden in Jubel. Uns Heutigen bleibt bestenfalls ein Glühwürmchen an Hoffnung.

Machtkämpfe, Menschsein und der Tod

Puccinis «Turandot» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Hier ende die vom Maestro unvollendet gelassene Oper, weil der Maestro an dieser Stelle gestorben sei. So die Worte, die Arturo Toscanini dem perplexen Publikum der Mailänder Scala am Ende der Uraufführung von Giacomo Puccinis «Turandot» zugerufen haben soll. Nach dem Opfertod der standhaften Dienerin Liù hatte der Dirigent den Taktstock niedergelegt. Er tat dies aber nur in der Premiere; in den folgenden Aufführungen wurde die Vollendung durch Franco Alfano verwendet, allerdings in einer von Toscanini redigierten Fassung. So kam «Turandot» zum Druck und auf die Bühnen der Welt – bis 2002, auf Initiative Riccardo Chaillys, ein neuer Schluss von Luciano Berio dazu kam. Aus den inzwischen vier Möglichkeiten der Aufführung von Puccinis Schwanengesang hat das Opernhaus Zürich die erste gewählt, die Präsentation als Fragment. Ist die tote Dienerin von der Bühne getragen, tritt Schweigen ein und erscheint eine Schrifttafel mit den Worten Toscaninis von 1926.

Nur das zu spielen, was von der Hand des Komponisten stammt, erweist sich an diesem Abend als der einzig richtige Weg – wie er ja auch bei den neunten Sinfonien von Anton Bruckner und Gustav Mahler beschritten wird. Mit dem Finale im Libretto von Giuseppe Adami und Renato Simoni hatte schon Puccini seine liebe Mühe. Die Aufführungen mit einer der drei nachgereichten Schlussfassungen, auch der wesentlich subtileren von Berio, geben dem Komponisten Recht. Nach dem ausgedehnten, musikalisch aufgedrehten Ringen um die Macht – Turandot schlägt den Männern, die sie begehren, in einem grausamen Ritual die Köpfe ab, die zum Rätselspiel antretenden Prinzen suchen die Macht Turandots zu brechen –, nach dieser heftigen Geschichte setzt die Dienerin Liù mit ihrer Unbedingtheit, ihrer Zugewandtheit und Loyalität das entscheidende Zeichen. Ist es nicht so, dass es die Oper recht eigentlich legitimiert?

Auf der Ebene der musikalischen Gestaltung wird es in der neuen Zürcher «Turandot» in dieser Weise spürbar. Der Dirigent Marc Albrecht hat die instrumentalen Kräfte restlos im Griff. Er stellt den Farbenreichtum und die Exotismen der Partitur deutlich heraus und lässt der Philharmonia Zürich den Raum, die von Puccini intendierte Kraft zu zeigen, ohne dass freilich je einmal das Ohr strapaziert würde – das ist grosse Kunst. Und das Ensemble agiert auf denkbar hohem Niveau. Sondra Radvanovsky gibt die Prinzessin Turandot als eine durch ihr Trauma – sie lebt in der Erinnerung an eine missbrauchte Urahnin – regelrecht gefangengesetzte, durch Verfolgungswahn verzerrte Frau, und sie kann das dank einer grossartigen Expansionskraft und einem ebenso tragfähigen wie warmen Timbre. Ihr Vater, der gegen die hundert gehende Kaiser Altoum, ist mit Martin Zysset nach der Art des personal casting ideal besetzt. Das langjährige, verdiente Mitglied des Zürcher Opernensembles, lebendig agierend, hat die Stimme im Griff, aber das Material klingt dem Lebensalter angemessen. Der Prinzessin gegenüber steht Calaf, der von Piotr Beczała packend verkörpert wird; bewundernswert, was er an tenoraler Kraft einbringt, und «Nessun dorma» gelingt ihm herrlich. Ein besonderer Kranz gebührt jedoch der Italienerin Rosa Feola, die mit ihrer emphatischen Ausstrahlung die Dienerin Liù zur heimlichen Hauptfigur macht.

Auf einem etwas anderen Planeten bewegt sich das Team um Sebastian Baumgarten. Was der Regisseur, dem bei der Ausgestaltung der handelnden Figuren nicht das letzte Glück beschieden war, auf die Bühne bringt, ist von hohem optischem Reiz und öffnet vielfältige Assoziationsräume, erinnert im Ansatz aber ebensosehr an das Ausstattungstheater italienischer Provenienz – nur dass nicht mehr der Scala-Prunk von Franco Zeffirelli herrscht, sondern das moderne Angebot an visueller Technik. Die Bühne von Thilo Reuther gibt sich raumfüllend, und sie lebt von enorm vergrösserten Objekten, zum Beispiel von solchen, die dem Durchtrennen von Hälsen dienen können. Üppig auch die zum Teil grotesk überzeichnenden Kostüme von Christina Schmitt – der anregenden, auch erheiternden Schaulust sind hier keine Grenzen gesetzt, auch wenn auf den Videos im Hintergrund Bilder aus dem Ersten Weltkrieg gezeigt und damit nicht unwesentliche Bezüge zur Komposition und zur Instrumentation geschaffen werden. Warum die eisumgürtete Prinzessin Turandot ein gelb leuchtendes Kostüm trägt – vielleicht weil ihr erstes Erscheinen in einer Bienenwabe erfolgt? –, der emotional erhitzte Calaf dagegen einen mit Eiswürfeln gespickten Brustpanzer, darüber darf nach dem Schlussbeifall gerätselt werden. Keine Rätsel stellt der von Jan Kastelic vorbereitete, kräftig erweiterte Chor des Opernhauses Zürich. Er hat einen fabulösen Abend.

Urkraft der Triebe

George Benjamin mit «Lessons in Love and
Violence» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Liebhaber und Geliebter: Ivan Ludlow (König) und Björn Bürger (Gaveston) / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Wenige Tage nach der Zürcher Premiere von «Lessons in Love and Violence», seiner dritten Oper, konnte George Benjamin den Ernst von Siemens-Musikpreis entgegennehmen. Die Ehrung folgt einer eigenen, plausiblen Logik. Der Engländer mit Jahrgang 1960 ist genuin mit der musikalischen Tradition des 20. Jahrhunderts verbunden, er verfügt über reiche Einfallskraft und ein tadelloses Handwerk. Allein schon das bietet in den neunzig Minuten der Aufführung von «Lessons in Love and Violence» im Opernhaus Zürich zu Hörerlebnissen der Sonderklasse – zumal der Dirigent Ilan Volkov das Orchester des Hauses mit sicherer Hand durch die vielschichtige Partitur führt. Eingängig ist Benjamins Tonsprache gewiss nicht, fasslich aber sehr wohl. Sie wartet mit raffinierten Farbeffekten und klaren Zeichen auf, so etwa dann, wenn von Gewalt die Rede ist, mit einem herben Strich über die Saiten des Cibaloms. Das schafft Orientierung wie Atmosphäre, denn tatsächlich geht es in «Lessons in Love and Violence» um die Urgewalt der Triebe.

In sieben Szenen hat Martin Crimp sein Libretto geteilt; sie werden durch Zwischenspiele voneinander getrennt, was als Verfahren nicht neu, wenngleich noch immer dienlich ist. Erzählt wird, nach einem Stück von Christopher Marlowe aus dem Jahre 1594, die Geschichte von Edward II., der sich neben seiner Frau einen Geliebten hielt, ob dem sexuell aufgeladenen Alltag die Staatsgeschäfte vernachlässigte und die Mittel verschwendete, während sein Volk das Leid der Geknechteten zu tragen hatte. Allerdings gibt es mit dem Minister Mortimer einen senkrechten Staatsdiener, der zusammen mit der Königsgattin Isabel für das brutale Ende des Königs sorgt, der jedoch, kaum ist Edward III. als Nachfolger installiert, nicht weniger gnadenlos beseitigt wird. Die von Marlowe geschilderten Vorgänge sollen sich im frühen 14. Jahrhundert ereignet haben, ganz unbekannt kommen einem jedoch weder die Ursachen noch die Methoden vor – Falk Bauers Kostüme lassen auch keinen Zweifel daran.

Sex and crime, das verkauft sich bekanntlich, vor allem, wenn gute Musik dabei ist. Ganz so einfach ist es freilich nicht. Crimp und Benjamin bleiben nicht an der unterhaltenden Oberfläche, sie bohren tiefer und stellen die durchaus ambivalenten Prämissen heraus, unter denen die Figuren handeln. Mortimer zum Beispiel, der Tenor Mark Milhofer macht das hervorragend deutlich, ist nicht nur ein Beamter von unerschütterlicher Loyalität, er lebt auch eine scharfe Intoleranz und gehorcht ebenso dem Machttrieb wie seine Gegenspieler – dafür werden ihm am Ende die Augen ausgestossen. Drastisch zeigt das der Regisseur Evgeny Titov – wie überhaupt an diesem in durchgehender Spannung vorbeiziehenden Abend weder mit Handgreiflichkeit noch mit Theaterblut gespart wird. Als König kennt Ivan Ludlow kein Halten, wenn er den Körper seines Gaveston (Björn Bürger) in der Nähe hat. Besonders eindrucksvoll jedoch die düpierte Königin Isabel. Was als Nebenrolle gestaltet ist, kommt hier zu starker Wirkung – dank Jeanine De Bique, die von Salzburg aus bekannt geworden ist und jetzt in Zürich ihr unerhört wandelbares Timbre einsetzt. Am Ende, wenn die Oper ihren Höhepunkt erreicht, gerät sogar das Bühnenbild von Rufus Didwiszus in Bewegung: beginnen die skulpturalen Darstellungen aus mythischer Zeit, welche die Bühne im Hintergrund abschliessen, zu zittern und zu wanken. So wie der Boden, auf den Alleinherrscher geraten können.

Gefühl, in Kunst verwandelt

«Roméo et Juliette» von Gounod in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Der Ball / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Der erste Blick auf die Bühne schockiert. Statt der erwarteten Szenerie für den prunkvollen Ball, mit dem «Roméo et Juliette» anhebt, öffnet sich im Opernhaus Zürich ein rechteckiger, weit in den Hintergrund gezogener Raum, lindgrün gehalten, leer, wären da nicht jene zwei einander gegenüberstehenden, parallel nach hinten verlaufenden Reihen von Tessinerstühlen. In die Seitenwände eingelassen hat der Bühnenbildner Andrew Lieberman raumhohe Türen; aus denen treten nach und nach, einzeln, sehr zeremoniell, die Gäste ein: Damen in gehobener Kleidung heutigen Schnitts, von Annemarie Woods entworfen, Herren in betont elegantem Dinner Jacket oder in Galauniform. Zu ihren Plätzen geführt werden sie von einem eifrigen Tanzmeister – nein, so stellt sich bald heraus, es ist der Hausherr selbst, das Oberhaupt der Familie Capulet (David Soar). Bald kommt es zu dem erst strengen, dann kultiviert ausartenden Eröffnungswalzer, den Pim Veulings choreographiert hat. Und erklingt «Je veux vivre», die Arie der Juliette, mit der sich Julie Fuchs als eine zweite Violetta Valéry in die Herzen des Publikums singt.

Wie unterm Brennglas lässt sich an diesem Anfang verfolgen, was die neue Zürcher Produktion von Charles Gounods Oper intendiert und was sie erfolgreich verwirklicht. An Schmelz fehlt es in keiner Hinsicht, wohl aber an Schmalz. Was dem stolzen Werk im Wege steht, ist die Rührseligkeit, die ihm durch zahllose Interpreten beigefügt worden ist; nichts davon ist an diesem formidablen Abend zu erleiden. Was hier rührt, und es ist nicht wenig, geht auf die Erfindung der Librettisten Jules Barbier und Michel Carré, auf die Musik Gounods und die unprätentiös sachgerechte Umsetzung in die szenisch-musikalische Wirklichkeit zurück. Der Regisseur Ted Huffman erzählt die Geschichte von der blitzschnell aufflammenden und unerbittlich in die Katastrophe führenden Liebe zwischen zwei jungen Menschen aus zwei verfeindeten Familien in einem neutralen Ambiente der Jetztzeit. Plüsch und Samt fehlen ebenso wie der Duck auf die Tränendrüse; an deren Stelle treten die Genauigkeit und die Empathie in der Ausgestaltung der handelnden Figuren – sie könnten Menschen von nebenan sein, gewinnende Erscheinungen, denen das Mitgefühl ihrer Umgebung sicher ist.

Genau gleich hält es der Dirigent Roberto Forés Veses. Hell und klar leuchtet in dem von ihm erzeugten Licht die Partitur Gounods, warm und pulsierend klingt sie, und zugleich gibt sie ihr ganzes Raffinement zu erkennen – im tief abgesenkten Graben des Opernhauses erbringt die Philharmonia Zürich eine erstklassige Leistung. Gounod war nicht nur ein genuiner Franzose, er war nicht nur zutiefst in den musikalischen Traditionen seines Landes verankert, wie es die Ouvertüre vorführt. Er hatte auch Sinn für das, was sich ihm durch die intensive Begegnung mit der deutschen Musik erschlossen hat. Für den Kontrapunkt beispielsweise, aber auch für Nebenstimmen in unterschiedlichen Farben. Ausdrucksvoll, im Geist des musikalischen Sprechens lässt Gounod die Holzbläser, das Horn oder ein konzertierendes Cello intervenieren – so fasslich, wie es in dieser Produktion geschieht, ist das selten zu hören.  Möglich wird es, weil der Dirigent zwar schon auf die Rundung und die Geschlossenheit des Klangs hinarbeitet, im selben Mass jedoch Freiräume offenlässt, in denen die instrumentalen Kommentare zur Geltung kommen. Unter dem Strich ergibt das eine Vitalität eigener Art.

Roméo (Benjamin Bernheim) / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich
Juliette (Julie Fuchs) / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Mag sein, dass das auf der Bühne Folgen zeitigt, jedenfalls findet die tragische Geschichte eine Authentizität, wie sie nicht alle Tage vorkommt. Benjamin Bernheim und Julie Fuchs sind das Traumpaar der Stunde – ähnlich wie es vor vielen Jahrzehnten Eva Lind und Francisco Araiza und später, in anderem Zusammenhang, Agnes Baltsa und José Carreras waren. Sie gehen förmlich auf im coup de foudre; sie spielen ihn nicht, sie leben ihn. Und sie singen auf Augenhöhe: beide gleichermassen sicher in der Performanz und stark in der Ausstrahlung, beide ausserdem mit ähnlich gelagerten Timbres, mit einem sagenhaften Reichtum an Obertönen und kaum je angestrengt wirkender Kraft. Und dann das Legato, das er einbringt, die Koloraturen, mit denen sie brilliert. Ganz ausgezeichnet auch das Ensemble, das die beiden Protagonisten trägt – etwa der ernsthafte Frère Laurent, der in einer schlichten Wortzeremonie die heimliche Trauung vollzieht und dann in ergreifender Solidarität das so fatal falsch wirkende Fläschchen bereithält. Einen besonderen Auftritt hat die junge Mezzosopranistin Svetlina Stoyanova in der Hosenrolle des Stéphano, des Pagen des Titelhelden. In quirliger Natürlichkeit präsentiert sie ihre Arie – der Szenenapplaus ist ihr sicher.

Das alles ereignet sich in einer Inszenierung, die augenfällig macht, wie sich die Schlinge zuzieht. Diskret tut sie das, etwa mit einer Kampfszene, die, so schreckliche Folgen sie zeitigt, doch in jedem Augenblick attraktive Kunst bleibt. Intelligent auch die szenische Sprache, die sie spricht. Eine besondere Rolle spielen die Tessinerstühle. Versinnbildlichen sie anfangs in ihrem strengen Gegenüber die scharfe Konfrontation zwischen den Capulets und den Montagues, stehen sie während der Trauung, im Moment der nächsten Nähe zwischen den beiden Familien, in einer Reihe nebeneinander. Und erst gegen den Schluss hin fällt auf, dass die Rückwand des anfänglich so weiten Raums mehr und mehr nach vorne gerückt ist, sich der Blickwinkel zusehends verengt hat, bis für den Tod der beiden Liebenden nur mehr ein schmaler Streifen der Bühne übrigbleibt. Der einfache szenische Handgriff stellt die konzise Dramaturgie von «Roméo et Juliette» in hellstes Licht. Auch darum kann man nach diesem Abend seine Ansichten zu Gounods lange Zeit missachteter Oper neu sortieren.

Wahrheiten der Musik

Mozarts «Così fan tutte»
mit dem Kammerorchester Basel

 

Von Peter Hagmann

 

«Ausverkauft» – so heisst es auch an diesem Abend des Kammerorchesters Basel. Kein Wunder, im wunderschön renovierten Musiksaal des Basler Stadtcasinos wird «Così fan tutte» gegeben, das Dramma giocoso Lorenzo Da Pontes, mit dem Wolfgang Amadeus Mozart im Jahre 1 nach der Französischen Revolution für Wellenschlag gesorgt hat. Was es bis heute tut. Selbst in unseren Tagen gibt es Opernfreunde, die dem von Don Alfonso arrangierten Partnertausch mit Vorbehalten begegnen – trotz der Genialität von Mozarts Musik. Und kommt das Stück auf die Bühne, tritt nicht selten heraus, wie hilflos die Regisseure mit der krassen Absurdität von «Così fan tutte» umgehen. Kann es tatsächlich sein, dass die beiden Frauen ihre Geliebten, die ihnen in notdürftiger Kostümierung übers Kreuz die Aufwartung machen, nicht erkennen und auf das Spiel hineinfallen? Und ist effektiv denkbar, dass, wenn der ganze Schwindel aufgeflogen ist, die Frauen düpiert dastehen und die Männer ihre Wunden lecken, doch wieder Friede Freude Eierkuchen eintritt?

An Fragen fehlt es nicht. Unter der Leitung seines Ersten Gastdirigenten Giovanni Antonini – einen Chefdirigenten kennt das sich selbst verwaltende Ensemble nicht – hat das Kammerorchester Basel eine starke, wenn nicht gar die einzige plausible Antwort gegeben. Es hat auf die Musik Mozarts gehört und ihre Expressivität in aller Eindringlichkeit herausgestellt. Schon in der, was das Tempo betrifft, mässig genommenen Ouvertüre liess das historisch informiert, aber nicht durchwegs auf alten Instrumenten spielende Orchester hören, welches Qualitätsniveau es pflegt. Klangschönheit und Expressivität in den Bläsern, Agilität und Vitalität in den Streichern liessen keinen Wunsch offen – ohne Zweifel hat die dem Basler Abend vorangegangene Tournee nach Luxemburg, Paris und Hamburg die Formation zusammengeschweisst und die Interpretation geschärft. Wenn die Emotionen hochgingen, nahmen die Musikerinnen und Musiker, angefeuert durch ihren bisweilen arg schnaubenden Dirigenten, kein Blatt vor den Mund. Während sie in den Momenten des Innehaltens, der Unsicherheit, des Fragens offen waren für jedes Mitfühlen, für jede Zärtlichkeit. Das alles in dem von ebenso eleganten wie präsenten Tiefen getragenen Gesamtklang wie in den teils stupenden solistischen Einlagen.

Glänzenden Reflex fand dieses musikalische Bild im Auftritt von Julia Lezhneva als Fiordiligi. In den letzten Jahren grossartig aufgeblüht, bewältigt die junge Sopranistin die enormen Anforderungen dieser Partie absolut hinreissend. Der besonders weite Stimmumfang, den ihr Mozart abverlangt, bereitet ihr keinerlei Schwierigkeit; ohne Mühe springt sie aus höchster Höhe zwei Oktaven in die Tiefe, und dass dafür ganz unterschiedliche stimmliche Ansätze vonnöten sind, tritt nicht in Erscheinung, so perfekt sind die Register aufeinander abgestimmt und miteinander verschmolzen. Dazu kommen Stilbewusstsein, Phantasie und Mut im Umgang mit Verzierungen, die staunen machen; mit den reichhaltigen, niemals aufgesetzt wirkenden, vielmehr jederzeit emotional unterfütterten Verzierungen, welche die Sängerin einzusetzen wusste, geriet «Per Pietà», ihre grosse Arie im zweiten Akt, zum Höhepunkt des Abends. Allerdings blieb dieses vokale Niveau die Ausnahme. Als Dorabella hielt Susan Zarrabi, eingesprungen für die erkrankte Emőke Baráth, zuverlässig stand, bildete jedoch nicht das hier geforderte Gleichgewicht. Dafür sorgte eher Sandrine Piau, eine hocherfahrene Expertin für die Partie der vorlauten Dienerin Despina. Die Herren dagegen, sie blieben deutlich zurück, weil sie durchs Band zu viel Druck gaben und immer wieder die Balance zwischen vokalem und instrumentalem Ausdruck bedrohten. Als Ferrando zeigte Alasdair Kent schöne Höhe, die er auch im Pianissimo zu nutzen verstand, geriet aber gern in eine unbefriedigende Schärfe, während Tommaso Barrea als Guglielmo mehr Stimmkraft als Gestaltungsvermögen erkennen liess. Konstantin Wolff schliesslich, auch hier mit leicht belegtem Timbre, zeichnete Don Alfonso weniger als gelassenen Aufgeklärten denn als herb fordernden Intriganten.

Mag sein, dass Mängel dieser Art auch auf die szenische Einrichtung des Abends zurückgingen. Salomé Im Hof versah das Geschehen auf dem Konzertpodium dergestalt mit Aktion und Kostüm, dass Mozarts Oper zu veritabler halbszenischer Aufführung kam. Dabei setzte sie ganz auf die komische Seite, womit sie manchen Lacher im Publikum generierte, die Ambivalenz des Stücks aber völlig ausser Acht liess. Das war zu viel des Guten, zudem echt hausbacken, jedenfalls nicht auf dem Niveau des Kammerorchesters Basel.

Kinderschmerzen, erfolgreich gelindert

«L’Enfant es les sortilèges» von Ravel und Tschaikowskys «Iolanta» in Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Claude Eichenberger als noch intakte Teetasse, Michał Prószyński (Teekanne) und Amelie Baier in voller Zerstörungswut / Bild Florian Spring, Bühnen Bern

Natürlich weiss das Kind, dass es seine Hausaufgaben zu erledigen hätte, die Mutter hat es ausdrücklich daran erinnert. Nur hat das Kind darauf absolut keine Lust; Lust hat es vielmehr darauf, böse zu sein, der Mutter die Stirn zu bieten und das wohlgeordnete Heim zu attackieren. Das geht anfangs gut, doch mit einem Mal verändert sich die Umgebung. Sie belebt sich. Die ihres Deckels beraubte Teekanne beginnt zu sprechen (natürlich auf Englisch, der Tea ist ja über das Commonwealth auf uns gekommen), der immer wieder zu Boden geworfene Wecker, der aufgeschlitzte und nach Massen ausgeweidete Teddybär, das zahme, aber nichtsdestotrotz malträtierte Eichhörnchen, sie alle beklagen sich über die ihnen zugemutete Behandlung. Ein Katzenpaar führt dann allerdings vor, wie das geht: lieb sein. Das Kind, nicht wenig erschrocken über sein bisheriges Verhalten, hat ein Einsehen. Ob es die Hausaufgaben erledigt, bleibt offen, aber immerhin zeigt es tatkräftiges Mitleid.

«L’Enfant et les sortilèges», die von Colette erfundene Geschichte, ist und bleibt entzückend, das finden auch die nicht wenigen Kinder, die an diesem Sonntagnachmittag an Vaters und/oder Mutters Hand ins Stadttheater Bern gefunden haben und dort gebannt dem Geschehen folgen. Es wird von den Bühnen Bern in einer sympathisch kindergerechten, zugleich nirgends anbiedernden Weise vorgestellt. Patrick Bannwart (Bühne) und Moana Stemberger (Kostüme) haben das Kinderzimmer, das sich später in einen nächtlichen Garten weitet, so stimmungsvoll eingerichtet, wie es das Libretto andeutet: die Welt der Erwachsenen übergross, die für das Kind erschreckenden Erscheinungen witzig und effektvoll. Und David Bösch führt als Regisseur das grosse, durchwegs ausgezeichnet besetzte Ensemble hin zu lebendiger, aber diskreter Bewegung.

Getragen wird die Aufführung auch von der Musik Maurice Ravels, der in diesem Einakter nicht nur seine Einfallskraft, nicht nur seine Handschrift, sondern vor allem einen prägenden Zug seiner Persönlichkeit herzeigt. Das Kleine, das Verspielte, das Naturhafte, das Kindliche, ja die Kinder überhaupt und mit ihnen die Tiere und die Blumen – all das lag dem Komponisten besonders nahe, und in «L’Enfant et les sortilèges» hat er es in hellen, sehr charakteristischen Klang gefasst. Barockes gesellt sich zum Jazz, die Assonanz an den Opernton zur Revue; manch schräger Ton, manch überraschender Auftritt eines Instruments sorgt für Erheiterung – Postmoderne avant la lettre findet hier statt, freilich fern jeder Nostalgie, vielmehr stets ironisch distanziert. Dass man das so klar wahrnimmt, geht zuvörderst auf das Berner Symphonieorchester unter der Leitung von Nicholas Carter zurück. Trocken geht der Berner Co-Operndirektor die Partitur an, er erzählt sie etwas knorrig, nahe beim Fagott des Grossvaters in Prokofjews «Peter und der Wolf». Amelie Baier als das schreckliche, doch rasch gesundende Kind macht hierbei genau die richtige Figur.

Verity Wingate (Iolanta) in ihrem gläsernen Verliess / Bild Florian Spring, Bühnen Bern

Allein, damit hat es sich nicht, es geht ja noch weiter – und wie. Ganz und gar andersartig, obgleich auf ähnlicher Schiene. Auch die Titelfigur in «Iolanta», dem Einakter von Peter Tschaikowsky, ist ein Kind, ein etwas älteres Kind, eine Königstochter an der Schwelle zur Adoleszenz. Sie sieht nichts, und das ist darum halb so schlimm, weil sie nicht weiss, dass Menschen sehen. Sie darf es nicht wissen, ihr Vater René will es so, und wer gegen diesen Willen verstösst, ist des Todes. Das hat Gewicht, denn der Herrscher über die Provence ist in Bern eine überaus machtvolle Erscheinung. Der König sitzt zwar im Rollstuhl, weil seine Kräfte, wie er von sich selber sagt, zu schwinden beginnen. Aber das bezieht sich keineswegs auf die Stimme, daran lässt Matheus França nicht den geringsten Zweifel. Selten ist derart prachtvoll gerundetes Volumen zu hören wie bei dem 36-jährigen Bass aus Brasiliens. Und kaum je kommt es zu so genuinen Theatermomenten wie hier.

Auch in diesem zweiten Teil der jüngsten Berner Opernproduktion gibt es einen Garten mit duftenden Blumen und ein Zimmer – einen gläsernen Kubus, in dem König René seine Tochter Iolanta in ihrem Unwissen gefangen hält. Doch die Geschichte wendet sich gegen die Autokratie. Der Herrscher hat den maurischen Arzt Ibn-Hakia engagiert; dieser Vertreter des im Mittelalter auch in Spanien ansässigen, kulturell wie wissenschaftlich hochentwickelten Islam, Thomas Lehman gibt ihn mit geschmeidigem, sonorem Bariton, soll die Tochter von ihrer Blindheit erlösen. Zum Teil ist das freilich bereits geschehen. Denn mit Robert, dem Herzog von Burgund (Jonathan McGovern), und seinem beigeordneten Ritter Vaudémont sind angeblich zufällig zwei unerwünschte Gäste in den verbotenen Garten eingedrungen. Iolanta und Vaudémont, das ist ein coup de foudre, wie er im Buch steht. Er eröffnet ihr ihre Blindheit und im gleichen Atemzug seine unbedingte Liebe, sie erwacht und ist voll des Feuers, Blindheit hin oder her – wie das Verity Wingate mit ihrem leuchtkräftigen Sopran und James Ley mit seinem geschmeidigen Tenor darbieten, ist schlechterdings hinreissend.

Kein Wunder, gelingt die Heilung, lässt der König im Rollstuhl auf dringendes Anraten des weitsichtigen Arztes seine Tochter frei und kann das überglückliche Ende eintreten, zu dem auch der von Zsolt Czetner vorbereitete Chor der Bühnen Bern mit seinem klangmächtigen Gotteslob seinen nicht unbeträchtlichen Teil beiträgt. Überhaupt lebt diese «Iolanta» von einer sehr ausgeprägten Musikalität. Engagiert unterstützt durch das Berner Symphonieorchester schlägt Nicholas Carter am Pult einen ganz anderen Ton an als bei Ravel. Warme Homogenität und vibrierende Lebendigkeit stellen sich da ein. Sorgfältig und in souveräner Übersicht steuert der Dirigent die Spannungskurven, aus überzeugender Vorstellung heraus mischt er die Klangfarben, natürlich atmend entfalten und verbinden sich die Tempi – und das alles ohne jeden Druck. Da kann einem die Musik Tschaikowskys fürwahr ans Herz gehen.

Ein Musiktheatermärchentraum

«Siegfried» zur Fortsetzung im Zürcher «Ring»

 

Von Peter Hagmann

 

Das Waldvögelein (Rebeca Olvera) und Siegfried (Klaus Florian Vogt) im Walde / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Mit keinem Werk der Operngeschichte, auch nicht mit Mozarts «Don Giovanni», ist eine derart komplexe, derart heftig diskutierte Wirkungsgeschichte verbunden wie mit dem «Ring des Nibelungen». Bis heute und in anhaltender Intensität fordert und irritiert Richard Wagners Tetralogie die Musiker, die Theatermacher, das Publikum. Die Leerräumung der Bühne und die Einführung der geneigten Scheibe als Spielort, von Wieland Wagner in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt, der pointierte Einbezug gesellschaftspolitischer Allusionen durch Patrice Chéreau und die klangliche Auflichtung des Orchesterparts durch Pierre Boulez im Bayreuther «Jahrhundertring» von 1976, die Blüten des Regietheaters, die in den letzten Jahrzehnten einigen erhellenden und zahlreichen entstellenden Deutungsversuchen  Raum geschaffen haben – das alles gehört ebenso zum «Ring» wie die Aufregungen, die aufschäumen, wenn Wotan den Aktenkoffer des Kapitalisten mit sich führt oder Alberich keinen richtigen Tarnhelm herzeigt. Im Opernhaus Zürich freilich herrscht einhellige Begeisterung: im neuen «Ring», genauer: bei «Siegfried», wo ein drolliger Bär über die Bretter eilt (Kompliment an Dominique Misteli), wo ein sehr zeitgemässer Drache, pardon: ein Dragon seine Nüstern bläht und dann sein Leben aushaucht (Gratulation an den «Tierpfleger» Marius Kob), wo in der Esse die Flammen machtvoll aufschiessen und danach das Schwert bedrohlich glüht (der nie um eine Lösung verlegenen technischen Abteilung unter der Leitung von Sebastian Bogatu gebührt endlich auch einmal ein Kranz).

Wenn somit alles vorhanden ist, was gemäss Textbuch vorhanden sein muss, und umgekehrt nichts von jenen Modifikationen zu erleiden ist, die eifrige Regisseure vorzunehmen lieben – wo stehen wir dann? Erliegen wir dann nicht dem Irrtum, man könne auch bei einem Grossentwurf wie dem «Ring des Nibelungen» sozusagen zum Punkt Null zurückkehren und das Nachleben, das zum Werk gehört wie seine Niederschrift, mir nichts, dir nichts ausblenden? Und mehr noch: Liegt diesem Irrtum nicht eine retrospektive Haltung zugrunde, ja gar eine Negierung der Notwendigkeit, ein Kunstwerk immer und immer wieder neu im Licht der jeweiligen Gegenwart zu lesen – die Werke also notfalls, wie es im Sprechtheater zum Leidwesen vieler Besucher geschieht, zu dekonstruieren und sie der Jetztzeit gemäss neu zusammenzusetzen? Je weiter der neue Zürcher «Ring» voranschreitet, desto deutlicher wird, dass von all dem nicht die Rede sein kann. Auch in «Siegfried» verzichtet der Zürcher Hausherr Andreas Homoki als Regisseur nämlich darauf, seine eigenen Ansichten zur Tetralogie in Szene zu setzen; er schaut vielmehr einfach mit aller Genauigkeit hin und zeigt, was er in Wagners Text liest und in seiner Musik hört. Lesen und hören tut er freilich mit hellwachem Geist. Und sichtbar werden lässt er die Ergebnisse dieses Wahrnehmungsprozesses mit genuinem Theatersinn, ausserdem mit verspielter Phantasie und erheiternder Ironie. Wie ein Märchen zieht «Siegfried» an einem vorüber; die vier Stunden reiner Aufführungsdauer gehen im Nu vorbei – vielleicht mit Ausnahme des dritten Aufzugs, gegen dessen Ausführlichkeit nun einmal kein Kraut gewachsen ist.

Ganz langsam hebt sich der Vorhang, wenn das düstere Vorspiel zum ersten Aufzug anhebt. Eindrücklich die Farbenspiele, die mit denen die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Gianandrea Noseda aufwartet; was der Solist an der Kontrabasstuba da an Pianissimo-Klängen herzaubert, ist von aussergewöhnlichem Format. Die von Christian Schmidt entworfene Ausstattung führt weiter, was in «Rheingold» und «Walküre» angelegt wurde. Die gründerzeitlichen Räume auf der Drehbühne wirken etwas enger als in den vorangehenden Teilen – oder erscheinen sie nur so, weil die Farben dunkel gehalten sind und das Mobiliar, inzwischen in herbe Unordnung geraten, gewachsen scheint? Tatsächlich befinden wir uns in einer Art Kinderstube. Siegfried, stürmisch zwar, trägt noch die Eierschalen hinter den Ohren, Klaus Florian Vogt zeigt das sehr schön. Er nimmt den Anfang ausgesprochen lyrisch, wird dabei vom Orchester jedoch mehr als einmal bedrängt. Überhaupt lässt Noseda gerne die Muskeln spielen, was bisweilen von umwerfender Wirkung ist, aber auch Fragen aufwirft; warum zum Beispiel die tiefen Bläser immer wieder so hässlich schnarrend dominieren, ist nicht zu verstehen. Siegfried jedenfalls ist da und dort kaum zu hören – nicht weil Vogt seinen wandelbaren Tenor mit Blick auf die Anforderungen der Partie schont, sondern weil er die unbekümmerte Naivität, auch die Verletzlichkeit des jungen Siegfried heraustreten lässt. So sehr er seinen Ziehvater verachtet, sucht er, wenn er vom Tod seiner Mutter erfährt, doch auch Schutz in dessen Armen.

Mime wiederum ist mehr als eine Karikatur, er ist ein Mensch, wie es heute nicht wenige gibt: zerfressen von der Gier nach dem Ring und nicht eben uneitel, seinem Vorhaben aber nicht wirklich gewachsen. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, dessen Timbre gegenüber früheren Zeiten milder geworden ist, kennt sich in dieser Partie aus wie in seiner Hosentasche; virtuos bringt er sie über die Rampe. Besonders gelingt das in dem von betörenden Sequenzen getragenen Fragespiel, in das ihn der unbekannte und unerwünschte Wanderer verwickelt. Tomasz Konieczny glänzt hier erneut mit unerhörter stimmlicher Pracht und Lust am Auskosten jeder einzelnen Silbe, vor allem aber auch mit Schauspielkunst vom Feinsten. Am Ende finden sich die beiden ungleichen Kontrahenten in dem inzwischen etwas abgewrackten Prunksaal mit dem langen Besprechungstisch, in dem sich der Wanderer zu erkennen gibt, nur versteht es Mime nicht. Genau dort erlebt Wotan/Wanderer seinen endgültigen Niedergang: nach der packend gelingenden Begegnung mit dem ahnungslosen, aber umso selbstgewisseren Siegfried und dem Schlag von dessen Schwert auf den Speer des Göttervaters.

Vorangegangen waren Momente zauberhaften Theaters. Der Zwist zwischen Alberich (Christopher Purves) und Wotan, der Auftritt des zierlichen Waldvögeleins von Rebeca Olvera und der Kampf Siegfrieds mit dem in aller Körperfülle erscheinenden Drachen, dem dann mit David Leigh ein in der Produktion neuer, aber sehr valabler Fafner entsteigt, schliesslich auch die für Wotan ungut ausgehende Besprechung mit Erda (Anna Danik). Dann aber wechselt die Szenerie, verabschiedet sich die Drehbühne für einen Augenblick zugunsten einer vornehm getäferten Wand in edelstem Graugrün und dem Felsen mit der schlafenden Brünnhilde – auch ein diskreter Hinweis auf den Unterbruch in der Entstehungsgeschichte der Tetralogie. Seinen Abschied nimmt hier auch gleichsam der Regisseur, er überlässt das Feld dem Text und der Musik. Einmal mehr darf man staunen über das psychologische Einfühlungsvermögen Wagners lange vor Freud. Und darf man die Kunst bewundern, mit der Klaus Florian Vogt, noch immer frisch, und Camilla Nylund als die aus tiefem Schlaf erwachende Brünnhilde die schwierige Annäherung von Mann und Frau meistern. Wie Siegfried erschrickt ob dem Anblick der Frau ohne Brünne und dann in tiefer Angst nach der Mutter ruft, wie sich Brünnhilde vor der Berührung durch den Mann fürchtet, und das keineswegs nur aus Gründen des Statusverlusts, wie feurig die beiden endlich das wie zufällig bereitstehende Bett in Besitz nehmen – alles feinsinnig ausgearbeitet, hochspannend und tief berührend.

Kunstvoller Schauer

«Roberto Devereux» von Donizetti in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Lord Cecil (Andrew Owens) und Königin Elisabeth I. (Inga Kalna) / Bild Toni Suter, Opernhaus Zürich

Schon das Eröffnungsbild lässt einen erschrecken. Der Körper liegt reglos in einer Blutlache, der Hals geht ins Leere und zeigt seine Innereien, der Kopf liegt weitab davon – und schon sind die dienstbaren Geister da, die einen tragen die zwei Teile des Opfers weg, die anderen versuchen der Blutspuren Herr zu werden. Wem das falsche Wort entfährt, wer die falsche Tat begeht, dem droht das Beil des Henkers. So war es damals, als es Königinnen gab, die riesige Reifröcke trugen, über Leib und Leben geboten und in verzweifelter Einsamkeit lebten. Und so ist es heute, in Russland, in Iran, in Saudi-Arabien – die Menschheit ist kaum einen halben Schritt weiter. Der Gedanken mag einem durch den Kopf schiessen, während man sich im Opernhaus Zürich die neue Produktion von «Roberto Devereux» zu Gemüte führt. Tatsächlich spielt die dritte der drei Opern Gaetano Donizettis über die in England herrschende Familie der Tudors im sechzehnten Jahrhundert, davon sprechen die prachtvollen Kostüme, mit denen Gideon Daveys Ausstattung prunkt. Ins Auge fällt aber auch die leicht gekrümmte, aus glattpolierten Steinblöcken gebildete Rückwand, die nicht nur den Spielraum ins Weite öffnet, sondern auch in aller Eindeutigkeit auf die Kälte der Gegenwart verweist.

Entschieden schliesst sich dem der Dirigent Enrique Mazzola an – und zwar gerade dadurch, dass er Donizettis Musik am Pult der hellwachen Philharmonia und des von Janko Kastelic hervorragend vorbereiteten Chors der Oper Zürich im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis zum Klingen bringt. Das ist längst keine Frage des verwendeten Instrumentariums mehr, wohl aber eine solche der Textbezogenheit. Mazzola entdeckte in der originalen Handschrift der Partitur Tempobezeichnungen des Komponisten, die in der verbreiteten, flächig gearteten Tradition der Wiedergabe verlorengegangen sind. Mazzola spielt diese Brüche kompromisslos aus – so scharf, wie er die Instrumentalfarben staffelt und dadurch Donizetti geradewegs als ein anderer erscheinen lässt. Die innere Zerrissenheit, welche die Figuren in «Roberto Devereux» durchs Band kennzeichnet, erscheint so in hellem, ja grellem Licht. Und hebt die Oper über jede Belcanto-trunkene Harmlosigkeit heraus.

Der Regisseur David Alden, der mit diesem Abend seine 2018 in Angriff genommene Zürcher Tudor-Trilogie beschliesst, bleibt da unbestimmter. Er denkt eher in Kategorien des szenischen Effekts als in solchen der psychischen Feinzeichnung. Das raumhohe, halbkreisförmige Element mit den Porträts aus der ungewöhnlich langen Regierungszeit Elisabeths I. – es zu bewegen dem Team der Bühnentechnik Schwerarbeit ab –, der steinerne Brocken, der aus Andreas Homokis Inszenierung der «Walküre» stammen könnte, der enorme Thron, das alles frappiert gehörig. In der Profilierung der handelnden Figuren bleibt jedoch manches beiläufig. Wenn der Strippenzieher Lord Cecil (Andrew Owens) als körperbehinderter Alter mit Stock und nervös wippenden Fingern auftritt, erscheint das als ein allzu wohlfeiles Déjà-vu. Und die Brutalität des Herzogs von Nottingham angesichts der Enttäuschungen, denen er sich gegenübersieht, wirkt in einem wenig überzeugenden Sinn opernartig. Das mag auch auf sängerische Defizite zurückgehen; Konstantin Shushakov arbeitet mit so viel Vibrato, dass die Tonhöhe oft nur schwer zu orten ist.

Auch nicht frei von Klischees bleibt das Profil, mit dem die titelgebende Figur des Roberto Devereux, des jungen Aufständischen, den die Königin an ihr Herz gezogen hat, versehen ist. Musikalisch lässt Stephen Costello dagegen keinen Wunsch offen; dank seinem leuchtenden, tragfähigen Timbre gerät die Arie, in der er seiner Verzweiflung Lauf lässt, überaus eindringlich. Grandios die junge Anna Goryachova als Sara, die Gattin Nottinghams und Geliebte Devereux’. Herrlich entfaltet sich ihr dunkler Mezzosopran, zu intensiver Verbindung finden das musikalische Gestalten und die szenische Verwirklichung. In der Titelpartie ist Diana Damrau, die bei «Maria Stuarda» wie bei «Anna Bolena» im Zentrum stand, nicht mehr dabei. An ihre Stelle trat Inga Kalna, eine Charakterdarstellerin von hohem Format. An der Premiere verlor die lettische Sopranistin in den Fortissimo-Eruptionen des Beginns die dynamische Kontrolle – mit einiger Wehmut kam da der Gedanke an die künstlerisch so erfüllten Zeiten mit Edita Gruberova auf. Mehr und mehr gelang es ihr jedoch, den stimmlichen Ausdruck ins Ganze ihrer Bühnenerscheinung einzubinden und die fatal folgenreiche Egozentrik der Königin zu erschreckender Wirksamkeit zu bringen.