Sieglinde, Siegmund und der unsichtbare Gast / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich
Vielleicht funktioniert er doch, der Weg, den Andreas Homoki für seine Inszenierung von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» am Opernhaus Zürich eingeschlagen hat. Nicht ein weiterer Deutungsversuch der Tetralogie, nicht eine neuerliche Transposition der Geschichte in eine Lebenswelt, die uns näher scheint als jene der Vorlage, auch nicht der Ersatz der von Wagner erfundenen Metaphern durch solche aus der Hand des Regisseurs soll auf die Bühne gebracht werden. Im Vordergrund soll die Sache selbst stehen, ja die Sache allein, nämlich der Text und seine Spiegelung in der Musik – das ist die Ambition im neuen Zürcher «Ring». Ein werkimmanenter Zugang also. Er mag altväterische Züge tragen, ja geradezu aus der Zeit gefallen sein, jedenfalls im Widerspruch stehen zu der dominierenden rezeptionsgeschichtlichen Tendenz. Er mag sogar aufrichtig unmodern sein in dieser Zeit, da auf den Bühnen, zumal jenen des Sprechtheaters, das Dekonstruieren und das Überschreiben um sich greift – all das mag sein. Aber: Er überzeugt. In der «Walküre» wirkt Homokis scheinbar retrospektiver, in Wirklichkeit aber revolutionärer Zugang klar, anregend und ausgesprochen berührend.
Die von Christian Schmidt entworfene Ausstattung geht vom gleichen Muster aus wie im «Rheingold». Auf den beiden Seiten einer Trennwand stellt die Drehbühne zwei Spielorte zur Verfügung, die Flexibilität und Wandelbarkeit ermöglichen. In ihrer Anmutung sind sie erkennbar in der Entstehungszeit der Tetralogie verankert. Was es zur Entfaltung der Geschichte braucht, ist vorhanden; der Stamm in der Behausung Hundings fehlt ebenso wenig wie der herrschaftliche Salon für den Disput um Ehre und Ehe, wie der Wald für den entscheidenden Kampf oder der Fels, auf dem in Tiefschlaf gefallen werden kann. Wichtiger, ja entscheidend ist die Schärfe, in welcher der Regisseur zusammen mit den Darstellerinnen und Darstellern die einzelnen Figuren zeichnet – hinreissend ist das. Massgebliche Unterstützung kommt dabei aus dem Graben, wo die Philharmonia unter der Leitung von Gianandrea Noseda für schlanken und farbenreichen, ausgezeichnet modellierten, auch emphatischen Klang sorgt. Der Dirigent wandelt auf denselben Pfaden wie der Regisseur; auch Noseda, er hat die Partitur übrigens ausgezeichnet im Griff, wird konkret. Hell leuchtet der musikalische Satz, die Leitmotive treten markant heraus, und dass die Tuba die Kontrabässe so oft unterstützt, versteckt der Dirigent keineswegs – wie er überhaupt der orchestralen Muskelspannung nichts schuldig bleibt.
Auf dieser Basis wird fassbar, dass es in der «Walküre» nicht so sehr um Brünnhilde geht als vielmehr um Wotan – und seinen selbstverschuldeten Fall. Das wird gleich zu Beginn angelegt, wo sich Wotan als unsichtbarer Spielleiter geriert, der die Szene arrangiert hat und das Heft noch voll in der Hand hält. Stösst er seinen Speer in den Boden, erklingt bedrohlicher Donner; benötigt Sieglinde ein Glas Wasser, ist er damit zur Stelle. Und später erscheint er persönlich bei Hunding zuhause, um das Siegmund versprochene Schwert in den Stamm zu stossen – Homoki setzt hier in Theater um, was Wagner mit seinen instrumentalen Anspielungen tut. Zugleich deutet sich an, in welchem Mass die Frauen die Feder führen. Sieglinde (Daniela Köhler bringt ein herrlich ausgebautes Timbre ins Spiel) erkennt ihren Bruder auf Anhieb, das lässt ihr Mienenspiel erkennen, das zeigt aber auch ihr Verhalten: Wie im Orchester das Schwertmotiv erklingt, küsst sie den verdutzten Besucher auf den Mund – das ist Musiktheater. So plausibel es wirkt, es nimmt der erotisch aufgeladenen Begegnung zwischen den Geschwistern doch ein wenig das Feuer. Obwohl ihn Eric Cutler als Siegmund untadelig besingt, kann der Lenz stürmischer wirken, als es hier geschieht. Erfrischend gelingt die Szene gleichwohl, zumal Christof Fischesser zwar als ein veritabler Herr der Hunde erscheint, dabei aber weniger einen ungehobelten als einen aufrecht in sich ruhenden, selbstgewissen Hunding gibt.
In der Folge geht es rasant bergab mit Wotan. Fricka (Patricia Bardon) liest ihrem Gatten derart scharf die Leviten, dass er sich förmlich aufbäumt. Deutlich wird da, welch grossartiges Rollenporträt Tomasz Konieczny in dieser Produktion gelingt. Virtuos dreht und wendet er den Speer, den er später, das ist nur logisch, eigenhändig in Siegmunds Leib stösst. Und brillant – auch vokal, mit seiner Strahlkraft, mit seiner genüsslich auskostenden Diktion – verkörpert er seine Seelenzustände. Schon merklich geknickt, wenn auch noch immer herrisch, erklärt der Göttervater seiner Wunschmaid den von der Gattin aufgezwungenen Plan. Brünnhilde aber – Camilla Nylund zeigt und singt es bezwingend – ist von Anfang an reine Liebe, innig verbunden mit dem Vater und dann entzündet durch die Unbedingtheit der Liebe Siegmunds; darum erfüllt sie nicht den Befehl, wohl aber den Wunsch Wotans und wird sie zu einer Zukunftsfigur. Bewegend der Abschied des Vaters von seiner Tochter – nicht zuletzt darum, weil die Inszenierung offenkundig macht, dass sich Wotan in diesem Moment auch von einem Teil seiner selbst zu lösen hat. Wenn der Feuerzauber ausklingt, geht der Gott in den Feierabend. Seinen Speer lässt er stehen.
Erstes Gesprächsthema im «Café Bazar» oder im «Triangel»: Teodor Currentzis und Russland, Russland und Teodor Currentzis. In unerbittlicher Schärfe wird die Konfrontation geführt. Ein Dirigent, der das von ihm gegründete Orchester mitsamt seinem Chor von Institutionen aus dem Umfeld des Kremls finanzieren lässt und der bis heute kein klares Wort gegen den abscheulichen Krieg der Russen in der Ukraine gefunden hat – ein solcher Dirigent habe bei den Salzburger Festspielen nichts verloren, betont die eine Seite, darunter ein deutscher Journalist, der durch seine vorlaute Ausdrucksweise auffällt. Markus Hinterhäuser dagegen, der Intendant der Salzburger Festspiele, hält eisern an Currentzis fest. Für ihn wiegt der künstlerische Verlust, der durch den Verzicht auf Currentzis einträte, zu schwer. Und er sieht das moralische Dilemma des Dirigenten, der durch ein einziges Wort die Existenz von Hunderten hochqualifizierter, erfolgreich tätiger Musiker aufs Spiel setzte. Der Fall ist komplex und nichts für den populistischen Zweihänder, der in und um Salzburg immer gern ergriffen wurde – man denke nur an die Reaktionen auf die ersten Auftritte des noch jungen Nikolaus Harnoncourt an der Mozartwoche oder auf den Amtsantritt Gerard Mortiers bei den Festspielen.
Was die Kunst betrifft, und darum geht es bei den Salzburger Festspielen zuallererst, liess Teodor Currentzis keine Wünsche offen. «Herzog Blaubarts Burg» von Béla Bartók war musikalisch eine Offenbarung. Das Gustav Mahler-Jugendorchester klang warm, voll und farblich reichhaltig. Den grossen Moment in C-Dur, da Judith die fünfte Tür öffnet und in die Weite von Blaubarts Landen blickt, das dreifache Forte der riesigen Orchesterbesetzung mit den von der Seite in die Felsenreitschule hineinklingenden Blechbläsern habe ich noch nie so majestätisch gehört, derart wohlgeformt durch Mark und Bein gehend. Absolut geglückt auch die Besetzung mit Mika Kares (Blaubart) und Ausrine Stundyte (Judith). Und bezwingend die szenische Umsetzung aus der Hand von Romeo Castellucci, der die schauerliche Geschichte von der zum Scheitern verurteilten Annäherung der liebenden Frau an den in seine Vergangenheit verstrickten Mann als ein Seelenritual zeigt, das unaufhaltsam voranschreitet und dennoch in jedem Moment von vibrierender Empathie lebt.
Da waten sie denn durch das knöcheltiefe Wasser, das die Bühne bedeckt. Es mag für die unerhört direkte erotische Anziehung stehen, durch die Judith und Blaubart in dieser Inszenierung verbunden sind. Vor den ersten Tönen erklingen Laute eines Neugeborenen: Judith hat Blaubart ein Kind geboren, das im Verlauf des Stücks seine Rolle spielt. Beides, das Wasser wie das Kind, wird uns später wieder begegnen; es ist Teil jenes Denkens in Netzwerken, jenes Schaffens gleichsam unterirdischer Fährten, wie sie die Programmgestaltung Markus Hinterhäusers seit je ausgezeichnet haben. Dazu kommt, dass in den drei Neuinszenierungen dieses Sommers insgesamt sechs Einakter angesetzt waren. Denn auch Leoš Janáčeks «Katja Kabanova» ist, wiewohl abendfüllend und in Akte gegliedert, von der Wirkung her ein Einakter, während Giacomo Puccinis «Trittico», wie der Titel andeutet, drei Einakter unter einen Bogen bindet.
Dass auf «Herzog Blaubarts Burg» das Mysterienspiel «De temporum fine comoedia» von Carl Orff folgte, liess nun allerdings erstaunen. Das späte Werk des Bayern wurde zwar 1973 bei den Salzburger Festspielen aus der Taufe gehoben, und dies von keinem Geringeren als Herbert von Karajan, steht ästhetisch dem derzeit gelebten Profil der Festspiele aber denkbar fern. Gerade darum, um der Horizonterweiterung willen, mag Markus Hinterhäuser Orffs Werk gewählt haben – vielleicht aber auch wegen der höchst aktuellen Thematik. Orff schildert hier einen Endzustand der Welt, von dem wir möglicherweise weniger weit entfernt sind, als wir annehmen. Und er geht der Frage nach, warum in der Schöpfung dem Bösen, Zerstörerischen so viel Gewicht zukomme.
Orff stellt sich der Frage aus der Erfahrung zweier Weltkriege heraus. Und er begegnet ihr mit theologischem Handwerk und zugleich auf der Basis tiefen katholischen Glaubens. Verhandelt wird der Gegenstand mit den Mitteln, die der Komponist in langen Jahren entwickelt und zu seinem Personalstil gemacht hat: mit Sprechchören in stampfenden Rhythmen, mit nervös gespannten Tonrepetitionen, mit heftigen Schlägen eines Orchesters, das mit enormem Schlagwerk und zahlreichen tiefen Instrumenten besetzt ist – Teodor Currentzis ging auch hier beherzt zur Sache. Ein anderer Orff als jener der «Carmina burana» war da zu entdecken: ein Gewinn. Etwas quälend war dieser zweite Teil des Abends aber schon, trotz der vielschichtig belebten Szenerie Romeo Castelluccis. Wie am Schluss die Leiber der Verstorbenen aus dem Bühnenboden stiegen und sich die Felsenreitschule nach und nach mit Choristen in rosa Trikots füllte, wie sich endlich Lucifer in dreimaligem Ausruf seiner Schuld bekannte und sich Gottvater unterwarf, war die Erleichterung mit Händen zu greifen.
Sängerinnenkult
Zur Horizonterweiterung gehört auch die Wiederentdeckung Giacomo Puccinis. Hatte Gerard Mortier für sich noch festgehalten, dass Puccini in Salzburg ebenso wenig Platz finde wie Luciano Pavarotti, sieht das Markus Hinterhäuser gelassener. Ja, mehr noch, er schliesst sich den gerade in der deutschsprachigen Musikwissenschaft kursierenden Versuchen an, das Schaffen Puccinis in neues Licht zu stellen. In der ehemals prononciert progressiven, seinerzeit von Heinz-Klaus Metzger begründeten Schriftenreihe «Musik-Konzepte» zum Beispiel ist ein Band erschienen, in dem nachzuweisen versucht wird, dass Puccini keineswegs allein ein Meister im Umgang mit der Tränendrüse gewesen sei, dass sich in seiner Musik vielmehr reichlich gutes Handwerk finde – Handwerk nach deutscher Art mithin? Ob der Ansatz Zukunft hat, darf dahingestellt bleiben.
In der Salzburger Produktion von «Il trittico» war davon nichts zu spüren. Schön, gepflegt kam der Dreiteiler, in seiner vollständigen Form bei den Festspielen zum ersten Mal dargeboten, im Grossen Festspielhaus daher. Dass die drei Teile nicht in der vom Komponisten erdachten Abfolge erschienen, war freilich zu bedauern; «Il tabarro» als dräuendes Drama, «Suor Angelica» als Rührstück, «Gianni Schicchi» als witziger Kehraus – das hat seine bezwingende Logik. Der Regisseur Christof Loy dagegen stieg mit dem erheiternden Erbschaftsstreit ein, der aus Dantes «Divina commedia» stammt, stellte die tödlich endende Eifersuchtsgeschichte in die Mitte und schloss mit dem berückenden Porträt der jungen Frau, die eines unehelich geborenen Kindes wegen ins Kloster verbannt ist. Trotz Loys unverkennbarem Können und trotz der klaren Stimmungen in den Bühnenbildern von Etienne Pluss packte das nicht wirklich, es mag jedoch der übergeordneten Dramaturgie der Festspiele geschuldet sein. Tatsächlich führt Angelica nicht nur ihr Lebensende eigenhändig herbei, auf Anraten Loys blendet sie sich auch noch, worauf ihr kleiner Sohn, von dessen Tod sie erfahren hat, ebenso leibhaftig auf der Bühne erscheint wie das Kind Judiths.
Asmik Grigorian als Giorgetta (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)
Vor allem aber diente die Änderung in der Abfolge der heimlichen Protagonistin des Abends, denn die drei tragenden Frauenrollen im «Trittico» wurden von ein und derselben Sängerin verkörpert. Asmik Grigorian, in den letzten Jahren als Marie aus Bergs «Wozzeck», als Salome, als Chrysothemis aus Richard Strauss’ «Elektra» gefeiert, erfüllte auch diese Aufgabe hinreissend. Im Stimmlichen wie im Szenischen gleichermassen präsent, war sie das junge Mädchen Lauretta, deretwegen Gianni Schicchi (der vitale Misha Kiria) ans Totenbett des verstorbenen Buoso Donati gerufen wird, verkörperte sie dann die brennende Sehnsucht der Giorgetta im «Tabarro», berührte sie schliesslich als die unglückliche Nonne Angelica, als welche die Sängerin ihre ganze Emotionalität ausspielte. Wenig überzeugend hingegen der Auftritt der bösen Fürstin, die Angelica den Tod ihres Sohnes verkündet; als aufgeregte Managerin im grauen Hosenanzug wirkte Karita Mattila bei weitem nicht so bedrohlich, als es die Situation erforderte. Auch nicht ganz auf ihrer Höhe die Wiener Philharmoniker, die matt agierten und wenig koloristischen Reiz zeigten, zudem von Franz Welser-Möst zu einem Fortissimo von unschöner Schärfe angehalten wurden.
Zwangsjacke aus grauem Tuch
Die Hölle auf Erden, sie stand allenthalben im Raum – in der düsteren Burg Blaubarts, in der Apokalypse Orffs, in der Seelenpein der in unmöglicher Liebe entbrannten Giorgetta und jener der unter Nonnen gefangengehaltenen Angelica. Auch für Katja, die Titelheldin in Leoš Janáčeks «Katja Kabanova», gleicht das Leben einer Hölle. Sie ist eingemauert in einer Gesellschaft, die für enges Normendenken steht – Barry Kosky hat dafür in seiner meisterlichen Inszenierung von Janáčeks Oper ein ebenso stupendes wie treffendes Bild gefunden. Er liess die ganze Breite der Felsenreitschule vom Bühnenbildner Rufus Didwiszus vollstellen mit einer dichtgedrängten Menge an menschengrossen, von der Kostümbildnerin Victoria Behr in graues Tuch gekleideten Schaufensterpuppen, die immer wieder anders, aber jederzeit sinnreich angeordnet wurden, wenngleich nur von hinten zu sehen waren. Umso stärker wirkte die Weite der Bühne, welche die jungen Leute auf der Suche nach ihrem eigenen Leben für sich erkundeten und einnahmen.
Unter ihnen eben Katja, die mit dem offenkundig zu nichts fähigen Tichon verheiratet ist (Jaroslav Březina gibt diesen Ehemann grandios), in Wirklichkeit aber restlos unter der Fuchtel ihrer Schwiegermutter Kabanicha steht (auch Evelyn Herlitzius lässt hier keinen Wunsch offen). Eine Geschäftsreise Tichons gibt Katja den Raum, sich ihrem Herzensmann Boris (David Butt Philip) hinzugeben – was die junge Frau jedoch in derartige Gewissensnöte stürzt, dass ihr nichts anderes zu bleiben scheint als die Selbstbefreiung durch den verzweifelten Sprung in die Wolga. Da ist es wieder, das Wasser, das hier den tödlichen Endpunkt bildet, das Blaubart und Judith verband, das vor allem auch in dem von Ivo van Hove auf der Perner-Insel krass danebeninszenierten Schauspiel «Ingolstadt» nach Marieluise Fleisser eine Hauptrolle spielt. Vielleicht sind es tatsächlich diese kleinen Merker, die in dem immensen Angebot der Salzburger Festspiele für Kontextbildung sorgen.
Corinne Winters als Katja (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)
Zusammenhalt ergibt sich aber auch durch die Höchstleistungen einzelner Darsteller – Darstellerinnen, muss man hier sagen. Denn wie Asmik Grigorian sorgt auch Corinne Winters in der Hauptrolle von «Katja Kabanova» für einen sensationellen Auftritt. Was spielt sich in ihrem Gesicht nicht alles ab, was zeigt sie mit ihrer körperlichen Agilität nicht an innerer Bewegung, was bringt sie mit ihrer hellen, jugendlichen Stimme nicht alles zum Ausdruck. Alles ist hier Identifikation, vom Zuschauerraum aus verfolgt man es gebannt und bange, beglückt und hingerissen – dafür gehen Menschen ins Theater, ins Musik-Theater, und dafür brechen sie dann in Jubel aus. Corinne Winters hatte das Glück, von einem wunderbaren Orchester getragen zu werden. Am Werk waren erneut die Wiener Philharmoniker, nun aber unter der energischen, zielgerichteten Leitung von Jakub Hrůša, einem Dirigenten für heute und einem für morgen. Mit ihm entfalten sie ihr ganzes Potential: in der Farbenpracht, in der klanglichen Rundung, in der Kompetenz der Sängerbegleitung.
Mozart, ganz in der Jetztzeit
Eine Sternstunde anderer Art ereignete sich im Mozarteum – mit den drei letzten Sinfonien Wolfgang Amadeus Mozarts. Mit dabei war das Mozarteumorchester Salzburg, das vor Jahresfrist beim Lucerne Festival einen ausgesprochen mittelmässigen Auftritt hatte. Hier nun, mit Riccardo Minasi am Pult, brach Frühlings Erwachen aus: Das Orchester wuchs förmlich über sich hinaus und war nicht wiederzuerkennen. Minasi ist ein fulminanter Geiger, der sich, was die historisch informierte Aufführungspraxis betrifft, bis in die innersten Gemächer auskennt; das in den letzten Jahrzehnten ausgebaute Rüstzeug steht ihm zur Gänze und in aller Selbstverständlichkeit zur Verfügung, er weiss es auch mit einem hohen Mass an Phantasie einzusetzen. Reduktion der Besetzung, nuancierter Einsatz des Vibratos, ganztaktige Phrasierung, differenzierte Artikulation zwischen ausgespieltem Legato und scharfem Akzent, Gewichtungen innerhalb des Taktes – all das bringt er ein. Er tat es mit einer Lust am Musizieren, mit freundschaftlicher Kommunikation, mit einem Temperament, dass man selbst beim Zuhören ausser sich geriet – übrigens genau gleich wie die Orchestermitglieder, die ihrem Tun nicht nur mit hörbarem, sondern auch ersichtlichem Vergnügen nachgingen. Jedenfalls: Die Musik Mozarts klang, als wäre sie von heute; der Gegensatz zu den ausgeebneten Wiedergaben mit einem grantelnden Dirigenten am Pult hätte grösser nicht sein können. Ob das Finale der g-Moll-Sinfonie KV 550 so rasch genommen werden muss, bleibt Geschmackssache; es geriet jedenfalls untadelig. Und ebenso grossartig wie das Finale der C-Dur-Sinfonie KV 551, dessen komplexe Struktur in aller Helligkeit leuchtete. Hier galt’s der Kunst, fürwahr.
«La notte di un nevrastenico» von Nino Rota und Giacomo Puccinis «Gianni Schicchi» im Stadttheater Solothurn
Von Peter Hagmann
Kein Auge kriegt er zu, wenn er im Hotel zu nächtigen hat. Die Geräusche der Nachbarn, sei es ein fallender Schuh, seien es die Laute eines Liebespaars, bringen ihn die Wände hoch. Darum hat der Gast für diese Nacht nicht nur ein Zimmer für sich selber gebucht, sondern auch gleich noch das links und das rechts von dem seinen. Allein, er hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. In Mailand ist Messe, bis auf die letzte Besenkammer ist alles voll belegt. Der Portier überlässt darum dem verspäteten Handelsreisenden mit seinen auffallend schicken Schuhen und dem ziemlich aufgeregten Liebespaar die beiden zwar schon gebuchten und bezahlten, aber eben leerstehenden Zimmer – das lässt die Kasse klingeln. Und schafft prompt Schwierigkeiten mit dem lärmempfindlichen Gast. Denn bald fällt ein Schuh zu Boden und entfährt den Liebenden der unvermeidliche Hauch.
Gast und Portier in «La notte di un nevrastenico» / Bild Ben Zurbriggen, Theater-Orchester Biel-Solothurn
Wer kennte das nicht? Wer könnte sich nicht in die Haut des Schlaflosen versetzen? Nur: wer das Reisen kennt, weiss, was sie leiden. Sie: die Gestörten, die Nervösen, die Neurastheniker – die Kranken? Einer immerhin hatte Mitleid mit ihnen – vielleicht weil ihm das Problem vertraut war. Nino Rota, der musikalische Weggefährte Federico Fellinis, hat dem Neurastheniker ein Denkmal gesetzt in Form eines äusserst vergnüglichen Operneinakters. «La notte di un nevrastenico», 1950 auf ein Libretto von Riccardo Bacchelli komponiert, 1960 von Giorgio Strehler an der Piccola Scala in Mailand zur szenischen Uraufführung gebracht, erzählt genau die tragikomische Geschichte von einem Schlaflosen, der zur Sicherheit gleich drei Zimmer reserviert hat. Die Auseinandersetzung mit den ungebetenen geräuschvollen Nachbarn, besonders aber dem Portier dauert ihre Weile. Am Ende triumphiert der Neurastheniker, hat er seine drei Zimmer und seine Ruhe, aber wie er sich erschöpft zu Bett legen will, klopft der Kellner mit dem Frühstück an die Tür.
Tatsächlich, Nino Rota hat nicht nur unvergessliche Musik zu unvergesslichen Filmen geschrieben, sondern, unter anderem, auch eine ganze Reihe Opern. Nicht einmal seine berühmteste, «Il cappello di paglia di Firenze», ist heute noch bekannt. Darum kann nicht hoch genug gelobt werden, dass Dieter Kaegi, der Intendant von Theater und Orchester Biel Solothurn (TOBS), «La notte di un nevrastenico» ausgegraben hat. Und dies in reizvollem Kontext, als Vorspiel nämlich zu «Gianni Schicchi» von Giacomo Puccini, einem anderen, freilich weitaus berühmteren Einakter. Die Kombination ist nicht nur ausgesprochen originell, sie ist auch treffend, denn bei «Gianni Schicchi» kommt es ebenfalls gründlich anders heraus als gedacht. Am Ende geht das stattliche Erbe des soeben verstorbenen Buoso Donati weder an die Kirche, wie es das Testament des Toten verlangt, noch an die Donatis, wie es die Verwandten ersehnen, sondern an den bettelarmen, als Landei verachteten Gianni Schicchi, der sich von der Familie zum Retter in der Not erkoren sieht. Und der seine Chance nutzt.
Selten kann man sich in der Oper derart ergötzen, wie es an diesem Abend möglich ist. Mitte Dezember kamen die beiden Einakter im Stadttheater Biel heraus, knapp zwei Wochen später war Premiere im hübschen, subtil renovierten Stadttheater Solothurn. Auch auf Tournee geht die Produktion: nach Baden, Schaffhausen und Burgdorf – ein vorbildliches Beispiel für die sinnvolle Nutzung von Ressourcen wie für den kulturellen Föderalismus, der dieses Land belebt. Natürlich, die Platzverhältnisse in den Orchestergräben sind eng, in Solothurn so gut wie in Biel. Die Stimmen für die Bläser sind solistisch konzipiert, da gibt es nichts zu sparen. Für die Streicher, die das Gegengewicht zum Bläsersatz zu bilden hätten, fehlt dagegen der Raum; das Streichquintett von den Violinen bis hin zu den Kontrabässen bleibt darum vergleichsweise schmal besetzt. So dass der Orchesterpart, der bei beiden Stücken merklich sinfonisch gedacht ist, bläserlastig klingt und darum herbe Konturen erhält. Das um so mehr, als der Dirigent Marco Zambelli, so der Eindruck bei der Solothurner Premiere, die Zügel in Sachen Dynamik und Balance zu wenig straff in der Hand hält.
Aber Temperament versprüht der Mann am Pult. Die agile Musik Nino Rotas, die in der Oper vielleicht doch nicht das Raffinement erreicht, mit dem sie in den Filmen begeistert, zieht höchst unterhaltsam durch die knappe Stunde Spieldauer. Avantgarde – wenn man denkt: 1950 – war Rota ein Fremdwort, er hatte es eher mit dem Bestehenden, bei dem er sich bediente, das aber nicht ohne Phantasie tat. Auch bei sich selber nahm er Anleihen, zum Beispiel bei der Musik zu «La dolce vita», aus der er einen Blues in den «Nevrastenico» übernahm. Jedenfalls eribt sich da eine ganz eigene Lebendigkeit – welche die die Produktion sehr überzeugend trifft. Michele Govi ist ein aufbrausender Neurastheniker, als geschäftstüchtiger und krisensicherer Portier hat es Eric Martin-Bonnet faustdick hinter den Ohren, Konstantin Nazlamov verleiht dem Handelsreisenden herrlich blasierte Züge, während Clara Meloni und Gustavo Quaresma witzig ein deutlich in die Jahre gekommenes Liebespaar geben. Das gehört zu der temporeichen Inszenierung von Andreas Zimmermann, der hier anregend hinter die Geschichte zu blicken sucht. Die Hotelzimmer auf der Bühne von Marco Brehme haben weder Wände noch Türen; nicht um Realität geht es hier, sondern eher um Einbildung und das Leiden daran.
Aktenstudium in «Gianni Schicchi». In der Mitte Susannah Haberfeld als die strippenziehende Tante / Bild Ben Zurbriggen, Theater-Orchester Biel-Solothurn
Ganz und gar handfest dagegen «Gianni Schicchi» – wobei das geschickt zusammengestellte Ensemble den insgesamt doch arg groben Ton, den das Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn anzuschlagen hat, mit Schmunzeln aufbricht. Michele Govi hat auch hier die Hauptrolle inne; er gibt nicht nur den Schlaumeier, der es der arroganten Familie nach Massen zeigt, sondern auch den rührend besorgten Vater. Als seine Tochter Lauretta bringt Clara Meloni mit ihrem glänzenden, kraftvoll strahlenden Sopran zur Geltung; dass sie bei der Premiere in ihrer grossen, grossartig dargebotenen Arie, mit der sie den Vater umzustimmen sucht, vorzeitig von Applaus unterbrochen wurde, weist darauf hin, dass der Dirigent das Geschehen nicht ausreichend im Griff hatte. Ausgezeichnet gelingt auch das andere Schmankerl, das Loblied auf Florenz, mit dem Gustavo Quaresma als Rinuccio brilliert. Auch wenn sie im zweiten Teil des Abends handwerklicher wirkt als im ersten, bleibt die Inszenierung dem Stück nichts schuldig. Der Regisseur arbeitet stark in die Diagonale, was die Bühne trotz grossem Ensemble nicht überfüllt erscheinen lässt – dazu kann man nur gratulieren. Und scharf gezeichnet sind die einzelnen Figuren der habgierigen Familie, wozu die Kostüme von Dorothea Scheiffarth nicht unwesentlich beitragen.
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Acht Vorstellungen in Biel bis 7. März, vier Vorstellungen in Solothurn bis 1. März. Vorstellungen in Baden am 14. Januar, in Schaffhausen am 23. und 24. Januar, in Burgdorf am 11. Februar.
Ursula Hesse von den Steinen (Klytämnestra) und Rachel Nicholls (Elektra) auf der Basler Opernbühne / Bild Sandra Then, Theater Basel
An Blut fehlt es nicht in der neuen, aus Antwerpen/Gent und Essen übernommenen Inszenierung von «Elektra» – das ist es, was sie so altmodisch macht. Die Wände auf der von Patrick Bannwart und Maria Wolgast entworfenen Bühne triefen vor Blut, rasch ist auch jeweils ein Kübel zur Hand, in den die Hände getaucht werden können, um theaterblutrote Zeichen zu setzen – selbst die von Meentje Nielsen erdachten Kostüme sind im einen oder anderen Fall mit den entsprechenden Schlieren versehen. Gewiss, die Story um den Kriegsheimkehrer Agamemnon, dem im Bad der Schädel gespalten wird, um dessen von Furien geplagte Frau Klytämnestra und die von Rachegedanken besessene Tochter Elektra und deren Bruder Orest, der am Ende unbarmherzig zuschlägt – diese Geschichte trieft in der Tat vor Blut. Der Librettist Hugo von Hofmannsthal, ein Meister des ebenso feinsinnigen wie treffenden Wortes, schenkt seinem Publikum nichts, und Richard Strauss hat sich dazu eine bis an die Grenze zur Hysterie erhitzte Musik einfallen lassen. Nichts fehlt in diesem Werk für einen mitreissenden Theaterabend, des Bühnenbluts, einer armseligen, leicht biederen Tautologie, bedarf es hier nicht.
Zu Diskussionen führen kann freilich die szenische Deutung, die der Regisseur David Bösch dem Einakter von 1908 angedeihen lässt. Das Stück erscheint auf der Basler Bühne als eine nächtliche Projektion Elektras, die ob dem Schrecklichen, das sie miterlebt hat, in tiefe Regression verfallen ist; umgeben von den Gegenständen aus der Kinderzeit, wünscht sie sich den rächenden Bruder so lange und so intensiv herbei, bis der tatsächlich erscheint, seine tödliche Mission erfüllt – und dann selbst vom Tod getroffen wird. Nicht Elektra ist es, die stirbt, sondern Orest und mit ihm die Hoffnung. Das verstösst zwar gegen das Textbuch, hat im Rahmen des interpretatorischen Konzepts aber seine Schlüssigkeit.
Sie zeigt sich um so mehr, als die zentrale Partie der Elektra nicht wie üblich mit einer rasenden Heroine besetzt ist. Rachel Nicholls tritt als ein schmal gewordenes, junges Mädchen im Nachthemd auf, unter dem die nackten Füsse hervorschauen. Die schwarz umränderten Augen lassen auf eine Borderline-Existenz schliessen. Mit leichter Bewegung tanzt sie zu den schwer stampfenden punktierten Rhythmen von Strauss, immer wieder zieht sie sich aber auf das Eisenbett der Kindheit zurück, von dem aus sie beiden mit «E» und «O» angeschriebenen Stühlchen betrachtet. Jederzeit kann das kippen, denkt man. Aber die Stimme dieser Elektra weist in eine ganz andere Richtung: eine extrem entschlossene. Zwar lebt sie eher von hellen Farben, doch was die junge Engländerin an Expansion zustande bringt (und durchhält), ist von staunenswerter Wirkung. Ausbaufähiges Potential zeigt höchstens die Diktion; gerade im Fortissimo neigen die Vokale bisweilen zu eigenartigen Verzerrungen.
Ein starkes Zentrum. Ihm stehen starke Figuren gegenüber – Figuren, denen der Komponist allerdings nur kurze Auftritte geschenkt hat. Mit seinem kernigen Timbre und seiner pointierten Diktion – die Formungen von «a» und «r» erinnern merklich an Christian Gerhaher – gibt Michael Kupfer-Radecki als Orest erst düster bedrohliche, im Moment des geschwisterlichen Erkennens aber äusserst berührende Züge zu erkennen. Klytämnestra dagegen, sie wird bei Ursula Hesse von den Steinen, die einen phantastisch disponierten, weiten und herrlich ausgeglichenen Mezzosopran einbringt, zu einer genuin theatralischen Figur; hochgradig aufgeladen ist ihre Klytämnestra, ja outriert in ihrem Schwanken zwischen Schuld und Lust und nicht weniger grenzgängerisch als ihre Tochter.
Etwas schwerer haben es, aber das liegt an den Partien, Pauliina Linnosaari als Chrisothemis und Rolf Romei als Aegisth. Dass dieser Schmarotzer ein Verwandter des Herodes aus «Salome» ist, dürfte noch etwas krasser zu hören sein. Insgesamt behält das Ensemble jederzeit die Oberhand – das ist besonders hervorzuheben. Der Dirigent Erik Nielsen nämlich setzt das Konzept der sinfonischen Oper, das in «Elektra» einen seiner Kulminationspunkte erreicht, in aller Radikalität um – und das Sinfonieorchester Basel liefert ihm das Nötige dazu. Warm und füllig klingt es aus dem Graben, klar in den Farben, griffig in den Lineaturen. Dass die Mitwirkenden auf der Bühne darob aber nicht zu Figuren aus dem Stummfilm werden, dass sie sich vielmehr mit ihrer je eigenen Vokalität ins instrumentale Gewebe einfügen, macht den eigentlichen Pluspunkt dieser musikalisch hochstehenden Basler «Elektra» aus.
Mit Markus Hinterhäuser als Intendant haben die Salzburger Festspiele an Energie gewonnen. Konzise Programmgestaltung und mutige Interpretationen zeugen davon. «Die Zauberflöte» und «Salome» bestechen und lösen Diskussionen aus.
Die Musik ist erkennbar von heute – kein Wunder: «Perelà» von Pascal Dusapin ist 2003 an der Pariser Oper aus der Taufe gehoben worden. Aber was der 66-jährige Franzose erdacht hat, klingt so wohl, dass eingefleischte Avantgardisten die Augenbrauen heben; die neue Musik aus Frankreich trägt eben, man denke nur an die Spektralisten, bei allem strukturellen Bewusstsein doch ausgesprochen freundliche Züge. Phantasievoll und verspielt, anregend und sinnlich, so erscheint «Perelà» auch in Luzern, wo das Theater Dusapins Stück auf dem Spielplan hat. Wie das? Gibt es Platz im Graben des kleinen Hauses an der Reuss für das opulent besetzte Orchester, das Dusapin in der fünften seiner bisher neun Opern verlangt? Natürlich nicht, aber der französische Dirigent Franck Ollu, ein Spezialist der neuen Musik, hat eine reduzierte Orchesterfassung erstellt, die dem Original, so die Erinnerung nicht trügt, in keiner Weise nachsteht. Unter der Leitung des Mainzer Generalmusikdirektors Hermann Bäumer hat es das Luzerner Sinfonieorchester in blendendem Farbenreichtum hörbar gemacht.
Bäumer wurde gerufen, weil er schon 2015 am Pult stand, als die nun in Luzern gezeigte Produktion im Staatstheater Mainz herauskam. Mit Bäumer im Boot war damals die Regisseurin Lydia Steier, die inzwischen in Luzern die Opernsparte mitbetreut und hier für die Übernahme ihrer Mainzer Inszenierung plädiert hat. Ausgezeichnete Idee; wer dieser Produktion nicht begegnet ist, hat fürwahr etwas verpasst. Perelà, so nennt sich der Protagonist in dem vom Komponisten selbst geschriebenen Libretto nach einem Roman von Aldo Palazzeschi, ist zwar nichts als Schall und Rauch, lässt das aber in denkbar zauberhafter Weise erleben. Nachdem das Feuer, das ihn erzeugt hat, erloschen ist, steigt der Rauch mit dem seltsamen Namen kurzerhand aus dem Kamin, schwebt zu Boden und findet dort zwei Märchenstiefel vor, die ihn mit der Schwerkraft verbinden. Was er auf der Erde erlebt, verwundert, entzückt, erschreckt ihn und endet derart nicht zu seinem Guten, dass er sich flugs wieder in die Lüfte erhebt.
Splitternackt steht Ziad Nehme, der mit seiner biegsamen, samtenen Stimme leicht und mühelos in luftige Höhen steigt, auf der Bühne – was nicht nur einen kleinen Schreck auslöst, sondern ganz und gar der Situation entspricht: Als Mensch gewordener Rauch ist er bar jeder Erfahrung. Genau das macht ihn so interessant für den Hofstaat in der kleinen, engen Residenzstadt, in der sich Perelà, inzwischen mit einer Hose versehen, unter lauter Edelleuten findet. Eine prächtig ausstaffierte Gesellschaft wird hier vorgeführt, Damen wie Herren mit mächtigen Stirnen, immensen Frisuren und aufgeplusterten Bekleidungen – der Kostümbildner Gianluca Falaschi hat hier ganze und herrliche Arbeit geleistet. Da gibt es zum Beispiel eine Königin, die einen Vogel hat – nein, deren zwei: einen Papagei (Nora Bertogg), der als einziges das Wort «Dio» dazwischenzukrächzen weiss, und einen stummen in einem Käfig, den die Dame auf ihrem Kopfe trägt. Immens die Schleppe, Perelà muss sie immer wieder zurechtlegen. Und grandios die Gesangskunst wie die Körpersprache, mit denen Misaki Morino glänzt.
Umgeben ist die Königin von einem König, der ihr, da noch ein Knabe, nicht einmal bis zum Kinn reicht, von einem kräftig dem heiligen Wein zusprechenden Erzbischof (Georg Bochow) und manch anderen schrägen Figuren – erstaunlich, was das wunderbare Ensemble, aber auch der von Mark Daver einstudierte Chor hier bieten. Alle bewegen sie sich auf der Drehbühne, die nicht nur um die eigene Achse kreist, sondern sich auch in ihrem Inneren bewegt. Der Bühnenbildner Flurin Borg Madsen hat für den Abend ein gewaltig in die Höhe strebendes Gestell entwickelt, das hier die Fassade des Schlosses, dort eine breite Treppe sehen lässt – alles farbenfroh und diskret von Herren aus der Bühnentechnik gesteuert. In diesem Ambiente kommt es dann zum Ende mit Schrecken. In seinem Bestreben, ganz so wie der bewunderte Perelà zu werden, zündet sich der älteste Diener des Königs (Vladyslav Tlushch) eigenhändig an, wird aber zu Kohle statt zu Rauch, was den Hofstaat gegen Perelà aufbringt. Eine Gerichtsverhandlung wird anberaumt, sie steht unter der Leitung eines monströsen Richters (Christian Tschelebiew). Wie das Urteil trotz der Verteidigung durch die Marquise Bellonda (Marcela Rahal) ausfällt, ist leicht zu erraten – Perelà, den Rauch, kümmert es wenig. So einfach ist es im Märchen. Und kann es sogar in einer Oper aus der jüngsten Vergangenheit sein.
Der italienische Stil der Operninszenierung füllt den Raum mit Bebilderungen – zumal mit solchen, welche die Anweisungen der Librettisten und Komponisten getreulich umsetzen; «Bohème» ohne Pariser Dachstüberl ist dort unmöglich. Gerade umgekehrt ist es beim deutschen Regietheater; hier wird die Bühne jenseits aller Vorgaben in der Partitur durch Zeichen eigener Erfindung im Geiste deutender Intention angereichert. Das Gegenmodell dazu bildet der leere Raum, nicht jener von Peter Brook, aber etwa jener von Robert Wilson, der sich, um dies Beispiel auszudenken, für Wagners «Parsifal» mit einem am Boden liegenden Speer aus Neonlicht und seiner ausgeprägten Gestensprache begnügt. Eng mit dem leeren Raum verbunden, so scheint mir, ist das Bildertheater neuerer Art, wie es Pierre Audi in vielen seiner Inszenierungen für die Amsterdamer Oper, besonders in jener von Wagners «Ring», so virtuos gepflegt hat.
Im Gegensatz zum bebildernden Theater italienischer Provenienz, auch anders als das Regietheater, füllt dieses Bildertheater nicht den Raum, es lässt ihn vielmehr erst als solchen entstehen und wahrnehmen. Indem es nämlich von der Leere ausgeht und mit wenigen, grossformatigen Elementen die Umrisse schafft, innerhalb derer sich die Darstellerinnen und Darsteller bewegen. Genau das verfolgt der deutsche Bühnenkünstler Ulrich Rasche. Für seine Inszenierung von «Elektra», dem Schauspiel Hugo von Hofmannsthals, 2019 am Münchner Residenztheater erfand er eine stählerne Bühnenskulptur, die einen langsam rotierenden Spielort ergab. Dieselbe Einrichtung bestimmt auch Hofmannsthals «Elektra» in der Vertonung von Richard Strauss, seine erste Arbeit für das Musiktheater, zu der er vom Genfer Grand Théâtre eingeladen worden ist.
Zu sehen ist ein kreisrunder, schräg in den Raum fallender Turm von mächtiger Dimension und zugleich filigraner Ausarbeitung. Unter dem Turm befinden sich zwei ebenfalls kreisrunde, schräggestellte Scheiben, die in ihrem äusseren Bereich mit Laufbändern versehen sind. Enorm wirkt diese Konstruktion, zugleich ist sie aber von hoher Beweglichkeit, da sie sich in all ihren Elementen drehen und wenden lässt. Dazu kommt, vom Regisseur und Szenographen zusammen mit Michael Bauer eingerichtet, eine unerhört effektvolle Beleuchtung, die den Bühnenraum in tiefstem Schwarz belässt, die Skulptur jedoch ganz verschiedenartig erhellt und ihre Materialität wandelbar erscheinen lässt. Im Ansatz ist das nicht neu, wenn man an die in den leeren Raum gestellte Schreibe Wieland Wagners denkt, die für die Wiederbelebung der Bayreuther Festspiele nach dem Zweiten Weltkrieg steht. In der Ausfertigung ist es aber einzigartig. Und von hinreissender szenischer Wirkung. Bildertheater eben.
Alles ist da unentwegt in Bewegung, meist in schwieriger, anstrengender Bewegung – es fällt gleich zu Beginn auf, wenn die Mägde, die sich auf der unteren Ebene aufzuhalten haben, in die Situation einführen. Doch auch auf der oberen, der Herrschaft vorbehaltenen Ebene, auf der sich die grossen Konfrontationen ereignen, muss aufs Gleichgewicht geachtet werden. Indes, die Bewegung führt keineswegs zu Fortgang, alles dreht sich im Kreis – im unentrinnbaren Kreis einer blutrünstigen Rache. Verdeutlicht wird das durch den immer wieder abgesenkten Turm, der Klytemnästra und deren Töchter Elektra und Chrysothemis gefangen hält: Dem Fatum, von dem «Elektra» handelt, entweicht niemand. So kommt es auch kaum zu Dramatik – auch dann nicht, wenn sich der alte Diener (Dimitri Tikhonov) vor seinem sich noch bedeckt haltenden Herrn verneigt und wenn Elektra den für tot gehaltenen Bruder Orest wiedererkennt. Wie ein gigantisches Ritual läuft die Oper ab, gleichsam der Zeit enthoben, wie es das Libretto Hofmannsthals anlegt, und doch in anhaltend vibrierender Spannung.
Das gelingt, weil die Inszenierung den Raum schafft, in dem die strukturelle Komplexität und die hochgetriebene Expressivität der Musik von Richard Strauss uneingeschränkt zur Geltung kommen. Jonathan Nott, der Musikdirektor des Orchestre de la Suisse Romande, der an der Genfer Oper keine offizielle Position einnimmt, aber künstlerisch hohen Einfluss ausübt, durchdringt die Partitur bis in ihre kleinsten Verästelungen hinein mit pulsierendem Leben. Dabei ergibt sich ein Bogen, dessen durch Identifikation erzeugte Intensität in keinem Augenblick nachlässt; gleichzeitig hat Nott für jeden das erforderliche Handzeichen und für jede einen nützlichen Blick bereit. Das grossbesetzte Orchester schont sich in keinem Augenblick; es sitzt an der Stuhlkante und gibt, was es zu geben vermag. Kraftvoll und klangschön, das ist nicht selbstverständlich, die Eruptionen im Fortissimo, rund und warm die Tiefen, hell leuchtend und schimmernd die Momente der Zärtlichkeit, federnd die punktierten Rhythmen auch im grossen Ton. Zu laut ist da nichts, auch an den Stellen der vollen Kraftentfaltung sorgen die Balancierung durch den Dirigenten und die grossartig gewachsene Klangkultur des Orchesters für sinnreiche Grenzziehungen.
So bleibt ausreichend Raum für die vokale Seite, und die erheischt allen Respekt. Die drei Protagonistinnen – sie sind wie alle Mitglieder des grossen Ensembles von den Kostümbildnerinnen Sara Schwartz und Romy Springsguth in schlichtes Schwarz gewandet und mit markanten Korsetts versehen, an denen die zur Besteigung der stählernen Skulptur notwendigen Sicherheitsseile befestigt sind –, die drei Protagonistinnen sind in der Höhe postiert, ihre Stimmen überfliegen den Orchestergraben und bleiben dementsprechend präsent. Tanja Ariane Baumgartner gibt die Klytemnästra mit wohlgrundiertem, gerundetem Mezzosopran und in hohem Mass verständlich, ausserdem fern jener Hysterie, die hier so nahe liegt. Mit hellem Timbre dringt Sarah Jakubiak als Chrysothemis auf ein Leben als Frau. Während bisweilen Ingela Brimberg mit ihrem weiten Ton als eine Elektra von menschlichem Format erscheint – nicht als eine Kranke, sondern als eine Frau, die ganz einfach weiss, was sie will und keinen Schritt davon abweicht. Wunderbar der Orest von Karoly Szemeredy, köstlich der Ägisth von Michael Laurenz. Dass dem Musikalischen in der szenischen Einrichtung von Ulrich Rasche so viel Bedeutung zukommt, wie es bei «Elektra» selten der Fall ist, stellt die eigentliche Wohltat des Genfer Abends dar.