Zuckersüss? Nein: bitterbös – und sehr amüsant

Ein «Rosenkavalier» aus Luzern

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Ingo Hoehn, Luzerner Theater

«Der Rosenkavalier» – ein Wagnis? Für Luzern schon. Das Haus von 1839 verfügt über rund 500 Sitzplätze im Parkett und auf zwei Rängen; weder von der Raumakustik noch von den Dimensionen des Orchestergrabens her scheint es möglich, hier die orchestral grossbesetzte Komödie für Musik aus dem Jahre 1911 in einer vertretbaren Weise zu verwirklichen. Oder stimmt das etwa nicht? Das von Ina Karr als Intendantin geleitete Luzerner Theater wollte es wissen. Es brachte den «Rosenkavalier» schnurstracks zur Luzerner Erstaufführung – und bietet damit einen Musiktheaterabend, der einen überrascht, nachdenklich macht, aber auch in bester Weise amüsiert.

Kein Wunder, am Regiepult sass Lydia Steier, ihres Zeichens Co-Operndirektorin am Luzerner Haus – und eine Theaterzauberin erster Güte. Es beginnt damit, dass dem Mariandl, der Kammerzofe der Feldmarschallin, eine zentrale Rolle zukommt. Kleingewachsen und tonlos, aber vielsagend in Blick und Geste führt Valérie Junker durch den Abend, öffnet und schliesst den Vorhang und ist stets zur Stelle, wenn es einen dienlichen Handgriff zu leisten gilt. Rasch stellt sich Zirkus-Atmosphäre ein, was im Lever des ersten Aktes nach Massen ausgekostet wird. Ein wild gewordener Affe lässt sich kaum bändigen. Und als Lakai des Ochs auf Lerchenau zeigt Daniel Foltz-Morrison stupende Fussfertigkeit. Gegen Ende des Aktes aber legt sich Schwermut über die Szenerie, betrauert die Feldmarschallin (Eyrún Unnarsdóttir) das unvermeidliche Weiterziehen des jungen Octavian, während sich der von seiner Mutter-Geliebten nicht zu emanzipieren vermag. Und dies, obwohl im Schlussbild hinten oben die Zukunft sichtbar wird, ein junges Ding mit Bubikopf: Sophie.

Sie sind beide hinreissend, die kesse, strahlend singende Tania Lorenzo, die ihrem Vater, dem Edlen von Faninal (Jason Cox), die Kaugummiblase ins Gesicht platzen lässt, und die hochemotionale, dunkel klingende Solenn‘ Lavanant Linke als der doch schon etwas reifere Quinquin. Fast misslingt sie, die Übergabe der silbernen Rose im zweiten Akt. Auf beiden Seiten herrscht verklemmte Zurückhaltung, wenn nicht Widerwillen, und unter der Leitung von Robert Houssart will im Luzerner Sinfonieorchester, das im Konzert bessere Eindrücke hinterlässt, als es an diesem Abend geschieht, kein Zauber aufkommen. Allein, das mag Absicht sein: Die zartschmelzende Süsse, die so manche «Rosenkavalier»-Deutung kennzeichnet, soll diesmal ausgespart bleiben. Hand dazu bietet die kompromisslose Einrichtung der Partitur durch den Dirigenten und Komponisten Eberhard Kloke; in seiner Version «für mittelgrosses Orchester» ist nicht nur einfach die Zahl der Streicher verkleinert, sondern sind auch die Klangfarben neu geordnet, da reduziert und aufgelichtet, dort erweitert. Manches tritt überraschend heraus, geradezu schockierend ist indessen der bedrohliche, bisweilen harsche Grundton, der von Anfang an im Raum steht. Er erzeugt ähnliche Wirkung wie «La Valse», das Orchesterstück von Maurice Ravel, wo der unbeschwerte Wiener Walzer unerbittlich in die Katastrophe geführt wird. In die vom Komponisten vorausgeahnte Katastrophe der Grande Guerre.

So ist Lydia Steier nun einmal. Fabelhaft unterstützt durch die szenischen Gestalter Blake David Palmer (Bühne) und Alfred Mayerhofer (Kostüme), lässt sie ihrer Energie als genuines Theatertier freien Lauf, dies jedoch nicht um ihrer selbst willen, sondern ganz und gar im Dienst einer hellsichtigen, schonungslos zugespitzten Interpretation. Für den verklärten Blick in ein entschwundenes Rokoko, für den retrospektiven Anklang an eine goldene Zeit, die den «Rosenkavalier» als Bleigwicht der Rezeption belastet, hat die Regisseurin wenig Verständnis. Nahe am Text Hugo von Hofmannsthals stellt sie vielmehr heraus, in welchem Endzustand das feudale Gesellschaftssystem vorgeführt wird. Die autoritären Grundstrukturen sind noch in Kraft, die Menschen, denen die herrschende Ordnung zu Nutzen ist, taumeln freilich degeneriert ihrem Untergang entgegen. Hauptfigur ist hier der unflätige Baron Ochs auf Lerchenau, der nichts anderes im Sinn hat als sein Geschlechtsteil zu aktivieren und seinen Magen zu füllen. Ihm geht es in der Chambre séparée des dritten Akts beispiellos an den Kragen. Er hat sich einem von seiner angeblichen Gespielin, in Wirklichkeit von Octavian durchgeführten sadomasochistischen Ritual zu unterziehen, aus dem er so restlos zerfleddert hervorgeht, als breche für ihn sein persönliches 1918 aus. Christian Tschelebiew, der sich seinen Aufgaben ohne Schonung der Ressourcen hingibt, gelingt ein fabulöses Rollenportrait. Und die musikalische Modernität das dritten Aktes tritt selten so stark heraus, wie es hier der Fall ist.

Im Vordergrund der Bühne ist ein Swimmingpool zu sehen, in dem das echte Wasser nicht fehlt. Das Programmheft erwähnt dazu den Jungbrunnen auf dem berühmten Bild von Lucas Cranach. Tatsächlich steht am Ende des dritten Akts die Feldmarschallin als eine erstarrte Theaterfigur im kaiserlichen Ornat an jener Stelle, an der sich zwei Akte zuvor die junge Sophie gezeigt hat. Derweil sich die beiden Youngsters, die Zukunftsmenschen Sophie und Octavian, im Pool ungehemmt ihren Wasserspielen hingeben. Womit dann Zeit ist für die beiden Ensembles, welche die Oper beschliessen. In ihrer sehnsüchtigen Versöhnlichkeit, der das Orchester nichts schuldig bleibt, verfehlen sie ihre Wirkung nicht.

Glückliche Hand

Mahlers Neunte mit Jonathan Nott und dem
Orchestre de la Suisse Romande

 

Von Peter Hagmann

 

Mit Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 7 hatte sich Jonathan Nott im Herbst 2014 dem Orchestre de la Suisse Romande als neuer Chefdirigent (und Nachfolger des nur kurze Zeit präsenten Esten Neeme Järvi) empfohlen. Anfang 2015 wurde er dann auch gewählt – mit Amtsantritt im Januar 2017. Sechs Jahre sind seither vergangen, die Beziehung zwischen dem Genfer Orchester und seinem Directeur musical et artistique steht in voller Blüte. Die Konzerte in der altehrwürdigen Victoria Hall (das Projekt eines neuen Konzertsaals ist in einer Volksabstimmung 2021 durchgefallen) sind gut besucht, auch dank den Initiativen des Intendanten Steve Roger. CD-Aufnahmen für das Label Pentatone machen auf sich aufmerksam; eine der jüngsten mit einer von Nott selbst eingerichteten Suite aus Claude Debussys Oper «Pelléas et Mélisande» (vgl. «Mittwochs um zwölf vom 12.01.22) erhielt den Preis der deutschen Schallplattenkritik. Die Beziehung zum Grand Théâtre de Genève, in dessen Graben das Orchester wirkt, ist nicht zuletzt dank dem Einvernehmen zwischen Nott und Aviel Cahn, dem Direktor des Grand Théâtre, zu beiderseitigem Gewinn verfestigt worden. Inzwischen ist Notts Vertrag verlängert worden, ohne zeitliche Begrenzung notabene. Wie sagte Herbert von Karajan, als er von den Berliner Philharmonikern für das Amt des Chefdirigenten angefragt wurde: Gerne, aber auf Lebenszeit…

Dass es mit Mahlers Siebter geklappt hat, ist kein Wunder, der Komponist steht Nott besonders nahe, und so kommt er immer wieder auf ihn zurück. In Genf war jetzt war die Reihe an der neunten – für das Orchester ein Parforceritt der Sonderklasse. An diesem Abend galt das besonders, ging der knapp neunzig Minuten dauernden, nach allen Seiten hin anspruchsvollen Musik Mahlers doch noch das Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy inklusive Pause voraus. Das war definitiv zu viel des Guten. Und das umso mehr, als das Orchester zwar ganz ausgezeichnet begleitete, die junge Solistin Alexandra Conunova ihren Part aber im Geist der russischen Schule anging, was zu den bekannten Missverständnissen und Geschmacklosigkeiten führte. Im weiteren Verlauf des Abends kam es denn auch zu Einbrüchen in der Konzentration, was sich in einer erhöhten Frequenz von Hustenanfällen niederschlug. Das fiel deshalb ins Gewicht, weil Jonathan Nott gerade in den Momenten des allerleisesten Verklingens am Schluss des ersten Satzes wie am Ende des Finales mit letzter Konsequenz zu Werk ging. In spannungsvoller, ausgesprochen mutiger Ruhe zog er die Prozesse der Verlangsamung und der Auflösung durch. Und das Orchestre de la Suisse Romande, dessen Streicher in diesen Momenten der Zurücknahme ins Piano-Pianissimo extrem gefordert waren, blieben mit bewundernswertem Engagement an des Dirigenten Seite.

Insgesamt bot die Aufführung freilich ein sehr bewegendes Wechselbad der Gefühle. Nott nimmt Mahler beim Wort. Und das Orchester gibt seinem Dirigenten, war er braucht. So herrscht denn nicht jene Abgeklärtheit, die bei so grossartigen Mahler-Dirigenten wie Claudio Abbado und Bernard Haitink das Geschehen im Zaum gehalten hat. Vielmehr schiessen die Emotionen immer wieder mit erschreckender Urgewalt hoch; explizit spricht die Musik von dem in vielerlei Weise zerrissenen Innern des Komponisten – das so direkt, so greifbar mitgeteilt zu bekommen, führt zu Hörerlebnissen eigener Intensität. Bei aller Emotionalität bleibt Nott aber doch der in Kategorien der Moderne denkende Musiker, der er seit jeher ist (die jüngste CD-Publikation des Genfer Orchesters mit dem fabulösen Tessiner Pianisten Francesco Piemontesi gruppiert Klavierkonzerte von Maurice Ravel und Arnold Schönberg um die «Oiseaux exotiques» für Klavier und Ensemble von Olivier Messiaen). In gleichem Mass, wie er auf den zugespitzten Gefühlsausbruch hinsteuert, hat der Dirigent die strukturelle Seite des musikalischen Geschehens im Blick – und die ist im Falle von Mahlers Neunter von besonderer Vielschichtigkeit. Mit Blicken, mit den Händen, dem Oberkörper ist Nott zur Stelle, wenn es ernst gilt. Das bringt musikalische Energie zutage, sorgt aber auch für jene Trennung der Farben, die das Stimmengeflecht zum Leuchten bringt. Besondere Spannung trug den zweiten Satz, und das bis zum Schluss, wo Elçim Özdemir, die Stimmführerin der Bratschen, mit ihren kernigen solistischen Interventionen das Bild wesentlich prägte. Überhaupt fehlte es nicht an glanzvollen Leistungen einzelner Orchestermitglieder; einmal mehr war zu begreifen, wie sehr die Wirkung des Ganzen bei der Beteiligung des Einzelnen beginnt.

Zweimal sieben Todsünden

Brecht und Weill in Biel und Solothurn

 

Von Peter Hagmann

 

Christiane Boesiger in Solothurn (Bild Suzanne Schwiertz, Konzert-Theater Biel-Solothurn)

«Die sieben Todsünden» von Kurt Weill auf einen Text von Bertolt Brecht aufzuführen – was für eine gute Idee. Dieter Kaegi, der Intendant von Theater-Orchester Biel-Solothurn, dem es an guten Ideen bekanntlich nicht fehlt, hatte sie. Gut ist die Idee, weil das Stück, weder Schauspiel noch Oper, sondern ein Ballett mit Gesang, sehr selten auf den Spielplänen erscheint – wo es in seiner ganz eigenartigen Gegenwärtigkeit doch das Gegenteil verdient hätte. Allein, der guten Idee widersetzen sich Schwierigkeiten, denn wie soll sich die halbe Stunde, in der «Die sieben Todsünden» verhandelt werden, zu einem tragfähigen Abend werden? Mit anderen Worten: Was soll dazugestellt werden? Auch zu solchen Fällen hat es in Biel und Solothurn schon gute Ideen gegeben, unvergessen zum Beispiel «La notte di un nevrastenico», ein hinreissender Spass von Nino Rota, vor Puccinis «Gianni Schicchi» (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 04.01.17). Diesmal aber entschieden Dieter Kaegi und der von ihm engagierte Regisseur Olivier Tambosi, dass nichts dazukommen soll. Dafür wird das Stück zweimal gespielt, einmal in der deutschen Originalsprache, einmal in einer Übersetzung ins Englische.

Das ist eine ebenso aufschlussreiche wie witzige Anspielung an die Rezeptionsgeschichte der «Sieben Todsünden». Tatsächlich geriet die Pariser Uraufführung von 1933 zum Misserfolg; der im Original gegebene Text blieb dem Grossteil des Publikums unverständlich. Weshalb schon rasch eine neue Fassung in den Blick genommen wurde, eine den Zeitläuften entsprechend in englischer Sprache. Beim Zuhören anlässlich der Premiere im Stadttheater Solothurn entstand der Eindruck, dass sich das Englische besser, wenigstens müheloser, mit der Musik Weills verbindet als das für Brecht kennzeichnende, etwas kantige Deutsch. Dafür kommt bei der Begegnung mit dem ursprünglichen Text die unzweideutige Botschaft Brechts mit ihrer Aktualität kraftvoller zur Geltung als im Englischen, wo sich eine wohlige, leicht verharmlosende Musicalatmosphäre einstellt – was vielleicht auch auf die reduzierte Fassung von HK Gruber und Christian Muthspiel mit ihren Anklängen an den Ton der «Dreigroschenoper» zurückgeht. Wer vorwärtskommen will, so die Maxime der von Brecht in seinem Stücktitel ausdrücklich angesprochenen Kleinbürger, muss kompromisslos Fleiss zeigen, keine Zeit für Gefühle verschwenden, sein Selbstgefühl unter den Scheffel stellen und erfüllen, was die Umgebung wünscht – es könnte von heute sein. Zum Beispiel, umgelegt auf Medien aller Art: Klickzahl als Zeichen der Anpassung an den Publikumsgeschmack vor Qualität des Produkts und der Aussage.

Um die Botschaft auf der Bühne fassbar zu machen, hat Brecht in die Trickkiste gegriffen. Im Zentrum steht Anna, die von ihrer Familie im armen Süden der Vereinigten Staaten auf eine Reise in den Norden geschickt wird, um Geld für den Bau eines eigenen Häuschens zu erwirtschaften. Die Familie ist von brutaler Zielgerichtetheit, weshalb sie Männerstimmen gesungen wird (Remy Burnens, Konstantin Nazlamov, Félix Le Gloahec und Jean-Philippe McClish bewältigen das blendend). Anna wiederum ist aufgeteilt auf zwei Figuren, auf Anna I, die den Katalog der Todsünden verkörpert, und Anna II, die diesen Todsünden noch so gerne nachlebt, von ihrer Schwester aber immer wieder in den Senkel gestellt wird. In Analogie zur Besetzung der vier Familienmitglieder werden die beiden Annas von einem Mann wie einer Frau verkörpert, wobei die Rollen in der Wiederholung des Stücks gewechselt werden. Das schafft erheiternde Wirkung. Zu Beginn, während die fünfzehn Mitglieder des Sinfonieorchesters Biel-Solothurn unter der Leitung von Iwan Wassilevski mit Schwung zur Sache gehen, bleibt der Vorhang geschlossen. Ein weiss geschminktes Frauengesicht schiebt sich durch den Spalt und singt das eröffnende «Lied der Schwester». Nur, so gleich die Frage, hat Christiane Boesiger inzwischen eine so tiefe, verrauchte Diseusenstimme?

Natürlich nicht. Es ist Christian Manuel Oliveira, der noch unsichtbar das «Lied der Schwester» singt, während Christiane Boesiger bloss die Lippen bewegt, das aber in derart perfekter Übereinstimmung tut, dass man unversehens ins Spiegelkabinett der kleinbürgerlichen Todsünden hineintaumelt. Im ersten Durchgang, auf Deutsch, erscheint Christian Manuel Oliveira als Anna I und zeigt, dass er nicht nur zu agieren, sondern auch zu singen versteht. Erst recht gilt das für Christiane Boesiger, die diese Aufgabe im zweiten Durchgang übernimmt und dabei mit ausgezeichnet verständlichem Englisch und gepflegtem kleinem Vibrato auffällt. Anna II dagegen ist als stumme Rolle anwesend; die Partie, so wollten es Brecht und Weill, so mussten sie es 1933 der Umstände wegen wollen, ist für eine Tänzerin gedacht, was in der Produktion von Biel und Solothurn nicht beim Wort genommen wird. Hier schlägt vielmehr die Stunde von Olivier Tambosi, der sich nicht nur als Regisseur, sondern auch Bühnenbildner eingebracht hat. Elegant arbeitet er mit verschiebbaren Transparenten, was auf den kleinen Bühnen der beiden Häuser Raum lässt, aber auch diskret auf die Schrifttafeln in Brechts Epischem Theater verweist. Hochbeschäftigt sind die Protagnisten wie die Familie, deren Mitglieder den Nibelungen gleich Würfel um Würfel zum Bau des Häuschens herbeischleppen. Das alles in einer zirkusartigen Umgebung, wie sie die Kostümbildnerin Lena Weikhard in grellen Farben herausstellt. Die Doppelbödigkeit, ja der Zynismus von Brechts Vorlage findet darin adäquate Spiegelung.

Entdeckungen, Überraschungen

In den Schweizer Konzertsälen herrscht Leben

Von Peter Hagmann

 

Biel – und Joseph Lauber

Sechs Sinfonien hat er geschrieben, keine einzige ist bekannt, keine wird gespielt. Wie bedauerlich das ist, lässt sich jetzt allerdings nachprüfen – und vielleicht hat das Folgen. Denn das Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn und sein Chefdirigent Kaspar Zehnder haben es sich zusammen mit dem von Graziella Contratto geleiteten Label Schweizer Fonogramm zur Aufgabe gemacht, Joseph Lauber der musikalisch interessierten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Lauber? Nie gehört, noch vergessener als Joachim Raff oder Hans Huber. Dabei waren die Voraussetzungen nicht schlecht: Als Sohn eines Schneidermeisters im Luzerner Hinterland geboren und bei Neuchâtel aufgewachsen, konnte Joseph Lauber (1864-1952) dank einem von den Chocolatiers Suchard gewährten Stipendium in Zürich bei Friedrich Hegar, in München bei Josef Gabriel Rheinberger und in Paris bei Jules Massenet studieren. Bald zog es ihn nach Genf, wo er am Theater als Kapellmeister wirkte und am Konservatorium Komposition unterrichtete – zu seinen Schülern, allerdings auf privater Ebene, zählte auch Frank Martin. In der Schweizer Musikszene wurde seine Stimme gehört, die grosse Karriere suchte er jedoch nicht. Dafür schrieb er über zweihundert Werke, die in der Universitätsbibliothek Lausanne aufbewahrt werden.

Mit Hans Huber, dessen Name immerhin noch einen Basler Konzertsaal ziert und dessen Sinfonien in den 1990-er Jahren von dem schwedischen Label Sterling vorgelegt wurden, teilt Joseph Lauber die Verankerung in der deutschen Spätromantik und die Nähe zu Johannes Brahms – wobei Laubers Musik durchaus auch französische Farben kennt. Seine sechs Sinfonien, zwischen 1895 und 1918 mit einem Nachzügler 1949 entstanden, gehören zum Anregendsten aus dem Bereich der Schweizer Musikgeschichte vor dem Ende des Ersten Weltkriegs. In ihnen verbindet sich ästhetische Weltläufigkeit mit dem Duft der Heimat – eigenartig schweizerisch, jedoch ohne eine Spur ohne Enge klingt diese Musik. Und leicht geht sie ins Ohr, denn das Material ist geschickt erfunden und ebenso geschmeidig wie vielschichtig verarbeitet.

Auf den drei Compact Discs von Schweizer Fonogramm lässt sich das ausgezeichnet nachvollziehen. Nicht zuletzt dank der hervorragenden Aufnahmetechnik von Frédéric Angleraux. Schweizer Fonogramm sieht sich als «ein Label von Musikern für Musiker». Im Vordergrund stehen Sachbezogenheit und Qualitätsanspruch, wovon auch die informativen Booklets zeugen. Ausserdem wird konsequent an der Studioaufnahme und an der CD als netzunabhängigem Tonträger festgehalten, obwohl die Aufnahmen, wenigstens zum Teil, auch im Internet greifbar sind. Zentral bleibt jedoch die interpretatorische Qualität. Das Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn zeigt sich von allerbester Seite, es legt Zeugnis ab von dem erfolgreichen Weg, den es mit Kaspar Zehnder in den vergangenen zehn Jahren zurückgelegt hat. Jetzt strebt der Chefdirigent nach neuen Ufern. Unter seiner Leitung hat das Orchester einen deutlichen Qualitätssprung vollzogen, das war in vielen der unter schwierigen Bedingungen, zum Beispiel in engen räumlichen Verhältnissen entstandenen Opernproduktionen zu erfahren, das war auch im Abschiedskonzert Kaspar Zehnders zu hören (hier vermerkt als Abend in dem wunderschönen Konzertsaal von Solothurn). Sehr bildhaft die Rumänische Rhapsodie Nr. 2 von George Enescu, farbenreich und brillant die «Nächte in spanischen Gärten» von Manuel de Falla mit der virtuosen Pianistin Judith Jáuregui, vital und klangschön die Achte Sinfonie Antonín Dvořáks. Der Leistungsausweis darf gezeigt werden.

 

Zürich – Streichquartett im sakralen Raum

;on wegen «Konzertsaal»: In Zürich wird für manches Konzert, für Kammermusik zumal, nicht die Kleine Tonhalle gemietet, sondern in die Kirche St. Peter ausgewichen. Der barocke Raum verfügt über eine reiche, füllige Akustik, die gerade das Streichquartett herrlich umhüllt, ohne die Transparenz zu erschweren. Eben erst bestätigte es sich wieder in einem der vier Quartettprogramme, welche die von Jürg Hochuli betreute Neue Konzertreihe Zürich von Frühsommer bis Frühherbst in St. Peter anbietet. Angesagt war das Schumann-Quartett, eines der berühmtesten unter den Ensembles jüngerer Generation. Es hat einen neuen Bratscher; Veit Herstenstein heisst er, und er passt haargenau zu den drei Brüdern Erik Schumann (Erste Geige), Ken Schumann (Zweite Geige) und Mark Schumann (Cello). Hertenstein passt darum so gut, weil er als Kammermusiker äusserst aktiv mitwirkt. Mit seinem kernigen Ton und seiner pointierten Artikulation verhilft er zusammen mit dem ohnehin aussergewöhnlich präsenten Sekundgeiger den Binnenstimmen zu einem Profil, das dem musikalischen Geschehen im Quartett spannendes Gleichgewicht verschafft. Nicht Erste Geige und Cello geben den von Zweiter Geige und Bratsche grundierten Ton an, alle vier gemeinsam tun es – das trifft man in dieser Ausprägung nicht alle Tage.

Geschwister auch im Programm: Fanny Hensel, geborene Mendelssohn, ging ihrem gut drei Jahre jüngeren Bruder Felix Mendelssohn Bartholdy auf dem Weg der Musik voran. Eine schöne Idee, die in der Verwirklichung jedoch nicht aufging. Fanny Cäcilie Mendelssohn Bartholdy hatte es bekanntlich nicht leicht. Als Frau blieb ihr die musikalische Laufbahn versagt, nämlich von der Familie untersagt, und als Künstlerin stand sie hinter ihrem Bruder zurück. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht, wie ihr Streichquartett in Es-dur von 1834 ahnen liess. Die Begabung ist klar zu hören, zugleich schliesst das Werk aber auch immer wieder und unverkennbar, in einzelnen Wendungen wie im Tonfall, an das neun Jahre zuvor entstandene Streicherokett in Es-dur des Bruders an. Dennoch setzte sich das Schumann-Quartett mit Verve für Fanny Hensel ein, besonders in der Romanze des dritten Satzes, in der die Viola voranging. Mit mehr Erfolg tat es Ensemble beim späten, nach dem Tod der Schwester komponierten Streichquartett in f-moll von Felix Mendelssohn Bartholdy. Die Interpretation orientierte sich eindeutig an der biographischen Situation, das geradezu orchestrale Forte, zu dem das Schumann-Quartett in der Lage ist, bot es an; ein weiter Bogen spannte sich zwischen dem zornigen Tränenausbruch im Kopfsatz und dem Grabgesang im Adagio. Beispielhafte Kammermusik war das. Am 21. August folgt das Pavel Haas-Quartett, am 11. September das Simply Quartet.

 

Basel – weiterhin im Aufbruch

Besonders quirliges Leben herrschte im grossartig renovierten Musiksaal des Basler Stadtcasinos, in dem das Sinfonieorchester Basel zusammen mit dem Gastdirigenten Jukka-Pekka Saraste zum Abschluss seiner sinfonischen Saison auftrat. Gut gefüllt der Saal und besetzt mit auffallend vielen jungen Menschen – wie schaffen das Hans-Georg Hofmann als Künstlerischer Direktor und Franziskus Theurillat als Orchesterdirektor? Vor mir drei Girls, die Mahlers Erste gewiss noch nie gehört hatten, die nach den Beckenschlägen aufgeregt wisperten und beim stürmischen Einsatz des Finales nach dem gemessenen Trauermarsch des dritten Satzes sichtbar erschreckten – die aber das Gebotene mit aller Aufmerksamkeit aufnahmen und heftig applaudierten. Ach ja, es wird bald aussterben, das Sinfoniekonzert…

Auch auf dem Podium wird in Basel das Gegenteil bewiesen. Das Sinfonieorchester Basel lebt weiterhin im Zeichen des Aufbruchs, obwohl (oder gerade weil?) sein Chefdirigent Ivor Bolton mehr durch Abwesenheit glänzt als durch das Gegenteil. In seiner Existenz als freies, wenn auch von der öffentlichen Hand unterstütztes Orchester gibt es seine zehn bisweilen doppelt geführten Abonnementskonzerte, bietet es aber auch ein breites Spektrum an Konzertformaten anderer Art, in denen es direkt auf sein angestammtes Publikum zugeht und gleichzeitig neue Hörerschichten anzusprechen sucht. Vor allem aber erwies es bei seinem Saisonbeschluss (vor einem wegen der Pandemie verschobenen Chorkonzert mit Hans Hubers Oratorium «Erfüllung und Weissagung» am 20. August) seine anhaltend hochstehende Form, und zwar in klanglicher wie in technischer Hinsicht.

Ganz eng an der Seite des Solisten Steven Isserlis stand das Sinfonieorchester Basel beim Cellokonzert von William Walton, einem für kontinentaleuropäische Ohren etwas seltsam wirkenden und dementsprechend selten gespielten Werk. Was Isserlis, ein Ausdrucksfanatiker erster Güte, aus der Partitur herausholte, wie er aus ihrer Schrägheit kein Hehl machte und, umgekehrt, ihre Kantabilität zu ungeschmälerter Wirkung brachte, war schon eindrücklich genug. Vollends trat das aber bei der Sinfonie Nr. 1, D-dur, von Gustav Mahler heraus, die Jukka-Pekka Saraste in gelassener Souveränität, dabei aber mit allem Temperament anging. Und als im Finale die Hornisten nicht nur ihre Schalltrichter in die Höhe hoben, sondern sich, wie es der Komponist verlangt, von ihren Sitzen erhoben, gab es sogar Ungewöhnliches zu sehen.

Im Bann der Netzwerke

Puccinis «Turandot» im Genfer Grand Théâtre

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Magali Dougados, Grand Théâtre de Genève

Im Genfer Grand Théâtre haben jetzt die Architekten das Sagen. Die Bühnenarchitekten. Im Februar dieses Jahres war die Reihe an Ulrich Rasche, der natürlich kein Architekt ist, sondern – wie soll man sagen: ein Bühnenbildner, der auch Regie führt, oder ein Regisseur, der seine Ausstattungen selbst entwirft? Für «Elektra» von Richard Strauss hat Rasche ein raumgreifendes Stahlgerüst auf die grosse Genfer Bühne gestellt, einen schräg einfallenden, kreisrunden, von der Drehbühne bewegten Turm mit mehreren Stockwerken, auf der sich die Tragödie ereignet. Ein Abend des ganz ins Grosse gedachten Bildertheaters war das, überwältigend in seiner Wirkung – und dies, obwohl der Dirigent Jonathan Nott die aufbrausende Musik Strauss’ so in die Tiefe auslotete, dass man sie bis in letzte Einzelheiten aufzunehmen vermochte, also zu wachem Zuhören eingeladen war (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 02.02.22).

Nun also «Turandot», Giacomo Puccinis letzte, unvollendete Oper, in einer ähnlichen Konstellation. Auch hier sind nicht Architekten im eigentlichen Sinn am Werk, aber irgendwie doch, denn teamLab Architects, das für die Ausstattung verantwortliche Ensemble, begreift den Raum als ein Ganzes und begegnet ihm mit aus Netzwerkdenken entwickelten Methoden. teamLab, vor gut zwanzig Jahren von Toshiyuki Inoko gegründet und heute international äusserst erfolgreich unterwegs, besteht aus Künstlern und Ingenieuren, Informatikern und Architekten, welche die gemeinsame Kreativität und die Synergie zwischen den verschiedenen Ausdruckswegen suchen.

Für «Turandot» hat teamLab eine vergleichsweise konventionelle, das Prinzip der Guckkastenbühne sogar noch unterstreichende szenische Einrichtung entworfen. Vom herkömmlichen Bühnenbild unterscheidet sie sich zunächst dadurch, dass sie ausgeprägt in die Höhe strebt, indem sie nicht nur verschiedene Ebenen übereinanderlegt, sondern auch dramaturgisch aussenstehende Figuren aus dem Schnürboden herunterkommen lässt. Führt das schon wie beim Turm Ulrich Rasches zu einer Erweiterung der optischen Wahrnehmung, so kommt beim teamLab der unkonventionelle Umgang mit dem Licht dazu. Mit dem Laserlicht vor allem. Eingesetzt wird es zur Schaffung äusserst beweglicher Farbwirkungen auf einem als Prospekt eingesetzten Hintergrund, vor allem aber auch durch die Erzeugung einer Art 3D-Wirklichkeit, weil die Strahlen den Zuschauerraum miteinbeziehen und den Blick in die Tiefe lenken.

Das alles ist als erweiterte Lightshow von unbestreitbarer Wirksamkeit. Worin nicht die technische, vielmehr die künstlerische Innnovation liegt, ist aber weniger klar zu fassen. Im Grunde nämlich unterscheidet sich die Genfer «Turandot» in der optischen Anmutung nur graduell von einer Inszenierung in der Tradition des italienischen Ausstattungstheaters, etwa der mit Gold und Statisterie prunkenden Produktion von Giuseppe Verdis «Aida» unter der Federführung von Franco Zeffirelli im Dezember 2006 an der Mailänder Scala. Wie dort wird auch in Genf unerhörter Aufwand an Personal und Kostüm (Kimie Nakano) betrieben, was blendet, im Erkenntnisgewinn jedoch bescheiden bleibt.

Zumal die Inszenierung von Daniel Kramer als eine solide Arbeit erscheint, eine klar definierte theatrale Handschrift aber schuldig bleibt. Dass die Minister Ping, Pang und Pong (Simone del Salvio, Sam Furness, Julien Henric) als Figuren der Commedia dell’Arte entstammen, wird in denkbar erheiternder Weise deutlich. Schon weniger zu begreifen ist, warum den Herren, die um die Hand der Prinzession Turandot anhalten, die drei von ihr gestellten Fragen aber nicht zu beantworten wissen und darum geköpft werden – warum diesen Herren in Genf die Genitalien ausgerissen werden. Allerdings nicht die Genitalien in natura, sondern versinnbildlicht durch eine Dolde an Weintrauben, ja, vielleicht Weintrauben. Gewiss, Puccini hatte sein eigenes Ding mit der genitalen Betätigung, darauf im Rahmen der insgesamt wenig gezielten Personenführung so ausdrücklich einzugehen, erscheint allerdings ziemlich aufgesetzt.

Überhaupt hat sich das Szenische, das Sichtbare, an diesem Abend wieder einmal mächtig aufgeplustert, ein verbreitetes Grundübel im heutigen Opernbetrieb. Dass es auch bei «Turandot» nicht nur um Theater, sondern auch und eigentlich vor allem um Musik geht, wäre um ein Haar vergessen gegangen. Sehr erfolgreich dagegen arbeitet der Dirigent Antonino Fogliani, der die Massen straff in der Hand hält und durch stimmige Tempogestaltung das Geschehen grossartig in Fluss bringt. Das Orchestre de la Suisse Romande sorgt für unerhört süffigen Klang, der von Alan Woodbridge vorbereitete Chor für herrliches Volumen. Und durchwegs hochstehend das Ensemble mit Ingela Brimberg als stimmgewaltige Turandot, Francesca Dotto als eine mit strahlendem Timbre einsteigende, im zweiten Auftritt aber sorgsam berührende Liù und Teodor Ilincai als ein Calaf, der zu unglaublicher Kraftentfaltung in der Lage ist. Dass für das fehlende Ende nicht auf Franco Alfano, sondern auf Luciano Berio zurückgegriffen wird, dass das kraftstrotzende Stück also ultraleise endet, spricht für sich. Trotz allem Spektakel gibt es in der Genfer «Turandot» auch etwas zu hören. Und wie.

Der Leuchtturm in Genf

Besuch beim Orchestre de la Suisse Romande

 

Von Peter Hagmann

 

Die Konzertsäle und Opernhäuser hätten Mühe, ihr Publikum zurückzugewinnen, die Musik als Kunst sei am Ende, sie müsse aktiv und mit allen, auch mit ungewöhnlichen Mitteln unter die Leute gebracht werden, unter die jungen Leute vor allem, denn die älteren wiesen nicht das notwendige Potential auf. So wird geschrieben, so wird gesprochen, aber wohl doch eher von Menschen, die nicht in die Oper, nicht ins Konzert gehen, bestenfalls Statistiken lesen. Wer die Branche kennt, wird wissen, dass sich eine zwei Jahre dauernde Zwangspause nicht von heute auf morgen bereinigt, dass es also verfehlt ist, vom aktuellen Zustand im Vergleich mit den Verhältnissen vor dem Ausbruch der Pandemie auf die Zukunft zu schliessen. Und wer ihn und wieder ein Konzert anhört oder eine Opernaufführung besucht, wird gut und gerne von vollen Rängen berichten können – Momentaufnahmen, gewiss, aber doch Wirklichkeit. Bruckners Fünfte mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und dem Dirigenten Herbert Blomstedt, «Rheingold» in der Inszenierung von Andreas Homoki und unter der musikalischen Leitung von Gianandrea Noseda im Opernhaus Zürich stehen als zwei beliebige Beispiele aus jüngerer Zeit dafür, dass von einem allgemeinen, grundlegenden Zerfall keine Rede sein kann.

So gedacht auch eben erst in der Genfer Victoria Hall, wo das Orchestre de la Suissse Romande mit seinem Chefdirigenten Jonathan Nott aufgetreten ist: im Abschlusskonzert der Saison und mit einem Programm eher konventionellen Zuschnitts (was ja keineswegs verboten ist).  Gut besucht war der Saal, das Publikum durchaus gemischt, die Stimmung ausgezeichnet. Vielleicht ist es, so der spontane Gedanke dazu, doch ganz einfach eine Frage der Qualität. Das Genfer Orchester hat eine Stufe der Kompetenz erreicht, die sich vergleichen lässt mit den dank der Schallplatte noch immer lebendigen Ära mit dem Gründer Ernest Ansermet und später dem Goldenen Jahrzehnt mit Armin Jordan.

Nott hat das klangliche Profil der Formation entschieden geschärft, und die Ausstrahlung des Dirigenten im Moment des Konzerts trägt ganz wesentlich zum Gelingen der künstlerischen Projekte bei. Notts Handschrift ist jedenfalls klar und auf Anhieb erkennbar, das bezeugt auch die sehr spezielle, in ihrer Weise sensationelle Doppel-CD mit einer von Nott erstellten Suite aus der Oper «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy und der gleichnamigen Tondichtung Arnold Schönbergs (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 12.01.22) – kein Wunder, ist die CD-Produktion durch den Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet worden.

Die besondere Qualität trat an besagtem Abend im angestammten Genfer Konzertsaal beim Violinkonzert von Johannes Brahms heraus. Frank Peter Zimmermann bewältigte den Solopart auf seiner ihm so sehr ans Herz gewachsenen, inzwischen wieder zur Verfügung gestellten Stradivari mit dem Namen «Lady Inchquin» mit einer Souveränität sondergleichen. Üppig und warm der Ton, innig die Musikalität der Wiedergabe. Das Orchester wiederum stand dem vom Publikum gefeierten Solisten in grossartiger Übereinstimmung und geradezu kammermusikalischer Flexibilität zur Seite.

Besonderes Aufsehen erregte jedoch die zu Beginn des Abends gespielte Sinfonie Nr. 5 von Jean Sibelius. Im Norden Europas hat der Bannstrahl Theodor W. Adornos, der die Musik Sibelius’ aus den Konzertsälen des deutschsprachigen Kulturbereichs verbannte, weniger Wirkung entfaltet. Gleich Simon Rattle, Brite wie jener, geht Jonathan Nott vorurteilslos und unverkrampft an Sibelius heran. Nicht weil er eine ganz natürliche Neigung für Pathos und Pomp hätte, wie sie etwa in der Musik von Edward Elgar zum Ausdruck kommt. Sondern weil er das Moderne bei Sibelius hört, die seelische Verlorenheit, das hilflose Kreisen, im musikalischen Ausdruck aber auch die Anklänge an den Impressionismus und die harmonischen Wagnisse.

In seiner Auslegung von Sibelius’ Fünfter betont er das durch einen leichten Klang, durch sensible, differenzierte Artikulation und hohe Durchhörbarkeit – all das bot ihm das Orchestre de la Suisse Romande mit seinen wunderbaren Bläsern und seinen bestens austarierten Streichern. Das Anrührende der Musik ergibt sich da von selbst: nicht durch Druck wie weiland bei Herbert von Karajan, sondern gerade umgekehrt durch Empfindlichkeit gegenüber der Struktur – und dort, in der Struktur, sind bekanntlich die Geheimnisse verborgen. Ein Beispiel dafür bietet ein kleines, aus fünf Tönen bestehendes  Motiv im zweiten Satz, das entweder mit einem Aufstieg oder mit einem Abstieg beginnt und auf der Wiederholung zweier gleicher Töne endet. Diese beiden Töne werden üblicherweise einfach wiederholt. Jonathan Nott versteht sie aber aus dem Kontext ihrer Position im Takt heraus und lässt den ersten, schweren Ton etwas länger, den zweiten, leichteren etwas kürzer und ein wenig leiser spielen. Interpretierende Arbeit am Detail, das macht es eben aus.

Ist hier beispielhaftes Niveau erreicht, zeigt sich die kulturpolitische Lage in Genf einigermassen schwierig. Nach der verlorenen Abstimmung zu der als privat finanziertes Projekt gedachten Cité de la Musique, in der die Musikhochschule wie das Orchester adäquate räumliche Verhältnisse hätten finden können, herrscht beim Orchestre de la Suisse Romande ein gewisser Katzenjammer. Der Intendant Steve Roger sieht keine Perspektiven zur erneuten Behandlung der infrastrukturellen Probleme. Es bleibt dabei, dass sich das Orchester für Proben und Konzerte in der städtischen Victoria Hall einmietet, dort aber nicht die nötige Planungsflexibilität und vor allem nicht die Nebenräume findet, die für einen vernünftigen Betrieb vonnöten wären. Schwierigkeiten gibt es aber auch beim Grand Théâtre, dessen Renovation zahlreiche Nachtragskredite erforderlich machte. Überdies wurde bekannt, dass beim Weiterverkauf der von der Comédie Française in Paris übernommenen und in Genf erweiterten Holzkonstruktion, der «Opéra des Nations», in der das Grand Théâtre die Jahre der Renovation zwischen 2016 und 2019 überdauerte, Probleme aufgetreten seien, die zu einer Klage des aus China stammenden Käufers gegen die Genfer Oper geführt hätten. Diese Klage habe nun mit Hilfe eines Vergleichs abgewendet werden können. Über die damit verbundenen Kosten erfährt die Öffentlichkeit aber nichts. Dem Vertrauen in die Kulturpolitik ist das nicht eben förderlich.

Der Mann, der aus dem Cheminée kam

«Perelà» von Pascal Dusapin am Luzerner Theater

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Ingo Hoehn, Luzerner Theater

Die Musik ist erkennbar von heute – kein Wunder: «Perelà» von Pascal Dusapin ist 2003 an der Pariser Oper aus der Taufe gehoben worden. Aber was der 66-jährige Franzose erdacht hat, klingt so wohl, dass eingefleischte Avantgardisten die Augenbrauen heben; die neue Musik aus Frankreich trägt eben, man denke nur an die Spektralisten, bei allem strukturellen Bewusstsein doch ausgesprochen freundliche Züge. Phantasievoll und verspielt, anregend und sinnlich, so erscheint «Perelà» auch in Luzern, wo das Theater Dusapins Stück auf dem Spielplan hat. Wie das? Gibt es Platz im Graben des kleinen Hauses an der Reuss für das opulent besetzte Orchester, das Dusapin in der fünften seiner bisher neun Opern verlangt? Natürlich nicht, aber der französische Dirigent Franck Ollu, ein Spezialist der neuen Musik, hat eine reduzierte Orchesterfassung erstellt, die dem Original, so die Erinnerung nicht trügt, in keiner Weise nachsteht. Unter der Leitung des Mainzer Generalmusikdirektors Hermann Bäumer hat es das Luzerner Sinfonieorchester in blendendem Farbenreichtum hörbar gemacht.

Bäumer wurde gerufen, weil er schon 2015 am Pult stand, als die nun in Luzern gezeigte Produktion im Staatstheater Mainz herauskam. Mit Bäumer im Boot war damals die Regisseurin Lydia Steier, die inzwischen in Luzern die Opernsparte mitbetreut und hier für die Übernahme ihrer Mainzer Inszenierung plädiert hat. Ausgezeichnete Idee; wer dieser Produktion nicht begegnet ist, hat fürwahr etwas verpasst. Perelà, so nennt sich der Protagonist in dem vom Komponisten selbst geschriebenen Libretto nach einem Roman von Aldo Palazzeschi, ist zwar nichts als Schall und Rauch, lässt das aber in denkbar zauberhafter Weise erleben. Nachdem das Feuer, das ihn erzeugt hat, erloschen ist, steigt der Rauch mit dem seltsamen Namen kurzerhand aus dem Kamin, schwebt zu Boden und findet dort zwei Märchenstiefel vor, die ihn mit der Schwerkraft verbinden. Was er auf der Erde erlebt, verwundert, entzückt, erschreckt ihn und endet derart nicht zu seinem Guten, dass er sich flugs wieder in die Lüfte erhebt.

Splitternackt steht Ziad Nehme, der mit seiner biegsamen, samtenen Stimme leicht und mühelos in luftige Höhen steigt, auf der Bühne – was nicht nur einen kleinen Schreck auslöst, sondern ganz und gar der Situation entspricht: Als Mensch gewordener Rauch ist er bar jeder Erfahrung. Genau das macht ihn so interessant für den Hofstaat in der kleinen, engen Residenzstadt, in der sich Perelà, inzwischen mit einer Hose versehen, unter lauter Edelleuten findet. Eine prächtig ausstaffierte Gesellschaft wird hier vorgeführt, Damen wie Herren mit mächtigen Stirnen, immensen Frisuren und aufgeplusterten Bekleidungen – der Kostümbildner Gianluca Falaschi hat hier ganze und herrliche Arbeit geleistet. Da gibt es zum Beispiel eine Königin, die einen Vogel hat – nein, deren zwei: einen Papagei (Nora Bertogg), der als einziges das Wort «Dio» dazwischenzukrächzen weiss, und einen stummen in einem Käfig, den die Dame auf ihrem Kopfe trägt. Immens die Schleppe, Perelà muss sie immer wieder zurechtlegen. Und grandios die Gesangskunst wie die Körpersprache, mit denen Misaki Morino glänzt.

Umgeben ist die Königin von einem König, der ihr, da noch ein Knabe, nicht einmal bis zum Kinn reicht, von einem kräftig dem heiligen Wein zusprechenden Erzbischof (Georg Bochow) und manch anderen schrägen Figuren – erstaunlich, was das wunderbare Ensemble, aber auch der von Mark Daver einstudierte Chor hier bieten. Alle bewegen sie sich auf der Drehbühne, die nicht nur um die eigene Achse kreist, sondern sich auch in ihrem Inneren bewegt. Der Bühnenbildner Flurin Borg Madsen hat für den Abend ein gewaltig in die Höhe strebendes Gestell entwickelt, das hier die Fassade des Schlosses, dort eine breite Treppe sehen lässt – alles farbenfroh und diskret von Herren aus der Bühnentechnik gesteuert. In diesem Ambiente kommt es dann zum Ende mit Schrecken. In seinem Bestreben, ganz so wie der bewunderte Perelà zu werden, zündet sich der älteste Diener des Königs (Vladyslav Tlushch) eigenhändig an, wird aber zu Kohle statt zu Rauch, was den Hofstaat gegen Perelà aufbringt. Eine Gerichtsverhandlung wird anberaumt, sie steht unter der Leitung eines monströsen Richters (Christian Tschelebiew). Wie das Urteil trotz der Verteidigung durch die Marquise Bellonda (Marcela Rahal) ausfällt, ist leicht zu erraten – Perelà, den Rauch, kümmert es wenig. So einfach ist es im Märchen. Und kann es sogar in einer Oper aus der jüngsten Vergangenheit sein.

Achtzig Jahre jung

Der Dirigent Matthias Bamert beim
Musikkollegium Winterthur

 

Von Peter Hagmann

 

Das waren noch Zeiten. Damals, als das Lucerne Festival noch die Internationalen Musikfestwochen Luzern waren, der Konzertsaal noch nicht von Jean Nouvel stammte, sondern von Armin Meili, als der Intendant noch ein einfacher Direktor war – ja noch einfacher, nämlich zugleich auch der Hausmeister im blauen Übergewand. Mit einer Leiter von bedeutender Grösse über einer Schulter schob sich der Techniker, der eine irritierende Ähnlichkeit mit dem Direktor der Musikfestwochen erkennen liess, in den taghellen Saal, in dem sich eine grosse Schar Journalisten niedergelassen hatte (gross war die Schar, weil ein Apéro riche angekündigt war und auf den Tischen im Hintergrund schon die prallvollen Tragtaschen mit den begehrten CDs bereitstanden). Er müsse hier noch eine defekte Glühbirne ersetzen, beschied der Mann in der blauen Latzhose. So klappte er seine Leiter auf, stieg in luftige Höhe, machte sich dort aber nicht an einer Deckenlampe zu schaffen, sondern begann zu lamentieren: zur Hauptsache über seinen Chef, besagten Direktor der Musikfestwochen. Auch aus dem Nähkästchen plauderte er – und verriet einige Pläne, die er wohl kaum hätte ans Licht bringen dürfen.

So ist Matthias Bamert: stets zu einem Scherz bereit, selbstironisch, unaufgeregt sachbezogen, ja von geradezu britischem Understatement. Obwohl: Er ist Schweizer, Berner gar. Aber ein Schweizer mit reichlichster Auslanderfahrung – wie es bei Musikern aus diesem Land mit seinem Holzboden der Fall sein muss. Seine Ausbildung, zunächst zum Oboisten, erhielt er in seinem Heimatland, dann jedoch ist er ausgeschwärmt: nach Darmstadt, wo er auf Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen stiess – denn im Grunde wollte Bamert Komponist werden. Erst musste freilich die Existenz gesichert werden: Vier Jahre lang, ab 1965, wirkte er als Solo-Oboist beim Mozarteumorchester Salzburg, von dort aus wagte er dann den Sprung aufs Dirigentenpodium. In Cleveland verdiente er seine Sporen ab, bei Grössen wie George Szell, Leopold Stokowski, Lorin Maazel. Das war die Basis für eine glänzende Laufbahn als Dirigent; ihre Schwerpunkte liegen im angelsächsischen Raum wie im Fernen Osten. Gegenwärtig steht er als Chefdirigent vor dem Sapporo Symphony Orchestra; vor zwei Jahren ist sein Vertrag bis 2024 verlängert worden. Viel hat er gesehen und gehört in Grossbritannien und den USA, in Japan, in Australien und Neuseeland, selbst in Malaysia, wo ihm nach Massen hofiert wurde. Dafür brauchte es auch einen Wohnsitz mit ausgebauter Verkehrsanbindung – einen in London. Inzwischen lebt er wieder in der Schweiz, im Tessin.

Ja, die Schweiz. Auch hierzulande hat Bamert seine Spuren hinterlassen, und wie. Zwischen 1977 und 1983 war er als Chefdirigent beim Radio-Sinfonieorchester Basel tätig und trug dort massgeblich zur Konsolidierung des 1970 von Zürich nach Basel transferierten Klangkörpers bei. Ungewöhnliches ereignete sich damals. Zusammen mit dem Fernsehregisseur Adrian Marthaler und unter den Auspizien von Armin Brunner, dem seinerzeitigen Leiter der Musikabteilung beim Deutschschweizer Fernsehen, realisierte Bamert zahlreiche Filme mit Auftritten des Orchesters in ungewöhnlicher Umgebung, zum Beispiel in einem trockengelegten Schwimmbassin. Ausserdem führte er als einer der Ersten in der Branche die Arbeit mit Kindern und für Kinder ein – im moderierten Konzert wie im Fernsehen, für das er eine weitherum beachtete Serie von Produktionen erstellte. Unkonventionell war das alles. Im braven Schweizer Musikbetrieb wurde es, obwohl es auf merklichen Erfolg stiess, mit herablassender Skepsis beobachtet.

In die Geschichte eingeschrieben hat sich Bamert nicht zuletzt durch sein Wirken als Direktor der Internationalen Musikfestwochen Luzern in den Jahren 1992 bis 1998.  Mit den Zwängen, die mit den für das Festival zentralen Orchestergastspielen verbunden waren, hatte er seine liebe Mühe. Zum Ausgleich pflegte er und schuf er zahlreiche Nebenschauplätze: die Uraufführungen von Kompositionsaufträgen, Late-Night-Konzerte und Matineen mit musikalisch interessierten Schriftstellern in der Meggener St. Charles Hall, das Osterfestival und das herbstliche Klavierfestival, nicht zuletzt das Strassenmusikfestival. Vor allem aber wirkte er diskret auf den Bau des KKL ein; er plädierte für den Beizug des Akustikers Russell Johnson und er bot 1997, als der Meili-Bau abgerissen und das KKL noch nicht vollendet war, den einzigartig stimmungsvollen Sommer in der Von-Moos-Stahlhalle in Emmen, die sich in einem Triebwagen der SBB über ein Industriegeleise erreichen liess. Nach der feierlichen Eröffnung des KKL zog er sich von der Luzerner Aufgabe zurück, um wieder als Musiker zu arbeiten.

Jetzt wird Matthias Bamert doch tatsächlich achtzig. Niemand gibt ihm sein Alter. Schlank und aufrecht steht er da, energiegeladen und noch immer mit seinen kleinen Sprüngen auf dem Podium führt er durch die Musik, dabei stets nur auf das Notwendige in der Zeichengebung konzentriert – so war es jüngst an einem Abend zu erleben, zu dem ihn das Musikkollegium Winterthur verdienstvollerweise eingeladen hat. Das Orchester reagierte mit einer durchs Band fabelhaften Leistung. Das Programm aber, es trug ganz klar die individuelle Handschrift des Dirigenten. Zur Eröffnung die Ouvertüre zur Oper «Dame Kobold» von Joachim Raff, eine Verbeugung vor einem zu Unrecht im Schatten stehenden Schweizer Komponisten des 19. Jahrhunderts. Spannender und witziger als gedacht klang das Stück, und einmal mehr konnte man sich fragen, warum in Schweizer Konzertsälen das Eigengewächs so schamhaft verborgen wird.

In der Mitte zwei Stücke Wolfgang Amadeus Mozarts, die nicht eben häufig gespielte Linzer Sinfonie in C-dur (KV 425) und das Divertimento in D-dur (KV 136), ein Stück gehobener, äusserst phantasievoller Unterhaltungsmusik des 16-jährigen Wunderkinds. Die beiden Werke liessen sich rasch als Fingerzeig auf die eigene Vita des Dirigenten erkennen. Lange Zeit arbeitete Bamert mit den London Mozart Players zusammen, 1993 bis 2000 gar als ihr Leiter. In diesem Tätigkeitsfeld hat Bamert besonders nachhaltige Resonanz erzielt. Ohne Zahl sind die CD-Aufnahmen und die Radio-Mitschnitte. Wann immer man einen in- oder ausländischen Sender aufschaltet und dort ein mehr oder weniger bekanntes Stück aus der Zeit der musikalischen Klassik angekündigt wird, kann man sicher sein, dass der Name Matthias Bamerts und der London Mozart Players fällt.

Unerschrocken hat er sich ein halbes Leben lang mit diesem von manchem Musiker gefürchteten Repertoire beschäftigt – ohne Anbiederung an die historisch informierte Aufführungspraxis, aber auch ohne trotzigen Widerstand gegen sie. Die Spuren der Beschäftigung mit dieser für die Entwicklung der musikalischen Interpretation so zentralen ästhetischen Richtung sind klar zu erkennen, zugleich ist die Verbindung mit jener hergebrachten Tradition, in welcher der Dirigent aufgewachsen ist und nach wie vor lebt, nicht zu überhören. Die Kombination macht es aus, sie bildet den Kern des interpretatorischen Profils Bamerts. Satt und kompakt, aber auch federnd und deutlich phrasiert der Streicherklang, pointiert, doch nicht aufgesetzt die Färbungen durch die Bläser in der Linzer Sinfonie. Auf dieser Basis liess sich mit dem D-dur-Divertimento ein Ausschnitt aus dem Schaffen Mozarts wiederentdecken, das leider tief unter dem Tisch liegt.

Schliesslich mit zwei Kompositionen aus dem frühen 20. Jahrhundert ein fulminanter Kehraus. Auch dies eine gleich zweifache Anspielung an den musikalischen Kosmos des Dirigenten. Matthias Bamert eignet eine ganz persönliche Nähe zur neueren, ja zur neuen Musik; zahlreiche Uraufführungen von Werken unterschiedlicher Ausrichtung hat er dirigiert, in den späten achtziger Jahren leitete er das Glasgow Contemporary Festival, und unvergessen ist der Basler Musikmonat von 2001. Noch deutlicher spürbar ist Bamerts Abneigung gegen den tierischen Ernst in der musikalischen Kunst; wenn er seinem Publikum ein Schnippchen schlagen kann, dann tut er es – mit schelmischer Lust. Darum gab es in Winterthur «General William Booth Enters into Heaven», eine ganz und gar unangepasste Schöpfung des Amerikaners Charles Ives von 1914, in der sich der Bariton Dean Murphy bewährte. Und folgte ein weiteres Divertimento, nämlich das freche Divertissement des Franzosen Jacques Ibert von 1930. Frisch fröhlich und zugespitzt wurde diese Musik dargeboten, das Amusement war perfekt. Grosser Beifall als eine vorgezogene und darum verbotene Gratulation an einen Musiker, der gewiss noch Manches im Kopf und im Kalender hat.

In der Männerwelt

«Mazeppa» von Peter Tschaikowsky in Biel

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Suzanne Schwiertz, Theater-Orchester Biel-Solothurn

Die Koinzidenz hätte brutaler nicht sein können. In der Ukraine die Panzer der Invasoren aus Russland, im Stadttheater Biel, das aus gegebenem Anlass in den ukrainischen Nationalfarben erstrahlte, eine Oper, die genau diese Situation thematisiert: den machtgierigen Mann und eine schwierige Nachbarschaft. «Mazeppa» von Peter Tschaikowsky berichtet von einem ukrainischen Nationalhelden des 17. Jahrhunderts, der es am russischen Zarenhof Peters des Grossen in höchste Positionen geschafft hatte und dort ein grausames Regime führte, der sich dann aber vom Zaren abwandte, sich mit dem schwedischen König Karl XII. zusammentat und die Unabhängigkeit der Ukraine von Russland zu erkämpfen suchte – was freilich misslang. Tschaikowsky, der sich ein Libretto von Viktor Burenin selber einrichtete, verband das kriegerische Geschehen mit einer Liebesgeschichte, welche die in der Öffentlichkeit ausgetragenen Spannungen im Privaten spiegeln.

«Mazeppa» ist etwas für grosse Häuser. Das Orchester ist reich besetzt, und heftig ist der Ton der Partitur. Umso erstaunlicher, dass es sich Dieter Kaegi, der Intendant von Theater-Orchester Biel-Solothurn, nicht nehmen liess, die Oper in seinen beiden ausgesprochen kleinen Häusern herauszubringen. Möglich wird das nur, wenn die Orchesterbesetzung massiv verkleinert wird. Anders als bei «Herzog Blaubarts Burg» von Béla Bartók, wo der deutsche Dirigent Eberhard Kloke für eine anregende Einrichtung der ebenfalls mit grosser Orchesterbesetzung arbeitenden Partitur gesorgt hatte (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.02.20) war hier, bei «Mazeppa», Francis Griffin am Werk; der Blick in den Orchestergraben zeigte fünf Erste Geigen – und so klang es denn auch: bläserlastig und kantig. Das muss nicht sein, die Produktion von «Mazeppa» 2006 in Lyon hat deutlich gemacht, was in der Partitur steckt; der junge Kirill Petrenko zauberte damals einen gewiss bisweilen lauten, insgesamt aber in betörender Farbenvielfalt schimmernden Klang aus dem Orchestergraben.

Yannis Pouspourikas, dem neuen Chefdirigenten des Sinfonie-Orchesters Biel-Solothurn, ist das nicht gelungen. Aufbrausendes Temperament schien ihm die Hauptsache, weshalb die Lautstärke mehr als einmal an die Schmerzgrenze ging und es an Feinarbeit fehlte – nicht zuletzt aber auch an der Präzision des Zusammenspiels. Erst das überraschende, ganz leise Ende der Oper liess hören, was im Orchester auch noch denkbar gewesen wäre. Mag sein, dass Pouspourikas, der mit dieser Produktion seinen Einstand als Operndirigent gab, sich noch in die räumlichen Gegebenheiten wird einleben können – hier dominierte der Eindruck, die Methoden der musikalischen Darstellung würden eins zu eins aus einem grossen Staatstheater übernommen. Auch die Sängerinnen und Sänger gaben oftmals viel zu viel, sie erreichten rasch und immer wieder dynamische Spitzen, die störend und unschön über die Grenzen des Sinnvollen hinausgingen. Das zu verhindern und für handwerklich professionelle Balance zu sorgen, wäre die Aufgabe des Dirigenten und der Korrepetitoren gewesen.

Ausnahmen gab es. In der Partie der Ljubov, der Gattin des reichen Gutsbesitzers Kotschubej, liess Jordanka Milkova ihren warm timbrierten Mezzosopran frei strömen, ohne jeden Druck auch in Momenten der Expansion. Und als der junge, unglückliche Liebhaber Andrej machte Igor Mozorov mit einem klangvollen Tenor auf sich aufmerksam. Die beiden Herren Kontrahenten, Aleksei Isaev als Mazeppa und Askar Abdrazakov als dessen Freund, später als dessen Widersacher Kotschubej gingen zu Werk, als stünden sie im Bolschoi, so dass die stimmlichen Qualitäten, die beide Sänger einbrachten, kaum zu erkennen waren. Gewiss, in Osteuropa herrscht eine spezifische, ganz und gar eigenartige Kultur des Starkgesangs, die in ihrer Weise zu Tschaikowsky passt; in einem Haus wie dem Stadttheater Biel müsste damit jedoch äusserst sorgfältig umgegangen werden. Leider wurde auch Eugenia Dushina in der Partie der Maria nicht sachgerecht angeleitet; auch sie ging zu wenig ausgefeilt mit der Dynamik um, während ihr das Versinken Marias in den Wahnsinn am verstummenden Ende der Oper nicht auf der Höhe ihres sehr wohl wahrnehmbaren Vermögens gelang.

Das alles ereignete sich in einer Inszenierung, die ihren retrospektiven Ansatz konsequent durchhielt, zugleich aber manche Frage offen liess. Als Regisseur hatte sich der Hausherr Dieter Kaegi für einen Bühnenrealismus entschieden, der nicht wirklich auf die Bieler Bühne passt (und für Solothurn dürfte dasselbe gelten). Die Idylle, die der Ausstatter Dirk Hofacker für den Beginn auf die Bühnenrückwand projizieren liess, wirkte verniedlichend, die belebten Massenszenen mit dem von Valentin Vassilev geleiteten Chor litten unter räumlicher Enge. Ob die Folterszene, bei der dem Opfer Fingernägel ausgerissen werden, so explizit gezeigt werden muss, wie es hier geschah, mag dahingestellt bleiben. Andere Details – etwa die Hingabe, mit der Mazeppa die Zimmerpflanzen pflegt, bevor er die Todesurteile unterzeichnet – schufen dagegen intensive Denkanstösse. Und das Schlussbild, das die Landschaft des Anfangs aufnimmt, sie nun aber als Ruine zeigt, fuhr angesichts der aktuellen Bilder aus der Ukraine gewaltig ein.