Vom Orchesterfest zum Zukunftslabor?

Glanzlichter und Gefahren am Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Während die Salzburger Festspiele explizit den Willen zur Bewahrung ihrer künstlerischen Leitlinien verkünden (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 18.08.21) und damit auch in diesen schwierigen Zeiten auf hohe Resonanz stiessen, scheinen beim Lucerne Festival die Zeichen auf Wandel zu stehen. Hauptsache waren bisher die Auftritte berühmter Orchester mit bedeutenden Dirigenten, was dem Luzerner Sommerfestival sein spezifisches Profil als weltweit wichtigster Marktplatz orchestraler Kunst verlieh. Rund um diese Hauptsache ist in den gut zwanzig Jahren der Intendanz von Michael Haefliger jedoch ein reich bestückter Garten von Nebensachen entstanden. Neue Musik und die Förderung des musikalischen Nachwuchses stehen da im Vordergrund – zwei Spezialgebiete, die Michael Haefliger seit seinen Anfängen als Intendant beim Davos Festival mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Ein Jahr nach der auf eine Anregung Claudio Abbados zurückgehenden Gründung des Lucerne Festival Orchestra wurde im Sommer 2004 die Lucerne Festival Academy eröffnet, die ehedem von Pierre Boulez, heute von Wolfgang Rihm künstlerisch geleitete Meisterschule für neue Musik, deren Angebot sich an junge Musikerinnen und Musiker richtet. Parallel dazu – und neben der von Mark Sattler kompetent und phantasievoll betreuten Reihe «Moderne» mit dem «Composer in Residence» – wurden neue Konzertformate erprobt; die prominentesten unter ihnen sind die kommentierten Kurzkonzerte, die unter dem Titel «40Min» ein grosses Publikum anziehen.

Dieses Jahr nun hat dieser Garten merklich an Aufmerksamkeit gewonnen. Mit der Bestellung von Felix Heri als neuem Manager der Academy wurde auch eine neue Strukturierung des Angebots vorgenommen (und die offizielle Festivalsprache durchgehend aufs Englische umgestellt…). Neben den Orchesterkonzerten, die inzwischen «Symphony» heissen, gibt es den grossen Bereich «Contemporary» und einen Sektor «Music for Future», welch letzterer auch alle Aktivitäten der Publikumsbildung und -bindung umfasst – von den Auftritten der Jugendorchester vor dem eigentlichen Beginn des Festivals über die mittägliche Reihe «Debut» und die verschiedenen Förderpreise bis hin zu den Sitzkissenkonzerten. Die bedeutendste Veränderung besteht darin, dass es das Lucerne Festival Academy Orchestra, das sich aus den jeweils an der Akademie eingeschriebenen Mitgliedern zusammengesetzt hat, nicht mehr gibt. An seine Stelle ist das Lucerne Festival Contemporary Orchestra getreten, das sich aus dem globalen, inzwischen auf über zwölfhundert Absolventen der Akademie angewachsenen Netzwerk nährt. Netzwerkdenken führt aber auch weiter in die Programmgestaltung. Statt dem liquidierten, flugs vom Luzerner Sinfonieorchester übernommenen Klavierfestival im Herbst soll es im kommenden November eine neue, kleine Veranstaltungsreihe mit dem Titel «Lucerne Festival Forward» geben, das verschiedene innovative Ansätze verfolgt. Unter anderem soll dort keine durch eine einzelne Person verkörperte künstlerische Leitung mehr wirksam werden; stattdessen sollen die Programme aus dem Contemporary-Netzwerk heraus, in einer partizipativen, auf digitaler Kommunikation beruhenden Art entwickelt werden. Mal sehen, was daraus wird.

Im Vergleich zu diesem Energieschub sehen die Orchesterkonzerte alt aus. Und leider war es, zumindest teilweise, auch zu hören – selbst bei den Berliner Philharmonikern. Auch diesen Sommer präsentierten sie sich als ein technisch höchststehendes, klanglich unverkennbares, auch sehr selbstbewusstes Orchester. Das trat schon in Carl Maria von Webers «Oberon»-Ouvertüre heraus, nur blieb hier der gestalterische Zugriff des Chefdirigenten Kirill Petrenko noch unbestimmt, zögerlich. Schön war das, aber nicht mehr. Anders die darauffolgende Wiedergabe von Franz Schuberts «Grosser» C-Dur-Sinfonie D 944, die durchaus kontroverse Reaktionen auszulösen vermochte. Petrenko hatte sich dazu entschieden, die Wiederholungen, die gerade im dritten Satz zu den berühmten «himmlischen Längen» führen, anders als viele Dirigenten durchgehend zu berücksichtigen. Er konnte es sich erlauben, basierte seine Interpretation doch auf frischen Tempi. Schon die langsame Einleitung deutete es an, das vom Komponisten vorgegebene Alla breve war jedenfalls klar zu spüren. In subtilen Schritten erreichte Petrenko dann das Allegro des Hauptteils – und da manifestierte sich des Dirigenten Sinn für Arbeit an den Zeitmassen. Immer wieder stattete er einzelne Gesten mit kleinen Beschleunigungen oder Verzögerungen aus, so wie es zu Schuberts Zeit und noch bis hin zu den Interpreten der Spätromantik üblich war. Indes blieb es in diesem Bemühen bei Ansätzen, die nicht konstitutiv wirkten.

Vor allen Dingen aber trieb Petrenko das Finale in einen förmlichen Geschwindigkeitsrausch hinein, was zur Folge hatte, dass die kleinen Tonbewegungen des Satzes nicht mehr wahrzunehmen waren. Hier wurde auch der Klang so kompakt und massiv, dass das spezifische Kolorit Schuberts auf der Strecke blieb. Vielleicht ist die bisweilen melancholische, auch fragile Klangwelt Schuberts nicht das, was Kirill Petrenko naheliegt. So gedacht am zweiten Abend, der mit einem Feuerwerk anhob: mit dem frechen, wild himmelstürmerischen Klavierkonzert Nr. 1 in Des-Dur von Sergej Prokofjew. Was Anna Vinnitskaya da an Fingerfertigkeit und metallener Kraft, auch an Klangsinnlichkeit aufbot, war stupend – und die Berliner gingen mit, hellwach und ohne je mit der Wimper zu zucken. Er recht bei sich war Kirill Petrenko in der Sinfonischen Dichtung «Ein Sommermärchen» von Josef Suk. Beredt, schwerblütig schildert der Komponist einen Tag in seinem traurigen Leben nach dem Tod des Schwiegervaters Antonín Dvořák und jenem seiner Gattin. Er tut das in Geist und Ton der Spätromantik, wenn auch mit gelegentlichen Anklängen an modernere Strömungen, etwa den Impressionismus. Leicht zu hören ist das Werk nicht, es fügt sich nicht von selbst ins Ohr. Allein, die fabelhafte Auslegung durch die Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko verhalf dem Werk zu pulsierendem Leben. Die Farben in enormer Pracht entfaltet, die Bögen von weitem Atem getragen, die Verlaufskurven so griffig geformt, dass Suks Schöpfung förmlich zu erzählen begann.

Ganz und gar konkret wurden auch die Bamberger Symphoniker mit ihrem Chefdirigenten Jakub Hrůša – und das bei Musik aus den letzten sechs Jahren, nämlich im «Räsonanz»-Konzert der Ernst von Siemens-Musikstiftung. Auch dieses Orchester ist hervorragend aufgestellt, seit langem übrigens: Hrůša hat ja das erstklassige Erbe von Jonathan Nott angetreten und steht im Begriff, es in einer sehr persönlichen Weise weiterzuentwickeln. Wie wörtlich das zu verstehen ist, erwies der Abend im KKL Luzern. Wo andere Dirigenten bei neuer Musik, weil sie eben neue Musik ist, die Emphase scheuen, bringt sich Hrůša als Interpret ebenso kraftvoll ein wie bei Werken von Dvořák oder Smetana. Das in Uraufführung erklingende «Offertorium» von Iris Szeghi, Teil eines gross besetzten Requiems, offenbarte seine feinnervige Faktur in aller Subtilität – auch dank der Mitwirkung der Sopranistin Juliane Banse. Im Violinkonzert von Beat Furrer, in dem Ilja Gringolts den Solopart versah, waren die klanglichen Reize und der klare Bogen von einem leisen Beginn über einen eruptiven Mittelteil zurück zum Leisen packend herausgearbeitet. Von besonderer Haptik war jedoch das Orchesterwerk «Move 01-04» von Miroslav Srnka. Der vielbeachtete Komponist aus Prag arbeitet mit Tonschwärmen, die zeichnerisch entworfenen Modellen folgen, und bringt auf dieser Basis das in grosser Besetzung angetretene Orchester zu betörend üppigem, gleichzeitig unerhört beweglichen Klang. Die Bamberger und Hrůša waren mit vollem Einsatz bei der Sache und erspielten sich einen rauschenden Grosserfolg.

Dasselbe gilt für den ersten der beiden Auftritte der Wiener Philharmoniker. Am Pult stand diesmal Herbert Blomstedt – unverwüstlich mit seinen 94 Jahren. Und angesagt war die vierte Sinfonie Anton Bruckners. Was für ein Fest. Da stimmte einfach alles. Das Orchester schenkte dem Dirigenten, was es zu schenken vermag: den kräftigen, aber doch offenen Ton, Glanz und Strahlkraft im Lauten wie flüsternde Zartheit im Leisen, restlos stimmige Übergänge, ja überhaupt ein orchestrales Zusammenwirken vom Feinsten. In einem einzigen, unglaublich geschlossenen Bogen zogen die vier Sätze von Bruckners «Romantischer» durch Raum und Zeit, und zugleich gab es in jedem Moment zu hören, was die Partitur nahelegt. Dass die Interpretation einen Zug ins Altväterische trug, dass Herbert Blomstedt bei Bruckner nicht die Schritte tut, die er bei Beethoven wagt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.08.20), wer wollte es ihm verdenken? Im späten 20. Jahrhundert wurden neue Zugänge zu Bruckners Musik entwickelt, wurde das Geschmeidige neben dem Parataktischen, das Fragile neben dem Festgefügten entdeckt. Mit Herbert Blomstedt kehrte ein Bruckner-Bild früherer Zeiten zurück: die Sinfonie als ein in die Weite der klanglichen Flexibilität geführtes Orgelwerk, die Musik im Zeichen gründerzeitlicher Selbstgewissheit. Das geschah allerdings in einem Geist, der in seiner Konsequenz, seiner Achtsamkeit und seiner Präzision das Signum des Einzigartigen trug. Jubel und Stehapplaus.

Gefeiert wurde auch Mirga Gražinytė-Tyla – sehr zu Recht. Im Zyklus der Sinfonien Robert Schumanns, den das Luzerner Sinfonieorchester und das Tonhalle-Orchester Zürich eröffnet hatten (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 01.09.21), dirigierte sie die Nr. 1 in B-Dur, die «Frühlingssinfonie», und die Nr. 2 in C-Dur. Sie tat das mit einer derartigen Energie, mit einem solchen Schwung, dass man ein Mal übers andere ins Staunen geriet. Das doch sehr unterschiedliche Klima in den beiden Sinfonien traf sie überzeugend, und die vom Klavier her gedachte, aber orchestral meisterlich ausgefächerte Faktur liess sie von innen her prachtvoll leuchten. Gewiss, nicht alles gelang. In der C-Dur-Sinfonie blieb das wunderschöne Adagio espressivo des dritten Satzes seltsam unbeteiligt. Obwohl die Dirigentin meist die Achtel schlug, wurde der Zwei-Viertel-Takt doch spürbar, nur kamen die geteilten Bratschen, die sich synkopisch zwischen die Ober- und die Unterstimme legen, nicht wirklich zur Geltung. Und die beiden grossartigen Aufschwünge in der Mitte dieses Satzes entbehrten der Spannkraft. Mag sein, dass das auch auf das Mozarteum-Orchester Salzburg zurückging, eine in jeder Hinsicht mittelmässige, schläfrig wirkende Formation, die sich auch durch den unerhörten Körpereinsatz der zierlichen Frau am Pult nicht aufrütteln liess. Warum ein solches Orchester beim Lucerne Festival auftritt, ist ein Rätsel; es dient weder der charismatischen jungen Dirigentin noch dem Festival und seinem Publikum.

Nicht nur das, es ist auch Symptom: Das Herzstück des Lucerne Festival schwächelt. Es hat an Bedeutung wie an Ausstrahlung eingebüsst; unter den «Essentials» des Festivals wird es im Generalprogramm nicht einmal erwähnt. Keine Frage, in diesen Zeiten der Pandemie mit ihren Einschränkungen und Planungsunsicherheiten ein Orchesterfest durchzuführen, ist alles andere als einfach. Das Lucerne Festival liess sich nicht unterkriegen und hat Erstaunliches zustande gebracht. Die Zeichen der Ermüdung, die merklich kontrastieren mit dem Aufbruch in anderen Bereichen des Programms, sind freilich nicht auf die Pandemie zurückzuführen, sie haben ästhetische, wenn nicht systemische Gründe. Neben den Höhepunkten, von denen hier die Rede war, gibt es einen Überhang an Immergleichem und leider auch an Gewöhnlichem. Dreimal Barenboim, zweimal mit dem Diwan-Orchester, einmal mit der Staatskapelle Berlin, das ist entschieden zu viel. Und am Pult kommen Dirigenten zu Wort, die den Betrieb aufrechterhalten, aber wenig zu sagen haben, während künstlerisch aufsehenerregende Vertreter, zumal solche jüngerer Generation, ausgeschlossen bleiben. Wo ist das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, wo die Dresdener Staatskapelle oder das Gewandhausorchester? Und wo ist ein Dirigent wie François-Xavier Roth, der im Kölner Gürzenich hervorragende Arbeit leistet und ausserdem mit Les Siècles ein aufregendes Orchester mit Instrumenten aus der Entstehungszeit der gespielten Kompositionen betreut? Das SWR-Sinfonieorchester Stuttgart mit seinem Chefdirigenten Teodor Currentzis kommt zwar ins KKL, aber nicht im Rahmen des Lucerne Festival – warum? Und warum tritt das Concertgebouworkest nicht einmal mit Krzysztof Urbánski oder Santtu-Matias Rouvali statt mit einem der Entbehrlichen auf? Erneuerung tut not. Auf dass das Orchesterfest das bleibe, was es für das Lucerne Festival sein soll: «Das Gipfeltreffen der Besten».

Reiz und Bedeutung des Eigenen

Sprühendes Leben im Konzert – beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Einen solchen Abend gibt es wohl nur an einem Festival – vielleicht gar nur am Lucerne Festival, wo das Mahler Chamber Orchestra, das Herzstück des Lucerne Festival Orchestra, in Residenz weilt und sich nicht nur flexibel einsetzen lässt, sondern sich auch neugierig dem Unerwarteten öffnet. Das Unerwartete war in diesem Fall die Begegnung mit dem Geiger und Dirigenten Roberto Gonzáles-Monjas, einem ganz und gar einzigartigen Musiker. Sei es, dass er als Konzertmeister bei der Accademia di Santa Cecilia in Rom die Sinfonische Dichtung «Ein Heldenleben» aufnimmt und dabei Richard Strauss’ Ironie freien Lauf lässt. Sei es, dass er beim Musikkollegium Winterthur, wo er demnächst das Amt des Chefdirigenten übernimmt, zusammen mit dem Pianisten Kit Armstrong die nicht leicht zu hörenden (und noch weniger leicht zu spielenden) Violinsonaten Wolfgang Amadeus Mozarts aufführt. Sei es, dass er mit dem kolumbianischen Jugendorchester Iberacademy Ludwig van Beethovens «Eroica» an die Grenzen der Intensität führt – und dass er das nicht mit dem Taktstock in der Hand, sondern als Konzertmeister tut.

Genau so trat Roberto Gonzáles-Monjas gemeinsam mit dem Mahler Chamber Orchestra im Luzerner KKL auf: mit einem überraschungsreichen, geschickt zusammengestellten Programm, mit hinreissenden Interpretationen und schlichtweg sensationellem Erfolg. Schon der Einstieg sorgte für gehörigen Effekt – denn «Le Cahos» aus der «Simphonie Nouvelle ‹Les Elemens›» von Jean-Féry Rebel, eines Zeitgenossen Johann Sebastian Bachs, hebt mit einem wüsten Cluster an, dem Sinnbild für die Ursuppe, aus der sich im weiteren Verlauf eine reizvolle Folge wohlgeordneter Kadenzen erhebt. Ganz ruhig entfaltete sich diese Musik für Streicher, hier durch ein Fagott und ein Cembalo ergänzt, zugleich aber bebte sie vor Spannung und Energie. Beides kam direkt aus dem Körper des 33-jährigen Konzertmeisters, der mit lustvoll animierender Ausstrahlung spielte. Für den Schlussakkord reckte er sich wie eine Feder aus der halben Hocke in die Höhe und zog den Klang unwiderstehlich auf den Schlusspunkt hin.

Von ähnlichen Voraussetzungen profitierte Joseph Haydns Sinfonie in f-Moll Hob. I:49 mit dem Beinamen «La passione». Als krasses Gegenstück zu dem Bild, das Riccardo Chailly mit dem Lucerne Festival Orchestra geboten hat (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 25.08.21), gab die Auslegung durch das von Gonzáles wiederum vom ersten Geigenpult aus geleitete Mahler Chamber Orchestra zu erkennen, in welchem Geist der Einfallsreichtum und der klangliche Reiz von Haydns Musik zum Leben erweckt werden kann – spannend und gegenwärtig war das von A bis Z. Klein besetzt das Orchester mit den solistischen Bläsern und den je sechs Ersten wie Zweiten Geigen, die links und rechts von dem in der Mitte positionierten Cembalo aufgestellt waren – und die wie alle Musikerinnen und Musiker, die es konnten, im Stehen spielten: als Solisten, die ein Orchester bildeten. Dass die Wahl der Instrumente nicht derart ausschlaggebend ist, wie es der Markt suggeriert, dass es viel eher um die stilistische Angemessenheit der Spielweise geht, es war mit Händen zu greifen. Zur stilistischen Angemessenheit gehört etwa die Mässigung im Einsatz des Vibratos; in der Sinfonie Haydns führte das zu einer Schärfung der Dissonanzen, die als Gewürz weitaus stärker einwirkten, als es sonst der Fall ist.

Der Mittelteil des Abends gehörte, zumindest partiell, Yuja Wang. Ihr frech ironisierendes Outfit entzückte, ihr so farb- wie ahnungsloses Spiel auf dem Steinway in Bachs Klavierkonzert in f-Moll BWV 1056 weniger. Blass blieb sie hier, etwas unsicher und mutlos – kein Wunder angesichts der Tatsache, dass dieses Repertoire nicht gerade zum Kern ihres Tuns gehört. Eines Tuns, das durchaus bewundert werden darf, wie ihre leitende Mitwirkung in dem praktisch nie aufs Programm gesetzten Capriccio für ausschliesslich mit der linken Hand gespieltes Klavier und Bläserensemble von Leoš Janáčcek erwies. Ein sehr persönliches, auch horrend anspruchsvolles Werk, das mit letzter Brillanz dargeboten wurde. Nicht weniger erfrischend das Bläseroktett von Igor Strawinsky, in dem vier Holzbläser mit vier Blechbläsern wetteifern. Auch das eine fulminante interpretatorische Leistung. Schade nur, dass die Namen der fürwahr solistisch auftretenden Orchestermitglieder (im Gegensatz zu jenen der Sponsoren…) im Programmheft nirgends verzeichnet waren.

Abende wie dieser erhalten ihre Relevanz auch dadurch, dass sie zur inhaltlichen Erkennbarkeit des Lucerne Festival beitragen. Gastspiele grosser Orchester mit grossen Dirigenten verfügen zweifellos über ihren ganz eigenen Reiz, nur finden sie in der Regel im Rahmen von Tourneen statt, sie tragen ihre Botschaft also nicht nur nach Luzern, sondern auch nach Salzburg, Berlin oder London. Im Gegensatz dazu gehören Auftritte wie jener mit dem Mahler Chamber Orchestra dem Luzerner Festival allein. Das gilt auch für zwei von Schweizer Orchestern bestrittene Programme, die Teil eines Luzerner Schumann-Zyklus bilden – und beide Konzerte sorgten für veritable Aha-Erlebnisse. Zusammen mit seinem Musikdirektor Paavo Järvi erschien das Tonhalle-Orchester Zürich mit einem reinen Schumann-Programm; es umfasste die «Genoveva»-Ouvertüre, das Violinkonzert (das Christian Tetzlaff mit hoher Identifikation und berührender Wärme in Klang setzte) und die Sinfonie Nr. 3 in Es-Dur, die «Rheinische». Blendend war dies Hauptstück gemeistert – in einem Klang, der die dunkle Grundfärbung des Zürcher Orchesters hören liess, sie gleichzeitig jedoch verband mit heller Transparenz, der ausserdem mit der Opulenz der grossen Besetzung mit vierzehn Ersten Geigen prunkte, ebenso sehr aber von geschmeidiger Beweglichkeit lebte. Eindrucksvoll die vorab durch die Arbeit an den Tempi erzielten Spannungssteigerungen, die ebenso eleganten wie markanten Akzentsetzungen, die Präsenz des hier feierlichen, dort enthusiastischen Tons, der diese Sinfonie kennzeichnet. Ein erstklassiges Gastspiel.

Wenige Abende zuvor hatte das Luzerner Sinfonieorchester das Wort ergriffen – mit nicht geringerem Erfolg. Ein Heimspiel, gewiss, aber auch ein besonderer Moment, denn am Pult stand zum ersten Mal in dieser Funktion Michael Sanderling als neuer Chefdirigent. Eine genau richtige Wahl darum, weil auf die zehn erfolgreichen Jahre mit dem Amerikaner James Gaffigan nun eine Phase im Zeichen deutscher Ästhetik folgen dürfte. Darauf wies schon Schumanns Cellokonzert hin, das Steven Isserlis äusserst extravagant anging. Sehr poetisch, ganz innerlich nahm er seinen Part, so als ob er ins Geflecht der Töne hineinzuhorchen und jedem musikalischen Ereignis nachzusinnen suchte. Das Orchester hielt sich zuverlässig an des Solisten Seite – kein Wunder angesichts der Tatsache, dass Michael Sanderling, von Haus aus Cellist, das Stück aus reicher eigener Erfahrung am Instrument kennt. Indessen mochte gerade das nicht nur von Vorteil sein, schienen des Dirigenten Vorstellungen von der Partitur doch etwas anders gelagert als jene des Solisten. Jedenfalls blieb das Orchester bisweilen eher im Mezzoforte stehen, wo Isserlis wagemutig in die Wunderwelt des ganz leisen Singens hinabstieg. Sehr sorgfältig in der klanglichen Balance und firm in der Aussage sodann Schumanns vierte Sinfonie in d-Moll, in der heute üblichen zweiten Fassung von 1851 und mit angeblichen Retuschen von Michael Sanderling – dies eine Mode von gestern, als man noch glaubte, Schumann habe nicht instrumentieren können. Schlank und zeichnend der Klang auch im Forte. Die Posaunen kräftig, aber jederzeit ins Ganze eingebunden, die Holzbläser in ganzer Farbenpracht präsent. Besondere Momente boten die ruhig ausgesungene Romanze des zweiten Satzes und der Übergang vom Scherzo ins Finale. Die Zusammenarbeit hat Potential, es war nicht zu überhören.

Vom Dunkel ins Licht

Ein Abend mit dem Lucerne Festival Orchestra und seinem Chefdirigenten Riccardo Chailly

 

Von Peter Hagmann

 

Ein Orchester wie kein anderes sei das Lucerne Festival Orchestra, das 2003 von Claudio Abbado gemeinsam mit Michael Haefliger ins Leben gerufen wurde und das seit 2016 von Riccardo Chailly geleitet wird. Das hat, was die Existenzform und die Arbeitsbedingungen betrifft, nach wie vor seine Gültigkeit. Und es hätte sich in der klingenden Realität bestätigt, hätten die ursprünglichen Pläne für die Sommerausgabe 2021 des Lucerne Festival durchgeführt werden können. Ein Gustav Mahler zugeschriebenes Sinfonisches Präludium und dessen erste Sinfonie hätte es zur Festival-Eröffnung gegeben, dazwischen wären Bruchstücke aus Alban Bergs Oper «Wozzeck» erklungen. Im zweiten Programm hätte Chailly zusammen mit dem Pianisten Denis Matsuev das 2019 in Gang gesetzte Rachmaninow-Projekt weitergeführt. Worauf dann der Gastdirigent Yannick Nézet-Séguin übernommen und Bruckners Achte dirigiert hätte.

Allein, aus all dem wurde nichts, die Pandemie hat es verunmöglicht. Grosse Besetzungen liessen sich auch auf dem geräumigen Orchesterpodium im Konzertsaal des KKL Luzern nicht vorsehen, die Abstandsregeln (und somit etwa das einzelne Pult für den einzelnen Streicher) riefen nach Einschränkungen, und so mussten auch die Programme abgeändert werden. Statt Mahler gab es Mozart, die g-Moll-Sinfonie KV 550 im Eröffnungskonzert, statt Rachmaninow Beethovens Fünfte im zweiten Programm. Das tat den Werkfolgen nicht gut, weil sie im Aufbau alltäglich konventionell, ja sogar zufällig wirkten. Und sie führten in Bereiche des Repertoires, die nicht, wenigstens nicht durchgängig, zu den zentralen Arbeitsgebieten Chaillys gehören. So war denn alles andere als erstaunlich, dass im vierten der sechs Auftritte des Lucerne Festival Orchestra der Eindruck aufkam, die Formation erreiche nicht ihr übliches, singuläres Niveau – und dies trotz aller Brillanz der Solisten in ihren Rängen. Vielmehr erschien das Lucerne Festival Orchestra an diesem Abend als ein ganz gewöhnliches Orchester. Als eines wie so viele andere.

Schon Robert Schumanns Ouvertüre zu «Manfred», dem Schauspiel von Lord Byron, geriet eigenartig zäh. Das lag gewiss nicht an jenen Eingriffen in die Instrumentation Schumanns, zu denen sich Gustav Mahler genötigt fühlte – nein, es ging auf den kompakten, ja klobigen Ton zurück, den Chailly hier anstimmen liess. Mit zwölf ersten Geigen hielt sich die Besetzung in Grenzen, der Klang wirkte jedoch festgeschraubt, in sich geschlossen – nicht zuletzt wegen der amerikanischen Aufstellung des Orchesters mit den beiden Geigengruppen links vom Dirigenten nebeneinander. Dass die Streicher, zumal anfangs und am Schluss, das Vibrato nuanciert einsetzten, führte zu speziellen Färbungen – dennoch: Die Dringlichkeit dieser hochspannenden Ouvertüre trat nicht heraus, die Tempi blieben zu wenig belebt. Ein regelrechter Reinfall sodann die Sinfonie in D-Dur, Hob. I:101, von Joseph Haydn. Auch hier herrschte klanglich philharmonische Homogenität mit wuchtigen Bässen. Stupend das rasante Finale, das gewiss, doch in dem anrührenden Andante, dessen regelmässiger Puls der Sinfonie den Beinamen «Die Uhr» verlieh, geschah rein gar nichts – gab es viel zu wenig dynamische Differenzierung, zum Beispiel zwischen Forte und Fortissimo, und so gut wie kein musikalisches Sprechen. Das war Papa Haydn, wie es im Buche steht; was sich in den letzten zehn Jahren in Sachen Haydn-Interpretation ereignet hat – es ist kapital –, blieb völlig ausser Acht.

Etwas zu erwärmen vermochte einzig Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 5, c-Moll; für deren Wiedergabe gab es denn auch jenen in Luzern üblichen Stehapplaus, welche die vordem versteinerten Mienen der Orchestermitglieder und ihres Dirigenten aufhellten. Der geballte Klang des Abends blieb erhalten, was dazu führte, dass die Posaunen mehr Lautstärke als Farbe einbrachten und dass das Kontrafagott überhaupt nie zu hören war. Aber ungeheures Temperament brach hier aus, nicht zuletzt dank der Orientierung an den vom Komponisten vorgegebenen Zeitmassen. Und geschickt hielt Chailly, der an den entscheidenden Momenten das Geschehen ganz leicht vorantrieb, die Tempi in Schwung. Übrigens auch im Andante con moto des zweiten Satzes, der heitere Stimmung vor den Drohungen des Scherzos und dem Aufbäumen des Finales verbreitete. Besonders eindrucksvoll geriet der Übergang vom Scherzo ins Finale, das nicht stürmisch, sondern mit überraschend grosser Geste anhob – Chailly war schon immer gut für stupende Lösungen auf der Ebene der Tempodramaturgie.

Vom Dunkel ins Licht also – nicht nur hier, in Beethovens Fünfter, sondern an diesem Abend insgesamt. Vielleicht wäre es von Gewinn, wenn Riccardo Chailly am Pult des Lucerne Festival Orchestra die Zügel etwas lockerer nähme und den erstklassigen Musikerinnen und Musikern etwas mehr Luft zum Atmen und Phrasieren liesse. Und wenn er im Bereich des klassischen wie des frühromantischen Repertoires ein wenig mehr über den Tellerrand blickte und wahrnähme, was rund um ihn herum geschieht. Also aufbräche, wie es die Ahnherren Bernard Haitink und Herbert Blomstedt vorgemacht haben. Das Lucerne Festival Orchestra, das tatsächlich ein Orchester wie kein anderes sein kann, hätte es verdient.

Ganz in der Gegenwart – Herbert Blomstedt beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Es geht wieder. Es gibt wieder Konzerte. Nicht am Bildschirm, sondern in der Realität. Nicht Haus-, Hof- oder Altersheim-Konzerte, sondern vollgültige Auftritte professioneller Orchester. «Life is live» ruft das Lucerne Festival, das sein für diesen Sommer angekündigtes Programm am Mittwoch, den 29. April, um 15 Uhr 59 voll und ganz abgesagt hat, es abzusagen und der Pandemie zu opfern gezwungen war, das nun aber, da die einschneidenden Beschränkungen des öffentlichen Lebens nach und nach gelockert werden, eine gut einwöchige Ersatz- und Kurzausgabe aus dem Hut gezaubert hat. Immerhin – nein: wunderbar.

Gewiss, anders als gewöhnlich dauerte das Konzert bloss eineinhalb Stunden, es enthielt auch keine Pause – das Virus verlangt seinen Tribut. Schon am Eingang wurden Masken abgegeben und wurde zur Desinfektion der Hände eingeladen, im Konzertsaal selbst waren nur die Hälfte der Sitze besetzt, nur knapp 1000 der gut 1800 Plätze hatten verkauft werden dürfen, dazu kam eine Menge fremdartiger Begrüssungsrituale. Alle hatten den ganzen Abend über ihren Mund- und Nasenschutz aufgesetzt – oder fast alle: die drei älteren Grazien in meiner Nachbarschaft mochten der vor Konzertbeginn unablässig aus dem Lautsprecher verkündeten Aufforderung nicht Folge leisten, sie trugen die Maske fröhlich unter der Nase oder am Kinn. Life is live.

Eigenartig auch der Anblick des Podiums. Dort sass das Lucerne Festival Orchestra in Kammerformation, aber auf einer Fläche, die sonst von Klangkörpern in Normalbesetzung beansprucht wird – zwischen den einzelnen Orchestermitgliedern gab es eben die als Folge der Pandemie vorgeschriebenen Abstände. Mit 35 Musikerinnen und Musikern wurde an diesem Abend die «Eroica» gespielt – in jener Besetzung, in der Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 3 in Es-dur an ihrer ersten Aufführung 1804 beim Fürsten Lobkowitz in Wien erklungen ist. Der Musiksaal in dessen Palais ist von repräsentativer Dimension, aber natürlich weitaus kleiner als der Konzertsaal im KKL Luzern. Umso überraschender, dass die Darbietung des auf drei Dutzend Mitglieder zusammengezogenen Lucerne Festival Orchestra in keinem Augenblick schmalbrüstig wirkte, auch in oberen Rängen fehlte es nicht an Lautstärke und auch nicht Kraft.

Kräftig heisst eben nicht laut. Als ein aus Solisten bestehender Klangkörper vermag das Lucerne Festival Orchestra auch in kleiner Besetzung den Eindruck musikalischer Wucht zu erzeugen – ja, dort gelingt es besonders gut. Nicht nur erhalten im aufgelichteten Klangbild die einzelnen Stimmen scharfes Profil, bildet das Gesamtgeschehen also eine ganz eigene Vitalität aus, die veränderte Balance lässt die Bläser auch hörbarer hervortreten, was nicht nur Deutlichkeit schafft, sondern auch eine grössere dynamische Bandbreite. Dazu kamen in dieser Luzerner «Eroica» Spielweisen, wie sie im 18. Jahrhundert verbreitet waren, zum Beispiel die deutliche Unterscheidung zwischen gebundenen und gestossenen Noten oder ein Atmen, das sich an den Gepflogenheiten des Sprechens orientiert. Nicht alle Streicher sahen sich in der Lage, das Vibrato zu reduzieren, aber vielen gelang es. Entstanden sind so Klänge von ganz unerhörter Farbgebung.

Aus dem Orchester herausgelockt hat das nicht ein Spezialist der historisch informierten Aufführungspraxis, sondern Herbert Blomstedt, mit seinen 93 Jahren der wohl älteste aktive Dirigent überhaupt – aufrecht stand er da, ohne einen Sitz zu benutzen bewältigte er das Konzert.  Reich an Erfahrung, auch an Lebenserfahrung, und fest verankert in der philharmonischen Orchestertradition, in jungen Jahren aber auch an der Schola Cantorum Basiliensis ausgebildet, gab er zu erkennen, dass seine Neugierde nicht erloschen ist, dass er vielmehr lebendig Anteil nimmt an den geistigen und musikalischen Bewegungen der Gegenwart – in gleicher Weise wie sein Altersgenosse Bernard Haitink, in der Sache aber doch noch eine Spur entschlossener. Davon zeugte schon die 2017 mit dem Gewandhausorchester Leipzig erarbeitete Gesamtaufnahme der Sinfonien Beethoven, die mit ihrem klanglich leichten, agilen Duktus für sensationelles Aufsehen erregt hat. Die Luzerner Aufführung der «Eroica» unterstrich das – allerdings in besonderer Weise, denn an den Live-Eindruck kommt eine Aufnahme, sei sie technisch noch so perfekt, niemals heran.

Die kristallklare, zugleich aber auch opulente Akustik im KKL schuf den Raum für federnde Akzentsetzung. Elegant markierten die Akkordschläge den Beginn des Kopfsatzes; sie gaben zu verstehen, dass hier ein Komponist zu einem Statement ansetzte, dass er das aber mit den Mitteln autonomer Kunst tat. Die Leichtigkeit, die aber keineswegs beiläufig wirkte, fand sich wieder im Scherzo des dritten Satzes; besonders deutlich wurde hier, zu welcher Wirkung Akzente kommen können, wenn sie auf der Basis des leisen Tons aufbauen – und wie dann das Finale anschloss, war von ungeheurer Spannkraft. Zum Höhepunkt geriet aber der Trauermarsch, der nicht wie in der bis heute von Dirigenten wie Daniel Barenboim oder Christian Thielemann gepflegten spätromantischen Tradition in schwerem Schritt daherkam, der seine Abgründe vielmehr in einer Vielfalt an dunklen Farben öffnete – und das in einem Tempo, das nahe an den Forderungen des Komponisten stand. Überwältigend, wie das Lucerne Festival Orchestra, das hier sozusagen in seiner Stammbesetzung auftrat, das alles Wirklichkeit werden liess.

Zu Beginn, wie es die ursprünglichen Planungen vorgesehen hatten, das Klavierkonzert Nr. 1 in C-dur Ludwig van Beethovens – mit Martha Argerich als Solistin. Die Pianistin, wie Herbert Blomstedt in der Schweiz ansässig, geht auch schon auf die achtzig zu; wie agil sie das Podium betritt und wie perlend ihre Finger über die Tasten gleiten, ist ein Wunder. Im eröffnenden Allegro con brio drängte sie nicht wenig, versuchte sie ihr Recht gegenüber dem Dirigenten durchzusetzen – ohne das geht es bei Martha Argerich nicht. Bewusst und deutlich artikulierte sie, die Rhythmen schärfte sie pointiert und am Ende der Durchführung genoss sie hörbar die Begleitung durch die wunderschön geraden Töne der Bratschen. Der langsame Mittelsatz wirkte vielleicht etwas zelebriert. Dennoch gab es hier manches zu bewundern. Ein hauchzartes Pianissimo etwa, ein herrlich freier Umgang mit den Tempi und Ansätze asynchronen Spiels – beides ganz im Geiste Beethovens.

Ein exemplarisches Konzert. Das Lucerne Festival hat damit einen Markstein gesetzt in eine gesellschaftspolitische Landschaft, die, obwohl die Schweiz durch eine der klassischen Musik eng verbundene Bundespräsidentin repräsentiert wird, von bedenklicher Gleichgültigkeit gegenüber der Kunst beherrscht wird – der Gleichgültigkeit insbesondere gegenüber den aufführenden Künsten, die das Hier und jetzt des Moments und den Dialog mit dem Gegenüber des Publikums in einer besonderen Weise benötigen. Das war wohl die wichtigste Botschaft dieses Abends.

Schön, aber nicht mehr

Evgeny Kissin spielt Beethoven

 

Von Peter Hagmann

 

Das Beethoven-Jahr 2020 ist schon mächtig angelaufen. Die ersten Monumentalboxen mit dem Gesamtwerk Beethovens in den allerbesten der besten Aufnahmen sind angekündigt. Einzelveröffentlichungen wie die neun Sinfonien mit Andris Nelsons und den Wiener Philharmonikern oder die (freilich sehr bemerkenswerte) Deutung der 32 Klaviersonaten durch Igor Levit machen von sich reden. Und in den Programmen der Konzertveranstalter für die Saison 2019/20 manifestiert sich unübersehbar die Verlegenheit angesichts des Problems, das Alltägliche zum Aussergewöhnlichen zu machen.

Jetzt hat sich auch Evgeny Kissin den Klaviersonaten Beethovens zugewandt. Er hat sie natürlich schon lange im Programm, zu seinem Kernrepertoire gehören sie aber nicht – weshalb sein Beethoven-Abend in der Klavierwoche des Lucerne Festival besondere Neugierde erregte. Drei grosse Sonaten aus früheren Schaffenshasen standen auf dem Programm: die «Pathétique» in c-Moll op. 13, «Der Sturm» in d-Moll op. 31 Nr. 2, die «Waldstein-Sonate» in C-Dur op. 53. Der allgemeine Eindruck war der eines sehr gepflegten, nuancenreichen, klangschönen Klavierspiels, dem es nicht an Inspiration fehlte, wohl aber an Identifikation, an persönlicher Involviertheit, ja an der nun einmal auch notwendigen Unanständigkeit.

Die «Waldstein-Sonate» stand besonders im Fokus, denn mit diesem Stück hat der unaufhaltsam nach oben strebende Igor Levit beim Lucerne Festival dieses Sommers die Geister verstört. Wie schnell soll das Allegro con brio des ersten Satzes klingen, bis an welche Grenze können die Achtel der repetierten Akkorde gehen? Und was soll diesbezüglich für das Prestissimo im abschliessenden Rondo gelten? Igor Levit sagte sich: noch schneller als möglich. Für ihn scheint es keine Grenzen zu geben, für das menschliche Hörvermögen allerdings schon – jedenfalls war da mitzukommen und zu verstehen schlicht ausgeschlossen. Nur, Levit möchte Beethoven auch als Stachel im Fleisch des Zuhörers zeigen – des Zuhörers von heute, der die Exaltiertheiten der Spätromantiker kennt und mit den technischen Möglichkeiten des modernen Steinway rechnet. Bei Evgeny Kissin ist von all dem nichts zu vernehmen. Er bleibt im Mass, lässt im Kopfsatz die inneren Dialoge klar heraustreten, führt im Adagio molto gefühlvoll, aber nicht mit wirklichem Pianissimo ins attacca anschliessende Rondo über und eröffnet dort Klangräume von ganz  besonderer Atmosphäre. Die Geläufigkeit lässt nichts zu wünschen übrig – aber: Das Ich bleibt verborgen. Darum erscheint diese verrückte Musik hier etwas brav, etwas fad.

Eher auf der Höhe der Komposition wie seiner selbst war Kissin bei den Variationen mit Fuge über ein eigenes Thema in Es-Dur op. 35. Diese «Eroica-Variationen» – so  benannt, weil Beethoven das Thema später ins Finale seiner dritten Symphonie eingebaut hat – sind von einer Kunstfertigkeit sondergleichen; sie leben von stupendem Einfallsreichtum und überraschendem Witz. Allein schon die vierteilige Einleitung, in welcher der Bass des Themas zuerst einstimmig vorgestellt und danach zwei-, drei- und vierstimmig eingekleidet wird, lässt die Ohren spitzen – und wenn sie so richtig schön gespitzt sind, fahren drei Achtel ein, dass es einen vom Sitz hebt. Erst dann wird das Thema in vollständiger Form präsentiert und daraufhin fünfzehn Mal in je neuem Licht gezeigt, bis endlich eine gewaltige Fuge fürs Finale sorgt. Kissin kostete das nach seinen eigenen Massen aus: technisch auf höchstem Niveau, klanglich vielgestaltig, interpretatorisch jederzeit geschmackvoll und kontrolliert, auch durchaus mit Humor.

Das war’s. Das Lucerne Festival am Piano, wie es bis vor kurzem noch hiess, ist Geschichte. Warum das so sein soll, weiss niemand wirklich plausibel zu machen. Es hat sein Richtiges wie sein weniger Gutes. Tatsache ist, dass das Luzerner Klavierfestival in mancher Hinsicht merklich an Ort getreten ist – ein Energieschub wäre gewiss sinnvoll, ohne Zweifel auch möglich gewesen. Auf der anderen Seite kann der Wegfall der herbstlichen Konzertreihe – die, was den Publikumszuspruch wie die Kasse betrifft, bekanntlich nicht wesentlich schlechter lief als das Hauptfestival im Sommer – nicht laut genug beklagt werden. Der grosse Klavierabend, einstmals eherner Bestandteil des Musiklebens, ist am Verschwinden, heute gibt es nur mehr Spurenelemente davon. Vor einem halben Jahrhundert gaben sich in den Schweizer Musikstädten Grössen wie Arrau, Benedetti Michelangeli, Rubinstein die Klinke in die Hand; wo gibt es das noch?

Dafür wartet das Lucerne Festival Anfang April 2020 mit einer Novität auf – mit einer Personale, die sich «Teodor» nennt und während einer halben Woche Licht auf den von allen Seiten begehrten Dirigenten Teodor Currentzis und seine Formation «musicAeterna» wirft. Mit einem Programm, das den Bogen von Hildegard von Bingen bis zu György Ligeti spannt, beginnt der Reigen. Er führt weiter über die selten gegebene Choroper «Tristia» des Franzosen Philippe Hersant und über einen Tag der Begegnung mit dem Musiker hin zu einer Aufführung von Beethovens Neunter. Ein Interpret, der wie zurzeit kein Zweiter Publikum anzieht, der aber auch bereit ist, Vertrautes mit Unbekanntem zu würzen, Gewohnheiten zu hinterfragen und so frische Luft ins Zimmer zu lassen – als Denkansatz verspricht das nicht wenig.

Musik als Theater

Lucerne Festival IV: Mozarts Da Ponte-Zyklus mit Currentzis

 

Von Peter Hagmann

 

Christina Gansch (Zerlina) mit dem Solo-Cellisten von MusicAeterna und Ruben Drole (Masetto) in Mozarts «Don Giovanni» / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Das Lucerne Festival als ein Ort der Oper? Gewiss – wenn auch nicht so, wie es für die Salzburger Festspiele gilt, wo als Schwerpunkt des Programms vier bis fünf Neuinszenierungen herausgebracht und in einer Mischung zwischen Stagione- und Repertoirebetrieb über Wochen hinweg gezeigt werden. In Luzern dagegen liegt der Akzent nach wie vor bei dem einzigartigen Gipfeltreffen der grossen Orchester der Welt, doch haben unter der Leitung von Michael Haefliger andere Schauplätze an Gewicht erhalten. Zum Beispiel die neue Musik mit der von Mark Sattler betreuten Reihe «Moderne» und der Lucerne Festival Academy, die mit Wolfgang Rihm über eine prominente Galionsfigur verfügt, die im Bereich der Interpretation seit dem abrupten (und bis heute unerklärten) Abgang des Dirigenten und Komponisten Matthias Pintscher jedoch eine spürbare Vakanz aufweist. Einen anderen Schauplatz dieser Art stellt das Musiktheater dar. Seit Haefligers Amtsantritt 1999 findet in Luzern Jahr für Jahr auch Oper statt. Nicht als konventionelle Inszenierung auf der Guckkastenbühne, sondern in den verschiedensten Formen konzertanter und halbszenischer Darbietung. Das mag als Notlösung erscheinen in einem Raum wie dem Konzertsaal im KKL, der sich nicht wirklich zur Bühne umbauen lässt, ist aber weit mehr als das (vgl. dazu NZZ vom 20.07.19).

Oper ohne Bühne

Oper am Lucerne Festival stellt vielmehr den kontinuierlich und phantasievoll vorangetriebenen Versuch dar, dem Musiktheater andere Formen der Existenz zu erschliessen – Formen jenseits des Szenischen. Sie verzichten auf Bühnenbild und Kostüm, auf Bebilderung und optisch wahrnehmbare Interpretation, sie fokussieren auf das rein Musikalische. Dabei tritt zutage, dass der Verzicht auf das Gesamtheitliche von Wort, Musik, Bild und Körpersprache nur auf den ersten Blick einen Verlust mit sich bringt. Bei näherem Zusehen erweist sich nämlich, in welch hohem Mass das Theatrale der Oper allein in der vom Text getragenen Musik lebt. Eine Darbietung, die das Szenische nur andeutet, das Musikalische dafür schärft und in den Vordergrund stellt, führt – so paradox das erscheinen mag – näher an den Gehalt des Kunstwerks heran.

Das hat sich in den konzertanten oder halbszenischen Opernaufführungen beim Lucerne Festival vielfach bestätigt – nicht zuletzt bei der epochalen Wiedergabe von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» unter der Leitung von Jonathan Nott im Sommer 2013 oder bei der unvergesslichen Monteverdi-Trilogie mit John Eliot Gardiner von 2017. In dem von Teodor Currentzis geleiteten Zyklus der drei Opern, die Wolfgang Amadeus Mozart und sein Textdichter Lorenzo Da Ponte in den Jahren rund um die Französische Revolution geschaffen haben, ist es erneut und in überwältigender Weise zur Geltung gekommen. Ein fulminanter Schlusspunkt und eine denkbar starke Konkretisierung des Leitgedankens «Macht», unter dem das Luzerner Festival diesen Sommer stand.

Halbszenisch in unterschiedlicher Schattierung

Natürlich gab es an diesen drei restlos ausverkauften Abenden im KKL auch etwas zu sehen – und dies in durchaus unterschiedlichem Mass. Bei «Le nozze di Figaro» – die drei Opern wurden in der Reihenfolge ihrer Entstehung aufgeführt – lag der optische Akzent auf den Kostümen, die diskret, aber unmissverständlich die gesellschaftliche Schichtung und den Verlauf des Geschehen unterstrichen. Der Graf im Smoking, sein Figaro in grobem Tuch – so weit, so klar. Anders die Gräfin und ihre Kammerdienerin Susanna, die als heimlich Verbündete Kleid und Jupe in ähnlicher Farbe trugen, sich mehr noch durch ihre Schuhe unterschieden, die hier hohe, dort tiefe Absätze aufwiesen – was in der Verkleidungsszene zu einem fast unmerklichen Rollentausch genutzt werden konnte.

Bei «Don Giovanni» fehlten solche Elemente. Der Herr und der Diener trugen beide Smoking, eine Art Konzertkleidung, Don Giovanni allerdings einen mit rotem Innenfutter und mit ebenfalls rotem Einstecktuch – dies als Hinweis auf jene gesellschaftlichen Unterschiede, die durch Leporello entschieden relativiert werden. Beim nächtlichen Mittelstück der Trilogie wurde dafür mehr mit Lichtwirkungen gearbeitet – bis hin zu jener vollständigen Dunkelheit, in welcher der Auftritt des Dirigenten erfolgte. Der steinerne Komtur im weissen Dinner Jacket vor den leer gelassenen Sitzreihen der Orgelempore verfehlte seine Wirkung nicht.

«Così fan tutte» schliesslich erschien am stärksten den Konventionen verpflichtet. Dort wurde gestisch doch ziemlich auf den Putz gehauen und durften für die beiden Verkleidungsszenen, für die Auftritte Despinas als Doktor und als Notar, weder das Erste-Hilfe-Köfferchen noch das allgemeine Zittern, weder der Talar noch das näselnde Singen fehlen – leider, muss man sagen. An allen drei Abenden aber nutzten die Regisseurin Nina Vorobyova, die Kostümbildnerin Svetlana Grischenkova und der Lichtdesigner Alexey Koroshev, die sich dem Publikum nicht zeigten, den engen Raum zwischen dem Orchester und dem Podiumsrand geschickt aus. Und sorgten in allen drei komischen Opern für erheiternde Momente – etwa dort, wo Figaro als scheinbar verspäteter Konzertbesucher bei schon laufender Ouvertüre seinen Platz sucht, um dann singend das Podium zu erklimmen.

Historische Praxis 3.0

Wie in all den Luzerner Opernabenden halbszenischer Art blieb mächtig Raum für die Musik, für ihre hochgradig intensivierte Darbietung und ihre dementsprechend gesteigerte Wahrnehmung. Teodor Currentzis, kompromisslos und umstritten, war hier genau der Richtige. Seine Prämisse ist unüberhörbar die historisch informierte Aufführungspraxis, wie sie durch Nikolaus Harnoncourt vor einem guten halben Jahrhundert neu angestossen worden und wie sie heute, beträchtlich weiterentwickelt, so etwas wie Allgemeingut geworden ist. Anders als bei Mozarts «Idomeneo» an den Salzburger Festspielen dieses Jahres (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 14.08.19), bei dem das Freiburger Barockorchester einen sagenhaften Auftritt hatte, stand Currentzis in Luzern vor Chor und Orchester der von ihm begründeten, inzwischen nicht mehr mit der Oper Perm verbundenen, sondern selbständigen, privat finanzierten Formation MusicAeterna.

Mit seinen 33 Mitgliedern verbreitet der Chor dank klar zeichnender, nicht durch übermässiges Vibrato beeinträchtigter Linienführung bemerkenswerte Leuchtkraft. Das klein besetzte Orchester wiederum verwendet auf dem tiefen Stimmton von 430 Hertz Instrumente nach der Art des ausgehenden 18. Jahrhunderts und die dazu gehörigen Spielweisen: Streicher mit Darmsaiten (aber nicht Barockbögen), Bläser in enger Mensur und ohne die heute üblichen Ventile, Pauken mit reinen Holzschlägeln. Was die historisch informierte Aufführungspraxis hervorgebracht hat, versteht sich hier von selbst und gilt als Basis. Die Streicher spielen nicht immer, aber in der Regel ohne Vibrato, was die Dissonanzen schärft und deren Auflösung in die Konsonanz stärker als gewöhnlich empfinden lässt. Ebenso hörbar wird die Belebung, die von der nuancierten Artikulation und der kleinteiligen, klar am Sprachverlauf orientierten Phrasierung ausgeht. Das alles auf technisch höchstem Niveau: Was dieses Orchester an Agilität und Präzision im hochgetriebenen Prestissimo zu leisten vermag, lässt immer wieder staunen.

Es erlaubt Teodor Currentzis, dem Akrobaten auf dem Dirigentenpodium, den musikalischen Ausdruck ganz unerhört zuzuspitzen: im Leisen wie im Lauten, im Schnellen wie im Langsamen. Er gehört damit zu den (mehr oder weniger) Jungen Wilden der klassischen Musik, wie sie von der Geigerin Patricia Kopatchinskaja prominent vertreten werden. Mit seiner zum Teil erschreckend harschen Attacke, dem reinen Gegenteil der apollinischen Verklärung Mozarts in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, schliesst Currentzis durchaus an Harnoncourt an. Zugleich nutzt er aber auch die vielen Freiheiten, die noch von Harnoncourt selbst, besonders aber von seinen Nachfolgern entdeckt und verbreitet wurden. Die Tempi werden nicht einfach im Gleichschlag durchgezogen, sondern vielmehr reichaltig und ganz dem expressiven Moment entsprechend nuanciert – was durchaus neueren Erkenntnissen der Interpretationsforschung entspricht. Und wie es René Jacobs tut, setzt Currentzis auf einen sehr vitalen, sehr präsenten Basso continuo – nicht nur in den Rezitativen, sondern überall. Was Marija Shabashova am Hammerklavier mit ihren witzigen Anspielungen, was der Lautenist Israel Golani und der Cellist Alexander Prozorov in Luzern hören liessen, war von hohem Reiz.

Dazu kommt, dass in der Mozart-Da Ponte-Trilogie des Lucerne Festival nicht nur das Instrumentale, sondern auch das Vokale dem aktuellen Stand des Wissen entsprach – nicht bei allen Mitgliedern der drei Ensembles, aber doch bei vielen. Dass bei zwei gleich hoch liegenden Tönen Appogiaturen gemacht, dass in wiederholten Teilen Verzierungen angebracht und unter den grossen Fermaten Kadenzen eingefügt werden können, war ebenso selbstverständlich wie das unterschiedlich gestaltete Vibrato und die vokale Formung aus dem Text heraus, also mit Hebung und Senkung sprechend und nicht, wie zu Karajans und Böhms Zeiten, auf die weit gespannte Linie und das durchgehende Legato hin ausgerichtet. Mit einigen Sängerinnen und Sängern scheint Currentzis intensiv gearbeitet zu haben, andere animierte er durch seine ungewöhnliche, durchaus gewöhnungsbedürftige körperliche Präsenz auf dem Podium. Wie überhaupt durch jene Nähe zwischen den Akteuren, die der Konzertsaal bietet, eine Verzahnung von Vokalem und Instrumentalem entstand, wie sie selten genug zu erleben ist.

Glanzpunkte, Schwachstellen

Der langen Vorrede kurzer Sinn: Die drei Luzerner Abende mit Mozart und Da Ponte waren ein hinreissendes Erlebnis. Sie zeigten, dass Oper auch jenseits der Bühne Oper sein kann. Und wie Musik allein zu Theater werden kann – dann nämlich, wenn das Ausdruckspotential der Partituren so explizit genutzt wird, wie es Teodor Currentzis tat. Vor allem aber waren die Darbietungen von glanzvollen vokalen Leistungen getragen; sie liessen nicht zuletzt erkennen, wie sehr die drei unerhört aufmüpfigen Opern Mozarts in ein und dieselbe Richtung weisen und wie individuelle Züge sie zugleich tragen. Im «Figaro» von 1786, dessen Ouvertüre nicht elegant tänzelnd, sondern vorrevolutionär rasselnd erklang, gab es neben dem souveränen, wenn auch etwas routinierten Figaro von Alex Esposito die herrlich schillernde Susanna von Olga Kulchynska sowie neben dem etwas unverbindlichen Grafen von Andrei Bondarenko die sehr innige, in ihrer Weise ehrliche Gräfin von Ekaterina Scherbachenko mit ihrem üppigen Vibrato und ihrem reichen Portamento. Vor allem kamen in diesem Stück die kleineren Rollen ans Licht: der Cherubino von Paula Murrihy und die zarte Barbarina von Fanie Antonelou, die auf der CD-Einspielung mit Currentzis die Susanna singt. Schade nur, dass hier die Übertitel pauschal blieben – zu pauschal für eine Interpretation, die so ausgeprägt aus dem Text hervorwuchs.

Auch in dem nächtlichen «Don Giovanni» von 1787 traten zwei Partien heraus, die gewöhnlich etwas im Schatten bleiben. In der Stimme quirlig, aber auf Distanz zum Soubrettenton, und in der Körpersprache geschmeidig, bot Christina Gansch einen sehr differenzierten Blick auf die junge Bäuerin Zerlina, im Geist eine Schwester der Susanna. Als ein besonders starrköpfiger Masetto hatte Ruben Drole einen prächtigen Auftritt; sein kraftvoller Bass liess das Vorhaben Masettos, den ihn bedrängenden Lüstling um die Ecke zu bringen, als durchaus glaubhaft erscheinen. Auffallend, dass Kyle Ketelsen als aufbegehrender Diener Leporello ähnlich unscharfes Profil gewann wie Figaro am Abend zuvor. Umso ansprechender dafür Dimitris Tiliakos als ein nicht mit metallener Virilität agierender, sondern ausgesprochen lyrisch angelegter Don Giovanni. In «La ci darem la mano» liess er gegenüber Zerlina seine ganzen Verführungskünste spielen, während die Champagner-Arie erwartungsgemäss überschäumend geriet. Vor allem aber schlug hier die Stunde von Nadezhda Pavlova, die mit ihrer grossartigen Singkunst die Figur der Donna Anna zu einem geradezu expressionistisch zugespitzten Charakter machte. Witzig, dass die Oper, wie es Mozart für die Wiener Zweitaufführung von 1788 vorgesehen hatte, mit dem Untergang des Protagonisten zu enden schien, was verunsicherten Beifall auslöste – dass das finale Sextett dann aber doch noch nachgereicht wurde, freilich als Oktett unter tatkräftiger Mitwirkung der beiden Toten.

Weniger überzeugend «Così fan tutte» von Anfang 1790. Zum einen der halbszenischen Einrichtung wegen, die doch etwas grobkörnig geraten war. Zum anderen darum, weil Cecilia Bartoli in der Partie der Despina als Star vorgeführt wurde und sich auch so gab – beides wollte nicht so recht ins Konzept passen. Zumal ihr halsbrecherisches Parlando nach wie vor stupend wirkte, die stimmliche Kontrolle an diesem Abend aber nicht restlos gegeben war. Auch nicht ganz auf der Höhe Konstantin Wolff als Don Alfonso; der philosophierende Strippenzieher war hier ein junger Mensch wie seine vier Opfer, er litt unter einem etwas bedeckten Timbre und blieb gerne auf den Schlusssilben sitzen, was im Umfeld dieser Produktion besonders als altmodisch auffiel. Neben Paul Murrihy (Dorabella), die das im «Figaro» erreichte Niveau würdig hielt, fiel noch einmal Nadezhda Pavlova auf, die als Fiordiligi fabelhafte Sicherheit in den Sprüngen, wunderschöne Rubato-Kunst, spannende Verzierungen und grandiose Koloraturen zum Besten gab. Und von dem etwas röhrenden Guglielmo von Konstantin Suchkov hob sich der Ferrando von Mingjie Lei angenehm ab; seine Arie «Un’ aura amorosa» aus dem ersten Akt geriet zu einem Meisterstück vokal-instrumentalen Konzertierens.

Eine gewaltige Reise war das, eine von erschöpfender Kraft und nachhaltiger Denkwürdigkeit. Einmal mehr erwies sich, dass das Lucerne Festival auch für Anhänger des Musiktheaters eine Destination sein kann.

Altmeister und Jungspunde

Lucerne Festival (III): Ein Wochenende im Zeichen der Vielfalt

 

Von Peter Hagmann

 

Bernard Haitink am 6. September 2019 im KKL Luzern / Bild Priska Ketterer, Lucerne Festival

Es war ein Abschied, daran ist nicht zu rütteln, aber in seiner Weise war er glücklich. Mit einer letzten Aufführung von Anton Bruckners Sinfonie Nr. 7, und dies am Pult der Wiener Philharmoniker, beendete Bernard Haitink im Rahmen des Lucerne Festival seine beinahe 65 Jahre umspannende Laufbahn. In Luzern geschah das darum, weil dem inzwischen neunzigjährigen Dirigenten diese Stadt recht eigentlich ans Herz gewachsen und weil ihr Festival in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem Schwerpunkt seines Wirkens geworden ist. Die Wiener Philharmoniker wiederum waren mit von der Partie, weil ihm dieses Orchester mit seinem so besonderen Klang, so sagt es Haitink, in Sachen Bruckner die Ohren geöffnet habe; nach seinem Debüt bei den Wienern mit Bruckners Fünfter im Jahre 1972 habe er seine Auffassungen zu diesem Komponisten grundlegend überdacht. Bruckners Siebte schliesslich darf als ein Herzensstück des Dirigenten gesehen werden; fast 120 Mal hat er sie dirigiert – und so durfte an diesem restlos ausverkauften Abend im KKL die Partitur geschlossen bleiben: eine Ausnahme bei Haitink, der dem Auswendig-Dirigieren mit Skepsis begegnet.

Die Aufführung selbst übertraf alles, was ich auf dem weiten Feld der Bruckner-Interpretation kennengelernt habe. Sie war vollendet. Haitink ging zwar an einem feinen Stock und setzte sich bisweilen auf seinen hochgestellten Hocker, liess an Präsenz und Ausstrahlung jedoch nicht das Geringste vermissen, er war vielmehr ganz Gegenwart. Und die Wiener Philharmoniker schenkten dem Dirigenten, was sie zu schenken vermögen; mit einer Hingabe sondergleichen brachten sie ihren Ton zum Blühen – einen Ton von unvergleichlicher Wärme, der aber, ganz anders als jener der Berliner Philharmoniker, jederzeit hell und transparent bleibt. Alle Sektionen des Orchesters brillierten, besonders jedoch die Musiker an den sogenannten Wagner-Tuben, die zusammen mit ihrem Kollegen an der Kontrabasstuba ihre harmonisch zum Teil extrem anspruchsvollen Partien blendend meisterten und so dem zweiten Satz eine ganz besondere Innigkeit verliehen. Wie von selbst – das ist eines der Geheimnisse, welche die Kunst Haitinks tragen – entstanden die weit gespannten Verläufe, in denen Bruckners Musik zum Atmen kommt; und wie Haitink gegen das Ende des Kopfsatzes hin das Tempo anzog und so die Spannung sicherte, geschah das wie stets geradezu unmerklich. Gleichzeitig drängend wie beharrend bereitete das Scherzo auf das Finale vor, in dem Haitink zusammen mit den Wiener Philharmonikern, die hier ihr schönstes Fortissimo strahlen liessen, einen stolzen Schlusspunkt setzte. Grosse Kunst war das, auf lebenslanger Erfahrung ruhend und zugleich ganz dem Moment verbunden. Vor allem aber tief berührend. Niemand, der dabei war, wird es vergessen.

Es geht doch nichts über die alten weissen Männer. Zu ihnen gehört inzwischen auch Heinz Holliger – wiewohl er zehn Jahre jünger ist als Bernard Haitink, nämlich vor kurzem seinen achtzigsten Geburtstag begehen konnte (vgl. Republik vom 21.05.19). Zu seinen Ehren gab es im Rahmen der Reihe «Moderne», die sich längst zu einem Podium ganz eigener Bedeutung entwickelt hat, ein phantasievoll gestaltetes Programm mit Stücken Holligers aus unterschiedlichen Schaffensphasen und einer Reihe kurzer Geburtstagsgrüsse. Im Zentrum des ersten Teils stand das Streichquartett Nr. 2 von 2007, das von Christopher Otto und Austin Wullimann (Violinen), John Pickford Richards (Viola) und Jay Campbell (Violoncello), den vier jungen Mitgliedern des mit der Lucerne Festival Academy verbundenen Jack Quartet fulminant gegeben wurde. Darum herum ein Ständchen mit Werken von Heinz Holliger, der noch immer fabelhaft bläst, und Zurufen von Youngi Pagh-Paan, Roland Moser, György Kurtág und Rudolf Kelterborn. Im zweiten Teil dann «Not I», das frühe Monodram Holligers auf einen Text von Samuel Beckett, in dem die Sopranistin, von der nur den auf einen Bildschirm projizierten Mund zu sehen war, Ausserordentliches leistete gab. Schade nur, dass der erste Teil in völlig abgedunkeltem Raum stattfand, so dass man das Programm vorab hätte auswendig lernen müssen. Und bedauerlich, dass die Veranstaltung so lange dauerte, dass es für Interessenten nicht zum darauf folgenden Sinfoniekonzert reichte – und das bei einem Festival wie jenem in Luzern, das die Integration der neuen Musik ins Gesamtprogramm zu einem seiner Markenzeichen macht.

Das Neue gehört in Luzern nämlich einfach dazu – auch zu den Sinfoniekonzerten, in denen sich die grossen Orchester der Welt die Klinke reichen. Weil diese Klangkörper, auf Reisen befindlich, dabei nicht leicht mithalten können, setzt das Lucerne Festival seit geraumer Zeit vermehrt auf Eigenproduktionen – wozu nicht zuletzt das Orchester der Lucerne Festival Alumni beiträgt. Weit über tausend junge Instrumentalisten haben seit der Gründung der Akademie im Jahre 2003 von dem einzigartigen Angebot der Weiterbildung profiziert; einige von ihnen kehren zurück und formieren sich zu dem auf Zeit gebildeten Alumni-Orchester. Und diesen Sommer ist nun erstmals Riccardo Chailly, der Chefdirigent des Lucerne Festival Orchestra, ans Pult dieser Nachwuchs-Formation getreten – ein Zeichen jener Vernetzung, der die Zukunft des Festivals gehört. Chailly, der sich, was gerne vergessen geht, in der neuen Musik ganz selbstverständlich tummelt, dirigierte ein Programm, das einen grossen Bogen über das 20. Jahrhundert schlug. Seine Wurzel hatte es bei Arnold Schönbergs Fünf Orchesterstücken op. 16 von 1909, in denen sich Tradition und Aufbruch verbinden. Über die «Eisengiesserei», einem krachenden Stück des Russen Aleksandr Mossolow aus dem Jahre 1927, ging es weiter zur «Grande Aulodia» (1970) von Bruno Maderna, einem südländisch wohlklingen Doppelkonzert für Flöte (Jacques Zoon) und Oboe (Lucas Macías Navarro). Und so heftig es mit Mossolow begonnen hatte, so wütend endete es mit Dis-Kontur (1974/84) von Wolfgang Rihm, dem Leiter der Academy, der in dieser frühen Komposition mit gewaltigen Schlägen den Aufstand probt. Riccardo Chailly kniete förmlich in die Partituren hinein, und die Jungen im Orchester liessen sich begeistert mitreissen.

Neue Musik ist keineswegs etwas für die Nische, sie bildet selbstverständlich Teil des Kosmos – das ist zu erleben, wenn es Veranstalter wagen und sich Interpreten finden. Ein Interpret dieser Art ist Simon Rattle, der mit dem von ihm seit 2017 geleiteten London Symphony Orchestra einen sehr besonderen Weg hin zur neuen Musik eingeschlagen und damit, so scheint es, zu seinem Eigenen gefunden hat. Zusammen mit der auch hier wieder grossartigen Sopranistin Barbara Hannigan präsentierte er im KKL «let me tell you», ein Erfolgsstück des hierzulande wenig bekannten Dänen Hans Abrahamsen, dessen traditionsverbundene und doch neuartige Sprache einige Ratlosigkeit auslöste. Im zweiten Teil des von der Siemens-Musikstiftung mitgetragenen Abends dann «Eclairs sur l’Au-Delà…», eine späte Komposition von Olivier Messiaen, in welcher der grosse Franzose die Summe seines künstlerischen Lebens und seines Glaubens zieht. Unerhört schöne, unerhört ergreifende Musik ist das – wenn sie so vorbildlich und so engagiert präsentiert wird, wie es Rattle und den Londoner Musikern gelungen ist. Messiaen, Organist wie Bruckner, hat im Orchester eine Orgel gefunden, wie sie nirgendwo auf der Welt existiert. Lustvoll probiert er ein Register nach dem anderen aus, mit unerhörter Phantasie erkundet er die Möglichkeiten ihrer Kombination – und gelangt so in ein Paradies farbenfroher Vogelgesänge und wunderbarer Klangwirkungen. Gewiss ist die neue Musik hier Geschichte geworden. Gleichwohl klingt sie, als wäre sie von heute.

Etwas Eigenwerbung auf der sonst werbefreien Seite:

Peter Hagmann / Erich Singer: Bernard Haitink. «Dirigieren ist ein Rätsel». Bärenreiter und Henschel, Kassel und Berlin 2019. 183 S., Fr. 39.90.

Neue Horizonte

Lucerne Festival (II): Das Gastspiel der Berliner Philharmoniker

 

Von Peter Hagmann

 

Im Goldenen Dreieck der deutschen Orchesterkultur gibt es Wellenschlag. Nicht bei der Staatskapelle Dresden, die mit ihrem als Dirigent bewunderten, als Interpret jedoch umstrittenen Chef Christian Thielemann ihr ausserordentliches Niveau zu halten versteht. Aber beim Gewandhausorchester Leipzig, wo seit 2018 Andris Nelsons am Wirken ist. Der vierzigjährige Lette ist in Leipzig mit offenen Armen empfangen worden und hat mit bemerkenswerten Bruckner-Aufnahmen bei der Deutschen Grammophon (vgl. Mittwochs um zwölf vom 20.06.18) auf sich aufmerksam gemacht. Der erstmalige Auftritt des Orchesters mit seinem neuen Chef in den Konzerten des Lucerne Festival vermochte jedoch nur in Teilen zu überzeugen; Nelsons, der neben seinen Aufgaben in Leipzig auch das Boston Symphony Orchestra leitet, wirkte verkrampft, was deutlich zu hören war (vgl. NZZ vom 28.08.19). Zeichen des Aufbruchs sind freilich bei den Berliner Philharmonikern zu beobachten. Sie kamen nicht zum ersten Mal mit Kirill Petrenko nach Luzern (vgl. Republik vom 14.09.18), debütierten aber mit ihm als inzwischen voll installiertem Chefdirigenten.

Zur Sensation geriet dabei die Wiedergabe von Peter Tschaikowskys Sinfonie Nr. 5. Was einen da erwarten würde, liess schon die im Frühsommer erschienene Aufnahme von Tschaikowskys Sechster im orchestereigenen Label der Berliner Philharmoniker erahnen. Dazu kam für mich das Zurückdenken an denkwürdige Tschaikowsky-Trilogie mit «Mazeppa», «Eugen Onegin» und «Pique Dame», die Petrenko gemeinsam mit Peter Stein in den Jahren 2006 bis 2008 für die Oper von Lyon erarbeitet hat – ein Projekt, das die genuine Nähe des Dirigenten zur Musik Tschaikowskys ans Licht brachte. Genau das zeichnete auch die Luzerner Aufführung von Tschaikowskys Fünfter aus. Der Klang schien direkt aus dem Inneren Petrenkos herauszufliessen, er war von einer vibrierenden Intensität und einer glühenden Wärme erfüllt, ohne dass sich je ein Zug ins Pathetische eingestellt hätte.

Wie es sein Vorvorgänger Claudio Abbado bei dieser Musik tat, liess Petrenko dem emotionalen Fluss freien Lauf. Zugleich aber hielt er das Geschehen fest in der Hand und sorgte er für die scharfe Zeichnung der Einzelheiten. Zu Beginn des zweiten Satzes etwa fand die Einleitung der Streicher sorgfältigste Ausformung in der Dynamik, während Stefan Dohr und Andreas Ottensamer an Horn und Klarinette nicht nur überirdische Schönheit des Leisen erzeugten, sondern auch die Artikulation, die Unterscheidung zwischen dem Gebundenen und dem Gestossenen, äusserst nuanciert verwirklichten. Überhaupt schienen sich an diesem Abend die Berliner und ihr neuer Chefdirigent in denkbar vielversprechender Weise gefunden zu haben; das Orchester agiert auf ganzer Höhe, gerade auch in den Momenten der vollen Kraftentfaltung.

Und ohne Scheu präsentierte Petrenko vor dem bewegenden zweiten Teil mit Tschaikowsky das Violinkonzert von Arnold Schönberg – ein Stück, an dem man sich achtzig Jahre nach seiner Uraufführung durchaus noch die Zähne ausbeissen kann. Zumal dann, wenn eine kompromisslose Künstlerin wie Patricia Kopatchinskaja den Solopart übernimmt. Mit ihrem unerhört impetuosen Zugriff stellte die Geigerin das seine Orientierung an klassischen Modellen nicht verbergende Konzert als ein Stück avancierter Moderne dar. Unglaublich die Spannung, die sie schon nach wenigen Takten zu erzielen wusste, hinreissend die Kontraste in ihrer ersten Kadenz, zauberhaft die Flächen des Leisen am Schluss, aus  denen immer wieder Fontänen letzter Intensität herausschossen.

Verwandlungen eines Klangkörpers

Lucerne Festival (I): Das Festivalorchester mit Riccardo Chailly und Yannick Nézet-Séguin

Von Peter Hagmann

 

Da sie mit Mitgliedern aus aller Herren Ländern besetzt seien, klängen die grossen Orchester der Welt allesamt gleich, sagt der eine Pultheroe. Sie hätten ihren eigenen Ton, wer auch immer vor ihnen stehe, meint der andere. Wie falsch beide Meinungen sind, war jetzt wieder in den Abenden mit dem Lucerne Festival Orchestra zu erleben – in zwei Abenden mit drei Neuerungen. Mit dem Kanadier Yannick Nézet-Séguin stand zum ersten Mal ein als solcher engagierter Gastdirigent vor dem Orchester; Pierre Boulez, Bernard Haitink und Andris Nelsons hatten als Stellvertreter für den erkrankten beziehungsweise verstorbenen Chefdirigenten Claudio Abbado gewirkt, Nelsons zudem als Kandidat für dessen Nachfolge. Und mit der Sinfonie Nr. 4 von Dmitri Schostakowitsch drang Nézet-Séguin in ein für das Orchester ganz und gar ungewohntes Repertoire vor. Riccardo Chailly dagegen, der Chefdirigent des Lucerne Festival Orchestra, nahm sich – nach den Eröffnungskonzerten mit Werken von Rachmaninow und Tschaikowsky – die sechste Sinfonie Gustav Mahlers vor und betrat damit erstmals jenes Zentralgebiet, mit dem sich Abbado und das Orchester profiliert hatten.

Obwohl es sich seit dem Abschied von Abbado vor fünf Jahren merklich verändert hat, nicht zuletzt in seiner Besetzung, verfügt das Lucerne Festival Orchestra, so empfinde ich es, noch immer über einen eigenen Ton, über seinen Ton. Sowohl im lautesten Bereich, der seit Abbados Tod allerdings enorm an Kraft zugenommen hat, als auch in den glanzvollen solistischen Präsentationen, wie sie von Jacques Zoon an der Flöte, Lucas Macías Navarro an der Oboe, Alessandro Carbonaro an der Klarinette und Guilhaume Santana am Fagott sowie von dem Hornisten Ivo Gass, dem Trompeter Reinhold Friedrich und dem Posaunisten Jörgen van Rijen getragen werden. Dazu kommen nun aber die Handschriften der Dirigenten, die sich doch klar voneinander unterscheiden – auch wenn sowohl Riccardo Chailly als auch Yannick Nézet-Séguin ihre deutlichsten Akzente im Fortissimo setzen. Es rauscht so mächtig, wie es zu Abbados Zeiten niemals der Fall war. Ob das Laute tatsächlich so laut klingen muss, das ist allerdings eine Frage, die an dieser Stelle offen bleiben muss.

Riccardo Chailly führt das Lucerne Festival Orchestra an straffem Zügel; entschieden ist seine Zeichengebung und, wie es der aus der Oper stammenden italienischen Tradition entspricht, oft in kleinen Einheiten des Schlags gehalten. Auf dieser Basis legte Chailly Mahlers Sechste ganz und gar im Denken und im Klang der Moderne aus. Wuchtig eröffnete der Kopfsatz mit seinem Schicksalsmotiv, mit den markanten Paukenschlägen und dem Dreiklang, der von Dur nach Moll schreitet – doch trotz der muskulösen Klanglichkeit herrschte ein hohes Mass an Transparenz. Dass darauf das Andante moderato des dritten Satzes folgte – die Reihenfolge der Sätze bleibt in Diskussion –, erschien als logisch; weniger überzeugend wirkte dagegen die gezügelte Emphase, ja die Nüchternheit dieser so berührenden Musik. Das wilde Scherzo und das sich mächtig aufbäumende Finale bildeten dann fast eine Einheit bis hin zudem gewaltigen Schluss, in dem das Schicksalsmotiv noch einmal anklingt, diesmal allerdings ohne die Erlösung nach Dur. Ausgefeilt die Lesart des Dirigenten, hervorragend die Präsentation des Orchesters – und gleichwohl blieb jener Rest an Distanz, der nun einmal zu Chailly gehört.

Vor der Macht des Schicksals die ganz einfache, brutale Macht der Mächtigen – nämlich Schostakowitschs Vierte. Sie stammt aus der Zeit, da der Komponist, nicht zuletzt mit seiner Oper «Lady Macbeth von Mzensk», seine ästhetische Position erfolgreich konsolidiert hatte, und in der er zugleich die heftigsten Schläge vonseiten der Staatsmacht entgegennehmen musste, zum Ausdruck gebracht durch den berühmt-berüchtigten Artikel «Chaos statt Musik» in der «Prawda». Genau in diesem Licht, mithin von einem biographischen Ansatz aus, scheint mir Yannick Nézet-Séguin seine Deutung dieser weit ausgreifenden, riesig besetzten Sinfonie angelegt zu haben. Die brutale Repression durch den Staatsapparat und dessen Demaskierung im grellen Operettenton, die Zartheit der in der Komponierstube keimenden Individualität und die immer wieder durchbrechende Verzweiflung – all das kam an diesem Abend im Luzerner KKL zu beklemmendem Ausdruck. Gleichzeitig blieben jedoch auch hier Zweifel bestehen. Unter der Leitung Nézet-Séguins, der äusserst agil ohne Taktstock dirigierte, blieben Reste an Äusserlichkeit, die das musikalische Geschehen nicht wirklich seinem Eigentlichen vordringen liess. Das Fortissimo klang grell und nahm damit amerikanische Züge an – wie überhaupt viele Momente der orchestralen Farbgebung plakativ wirkten. Ein Gastdirigent an der Seite des Chefdirigenten wäre vielleicht das Richtige für das Lucerne Festival Orchestra. Nur müsste es ein höchst qualifizierter, scharf profilierter Künstler sein.

Zur Überraschung des Abends mit Nézet-Séguin geriet allerdings das Vorspiel vor der Sinfonie Schostakowitschs, das in seiner unerhört deutlichen Aussage zur Hauptsache wurde: das Violinkonzert Ludwig van Beethovens mit Leonidas Kavakos, dem vielbeschäftigten «artiste étoile» dieses Sommers, als Solisten. Kavakos bot das Konzert als das Gegenteil dessen dar, was heute angesagt ist. Es kam in einer zutiefst restaurativen Interpretation daher, geriet im Rahmen dieser Prämisse aber zu einem wahren Wunderwerk. Sehr warm, aus der Tiefe heraus leuchtend der Ton der Stradivari, die Kavakos spielt. Und sehr langsam die Tempi, denkbar weit entfernt von dem, was man heute für ein originales Tempo bei Beethoven hält. Innerhalb der sehr gemässigten Verläufe herrschten jedoch eine musikalische Natürlichkeit und ein Reichtum an Ausgestaltung im Einzelnen, die wahrhaft staunen liessen. Dazu kamen die Kadenzen, die Kavakos der Klavierfassung des Konzerts entnommen, aber phantasievoll und verspielt angereichert hat. Zusammen mit Yannick Nézet-Séguin folgte das Lucerne Festival Orchestra dem Solisten bis in kleinste Regungen hinein. Für mich ein Höhepunkt im bisherigen Verlauf des Festivals.