Gipfelstürmer

Zwei Soloabende in der Tonhalle Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Mit einem tosend in die Tiefe stürzenden Lauf und gleich darauf einem heftigen, sich in erregte Tremoli auflösenden Akkord, so hebt Sergej Rachmaninows Klaviersonate Nr. 2 in b-moll an – ein stärkeres Ausrufezeichen ist kaum denkbar. Ohne die Spur eines Zweifels aufkommen zu lassen, nahm Francesco Piemontesi die Herausforderung an. Mit stählerner Kraft und staunenswerter Fingerfertigkeit stürzte sich der Tessiner an seinem Zürcher Klavierabend in den Kampf mit den Elementen. Liess er den Steinway, ein Instrument mit herrlichen Bässen, in aller denkbaren Kraft, aller vorstellbaren Farbenpracht aufrauschen – so als sässe nicht ein einsamer Solist auf dem Podium in der Grossen Tonhalle Zürich, sondern ein ganzes Orchester. Piemontesi, was Rachmaninow betrifft in den letzten Tagen beim Tonhalle-Orchester und bei der Philharmonia aus dem Opernhaus sehr beschäftigt, spielte die erste Fassung der Sonate von 1913 und machte vergessen, was der Komponist selbst an seinem in drei Teile gegliederten, im Grunde aber einsätzigen Werk bemängelte: zu viel der Noten. In einem grossartigen Bogen zog der Pianist durch die Partitur, und als er am Schluss die riesigen Akkordtürme in hellstes Licht stellte, war jeder Widerstand gebrochen. War wieder einmal deutlich, dass gegen die Verführungskünste Rachmaninows am Ende doch kein Kraut gewachsen ist.

Das war der Mittel- und Höhepunkt eines vom Tonhalle-Orchester Zürich gemeinsam mit der Genfer Konzertagentur Caecilia in ihrer Reihe Meisterinterpreten veranstalteten Klavierabends – der im Ganzen doch auch etwas Zweifel aufkommen liess. Und zwar in der Programmgestaltung wie den interpretatorischen Ansätzen. Nach der schweren Kost Rachmaninows kam es zwar zur Pause, doch dann folgte die nicht weniger schwierige, wenn auch ganz anders gelagerte Klaviersonate in B-dur, D 960, von Franz Schubert. Das war keine glückliche Wahl, Schuberts fragile Kunst hatte da zu wenig Chancen. Zumal Piemontesi die Charaktere dieser vielgestaltigen Musik eher pauschal formte. Im zweiten Satz zum Beispiel, einem Andante sostenuto, liess er den untergründig mitlaufenden Trauermarsch kaum zur Geltung kommen, weil er die Aufmerksamkeit einseitig auf die Melodielinien fokussierte. Und was diese Melodielinien betrifft, war an mancher Stelle zu beobachten, wie der Pianist die Bässe zurückhielt, um die Lineaturen der Oberstimmen singen zu lassen; so schön das geriet, gerade dank dem subtil eingesetzten Rubato, so sehr fehlte da doch bisweilen der Boden. Auch etwas wenig Biss hatte die Auswahl von sechs Stücken aus dem zweiten Band der Préludes von Claude Debussy. Gewiss, «Général Lavine – eccentric» geriet witzig, und das «Feu a’artifice» sparte nicht an glitzerndem Effekt. Doch andernorts, etwa bei den Farbenspielen in den «Brouillards» oder im «Clair de lune», mischten sich auch Züge gepflegter Beliebigkeit ins Spiel.

Solche Momente blieben bei Iveta Apkalna aus. Die lettische Organistin, in ihrer Art eine Gipfelstürmerin wie Francesco Piemontesi, leitete ihren Auftritt an der neuen Orgel in der Tonhalle Zürich mit einer «Evocation» des französischen Organisten und Komponisten Thierry Escaich ein – mit einem effektvollen Stück, in dem sich die tausendundeine Möglichkeiten des Instruments von Orgelbau Kuhn aus Männedorf schon gut erahnen liessen. Erst recht gilt das für die «Deux Visions de l’Apocalypse» von Lionel Rogg, einer Art aufgezeichneter Improvisation des Westschweizer Organisten und Komponisten, die im Ton Olivier Messiaens anhebt, in der Folge aber wilde, farbenreiche Kreise zieht. Schliesslich das Ricercar a sei aus dem «Musikalischen Opfer» Johann Sebastian Bachs. Sehr plausibel ging Iveta Apkalna das kontrapunktische Wunderwerk aus dem Geist des späteren 19. Jahrhunderts an, vermied sie den auf der Orgel in der Tonhalle gewiss auch möglichen Barockklang und formte stattdessen eine mächtige Steigerung hin zu einem Klang, der seine Verankerung im Wesen der Orchesterorgel behielt.

Dann aber die Kulmination: die Fantasie mit Fuge über den Choral «Ad nos, ad salutarem undam» von Franz Liszt – einem Sturm, der einen während mehr als dreissig Minuten durchschüttelt. Heute wird das ins Riesenhafte auswachsende Stück, wenn überhaupt, dann eher auf dem Klavier als auf der Orgel gespielt (zum Beispiel von Igor Levit, der das Werk 2018 beim Lucerne Festival zu hinreissender Aufführung brachte). Erdacht und niedergeschrieben ist «Ad nos» jedoch ganz klar als eine auf der Spieltechnik der Klaviervirtuosen aus dem 19. Jahrhundert basierenden, klanglich jedoch genuin für die spätromantische Orgel konzipierte Schöpfung – Iveta Apkalna hat das in eindrucksvollster Weise erleben lassen. Untadelig ihre Fingertechnik wie ihr Pedalspiel, staunenswert ihre Körperbeherrschung im Umgang mit den schier unbegrenzten Möglichkeiten der Registersteuerung, die das grosse Zürcher Instrument bietet – und dass all das nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen war, gehörte mit zu den Besonderheiten des Rezitals. Bezaubernd das flüsterleise Summen einer Flöte oder das kehlige Singen eines Zungenregisters, umwerfend aber vor allem die geschmeidigen, farblich vielfach abgestuften Steigerungen bis hin zu einem Fortissimo, das jenem eines Orchesters in keiner Weise nachsteht. Da blieb kein Wunsch offen.

Fazit, wieder einmal festgehalten: Beim Tonhalle-Orchester Zürich gibt es das Tonhalle-Orchester Zürich, aber eben nicht nur.

«Champagne!»

Das Concerto Copenhagen erinnert an
Hans Christian Lumbye

 

Von Peter Hagmann

 

Lumbye? Wer bitte? Heute ist nicht einmal mehr sein Name bekannt, von seiner Musik ganz zu schweigen. Zu seinen Lebzeiten jedoch war der dänische Geiger, Trompeter, Komponist und Dirigent Hans Christian Lumbye (1810-1870) ein Pop-Star. Und dies keineswegs nur in Kopenhagen, dem Zentrum seines Wirkens, sondern auch in musikalischen Metropolen wie Wien, Paris, Berlin, St. Petersburg. Sohn eines Militärmusikers und als ausserordentlich begabt erkannt, lernte Lumbye Geige und Trompete, später nahm er Stunden in Musiktheorie. Um des Lebensunterhalts willen verdingte er sich als Trompeter in einer Regimentskapelle. In seiner Freizeit spielte er mit Kollegen zum Tanz auf, und nicht selten lagen dabei Stücke aus eigener Feder auf den Pulten, deren Aufführung er von der Geige aus leitete.

Wie es der Zufall wollte, besuchte Lumbye 1839 ein Konzert im Hotel d’Angleterre in Kopenhagen. Angesagt war dort der Auftritt eines Ensembles aus der Steiermark, geleitet von einem Musiker aus Wien, und auf dem Programm standen Werke von Johann Strauss Vater (1804-1849) und Joseph Lanner (1801-1843). Lumbye war auf der Stelle Feuer und Flamme für diese Art Walzer und Polkas; er beschloss, was er als Gastspiel gehört hatte, in Kopenhagen als feste Einrichtung zu verankern und gründete zu diesem Zweck gleich ein Orchester. Im Tivoli, dem 1843 eröffneten Vergnügungspark am Stadtrand von Kopenhagen, fand er zusammen mit seinen Musikern das passende Podium. Rasch wurde Lumbye zum Idol, das Publikum strömte herbei – allerdings nur im Sommer. Im Winter, wenn es im Tivoli nichts zu tun gab, ging das Orchester auf Tournee. Zum Beispiel nach Wien, wo sich Johann Strauss Vater und seine Kumpanen vorgenommen hatten, Lumbye auszubuhen. Als die Kumpanen sahen, wie begeistert Strauss seinem dänischen Kollegen applaudierte, fiel der Widerstand in sich zusammen. Man schloss Freundschaft.

Und hier kommt der zweite Zufall ins Spiel. In den Jahren der Pandemie sahen sich das Concerto Copenhagen und sein Leiter Lars Ulrik Mortensen, ein angesagtes dänisches Barockorchester, aller Möglichkeiten des Auftritts beraubt. Zugleich hatte das Ensemble Besuch bekommen von Henrik Engelbrecht, der an einem Buch über Kopenhagens Tivoli und damit über Hans Christian Lumbye arbeitete. Der dänische Musikologe wollte wissen, wie Lumbyes Musik zur Zeit ihrer Entstehung geklungen haben mochte. Auch da sprang der Funke. Man konsultierte die originalen Notentexte, man machte sich auf die Suche nach den adäquaten Instrumenten – was besonders bei den Bläsern und dem reichlichen Schlagzeug, das Lumbye einzusetzen pflegte, mit besonderem Aufwand verbunden war. Schliesslich stand das geforderte Ensemble mit elf Streichern und dreizehn Bläsern, auch mit Pauken und Becken, mit Xylophon und Glockenspiel – alles so originalgetreu wie möglich.

Was es nun in den neun Nummern der bei Dacapo Records erschienenen CD zu hören gibt, macht sensationellen Effekt: Wiener Walzer, um es mit diesem Oberbegriff zu umschreiben, im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis. Der Klang hat nichts von der heute üblichen Weichzeichnung, er lebt nicht von Homogenität, sondern vielmehr von der Aufspaltung der Farben, was angesichts der Dominanz der Bläser von besonderer Wirkung ist. Frech klingt Lumbyes Musik, bisweilen schräg, immer von zündender Energie getragen, auch von pointierter Artikulation und sehr schönen Tempi. So wird deutlich, dass Lumbye einen würdigen Platz neben den Königen und dem Kaiser des Wiener Walzers für sich beanspruchen darf. Seine Partituren sind von geistreichem Witz und vielschichtiger Erfindung.

Den Auftakt der CD macht der Champagner-Galopp von 1845, das bekannteste Stück von Meister Lumbye. Frisch und knackig kommt es daher, und der von einer eigens zu diesem Zweck erbauten Maschine an genau richtiger Stelle zum Knallen gebrachte Korken sorgt für besonderen Spass. Wenig später im Programm die Verbeugung Lumbyes vor den Ahnen: mit «Die Mozartisten», einem erheiternden Verschnitt aus «Don Giovanni» und «Zauberflöte» von Joseph Lanner, und mit dem Champagner-Walzer von Johann Strauss Vater. Darauf ein bunter Strauss an quicklebendigen Stücken Lumbyes, in denen zur Silbernen Hochzeit des Königspaars getanzt wird und in denen das Vogelgezwitscher wie der Kuckucksruf ihre Auftritte haben. Wer einen Durchhänger hat, mag zu dieser CD greifen oder sie auf einer der Internet-Plattformen auffinden. Es wird ihm alsbald besser gehen.

«Champagne!»: The Sound of Lumbye und His Idols. Concerto Copenhagen, Lars Ulrik Mortensen (Leitung). Dacapo Records 8.224750 (CD, Aufnahme 2022, Publikation 2023). Vertrieb: www.musikontaktshop.ch.

Der dritte Weg

Abschluss von Wagners «Ring des Nibelungen» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Brünnhilde (Camilla Nylund) und Hagen (David Leigh) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

«Vollendet das ewige Werk» – so verkündet es Wotan zu Beginn der zweiten Szene von «Rheingold», dem Vorspiel zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen». Geschätzte fünfzehn Stunden später, am Ende der «Götterdämmerung», liegt alles in Schutt und Asche. Da sitzt er nun wieder träumend in seinem Sessel, den Schlapphut auf dem Kopf und den noch (oder wieder) heilen Speer in der rechten Hand. Der mächtige Bilderrahmen vom Beginn, der den Blick auf die von den Riesen erbaute Burg eingefasst hat, ist inzwischen leer. Wenig später füllt er sich wieder mit dem jetzt allerdings im Vollbrand stehenden Bau, Theaternebel von links und rechts wird hereingeblasen, orange flackerndes Licht dazugegeben, während die wie stets hervorragende technische Abteilung von Sebastian Bogatu sogar einen lichterloh brennenden Statisten über die Bühne eilen lässt.

Auch hier, wie beim Drachen und der Kröte, wie beim Baum Hundings und Brünnhildes Felsen in früheren Phasen des Geschehens, mochte der Regisseur Andreas Homoki nicht auf die von Wagner vorgegebenen und vom Publikum bis heute erwarten Effekte verzichten. Er hätte sich dadurch allzu sehr in die Nähe jener auf Reduktion und Abstraktion fokussierten Bühnenästhetik begeben, die von Wieland Wagner ab 1951 in Neu-Bayreuth als Markenzeichen gepflegt wurde und in der Folge weite Kreise zog – bis hin zur letzten Zürcher Inszenierung von Wagners «Ring», jener von Robert Wilson aus den Jahren 2000 bis 2002, die genau diesen Ansatz verfolgt hat. Die leere Bühne war also ausgeschlossen.

Ebenso ausgeschlossen war freilich, daran hat Homoki von Anfang an keinen Zweifel gelassen, ein Ansatz im Geist des Regietheaters, das sich seit dem zur Legende gewordenen «Jahrhundert-Ring» mit Patrice Chéreau (und Pierre Boulez am Dirigentenpult) zum hundertsten Geburtstag der Bayreuther Festspiele im Sommer 1976 der Tetralogie bemächtigt hat. Dort richtete sich der Blick auf die sozialen und politischen Verhältnisse, in deren Zeichen «Der Ring des Nibelungen» entstanden ist. Leicht liessen sich die hieraus gewonnenen Erkenntnisse auf die Gegenwart der Aufführung übertragen: der «Ring» als Plattform aktueller Gesellschaftskritik, Wotan mit dem Aktenkoffer als Chef der Walhalla AG. Durchkreuzt wurde diese eifrig benützte Schiene der Deutung von der sich auch auf der Bühne des Musiktheaters ausbreitenden Tendenz zur Dekonstruktion; sie führte in ein Chaos, die immer häufiger die Frage aufkommen liess, ob sich in Sachen «Ring des Nibelungen» nicht eine Aufführungspause aufdränge.

Von all dem liess sich Andreas Homoki nicht beirren. Stracks suchte er den Befreiungsschlag, ging auf Feld eins zurück – und gewann, wie jetzt auch die «Götterdämmerung» erwies. Zwar gab es einen Anklang an die Entstehungszeit der Tetralogie, hatte der Ausstatter Christian Schmidt die Drehbühne doch mit Wänden in gründerzeitlicher Anmutung versehen; geschickt eingerichtet sorgte sie auch im letzten der vier Teile für Geschmeidigkeit in der Abfolge der Spielorte, und die merklich abgeblätterten Farben zeigten an, dass hier eine Ära, jene der Lichtalben, ihr Ende zu finden im Begriff steht. Ebenfalls zu entdecken war ein Hinweis auf den leeren Raum von Neu-Bayreuth: in der Sparsamkeit der Ausstattung. Auch in der «Götterdämmerung» sind nur wenige, mächtige Requisiten im Einsatz, so dass reichlich Bewegungsfreiheit herrscht und sich sogar der ausgezeichnete, klangvoll wie linienklar wirkende Oprnchor (Einstudierung: Ernst Raffelsberger) ohne Enge zurechtfindet. In seinen Auftritten wird übrigens manifest, wie an diesem weit ausholenden Theaterabend Bühnenleben entsteht. Die Chormitglieder sind allesamt als Individuen ausgestaltet, dies ganz im Geiste Walter Felsensteins, einem der Ahnen Homokis.

Hier, in einem sozusagen dritten Weg, liegt das Fundament der neuen Zürcher Inszenierung von Wagners «Ring». Befreit von szenischem Ballast und interpretativem Überbau wird die Geschichte ganz und gar aus den Figuren heraus erzählt. Und das bis in die hintersten Winkel des Geschehens, wie etwa die kleine Partie der Gutrune erweist. Sehr pointiert gibt sie die Australierin Laren Fagan, die gewinnend singt und hervorragend deklamiert, als eine junge, naive, etwas verklemmte Frau, die von dem ihr weit überlegenen, jedoch durch einen Trank betäubten Siegfried erst geblendet wird, an ihm dann aber nach und nach Statur findet. Ganz ähnlich, wenn auch in der gegenteiligen Richtung, Gutrunes Bruder Gunther, der, Daniel Schmutzhard verkörpert das trefflich, als ein Weichei mit übersteigertem Selbstbewusstsein erscheint. Sie sind Marionetten, die beiden Gibichungen. Denn im Zentrum steht er: Hagen.

Alle anderen überragend, in einen bodenlangen schwarzen Mantel gehüllt, unter dem aber doch eine Nibelungen-golden verkleidete Brust hervorglänzt, mit zottigem Schwarzhaar versehen, bisweilen hämisch grinsend, erscheint er als der Böse, wenn nicht das Böse schlechthin. David Leigh bringt das blendend über die Rampe. Er kann auch auf eine nachtschwarze stimmliche Tiefe setzen, die keinerlei Schwäche kennt – nur die Deklamation, zumal die Formung der Vokale, die lässt doch sehr zu wünschen übrig. In seiner Rechten trägt er einen langen Speer, jenem Wotans nachgebildet, nur, was Wunder, mit schwarzem Schaft. Und in seiner Brusttasche findet sich für jeden Zweck das passende Fläschchen. Sein Ziel liegt blank auf der Hand, sein Vater Alberich (Christopher Purves) muss ihn nicht extra motivieren: Es ist die definitive Vernichtung jener ehemals herrschenden, nun noch durch Siegfried repräsentierten Schicht, die auf krummen Wegen in den Besitz des Wunder wirkenden Rings gekommen ist. Der Plan geht freilich nicht auf, am Ende wird Hagen durch die drei Rheintöchter kurzerhand aus dem Fenster in die Fluten des Rheins gestürzt.

Das alles wird in derart packender Weise vorgeführt, dass man sich als Zuschauer (und als Zuhörerin) restlos gebannt auf die Geschichte einlässt. Sich am Bühnenrand paarende Krokodile wie in Frank Castorfs Bayreuther «Ring»-Inszenierung von 2013 gibt es in Zürich nicht zu sehen, dafür den Entwurf einer Welt, der zwar hundertfünfzig Jahre alt ist, aber nicht wenig mit dem Hier und Jetzt zu tun hat. Genährt wird die Verwirklichung dieses Entwurfs von einem Paar, das man sich genuiner nicht vorstellen kann. Mit ihrem kraftvollen Timbre und ihrer sagenhaften Bühnenpräsenz sorgt Camilla Nylund als Brünnhilde energisch für Ordnung. Ihrer Schwester Waltraute – Sarah Ferede meistert ihren Auftritt überragend – bietet sie standfest die Stirn, die schwarz gekleideten Mannen rund um Hagen weiss sie in ihrem blütenweissen Gewand jederzeit zu zähmen, ihren Kampf um die Wahrheit hält sie mit einer Unbeirrbarkeit sondergleichen aufrecht. Ihr gegenüber steht mit Klaus Florian Vogt ein Siegfried, der sich in dieser Produktion stimmlich wie darstellerisch grandios wandelt. In der «Walküre» als Kind und als Pubertierender eher lyrisch angelegt, nimmt er in der «Götterdämmerung», wo er seiner gewiss wird und es trotz der benebelnden Getränke Hagens bleibt, nach und nach heldisches Format an – als künstlerische Leistung ist das schlicht überwältigend.

Getragen, nein: klar mitgestaltet wird diese «Götterdämmerung», wie es in den Teilen zuvor war, vom Orchester, der Philharmonia Zürich, unter der Leitung von Gianandrea Noseda. Mit dem Einsatz des tiefen Blechs, das sich auch hier und hier erst recht, lautstark über alles hinwegsetzt, werde ich mich nie anfreunden können. Die einseitige Gewichtung stört die Balance, ja die musikalische Struktur – etwa dann, wenn das trötende Blech aus der Tiefe einen zarten Akkord der Holzbläser, mit dem ein Leitmotiv anhebt, verdeckt und zerstört. Nicht zu überhören ist jedoch, dass Noseda, der hiermit seinen ersten «Ring» hinter sich gebracht hat, sehr überzeugend in die Partitur hineingewachsen ist, viele Verästelungen hörbar macht und mit herrlichsten Farbwirkungen aufwartet. Zumal am Ende, da das Unheil, das vom Ring des Nibelungen ausging, im Rhein versunken ist und die nunmehr allein dastehenden weissen Wände an einen Neubeginn, vielleicht gar einen besseren, denken lassen. Das wär dann die Moral von der Geschicht.

Mit Charles Gounod zwischen Himmel und Erde

«Roméo et Juliette» im Stadttheater Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Zwölf Opern hat Charles Gounod geschrieben. Praktisch nichts davon ist geblieben, keines dieser Werke hat die Popularität der Cäcilienmesse oder gar des «Ave Maria» zum C-Dur-Präludium aus dem ersten Band von Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier erreicht. Eine einzige Ausnahme gibt es – leicht zu erraten: «Roméo et Juliette». Das fünfaktige Drame-lyrique, 1867 in erster Fassung in Paris, im Théâtre-Lyrique an der Place du Châtelet, aus der Taufe gehoben, wird von allen Seiten geliebt, nicht zuletzt von den Sängerinnen und Sängern, aber auch vom Publikum, das sich der Emotionalität des Stoffes wie der musikalischen Schönheit von Gounods Partitur immer wieder lustvoll hingibt.

Wie es jetzt wieder im Berner Stadttheater geschieht, in dem die Bühnen Bern eine Inszenierung von «Roméo et Juliette» zeigen, die für die Pariser Opéra-Comique entworfen und gemeinsam mit den Theatern in Bern, Rouen, Washington und Bari koproduziert wurde. Die Herkunft aus Paris erklärt auch den Umstand, dass die Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau und einem jungen Mann aus zwei einander in erbitterter Feindschaft gegenüberstehenden Familien in keiner Weise mit der aktuellen Situation im Nahen Osten in Verbindung gebracht ist. Der Theaterkünstler Eric Ruf, zurzeit Direktor der Comédie-Française, siedelt das Geschehen vielmehr in Italien an, nicht gerade in Verona, eher in Apulien. Darauf schliessen lassen die mächtigen, wenn auch deutlich bröckelnden Türme, mit denen Ruf als sein eigener Bühnenbildner die unterschiedlichen Spielorte gliedert. Und damit für Atmosphäre sorgt.

Bild Janosch Abel, Bühnen Bern

Sogar eine Art Balkon wie jener in Verona kommt vor; es ist eine ganz in der Höhe liegende Umfassung, auf die sich Juliette hinauswagt – nur leicht bekleidet und barfuss, also ungeschützt, in Wirklichkeit aber zweifellos durch ein unsichtbares Seil gesichert. Die Szene, von ferne erinnert sie an eine ähnliche Stelle in Claude Debussys Oper «Pelléas et Mélisande», sorgt für Schauder und Berührung. Erst recht gilt das für das Finale der Oper, das in einer süditalienischen Totenkammer spielt. In den prächtigsten Gewändern – die unerhört wirkungsvollen Kostüme hat der Modeschöpfer Christian Lacroix entworfen – hängen dort die vor sich hintrocknenden Leichen, auch die nur in tiefsten Schlaf versenkte Juliette, zu deren Füssen Roméo den Gifttrank zu sich nimmt, während sie, erwacht, schliesslich zum Dolch greift.

Über allem herrscht der Geist soliden Handwerks und genuinen Theatersinns. Weniger gilt das für die Ausgestaltung der einzelnen Figuren, die da und dort Luft nach oben offenlässt. Recht eigentlich misslungen wirkt der Einstieg ins Stück mit einer polternden, vom Dirigenten Sebastian Schwab weder dynamisch noch klangfarblich hinreichend kontrollierten Ouvertüre, einer durch waberndes Vibrato gezeichnete Nummer des von Zsolt Czetner einstudierten Chors sowie dem vom Berner Symphonieorchester einigermassen klobig begleiteten Walzer der Juliette. «Je veux vivre» singt da die junge Russin Inna Demenkova, wie es Violetta Valéry in der wenige Jahre vor «Roméo et Juliette» entstandenen «Traviata» von Giuseppe Verdis tut; sie zeigt dabei forsche Kraft zeigt und formt die Spitzentöne gern in einen Schrei um – nicht gerade das, was à la française wäre. Wesentlich näher an den meist feingliedrigen Ton Gounods kommt Ian Matthew Castro. Als Roméo gelingt dem ebenfalls jungen Tenor aus Puerto Rico eine vorzügliche Leistung; er bringt ein leichtes, offenes Timbre von hellem Glanz ein, das ihn die Höhe mühelos erreichen lässt. Und das zu manchem ergreifendem Moment führt.

Je weiter der Abend voranschreitet, desto mehr nähert sich Inna Demenkova einer idiomatisch adäquaten Auslegung der Juliette (wiewohl ihr Französisch ein unverständliches Kauderwelsch bleibt). Die vier zentralen Duette der Oper gelingen jedenfalls eindrucksvoll. Ebenfalls plausibel gelöst sind die grossen Szenen zwischen dem Ball des Anfangs und der fatalen Hochzeit am Ende. Und die von Stéphano, der ausgezeichneten Evgenia Asanova, provozierten Kampfszenen mit ihren zwei Toten sind von Glysleïn Lefever ebenso geschickt wie effektvoll choreographiert. Rasch ist der Abend vorbei – das ist, bei allen Einschränkungen im Einzelnen, das denkbar beste Zeichen.

Wenn alles stimmt

Kammermusik – mit Isabelle Faust und ihren Freunden oder mit dem Chiaroscuro Quartet

 

Von Peter Hagmann

 

Von Robert Schumanns vergleichsweise selten gespieltem Klavierquartett in Es-Dur op. 47 gibt es eine Aufnahme, die längst Kultstatus erlangt hat. 1968 entstanden, brachte sie den Pianisten Glenn Gould mit dem Juilliard String Quartet aus New York zusammen. Von der Exzentrik Goulds ist hier nichts hören, wohl aber von seiner Genauigkeit in der Lektüre des Notentextes. Vor allem aber lebt die Aufnahme von einer musikalischen Erfüllung, wie sie nur ganz selten gelingt. Und da sie sich in der solistisch gebauten Besetzung der Kammermusik ereignet, kommt sie zu besonders intensiver Wirkung: als ein veritables Non-plus-ultra.

Inzwischen, mehr als ein halbes Jahrhundert später, hat diese Sternstunde im Zeichen Schumanns ein Geschwister bekommen. Im Fokus steht wiederum das Klavierquartett von 1842, hier nun aber vorgestellt von Isabelle Faust, Antoine Tamestit, Jean-Guihen Queyras und Alexander Melnikov. Wer sich an das sensationelle Konzert dieses aus hochkarätigen Solisten zusammengesetzten, durch den Hornisten Johannes Hinterholzer ergänzten Ensembles mit Musik von György Ligeti und Johannes Brahms bei den Salzburger Festspielen dieses Sommers erinnert (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 16.08.23), wird sogleich erahnen, von welchem künstlerischen Geist die neue Schumann-Aufnahme durchdrungen ist.

Geprägt wird dieser Geist nicht zuletzt durch die Tatsache, dass die vier Ensemblemitglieder allesamt adäquate Instrumente verwenden. Lange Zeit war das jenseits der Zirkel der historisch informierten Aufführungspraxis verpönt; inzwischen hat sogar der Pianist András Schiff, in dieser Hinsicht ursprünglich skeptisch eingestellt, eine Kehrtwende vollzogen und den Reiz der Instrumente aus der Entstehungszeit der Kompositionen für sich entdeckt. So spielt denn Isabelle Faust die «Sleeping Beauty», eine Geige aus dem Atelier Antonio Stradivaris von 1704, während Antoine Tamestit eine ebenfalls von Stradivari erbaute Bratsche von 1672 zur Verfügung steht; Jean-Guihen Queyras wiederum verwendet ein Cello von Gioffredo Cappa aus dem Jahre 1696, wogegen Alexander Melnikov einen aus Paris stammenden Pleyel-Flügel von 1851 bedient. Über die Bögen und die Saiten schweigt sich das Booklet leider aus. Wie auch immer: Alle vier Instrumente klingen fabelhaft.

Das ist nicht nur eine Frage der Bauart, sondern auch eine solche der Spielweise. Nirgends herrscht in dieser Aufnahme der Druck, der auch bei Kammermusik noch so oft gepflegt wird; Schumanns Stück kommt vielmehr in entspannter, ruhig ausschwingender Kantabilität und in einer geradezu selbstverständlich wirkenden Gemeinsamkeit des Musizierens daher. Die melodischen Verläufe zeigen Profil, weil die Streicher, anders als noch in der Einspielung mit dem Juilliard Quartet, ebenso differenziert wie unangestrengt mit dem Vibrato umgehen. Und der Gesamtklang lebt von farbenreicher Sonorität; in aller Sinnlichkeit hebt er den latenten Zug des Stücks hin zum Orchestralen ans Licht. Und natürlich wird auch hier das Andante cantabile des dritten Satzes zum Höhepunkt. Das alles gelingt in einem Miteinander, das einerseits letzte Feinabstimmung der Balance ermöglicht und ein beglückendes Mass an Transparenz erzeugt, das andererseits den vier Partnern aber auch den Freiraum für individuelles Ausgestalten eröffnet – für Randbemerkungen sozusagen. Daraus ergibt sich dann eben jenes «Gespräch unter vier vernünftigen Leuten», das die Kammermusik bietet – und eben nur die Kammermusik.

Dem «Gespräch unter vier vernünftigen Leuten» ist auch das Chiaroscuro Quartet auf der Spur – nur kommt es sozusagen von der anderen Seite her zu seinen Denkanstössen. Auch das echt europäisch zusammengesetzte Ensemble spielt auf alten Instrumenten: Alina Ibraginova auf einer Geige von Andrea Amati aus dem Jahre 1570, der Zweite Geiger Pablo Hernán Benedí auf einem Instrument von Nicolò Amati von 1675, Emilie Hörnlund auf einer Willems-Bratsche von zirka 1700 und Claire Thirion auf einem von Carlo Tononi 1720 erbauten Cello. Und mehr noch, konsequent und offen deklariert greift das Ensemble auf Darmsaiten und klassische Bögen zurück. Das allein führt zu einem ganz anderen, einem helleren, leichteren, etwas gläsernen Klang, der seine besondere Stärke im Leisen hat, ohne dass das Kraftvolle zahnlos wirkte. Für das versponnene, voller Haken und Fallen steckende «Harfenquartett», das Streichquartett Nr. 10 in Es-Dur op. 97 Ludwig van Beethovens, genau das Richtige.

Denn zu den Instrumenten kommt eine Spielweise, die sich klar an jenen in der alten Musik entwickelten Gepflogenheiten orientiert, die zur Zeit Beethovens noch gegenwärtig waren. Mit aller Sorgfalt steigt das Chiaroscuro Quartet in den Kopfsatz des «Harfenquartetts» ein. Das Poco Adagio der Einleitung nehmen die Vier mit dem Halbdunkel in ihrem Namen flüssig, für das Allegro des Hauptteils bleiben sie dann im Schlag – was dazu führt, dass Viertel und Achtel kein Problem machen, die Sechzehntel dagegen so schnell werden, dass sie sich bestenfalls als Diminutionen im Geist der Renaissance-Musik erkennen lassen. Das entspricht einer in der Interpretation der klassischen Musik derzeit wieder grassierenden Mode. «Noch schneller als möglich»: Igor Levit trieb es in seiner Auslegung der Klaviersonaten Beethovens auf die Spitze, der Pianist und Dirigent Kristian Bezuidenhout liebt es, und eben auch das Chiaroscuro Quartet. Virtuosität und interpretatorische Absicht in Ehren; wenn am Ende jedoch Defizite greifbar werden, ist ein Moment des Innehaltens vielleicht doch angebracht.

Angesichts des rasenden Presto des dritten Satzes mag man sich verwundert die Ohren reiben. Erst recht nach einer kurzen Begegnung mit einer Deutung nach hergebrachter Art, etwa einer des Alban Berg-Quartetts.  Wer dennoch offen bleibt, wird freilich bald feststellen, wie treffend das Tempo den Charakter des wunderlichen Satzes spiegelt. Sie gehen eben gern an die Grenzen, Alina Ibragimova, die auch hier eindeutig führt, und ihr Team, in dem Claire Thirion denen Gegenpart wahrnimmt. Ein so leises, dazu ohne jedes Vibrato verwirklichtes Pianopianissimo, wie es im Kopfsatz zur Reprise führt, verdient alle Achtung. Und so feingliedrige, gefühlvolle, unkitschige Dialoge, wie sie der zweite Satz exponiert, sie stehen für ganz grosse Kunst des Quartettspiels wie für dessen bedeutende Innovation. Luft nach oben gibt es beim Chiaroscuro Quartet im sprechenden Ausdruck, namentlich in der Differenzierung wiederholter Passagen. Das Potential wäre da, der Eingang zum Finale erweist es.

Wer das Klavierquartett Schumanns live hören möchte: Isabelle Faust, Anne Katharina Schreiber, Antoine Tamestit, Jean-Guihen Queyras und Alexander Melnikov kommen übermorgen Freitag, 3. November 2023, zur Neuen Konzertreihe Jürg Hochulis in die Grosse Tonhalle am See. Gespielt werden ausschliesslich Werke von Robert Schumann: neben dem Klavierquartett und dem Klavierquintett das Streichquartett Nr. 1 in a-Moll aus op. 41.

Robert Schumann: Klavierquartett in Es-Dur op. 47 und Klavierquintett in Es-Dur op. 44. Isabelle Faust und Anne Katharina Schreiber (Violinen), Antoine Tamestit (Viola), Jean-Guihen Queyras (Violoncello), Alexander Melnikov (Klavier). Harmonia mundi 902695 (CD, Aufnahme 2021, Publikation 2023). Auf CD sind die Aufnahmen ab 24. November 2023 erhältlich.

Ludwig van Beethoven: Streichquartette Nr. 10 in Es-Dur op. 74 (Harfenquartett) und Nr. 13 in B-Dur op. 130. Chiaroscuro Quartet: Alina Ibragimova und Pablo Hernán Benedí (Violinen), Emilie Hörnlund (Viola), Claire Thirion (Violoncello). BIS-2668 (SACD, Aufnahme 2022, Publikation 2023).

Facetten des Zeitgeistes

Wiedereröffnung des Theaters St. Gallen

 

Von Peter Hagmann

 

Ein Ehepaar? Slyvia D’Eramo (Gerda Wegener, links) und Lucia Lucas (Lili Elbe) / Bild Edyta Dufaj, Konzert und Theater St. Gallen

Man mochte es nicht wirklich, das von aussen so hermetisch wirkende Stadttheater St. Gallen – vor allem als Basler nicht, der sein ihm ans Herz gewachsenes Stadttheater von 1909 am 6. August 1975 frühmorgens in die Luft gesprengt und in sich zusammenstürzen sehen musste. Ein moderner Bau gleich neben der eilig abgetragenen Ruine sollte fortan der Ort seiner Theatererfahrungen sein. Werner Düggelin, der als Direktor das Theater Basel in den Jahren 1969 bis 1975 in der Stadt wie in der Branche zum Tagesgespräch gemacht hatte, wollte mit diesem Haus nichts zu tun haben, er gab seinen Posten auf. Inzwischen ist das neue Basler Stadttheater längst eingewachsen, die Wehmut ist jedoch nicht gewichen.

Ähnliches zu ähnlicher Zeit begab sich in St. Gallen. Nach gut hundert Jahren erfolgreichen Betriebs wurde das Stadttheater St. Gallen 1968 geschlossen und drei Jahre später abgerissen. Das Haus hatte sich in zunehmendem Mass als untauglich erwiesen und wurde nicht mehr benötigt. Im gleichen Jahr 1968 wurde nämlich das neue Theater im Stadtpark eröffnet, ein ebenso kühner Bau in moderner Formensprache; entworfen hatte ihn Claude Paillard, der 1961 den dafür ausgeschriebenen Wettbewerb für sich entschieden hatte. Von aussen, gerade eben aus der Nordwestschweiz, blickte man leicht verächtlich auf das Haus; von seiner Anmutung her setzte man es mit vielen Theaterbauten aus den sechziger Jahren gleich.

Inzwischen hat sich diesbezüglich einiges verändert, gerade in den letzten Jahren. Nach vier Jahrzehnten kontinuierlicher Nutzung hatte sich eine grundlegende Renovation des Gebäudes als notwendig erwiesen. In langjähriger Vorbereitung, während der das Theater wie die daneben liegende Tonhalle von der Stadt an den Kanton überging, wurde das rund fünfzig Millionen Franken schwere Projekt erarbeitet und in einer Volksabstimmung vom 18. März 2018 mit 62 Prozent Ja-Stimmen genehmigt – übrigens gegen eine Initiative der kantonalen SVP, die den Abbruch des Gebäudes und dessen Ersatz durch einen Neubau gefordert hatte. Im Herbst 2020 nahmen die Bauarbeiten ihre Fahrt auf, das Theater spielte derweil in einem Provisorium; und nun, am 22. Oktober 2023, ist das Haus wiedereröffnet worden.

Die Sanierung wurde mit denkbar grösstem Respekt vor dem originalen Entwurf an die Hand genommen – und genau das hat die Wertschätzung für den Entwurf Paillards erhöht. Das Sechseck als Grundlage als formaler Gegebenheiten, vom Grundriss bis hin zu einem Detail wie der Befestigung eines Treppengeländers am Boden, wurde mit aller Sorgfalt bewahrt. Auch der Sichtbeton, wie das Sechseck ein Markenzeichen in der Architektur der sechziger Jahre, wurde kompromisslos auf sein originales Erscheinungsbild zurückgeführt. Im Inneren wurde, für den Besucher meist nicht erkennbar, einiges an technischer Innovation durchgeführt. Zum Beispiel auch auf der Ebene der Akustik; heute nehmen zahlreiche Mikrophone den Klang auf und verteilen ihn über kleine Lautsprecher in den Raum. Das Verfahren kommt mittlerweile in manchen Kulturstätten zur Anwendung; in St. Gallen ist der Gewinn nicht zu überhören.

Grösser nahmen sich die durch den Theaterbetrieb geforderten Veränderungen in der räumlichen Konfiguration aus, doch auch hier stand die Erhaltung von Paillards ursprünglichem Entwurf an oberster Stelle. Im Ballettsaal zum Beispiel musste die Decke angehoben werden, damit den Tänzerinnen und Tänzern der notwendige Raum zur Verfügung steht. Probleme schuf ein vom Theater gewünschter Anbau, gegen dessen Ausführung sich der Denkmalschutz wandte. Studien im Archiv des Architekten Claude Paillard erwiesen dann, dass der fragliche Anbau schon geplant war, auf Wunsch der damaligen Bauherrschaft aber nicht realisiert wurde, weil eine repräsentative Zufahrt für Automobile als notwendiger erachtet wurde. Das ist jetzt korrigiert. So erstrahlt das Theater St. Gallen nunmehr in neuem Glanz. Und kann eine Ikone der modernen Architektur gewürdigt werden.

Zeitgleich mit der Wiedereröffnung des Hauses wurde am Theater St. Gallen eine neue Ära eingeläutet – nicht etwa mit Beethovens «Fidelio». Zum Einstand seines Teams trat Jan Henric Bogen, der neue Direktor des Hauses und zugleich der künstlerische Leiter des Musiktheaters, mit der Uraufführung eines Auftragswerks an. Eines Werks, das es in sich hat. Die Oper «Lili Elbe» des 1954 geborenen New Yorkers Tobias Picker und seines Librettisten Aryeh Lev Stollman erzählt die Geschichte der dänischen Malerin Lili Elbe (1882-1931), die in den zwanziger Jahren als Mann unter dem Namen Einar Wegener lebt. Wie sie bei ihrer Ehefrau Gerda Wegener für ein kurzfristig verhindertes Modell einspringt und dabei in Frauenkleidern posiert, wird ihr bewusst, dass sie im Grunde eine Frau ist. Gegen starken Widerstand ihrer Umgebung lässt sie ihr Geschlecht von einem Gynäkologen an ihre wirkliche Identität anpassen, ihre Ehe auflösen und sich einen neuen Namen geben: Lili Elbe. Da sich für sie wirkliches Frausein in Mutterschaft erfüllt, lässt sie sich von besagtem Gynäkologen eine Gebärmutter einsetzen. Die Operation misslingt und bringt ein tragisches Leben zu seinem Ende.

Der in Englisch gegebene, deutsch übertitelte Abend braucht starke Nerven. Das Schicksal einer Frau, die in einem männlichen Körper lebt und sich dagegen mit einer Radikalität sondergleichen auflehnt, lässt gewiss niemanden kalt. Geradezu schockierend ist jedoch die Art und Weise, in der ein Theater ein in mancher Hinsicht heikles Thema ins Scheinwerferlicht der Bühne zerrt, sich lautstark mit der Produktion der weltweit ersten Oper über die Frage der sexuellen Identität brüstet und sich wohlfeil einer zeitgeistiigen Debatte anbiedert, die gerade in diesen Tagen ideologisch und gesellschaftspolitisch so hochgradig aufgeladen ist. Und das, notabene, eingekleidet in eine Musik, die das Vokabular der amerikanischen Allerweltspostmoderne pflegt und herzlich wenig zu sagen hat. Allerdings: Dass das Thema in der katholisch-konservativen Stadt St. Gallen und im Moment der Eröffnung eines frisch renovierten Kulturhauses aufs Tapet kommt, ist schon ein starkes, auch ein mutiges Zeichen.

Die Produktion selbst ist von umwerfender Wirkung. Unter der Leitung von Modestas Pitrénas, seinem aus Vilnius stammenden Chefdirigenten und Konzertdirektor, holt das Sinfonieorchester St. Gallen ein Optimum aus der belanglosen Partitur heraus. Und die Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne, auch der von Franz Obermair geleitete Chor und die neu zusammengestellte Tanzkompanie, zeigen ihr Bestes. Fulminant Lucia Lucas, die, selber eine Trans-Person, die Figur der Lili Elbe verkörpert und das mit einem unerhört sonoren Bariton wie mit temperamentvoll zugespitzter Bühnenpräsenz tut. Herausragend auch Sylvia D’Eramo als Gerda Wegener, Brian Michael Moore als der Pariser Parfumeur Claude LeJeune, Sam Taskinen als Lilis Bruder Marius und Msimelelo Mbali als der eitel-brutale Gynäkologe Warnekros. Sie alle treten in einer enorm bewegten, vielfarbigen, bisweilen auch den Geist des Musicals beschwörenden Inszenierung auf, bei der Krystian Lada als sein eigener Bühnenbildner Regie geführt hat.

Das Potential, das die musikalisch-szenische Einrichtung zum Ausdruck gebracht hat, verspricht viel. Dass als nächste Premiere, diesmal in dem von Barbara-David Brüesch geleiteten Schauspiel, «Die Ärztin» auf die Bühne kommt, gibt dann allerdings wieder zu denken. Den Text, so die Ankündigung, hat Robert Icke sehr frei nach «Professor Bernardi» von Arthur Schnitzler eingerichtet. Genügen die scharfsinnigen Dialoge Schnitzlers nicht mehr? Ich habe das Stück vor einiger Zeit im Wiener Theater in der Josefstadt gesehen: erstklassig in seiner schauspielerischen Performanz, der Saal war einen Abend lang gebannt und mucksmäuschenstill. Am Theater St. Gallen jedoch bricht sich jetzt der Zeitgeist Bahn – etwas spät zwar, aber immerhin.

Weiter, immer weiter

«Eine Alpensinfonie» von Richard Strauss
mit dem Luzerner Sinfonieorchester

 

Von Peter Hagmann

 

Sie sind nicht aufzuhalten auf ihrem Weg nach oben. Soeben haben die Musikerinnen und Musiker des Luzerner Sinfonieorchesters zusammen mit ihrem Chefdirigenten Michael Sanderling die Saison 2023/24 eröffnet – mit nicht weniger als der «Alpensinfonie» von Richard Strauss. Und dies auf jenem Podium, das sechs Wochen zuvor, im Rahmen des Lucerne Festival, der Sächsischen Staatskapelle Dresden und ihrem (Noch-)Chefdirigenten Christian Thielemann für einen geradezu sensationellen Auftritt mit genau dieser Tondichtung gedient hat. Nicht nur die zeitliche Nachbarschaft und damit die Möglichkeit des Vergleichs mochten als heikel erscheinen, das Unterfangen selbst liess staunen, ist zu dessen Verwirklichung doch eine Orchesterbesetzung im XXL-Format gefordert. Mit weniger als sechzehn Ersten Geigen und somit einer Gruppe von rund sechzig Streichern, weniger als vierfacher, bei den Hörnern gar achtfacher Besetzung bei den Bläsern sowie einer ganzen Reihe an Spezialinstrumenten geht es in der «Alpensinfonie» nicht.

Zu zeigen, dass ein Auftritt in solcher Grossformation dem Luzerner Sinfonieorchester möglich ist, das war, unter anderem, die Ambition dieses Abends im sehr gut besuchten KKL. Nicht bei der Auslastung insgesamt, jedoch bei der Zahl der gelösten Abonnements, sei der Status aus der Zeit vor der Pandemie wieder erreicht, betont Numa Bischof Ullmann, der seit nunmehr zwanzig Jahren erfolgreich und ohne Ermüdungserscheinung wirkende Intendant des Luzerner Orchesters. Entschieden weiter gehe auch die Entwicklung des Klangkörpers hin zu einem voll ausgebauten Sinfonieorchester mit knapp achtzig fest angestellten Mitgliedern. Bald werde dieses Ziel erreicht sein – dies auf der Basis der von Bischof eingerichteten Verbindung zwischen öffentlicher und privater Finanzierung. Der grössere Teil des Budgets, gegen zwei Drittel, wird getragen von der Stiftung für das Luzerner Sinfonieorchester mit dem Mäzen Michael Pieper im Zentrum und einer grossen Zahl an Stiftern, Gönnern und Freundeskreisen.

Ist diese Konstruktion schon bemerkenswert genug, so gilt das erst recht für den Einfallsreichtum im Bereich der Programmgestaltung. Das zeigt das Konzertangebot des Orchesters, im KKL wie in dem 2020 eröffneten Orchesterhaus am Stadtrand, das erweist aber auch «Le piano symphonique», das vom KKL ausgeschriebene und nach einem Wettbewerb an das Luzerner Sinfonieorchester vergebene Klavierfestival, welches das von heute auf morgen aufgegebene Klavierfestival des Lucerne Festival ersetzt. Da fehlt es denn nicht an Überraschungen. Die Eröffnung des Festivals bestreitet Maria João Pires, die sich im «2. Akt» des Abends für Schuberts vierhändige Fantasie in f-Moll mit Martha Argerich zusammentut und sich später gemeinsam mit Elisabeth Leonskaja den ebenfalls vierhändigen «Lebensstürmen» Schuberts widmet. Schliesslich folgt Kit Armstrong mit den Etudes d’exécution transcendantes von Franz Liszt, nachdem er am Abend zuvor dessen gewaltige Fantasie mit Fuge über den Choral «Ad nos, ad salutarem undam» gespielt hat: an der Orgel notabene.

Dass die in Luzern verfolgte Richtung stimmt – die «Alpensinfonie» hat es in denkbar eindrucksvoller Weise bestätigt. Eine hinreissende Darbietung war das. Gelingen konnte sie, weil der Kern des Orchesters so sicher in sich ruht, dass die zahlreichen Zuzüger ihre Einsätze in einer stimmig eingerichteten Umgebung beitragen konnten. Mit zündender Energie ging die Konzertmeisterin Lisa Schatzman der Gruppe der Ersten Violinen voran, während sich Gregory Ahss, ihr gleichberechtigter Kollege aus dem Kreis um Claudio Abbado, mit Innbrunst den Kaskaden an Tremoli hingab. Phantasievoll ausgespielte Soli liessen die Holzbläser glänzen, während das massiv besetzte Blech in reicher Abschattierung einwirkte und majestätische Klangkronen bildete. Probleme mit der Lautstärke, mit der Balance? Nicht die Spur. Dazu ist Michel Sanderling, Sohn eines berühmten Dirigenten-Vaters, viel zu sehr Kapellmeister.

In dem guten Sinn nämlich, dass er den Notentext mit aller Genauigkeit liest und sich ihm vorbehaltlos in den Dienst stellt. Das Raunen, das Verschwimmen, der Dunst – das hat Christian Thielemann mit Wagners «Wunderharfe» aus Dresden bei seiner Luzerner Auslegung der «Alpensinfonie» auf die Spitze getrieben; gelernt und vervollkommnet hat er es bei den Wiener Philharmonikern, die sich gegen nichts mehr sträuben als gegen den präzisen Schlag. Michael Sanderlings Sache ist das nicht, er schlägt präzise und führt das Orchester mit sicherer Hand, ohne ihm den Atem und dem Stück die Atmosphäre zu nehmen. Der Ansatz erlaubt ihm, die Partitur in aller Helligkeit leuchten zu lassen, die einzelnen Instrumentalfarben in gebotener Klarheit herauszustellen und so die unerhört weitreichenden Verästelungen in dieser nur dem Schein nach auf den grossen Effekt zielenden Tondichtung zu zeigen. Symptomatisch dafür waren das auffallend präsente, mit viel Hall versehene Herdengeläut und der sehr zu Recht prägnante Auftritt der Orgel, deren Spieltisch ins Orchester integriert war. Und was die beiden Herren an den zwei Windmaschinen an schweisstreibender Kurbelbewegung leisteten, gab zu erkennen, dass man von Starkregen und Gewitterböen schon vor 108 Jahren überrascht werden konnte. Eine äusserst fassliche, bildhafte Interpretation ist hier gelungen. Dass sie sich unter einem schlüssig von A bis Z reichenden Spannungsbogen ereignete, machte das Besondere dieser erfrischenden Bergwanderung mit Richard Strauss aus.

Ein Chalet, das es in sich hat

Einakter von Adolphe Adam und
Gaetano Donizetti im Stadttheater Solothurn

 

Von Peter Hagmann

 

Betly (Roxane Choux) hält die Soldateska der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Schach / Bild Konstantin Nazlamow, Theater-Orchester Biel-Solothurn

Mehr als sechs Jahre sind vergangen seit jenem höchst vergnüglichen Abend im Stadttheater Solothurn, der den beiden Einaktern «La notte di un nevrastenico» von Nino Rota und «Gianni Schicchi» von Giacomo Puccini galt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 04.01.17). Zunächst der gestresste Geschäftsreisende, der für die Übernachtung nicht nur sein eigenes Zimmer bucht, sondern, um jeder Störung zuvorzukommen, auch noch jenes links und jenes rechts davon. Der dann aber gleichwohl verdächtige Geräusche wahrnimmt, weil das Schlitzohr von Hotelier das Zimmer zur Rechten trotz hoch und heiliger Versprechungen dennoch vermietet hat, und das erst noch an ein junges Liebespaar. Danach dann die Posse um den verstorbenen Buoso Donati, dessen sehr attraktives Testament zugunsten der Verwandten abgeändert werden soll, was der von der Familie nicht eben geliebte Gianni Schicchi bewerkstelligt, allerdings durchs Band zu seinem Vorteil. Die Lust auf der Bühne wie jene im Zuschauerraum sind bis heute lebendig.

Jetzt legt die kleinste professionelle vollausgebaute Oper vielleicht nicht der Welt, aber wohl doch der Schweiz, nochmals nach. Zur Eröffnung seiner Spielzeit bringt das Theater-Orchester Biel-Solothurn nichts Geringeres als ein Stück Johann Wolfgang von Goethes. Es trägt den Titel «Jery und Bäteli» und ist von dem berühmten Eugène Scribe unter Assistenz von Méleville, bürgerlich Anne-Honoré-Joseph Duveyrier, zu einem Libretto geformt worden. Adolphe Adam hat auf dieser Basis einen ebenso eingängigen wie witzigen Einakter komponiert; «Le Chalet», so sein Titel, wurde im Herbst 1834 durch die Opéra-Comique aus der Taufe gehoben und geriet mit seinen über eintausend Aufführungen allein in Paris zu einem Kassenschlager sondergleichen. Allein, was Adam recht war, sollte Gaetano Donizetti billig sein. Er übersetzte die aus Goethes deutscher Sprache von Scribe ins Französische transponierte Vorlage eigenhändig ins Italienische und schuf, diesmal nun unter dem Titel «Betly ossia La campanna svizzera», seinen eigenen Einakter, der zwei Jahre nach dem Pariser Erfolg Adams in Neapel uraufgeführt wurde – ebenfalls mit Gewinn. Heute sind beide Kurzopern restlos vergessen; «Betly» hat nicht einmal in «Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters», das Allerheiligste der Oper, Eingang gefunden.

Genau das Richtige also für TOBS, wie die seit 2012 von Dieter Kaegi geleitete Institution zu nennen ist. «Aida» oder «Die Meistersinger» gehen nicht in den intimen Räumen von Biel und Solothurn, man muss sich nach der Decke strecken und Alternativen finden – was das quicklebendige Haus mit seinen zwei Spielstätten überaus geschickt tut. Zum Beispiel mit dem erheiternden Doppelabend im Zeichen von «Le Chalet suisse». Goethes Singspiel hat es durchaus in sich. Betly ist eine junge Frau, aber eine von rebellischem Geist. Sie lebt in ihrem weitab, nämlich im Appenzellischen gelegenen Chalet und hat nichts im Sinn mit der hergebrachten Karriere als Hausfrau und Mutter. Heiraten? Nein danke. Dem Mannsbild, das ihr Haus betritt, wird alsbald die Tür gewiesen. Dies sehr zum Kummer des jungen Daniel, der für Betly brennt. Schützenhilfe erfährt der Bewerber von Max, dem deutlich älteren Bruder Betlys, der in fremden Diensten zu Rang und Geld gekommen und nun in die Heimat zurückgekehrt ist. Seine Schwester gehöre unter die Haube, findet Max, und Daniel sei der Rechte. Nach einer Reihe von Zwischenfällen scheint das auch zu gelingen – oder vielleicht doch nicht?

Das wäre die Geschichte. In (Biel und) Solothurn wird sie zwei Mal erzählt, aber in zwei ganz und gar unterschiedlichen Weisen. Für die leichtfüssige, schwungvolle, in der Substanz freilich etwas schmalbrüstige Opéra-comique von Adam hat sich der Regisseur Andrea Bernard ein Spiel im Spiel ausgedacht. Gezeigt wird eine Probe von «Le Chalet», die Bühne von Alberto Beltrame ist eine Bühne, die Dekoration ist als Modell anwesend: als Blick in ein etwas schräg geratenes Puppenhaus. Max ist nicht nur Max, sondern auch der Regisseur und als solcher meist genervt – Michele Govi gibt seinen Part fulminant. Etwas chargiert vielleicht, aber das mag am Platz sein. Betly wiederum, Roxane Choux brilliert mit ausgeprägtem komischem Talent, erscheint als eine kaum zu bändigende Diva, die alles singen mag ausser – Betly. Schon gar nicht an der Seite von Pierre-Antoine Chaumien, der als Daniel seinen ersten grösseren Auftritt hat und den Umstehenden gleich einmal einen werbenden Flyer aufdrängt. Er gibt vor, das zu erarbeitende Stück mit einer Eigenkomposition erweitert zu haben – und genau da liegt eine kleine Schwäche von «Le Chalet», denn in diesem Momenten hängt Adams Partitur ein wenig durch. Dies trotz dem beherzten Einsatz des Sinfonie-Orchesters Biel-Solothurn, das von Franco Trinca souverän in Schwung gehalten wird.

Nach der Pause stellt man fest, dass das soeben noch als Modell gezeigte Puppenhaus mitsamt seinem nicht ganz passenden First in reale Grösse gewachsen und zum Bühnenbild worden ist. In Donizettis Fassung kommt «Betly» als eine ausgewachsene Opera comica im Belcanto-Stil daher. Das Szenische gibt sich zurückhaltender, es lässt mehr Raum für das Musikalische – und das ist gut so, treten doch bei allen drei Darstellern hochstehende vokale Qualitäten zutage. Seinen Anteil daran hat auch der von Valentin Vassilev geleitete Opernchor, dem die Kostümbildnerin Elena Beccaro zur Verdeutlichung der couleur locale etwas vergammelte Uniformen schweizerischer Offiziere und Fantasietrachten verpasst hat. Und hier legt der Regisseur auch den Finger auf die überraschende emanzipatorische Seite, die an dem Doppelabend aufscheint. Ihre Freiheit ist der jungen Frau alles, davon singt sie explizit. Wenn der Einakter Donizettis zu Ende geht, hat sie den Ehevertrag zwar unterschrieben, doch zeigt die Inszenierung, wie sie das Papier vor den Augen des frischgebackenen Ehemanns und ihres Bruders zerreisst, ihre Skier ergreift und mit ihren Freundinnen aus dem Chor in Richtung Matterhorn aufbricht. Goethe hat es nicht so gemeint, man kann es jedoch so denken.

Die Produktion steht noch in Biel und Solothurn auf dem Programm. Sie reist dann nach Visp, Winterthur und Zug.

Rausch und Absturz

«La rondine» von Giacomo Puccini in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ruggero (Benjamin Bernheim) und Magda (Ermonela Jaho) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Die Einleitung erinnert unüberhörbar an das zweite Bild von «La Bohème», an die rauschende Fröhlichkeit von Heiligabend in den Strassen des Quartier Latin. In «La rondine», dem Spätwerk Giacomo Puccinis, ist es fürs erste jedoch bald vorbei mit der Ausgelassenheit. Gehört die Bühne einer jungen Frau, die von der grossen, der wahren Liebe träumt. Es ist Magda de Civry, die von dem begüterten Rambaldo ausgehalten wird, jedoch dringend aus dem goldenen Käfig ausbrechen möchte. Und es ist Ermonela Jaho, die mit ihrer Kunst auf Anhieb in Bann schlägt. Mühelos steigt sie in höchste Höhen, in hauchzartem Pianissimo verharrt sie auf der emotional so aufgeladenen Terzlage, und dazu bebt sie am ganzen Körper – in restloser Identifikation mit dem Moment. Kein Wunder hören Rambaldos Gäste fassungslos zu, und jeder von ihnen tut das in seiner eigenen Weise, denn am Regiepult sass Christof Loy, der wie selten jemand die Kunst beherrscht, aus Sängern Schauspieler werden zu lassen und auch in kleinen Rollen ausgeprägte Charaktere zu schaffen. Die Lust im grossen, durchwegs ausgezeichneten Ensemble ist nicht zu verkennen.

So blicken wir denn, wenn sich im Opernhaus Zürich der rote Theatervorhang nach der Art der Wagner-Gardine angehoben hat, in einen edlen Salon mit doppelter Raumhöhe, gestylten Sitzgelegenheiten und, in einer Ecke, dem Flügel als Zeichen gehobener Bürgerlichkeit – der Bühnenbildner Etienne Pluss hat an diesem hochästhetischen Ort für Weite und ein angenehmes Zusammenspiel von Alt-Rosa und Grautönen gesorgt. Mit allem Raffinement hat die Kostümbildnerin Barbara Drosihn die Dezenz der Form und die Subtilität der Farbe aufgenommen. Viel zu singen hat Vladimir Stoyanov als der diskrete Hausherr und Gastgeber nicht, aber wenn Rambaldo in seinem vollendeten Dreiteiler leicht gelangweilt zur bereits durchgelesenen Tageszeitung greift, richten sich aller Augen auf ihn.

Erheiternd der unerhört selbstgewisse Dichter Prunier und seine Geliebte Lisette, ein Wirbelwind von Dienstmädchen – Juan Francisco Gatell und Sandra Hamoui sorgen für ein von liebevollem Geplänkel getragenes Vorspiel. Wie dann aber unverhofft der junge, ebenso naive wie stolze Ruggero in seiner Bankerkluft zu Besuch kommt, beginnt sich der Knoten zu schnüren. Erst nehmen sie nicht gross Notiz voneinander. Im Café Bullier, wo enorm Trubel herrscht und das Klischee von Paris als der Weltstadt des Flirts ausgelebt wird, verfallen sie einander hoffnungslos, knautscht sie aufgeregt ihr grünes Täschchen, während er nervös an seinem gleichermassen grünen Absinth nippt. Sie und Er, Magda und Ruggero, sie sind das Paar der Stunde, denn Ermonela Jaho mit ihrem dunklen Timbre und Benjamin Bernheim mit seinem obertonreich glänzenden, äusserst flexiblen Tenor sind füreinander geschaffen – wie einst, ebenfalls in der Zürcher Oper, Agnes Baltsa und José Carreras.

Seine allerschönsten Töne hat Puccini in die Notenlinien gezaubert: aufschwingende Melodiebögen und silberhellen Orchesterklang, gefärbt durch oktavierte Geigen, zarte Einwürfe der Holzbläser und, in Momenten der Kulmination, helle Glöckchen. Unter der ebenso inspirierenden wie kundigen Hand des Dirigenten Marco Armiliato blüht die Philharmonia Zürich förmlich auf; das Orchester schwelgt im Spiel der Farben und, vor allem, in den schimmernden Tönen des Leisen. Doch dann und sehr plötzlich steigt die Temperatur. Magdas Mimik spricht von ihren Zweifeln. Ruggero dagegen, nichts ahnend im Versuch, die feurige Beziehung zu festigen, erscheint mit einem Brief, in dem die Mutter in die Eheschliessung einwilligt. Da bricht es aus Magda heraus: Sie sei nicht, was er in ihr sehe, könne weder Gattin noch Mutter sein, sie habe sich für Geld hergegeben, sie könne sein Haus nicht betreten – mit einem Schrei aus der Tiefe ihrer Bruststimme entringt sich Ermonela Jaho dieser letzte Satz.

Benjamin Bernheim steht ihr, was seine lebensgefährliche Verzweiflung ob diesem Geständnis betrifft, in nichts nach. Und Marco Armiliato zeigt, wie grossartig er das Orchester aus dem Duft des Leisen in die volle Kraft zu führen weiss – dort übrigens ohne jede Störung der Balance. Rasch ist das Ende herbeigeführt; Puccini tat sich schwer damit, hat dank seinem Sinn für das Dramatische aber doch den rechten Weg gefunden. Und schon sehen sich die Protagonisten dem tosenden Beifall gegenüber, er mit zusammengebissenen Lippen, sie mit einer Träne, die sie keineswegs verstohlen weggewischt. «La rondine»: ein Meisterwerk, meisterlich dargeboten.