Verfeinerung im Einfachen

Verdis «Rigoletto» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Matthias Baus, Theater Basel

Man mag ihn mögen oder nicht – für die neue Produktion von Giuseppe Verdis «Rigoletto» im Theater Basel ist kein Lob hoch genug. Intelligentes, sinnlich erfülltes Musiktheater gibt es da. Die guten Nachrichten kommen zunächst aus dem Graben, wo das Sinfonieorchester Basel auf der vollen Höhe seines Vermögens musiziert: zupackend, aber nirgends grob, klangschön, präzis im Rhythmischen und mit allem Sinn für federnde Eleganz. Dazu angeleitet werden die Musikerinnen und Musiker durch Michele Spotti, einen jungen Dirigenten aus Mailand, dem das Orchester am Ende der Premiere sichtbaren Beifall zollte. Sehr zu Recht, erweist sich Spotti doch als ein sattelfester, ebenso effizienter wie diskreter «maestro concertatore»; er lässt den Sängerinnen und Sängern den nötigen Raum und bleibt ihnen sorgsam zur Seite, behält den Fortgang des Dramas aber jederzeit entschieden in der Hand und sorgt so für durchgehende Spannung. Als besonders wirksam erweist sich dabei des Dirigenten Gefühl für die Tempi und die Beziehungen unter ihnen – da ist ein Raffinement gefordert, ohne das ein Werk wie «Rigoletto» platt bleibt. In der Oper gilt die Aufmerksamkeit des Publikums zuallererst der vokalen Kunst, der Ärger sodann dem Regisseur, während die Formung der musikalischen Seite eher beiläufig mitgenommen wird. Hier ist diese Gewohnheit in jeder Beziehung ausser Kraft gesetzt.

Im Vokalen und in der Ausgestaltung des dramatischen Geschehens herrscht nämlich das reine Glück. Die Besetzung ist erstklassig, sie braucht sich vor keinem anderen Haus zu verstecken. An Überraschungen fehlt es nicht. Als Rigoletto bringt Nikoloz Lagvilava eine ungeheure Bärenstimme ins Spiel, eher einen Bass als einen Bariton, jedenfalls eine abgrundtiefe Schwärze und eine Kraft, die den Narren auch vom Vokalen her zum Aussenseiter macht, das brutal Instinktive in seinem Handeln betont und den Zusammenbruch umso schärfer herausstellen. Einen Buckel braucht es nicht, die Kapuze zu dem dunkelbraunen Ledermantel, den ihm die Kostümbildnerin Clémence Pernoud entworfen hat, sagt alles. Pavel Valuzhin als Herzog bietet mit seinem hellen, obertonreichen Tenor und seiner darstellerischen Agilität das scharfe Gegenbild; schade nur, dass der Sänger gerne zu hoch intoniert (und damit eine Gepflogenheit italienischer Provenienz strapaziert). Speziell dann wieder der Mörder Sparafucile, für den mit David Shipley ein eher hoch liegender, feinzeichnender Bass verpflichtet ist – weshalb denn auch besonders auffällt, dass er, wie er sich Rigoletto mit seinem schönen Namen vorstellt, das in hoher Lage tut. Sein edles weinrotes Gewand mit dem Kummerbund deutet ja auch, dass er seine Dienstleistungen als echter Gentleman anbietet und, so ist anzunehmen, in derselben Weise ausführt. Mit einer echten Donnerstimme wartet Artyom Wasnetsov als Monterone auf – ein später Verwandter des Komturs aus «Don Giovanni». Und dann: Regula Mühlemann, die in Basel ihre erste Gilda singt und das ganz ausgezeichnet macht. Jungmädchenhaft hängt sie an ihrem Vater, doch wie Rigoletto ihr den Hausarrest auferlegt, wird sie rasch störrisch, um dann dem Herzog förmlich zuzufliegen – alles grossartig, alles bewegend dargestellt. Und stimmlich grandios gemeistert dank einem Timbre, das auf einer samtenen Grundlage ein weitgefächertes Farbspektrum ausbreitet. Im Übrigen: Ohne Fehl das Ensemble, ohne Tadel der von Michael Clark vorbereitete Chor.

Zusammen mit dem Orchester sind es die Menschen auf der Bühne, die den Basler «Rigoletto» prägen. Der Regisseur Vincent Huguet dagegen hält sich vorteilhaft zurück; er nennt Verdis Oper sogar «abstrakt» – mit gutem Grund, bilden die beiden Szenen in den Salons des Herzogs doch eher Beiwerk, während das Stück seinen Kern in der direkten Interaktion zwischen den Figuren findet. Das nimmt der Regisseur sehr genau in den Blick, das hat er mit aller Sorgfalt ausgeführt. Der französische Designer Pierre Yovanovitch, hat ihm eine dementsprechend neutrale Bühne eingerichtet. Eine mächtige Rundtreppe, elegant geformt, führt aus luftiger Höhe herunter auf die Spielfläche, wo sich im Verlauf der drei Akte drei halbrunde Wände um die Akteure positionieren: eine immer stärkere Einengung, in der sich die Zuspitzung des Dramas spiegelt. Zugleich aber auch eine Assonanz an die vor einem Vierteljahrhundert aufgestellte, anhaltend umstrittene und bekanntlich nicht nur betrachtete Eisenskulptur «Intersection» des Amerikaners Richard Serra auf dem Platz vor dem Theater. Wenn sich Rigoletto am Ende seiner Möglichkeiten sieht, senkt sich zudem ein zarter, luftiger, aber doch eindeutiger Käfig auf den vom Täter zum Opfer gewordenen Menschen. Alles bloss andeutet, zudem in erlesenen Farben – Design vom Besten, aber sehr wohl mit Aussage. Und in jedem Fall besser als Buckel und Samt. Im Februar folgt an dem sehr lebendigen Basler Haus eine Übernahme von Luigi Nonos «Intolleranza 1960» mit dem Hausherrn Benedikt von Peter am Regiepult. Da wird zweifellos ein ganz anderer Wind wehen.

Der ganz normale Wahnsinn

In einer denkwürdigen Autobiographie blickt der Komponist Georg Friedrich Haas auf seine Kindheit und die Jahre des Werdens.

 

Von Peter Hagmann

 

«Nazibub» nennt sich Georg Friedrich Haas im Untertitel jenes Buches, in dem er sich seiner Kindheit, seiner Jugend und seiner Adoleszenz erinnert. Die Bezeichnung trifft haargenau. Tatsächlich entstammt der demnächst siebzigjährige Komponist aus Österreich, einer der ganz Grossen seines Faches, ein Künstler mit eindeutigen gesellschaftspolitischen Positionsbezügen (und solchen, die klar links von der Mitte zu verorten sind) – tatsächlich entstammt Georg Friedrich Haas einer Familie und einem Milieu, in dem nationalsozialistisches Denken und Handeln zutiefst verankert waren. Und es blieben. Lang und reich an Schmerz war der Weg, den der «Nazibub» von seinem geistigen und seelischen Erwachen über Widerstand und Entfremdung hin zu vollständiger Emanzipation und Neuerfindung der Identität gegangen ist. In seinen 2014/15 von der Seele geschriebenen, zwischen 2018 und 2022 erweiterten und in Form gebrachten Memoiren, die Ende letzten Jahres unter dem Titel «Durch vergiftete Zeiten» bei Böhlau herausgekommen sind, schildert es Haas in allen, und man muss sagen: in allen ebenso schrecklichen wie erschreckenden Einzelheiten.

Zu Memoiren gehört, dass das erzählende Ich im Zentrum steht, das gilt auch für den Band von und mit Georg Friedrich Haas. Indessen geht es hier nicht um das goldene Licht der Erinnerung. Nichts wird da beschönigt, nur wenig verschwiegen – im Gegenteil: Haas steht sich selber in kritischer Distanz gegenüber, er thematisiert sein Schweigen, wo es vielleicht nicht die einzige Reaktion gewesen wäre, und steht zur Scham, die ihn bis heute umtreibt. Bedeutender ist jedoch die schonungslose Ausleuchtung des Umfelds, in das Haas hineingewachsen ist und von dem er sich in aller Gründlichkeit gelöst hat – und das geschieht so sorgfältig, dass das Buch Pflichtlektüre sein muss. Zumal hinter dem Autor zwei ihm freundschaftlich zugewandte Helfer stehen; der Zeithistoriker Oliver Rathkolb und der Musikwissenschaftler Daniel Ender unterlegen die Ausführungen mit Anmerkungen, welche die Faktenlage stützen, Quellen anführen und bisweilen liebevoll korrigierend eingreifen. Das schafft jene Objektivität, die aus dem Memoirenband ein Dokument zur jüngeren Geschichte Österreichs macht. Und nicht nur das. Wer in dem Buch verfolgt, wie sich eine Ideologie in einzelnen Menschen einnisten und sie von dort aus zu verabscheuungswürdigen Taten verführen kann, braucht weniger als einen Lidschlag, um die Parallelität zum Geschehen in Russland und der Ukraine zu erkennen.

Die Grosseltern und die Eltern von Georg Friedrich Haas waren bekennende Nationalsozialisten. Fritz Haas, der Grossvater väterlicherseits, überstand den Ersten Weltkrieg als Offizier, geriet 1917 in russische Gefangenschaft und verfolgte ab 1921 eine glänzende Laufbahn als Architekt. 1928, noch nicht vierzig Jahre als, wurde er als Professor an die Technische Universität Wien berufen, als deren Rektor er 1938 bis 1942 wirkte. 1934 trat er der damals noch illegalen NSDAP bei und blieb ein ferventer Nazi bis zu seinem Tod 1968. Nach Kriegsende und Umerziehungslager verlor er alle Ämter wie auch seine Wiener Wohnung, erhielt jedoch eine Rente. Was zur «Gesinnung» gehörte, lebte er und gab er weiter: unbedingter Gehorsam gegenüber den Eltern, Schweigen der Kinder am Esstisch, Körperstrafen, Führerkult, Antisemitismus. Einem jüdischen Freund, der zum Transport ins Konzentrationslager aufgeboten war, verweigerte er die Hilfestellung, dafür plünderte er danach dessen Wohnung. Eine jüdische Familie, die um ein Nachtlager bettelte, überantwortete er umstandslos der Gestapo. Nach dem Krieg sah er sich als Opfer und gab er sich wie viele Menschen aus seiner Generation aktiv als Altnazi zu erkennen. Steht Haas diesem Machtmenschen distanziert gegenüber, zeichnet er seine Grossmutter väterlicherseits liebevoll. Auch Irmgard Haas war Nationalsozialistin, auch sie war Parteimitglied, aber sie machte sich nicht schuldig. Vielmehr akzeptierte sie die ganz anderen Ansichten ihres Enkels, der fürs Studium zu ihr nach Graz gezogen war, ja sie unterstützte ihn in seinem Werdegang als Musiker.

Ein vielschichtiges Bild entsteht in dieser Erzählung – eines in grausig bunten, schneidend grellen Farben. Dass manche Nazis nach Kriegsende ihrer «Gesinnung» mehr oder weniger offen treu blieben, einfach das Mäntelchen wechselten, es ist bekannt. Zum Beispiel von Erich Schenk, dem langjährigen Wiener Ordinarius für Musikwissenschaft, der seiner antisemitischen Haltung zum Trotz nach Kriegsende nicht nur in seiner Position verblieb, sondern von der Republik Österreich dekoriert wurde. Georg Friedrich Haas berichtet aus eigener Anschauung, wie Altnazis von den wiederauferstandenen Parteien als Wähler umworben wurden und als Preis für einen Parteieintritt ihre Stellungen zurückbekamen. Und er zeichnet nach, wie an einer Einrichtung wie der von ihm als Student wie als Dozent betretenen Grazer Musikhochschule noch bis in die achtziger Jahre, bis hin zu den epochalen Rektoraten von Otto Kolleritsch, Positionen aufgrund einschlägig gefärbter Netzwerkverbindungen vergeben wurden. Haas hat selbst sehr konkrete Erfahrungen gemacht. Nachdem er um die Jahrtausendwende eine Petition unterschrieben hatte, welche die Einladung der damals heiss diskutierten Ausstellung «Verbrechen der Wehrmacht» nach Graz verlangte, wurde mehrfach in sein einsam gelegenes Wohnhaus eingebrochen und ihm am Ende ein toter Hase vor die Eingangstür gelegt.

Damit war das Fass voll. Den rechtsgerichteten «Verein deutscher Studenten», in den er alter Familientradition gemäss eintrat, in dem er sich erst (wider besseres Wissen) anpasste, um später (vergeblich) Widerstand zu leisten, verliess Georg Friedrich Haas. Mit den Eltern brach er. Ein schwerer Schritt, denn trotz ihrer strammen «Gesinnung» war ihnen innig verbunden; überhaupt macht die Diskrepanz zwischen der Liebe zur Familie und der wütenden Scham im Angesicht ihrer Denk- und Lebensweise die Lektüre der Memoiren zu einer beklemmenden Erfahrung. Und er zog weg – weit weg nach Westen, erst nach Basel, wo er eine Professur an der dortigen Musikhochschule annahm, schliesslich nach New York, wo er als Professor für Komposition an der Columbia University und in einer vierten Ehe seinen Frieden gefunden zu haben scheint. Auch seinen musikalischen Stil habe er modifiziert, schreibt er; in Zukunft, so habe er beschlossen, wolle er nicht mehr irgendwelchen Gesetzmässigkeiten gehorchen, sondern ausschliesslich seinen ganz ureigenen Gefühlen folgen. Dazu, überhaupt zum Niederschlag des Biographischen im Musikalischen, ist vergleichsweise wenig zu erfahren. Als Co-Herausgeber steuert Daniel Ender in seinem Vorwort einiges dazu bei. Das Ensemblestück «in vain» etwa entstand im Jahre 2000 als Reaktion auf den Einzug der FPÖ in die Regierung des damaligen Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel; das Statement des Komponisten bestehe darin, dass das Stück, so Ender, eine explizite Reprise enthalte, was für neue Musik aussergewöhnlich sei.

In der gnadenlosen Präzision der Schilderungen und in seiner schockierenden Offenheit dürfte das Buch niemanden kalt lassen. Auch jene nicht, die der Meinung sind, das sei alles vergangen und überwunden. Vergangenheit ist es, von Überwindung kann jedoch keine Rede sein, wie der Blick auf die Entwicklungen in Österreich und genauso gut anderswo zeigt. «Ich habe noch viel zu tun.» Mit diesem Satz enden die Memoiren von Georg Friedrich Haas. Dem kann man sich nur anschliessen.

Georg Friedrich Haas: Durch vergiftete Zeiten. Memoiren eines Nazibuben. Herausgegeben von Daniel Ender und Oliver Rathkolb. Böhlau, Wien und Köln 2022. 293 S., Fr. 56.90.

Der unreine Avantgardist

Bernd Alois Zimmermann, mit Heinz Holliger neu entdeckt

 

Von Peter Hagmann

 

Denkbar schwer waren die Anfänge. 1918 in der Nähe von Köln geboren, wurde der angehende Komponist Bernd Alois Zimmermann 1939 aus dem Studium heraus in den Kriegsdienst eingezogen. Aufgrund einer Verletzung wurde er 1942 entlassen. Er nahm seine Ausbildung wieder auf, konnte sie aber erst 1947 abschliessen; der Eintritt ins Berufsleben erfolgte daher spät, und die Möglichkeiten in den Jahren nach dem Krieg waren beschränkt. So nahm Zimmermann eine Tätigkeit als Hauskomponist beim Nordwestdeutschen Rundfunk an, aus dem 1956 der Westdeutsche Rundfunk (WDR) in Köln hervorging. Viel Ehr brachte das nicht, aber doch etwas Geld, und das konnte Zimmermann als Familienvater sehr gut brauchen.

Auch wenn sie seine Mission, als Komponist neue Werk zu schaffen, bedrängte, öffnete ihm die Beschäftigung als Hauskomponist Blickfelder, die Zimmermann mit Gewinn in seine musikalischen Grundauffassungen einzubauen vermochte. Als Hauskomponist hatte er, und dies oft unter Zeitdruck, Arrangements bestehender Musik zu erstellen – für die Orchester und die Ensembles, mit denen der Rundfunk das darniederliegende Kulturleben wieder anzufachen suchte. Das waren, wie Rainer Peters sagt, der Spezialist für Leben und Werk Bernd Alois Zimmermanns, Galeeren- und Experimentierjahre. Damals hier liess sich der Komponist auf Musik ein, die vielleicht sonst nicht auf seinen Schreibtisch gekommen wäre, zum Beispiel auf «Die drei Zigeuner», das Lied für Singstimme und Klavier von Franz Liszt aus dem Jahre 1860, das Zimmermann 1953 orchestrierte, oder Modest Mussorgskys Klavierstück «Reiseeindrücke aus der Krim» von 1879/80, das der Hauskomponist 1949/50 ebenfalls für Orchester setzte. Selbst mit Sergej Rachmaninow, für jeden zünftigen Avantgardisten ein Graus, befasste sich Zimmermann; eine Romanze in E-dur aus den «Morceaux de salon» von 1894 erweiterte er zu einem Stück für Saxophon und Orchester.

Während die musikalische Avantgarde deutscher Ausprägung nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu doktrinär auf die Reinheit der Kunst und die Entwicklung des Materials fokussiert war, liess sich Zimmermann schon damals ohne Vorurteile von vielen, auch sehr unterschiedlichen Seiten anregen – wofür er heftig gescholten wurde, woraus er jedoch den für sein Schaffen zentralen Pluralismus der Stile schöpfte. Jazz steht neben Cembalo, Dodekaphonie neben südamerikanischem Rhythmusgefühl. Und mag es sich bei all dem um Hervorbringungen eines Brotberufs handeln, so zeigt dieses Segment im Œuvre Bernd Alois Zimmermanns, wie er an diesen Fingerübungen seinen Klangsinn schärfte und seine Phantasie im Umgang mit Instrumenten und ihren Kombinationen entwickelte. Davon zeugen viele der frühen Werke Zimmermanns, etwa das aus einer Hörspielmusik hervorgegangene Ballett Alagoan aus den fünfziger Jahren oder das reizende, mehrteillige Stück «Un petit rien», eine «musique légère, lunaire et ornithologique» von 1964, entstanden neben der Arbeit an der epochalen Oper «Die Soldaten».

Entdecken lassen sich die wenig bekannten Seiten Bernd Alois Zimmermanns in einer dreiteiligen CD-Produktion, die bei Wergo, dem Label des Musikverlags Schott, erschienen ist, aber natürlich auch im Netz zur Verfügung steht. Die Idee dazu hatte Harry Vogt, der beim WDR in Köln die Neue Musik betreute, und gewinnen konnte er dafür Heinz Holliger, der dem Schaffen Zimmermanns seit vielen Jahren und in besonderer Weise zugetan ist. Grundlage für das über einen Zeitraum von fast zwei Jahrzehnten vorangetriebene Projekt bildeten das Archiv des WDR sowie das von Heribert Henrich auf der Basis von Vorarbeiten Klaus Ebbekes erstellte Verzeichnis der Kompositionen Zimmermanns. Und möglich wurde es nicht zuletzt dank dem Westdeutschen Rundfunk, der das von ihm getragene Sinfonieorchester zur Verfügung stellte. Beteiligt waren aber auch die öffentliche Hand über die Kunststiftung Nordrhein-Westfalen und die dem Schott-Verlag nahestehende Schrecker-Stiftung – eine Kooperation mit Vorbildcharakter, aber auch ein Beispiel dafür, wie wichtig und wertvoll die Existenz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als Instrument der Kulturförderung auch heute noch ist.

Die Produktion selbst steht im Zeichen von Kompetenz und Exzellenz; sie bietet Aufklärung und Vergnügen in einem, und sie tut das auf höchstem Niveau. In Heinz Holliger, der das WDR-Sinfonieorchester – wie bei den zwischen 2010 und 2015 entstandenen den Aufnahmen bei den Sinfonien Robert Schumanns – zu fabulösen Leistungen führt, stellt sich ein kongenialer, sogar mit Sinn für den Blues versehener Interpret in den Dienst an diesem eindrucksvollen Projekt. Der Aufbau der drei Teile legt Beziehungen offen und spannt Bögen. Sie setzt an bei den südamerikanisch angehauchten Arbeiten, geht weiter zu den «Rheinischen Kirmestänzen» mit ihrem doppelten Boden und findet ezur Sinfonie in einem Satz – dem ersten Auftrag des WDR für ein ganz aus der Feder Zimmermanns stammendes Werk. Das heftige, für grosses Orchester geschriebene Stück erklingt hier nicht in jener verbreiteten Revision, die auf den Dirigenten Hans Rosbaud zurückgeht, sondern in der vom Komponisten selbst noch einmal überholten Originalfassung von 1953. Sein Ende findet das Projekt mit «Stille und Umkehr», dem letzten Orchesterwerk von 1970, dem Todesjahr des Komponisten. Nur gut zwei Jahrzehnte blieben Zimmermann zur Verwirklichung seiner schöpferischen Ideen. Auch das wird einem hier bewusst.

Bernd Alois Zimmermann recomposed. WDR-Sinfonieorchester, Heinz Holliger (Leitung). Wergo 7387-2 (3 CD, Aufnahmen 2000 bis 2018, Publikation 2022)

Theater aus Musik

Drei Mal Bartók in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Evelyn Herlitzius (Judith) und Christof Fischesser im Stadttheater Basel (Bild Matthias Baus, Theater Basel)

Exzellent, dieser Abend. Eine Produktion im Zeichen von Musik und Theater und Tanz, und das in sinnreichem, lustvollem Zusammenwirken der drei Sparten – in Zeiten, da die schon sehr lange währenden, gerade jetzt wieder neu aufflammende Diskussion um Grenzen und Grenzüberschreitungen des Regietheaters in der Oper alles andere als selbstverständlich. Gewiss, mit dem am Theater Basel erarbeiteten Projekt mit dem «Wunderbaren Mandarin» und «Herzog Blaubarts Burg» von Béla Bartók hat sich ein Regisseur verwirklicht. Aber Christof Loy ist ein derart sachbezogener, reflektierter und dazu musikalisch sensibler Bühnenkünstler, dass das Ergebnis zu ausserordentlicher Wirkung kommt. Authentizität eigener Art ist da zu spüren, tiefe Berührung zu erleben.

Wie immer, wenn «Herzog Blaubarts Burg» ins Programm genommen werden soll, stellt sich die Frage nach der Ergänzung zu dem einstündigen Einakter. Christof Loy wollte zu dem dunklen, in Schwärze endenden Stück von 1911, uraufgeführt 1918, eine helle Botschaft stellen: die Botschaft der Liebe, die, wenn sie gelebt wird, gegen alle Widrigkeiten der Umstände ihre Chance haben kann. Und diese Botschaft sollte ebenfalls der Feder Béla Bartóks entstammen. Darum die Tanzpantomime «Der wunderbare Mandarin» – die nun allerdings mit dem Tod des Titelhelden endet, wenn auch mit einem Tod der Erlösung. Wie das Mädchen, das von drei brutalen Zuhältern auf die Strasse geschickt wird, den übel zugerichteten, gleichwohl immer wieder ins Leben zurückkehrenden Mandarin küsst, kann er sterben. Sehr aufhellend ist das nicht, doch kehrt es Loy ins Positive, indem er auf den «Wunderbaren Mandarin» den zarten ersten Satz aus der «Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta» von 1937 folgen und dazu eine von ihm erdachte (und gemeinsam Johannes Stepanek umgesetzte) Choreographie tanzen lässt. Sie deutet an, was der Kuss des Mädchens auf die Lippen des Mandarins wirklich bedeutet.

Über diese Anlage, vor allem über den Bezug zwischen dem «Mandarin» und «Blaubart», lässt sich füglich nachdenken. Im Moment der Aufführung freilich stellt sich eine unerhört dichte, durch die Musik nicht grundierte oder unterstützte, sondern recht eigentlich aus ihr heraus entwickelte Atmosphäre ein. Das ist Musiktheater im besten Sinn. Zumal dem Sinfonieorchester Basel unter der Leitung seines erstmals am Theater Basel auftretenden Chefdirigenten Ivor Bolton eine hervorragende Auslegung der im «Mandarin» zupackenden, im instrumentalen Stück feingliedrigen Musik Bartóks gelingt. Und was die Tänzer, allen voran Carla Pérez Mora (Mädchen) und Gorka Culebras (Mandarin), aber auch die drei vom Komponisten als Strolche bezeichneten Zuhälter Joni Österlund, Nicky van Cleef und Jarosław Kruczek sowie die beiden Freier Nicolas Franciscus und Mário Branco – was dieses Ensemble zustande bringt, ist in seiner Körperlichkeit und seiner Ausdrücklichkeit schlechterdings hinreissend. Energie sondergleichen herrscht hier, und doch gerät nichts grob. Auch die scharfen Attacken der Zuhälter auf den Mandarin bleiben elegante Kunst, so eindeutig sie vorgeführt werden. Sie lassen dem Zuschauer auch Raum fürs Zuhören.

Wenn das Geschehen nach der Pause wieder anhebt, wird deutlich, dass die beiden Teile durch die Ausstattung eng miteinander verzahnt sind. Wo im «Mandarin» ein dichter Wald drohte, ragt bei «Blaubart» die aus Holz gebaute Burg mit ihren verschlossenen Fenstern; in beiden von Márton Ágh entworfenen Bildern herrscht meist nachtschwarze Dunkelheit, die nur von scharfen Lichtkegeln erhellt wird (Licht: Tamás Bányai). Auch die schlichten Kostüme von Barbara Drosihn betonen die Verbindungen; Blaubart gleicht dem Mandarin bis hin in Einzelheiten der Erscheinung, Judith trägt ein kleines Schwarzes wie das Mädchen, selbst die Verwendung der Schuhe schafft Korrespondenz. All das ist fantasievoll erdacht und sorgfältig ausgeführt. Dazu kommt auch hier die Kostbarkeit des Orchesterparts. Ivor Bolton bringt den Farbenreichtum in Bartóks Partitur zu voller Pracht; durch nuancierte Tongebung, auch durch partiellen Verzicht auf das Vibrato in den Streichern gelingt ihm eine blendende klangliche Erweiterung. Und gekonnt die Kontrolle der Spannung: Den grossen C-dur-Akkord im fünften Bild, da Judith die Weite von Blaubarts Ländereien erblickt, nimmt er laut, aber nicht am lautesten – das ist für den dramatischen Höhepunkt reserviert.

Das Paar selbst: grossartig. Christof Fischesser lässt seinen opulenten Bariton in ganzer Fülle hören. Er setzt ihn aber nicht ein, um die Virilität des Schlossbesitzers mit seiner reichen Vergangenheit ins Licht zu rücken, sondern um den Absturz von der durch vorgespiegelte Souveränität nur wenig verdeckten Unsicherheit runter in die reine Verzweiflung drastisch herauszustellen. Ihm gegenüber steht eine Judith, die das Jungmädchendasein längst hinter sich hat, die Blaubart als eine reife Frau begegnet und als solche genau weiss, was sie vom Mann erwartet: Ehrlichkeit. Evelyn Herlitzius, eine geborene Sängerschauspielerin mit tragender, opulent leuchtender Tiefe und Leichtigkeit in der Höhe, dringt unablässig auf Blaubart ein und sieht sich am Ende vor einem Scherbenhaufen. Was bleibt, ist tiefe Betroffenheit, ja Beunruhigung aus, weil «Herzog Blaubarts Burg», mehr als ein Jahrhundert alt, von heute sein könnte.

Im Tollhaus

Francesco Cavallis «Eliogabalo» in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Das Traumpaar Nerbulone (Daniel Giulianini) und Lenia (Mark Milhofer), im Hintergrund Eliogabalo (Yuriy Mynenko) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Er will sie, er will ihn, er will alle, und er will alles: So ist Eliogabalo, der ohne Zweifel verrückteste Kaiser im alten Rom. Als Vierzehnjähriger kam Varius Avitus Bassianus 218 nach Christus auf den Thron, trieb als Elagabal sein Wesen und tat dies äusserst heftig, wenn auch nur kurz: Vier Jahre nach der Thronbesteigung hauchte er, von der Hand eines Mörders getroffen, sein Leben aus. Richtiger Stoff für eine Oper also, weshalb Francesco Cavalli, eine Generation jünger als Claudio Monteverdi, zur Feder griff. Zum Jahreswechsel 1667/68 sollte das Stück in Venedig aus der Taufe gehoben werden – was aber aus welchen Gründen auch immer nicht geschah. Die Partitur verschwand in der Schublade des Komponisten, gelangte von dort in den Besitz einer Adelsfamilie und schliesslich in eine Bibliothek in Venedig. 1999 wurde sie wiederentdeckt und in der lombardischen Kleinstadt Crema zu später Uraufführung gebracht.

Richtiger Stoff auch für Calixto Bieito. Willkürliche Machtausübung, Gewaltanwendung, triebhaftes Begehren, dazu ein Durcheinander der Geschlechter – das reizt den katalanischen Regisseur, der Cavallis «Eliogabalo» im Opernhaus Zürich auf die Bühne gebracht hat. Wie sich der Vorhang hebt, sitzt der Kaiser (Yuriy Mynenko, der aus Odessa stammende, dank Sondergenehmigung nach Zürich gekommene Countertenor mit weichem, geschmeidigem Ton) hingeflätzt in einem Sessel, die Smokinghose windet sich noch um die Fussgelenke, denn eben hat er Eritea vergewaltigt, die Verlobte seines Ersten Offiziers.

Die vom Opfer eingeforderte Ehe als Wiedergutmachung interessiert ihn trotz dem fulminanten Einsatz der Sopranistin Siobhan Stagg kein bisschen, er hat vielmehr seine langjährige Vertraute Lenia losgeschickt, ihm neue Körper zu besorgen – der Tenor Mark Milhofer versieht diese umgekehrte Hosenrolle mit sprühendem Witz. Zu einer wirklichen Hosenrolle wird die Partie des Giuliano, des besagten Offiziers an der Seite des Kaisers, wird sie in Zürich doch nicht von einem Countertenor, sondern von der blendenden Mezzosopranistin Beth Taylor verkörpert. Umgekehrt wird sich später Eliogabalo selbst ins Deux-Pièce werfen – dann nämlich, wenn er den eigens von ihm eingerichteten Frauensenat besucht, um die im Bikini angetretenen Parlamentarierinnen in näheren Augenschein zu nehmen. Mann oder Frau, hoch oder tief: nach kurzer Zeit ist die Verwirrung vollkommen.

Die vom grossen Ensemble auf durchwegs hohem Niveau herbeigeführte Konfusion mag hintersinnig an die derzeit aufschäumende Genderdiskussion verweisen – die in neutraler Modernität gehaltene, ausgesprochen bewegliche Bühne von Anna-Sofia Kirsch und die dazu passenden Kostüme von Ingo Krügler, vor allem jedoch die Hinweise aus der Dramaturgie suchen das nahezulegen. Die Assoziation wirkt freilich erzwungen, geht die Dominanz der hohen Stimmen und damit die Verwischung der Grenzen zwischen den Geschlechtern doch auf das zur Entstehungszeit der Oper in voller Blüte stehende Kastratenwesen zurück. Schlagend in unsere Tage führt dagegen die Bemerkung Eliogabalos, der Respekt vor den Gesetzen erfülle sich in deren Verletzung – da darf ruhig an den abgewählten Präsidenten einer gewissen Weltmacht gedacht werden.

Zuviel des Guten bieten auch die Dauererregung und die explizite Körperlichkeit im ersten Teil des Abends. Da wird, so ist es eben bei Bieito, szenisch so viel Energie freigesetzt, dass die feinsinnige Musik Cavallis unter die Räder kommt – und das trotz dem fulminanten Einsatz des dem Opernhaus Zürich angegliederten Barockorchesters La Scintilla. Erst im dritten Akt findet die musikalische Seite der Produktion ihren Raum. Wird deutlich, was Cavalli in den klar sprechenden Rezitativen und den vielen Passacaglien an Ausdruck hervorbringt. Und tritt zutage, wie subtil hier interpretatorisch gearbeitet wurde. Zu verdanken ist das dem russischen Dirigenten, Geiger und Countertenor Dmitry Sinkovsky, der das Particell Cavallis farbenprächtig instrumentiert hat. Die von ihm eingestreuten Improvisationen auf der Geige wirkten an der Premiere beiläufig. Die musikalisch grandios gemeisterte, szenisch effektvoll dargebotene Arie des Sängers am Pult sorgte dagegen für ein veritables Glanzlicht.

Glückliche Hand

Mahlers Neunte mit Jonathan Nott und dem
Orchestre de la Suisse Romande

 

Von Peter Hagmann

 

Mit Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 7 hatte sich Jonathan Nott im Herbst 2014 dem Orchestre de la Suisse Romande als neuer Chefdirigent (und Nachfolger des nur kurze Zeit präsenten Esten Neeme Järvi) empfohlen. Anfang 2015 wurde er dann auch gewählt – mit Amtsantritt im Januar 2017. Sechs Jahre sind seither vergangen, die Beziehung zwischen dem Genfer Orchester und seinem Directeur musical et artistique steht in voller Blüte. Die Konzerte in der altehrwürdigen Victoria Hall (das Projekt eines neuen Konzertsaals ist in einer Volksabstimmung 2021 durchgefallen) sind gut besucht, auch dank den Initiativen des Intendanten Steve Roger. CD-Aufnahmen für das Label Pentatone machen auf sich aufmerksam; eine der jüngsten mit einer von Nott selbst eingerichteten Suite aus Claude Debussys Oper «Pelléas et Mélisande» (vgl. «Mittwochs um zwölf vom 12.01.22) erhielt den Preis der deutschen Schallplattenkritik. Die Beziehung zum Grand Théâtre de Genève, in dessen Graben das Orchester wirkt, ist nicht zuletzt dank dem Einvernehmen zwischen Nott und Aviel Cahn, dem Direktor des Grand Théâtre, zu beiderseitigem Gewinn verfestigt worden. Inzwischen ist Notts Vertrag verlängert worden, ohne zeitliche Begrenzung notabene. Wie sagte Herbert von Karajan, als er von den Berliner Philharmonikern für das Amt des Chefdirigenten angefragt wurde: Gerne, aber auf Lebenszeit…

Dass es mit Mahlers Siebter geklappt hat, ist kein Wunder, der Komponist steht Nott besonders nahe, und so kommt er immer wieder auf ihn zurück. In Genf war jetzt war die Reihe an der neunten – für das Orchester ein Parforceritt der Sonderklasse. An diesem Abend galt das besonders, ging der knapp neunzig Minuten dauernden, nach allen Seiten hin anspruchsvollen Musik Mahlers doch noch das Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy inklusive Pause voraus. Das war definitiv zu viel des Guten. Und das umso mehr, als das Orchester zwar ganz ausgezeichnet begleitete, die junge Solistin Alexandra Conunova ihren Part aber im Geist der russischen Schule anging, was zu den bekannten Missverständnissen und Geschmacklosigkeiten führte. Im weiteren Verlauf des Abends kam es denn auch zu Einbrüchen in der Konzentration, was sich in einer erhöhten Frequenz von Hustenanfällen niederschlug. Das fiel deshalb ins Gewicht, weil Jonathan Nott gerade in den Momenten des allerleisesten Verklingens am Schluss des ersten Satzes wie am Ende des Finales mit letzter Konsequenz zu Werk ging. In spannungsvoller, ausgesprochen mutiger Ruhe zog er die Prozesse der Verlangsamung und der Auflösung durch. Und das Orchestre de la Suisse Romande, dessen Streicher in diesen Momenten der Zurücknahme ins Piano-Pianissimo extrem gefordert waren, blieben mit bewundernswertem Engagement an des Dirigenten Seite.

Insgesamt bot die Aufführung freilich ein sehr bewegendes Wechselbad der Gefühle. Nott nimmt Mahler beim Wort. Und das Orchester gibt seinem Dirigenten, war er braucht. So herrscht denn nicht jene Abgeklärtheit, die bei so grossartigen Mahler-Dirigenten wie Claudio Abbado und Bernard Haitink das Geschehen im Zaum gehalten hat. Vielmehr schiessen die Emotionen immer wieder mit erschreckender Urgewalt hoch; explizit spricht die Musik von dem in vielerlei Weise zerrissenen Innern des Komponisten – das so direkt, so greifbar mitgeteilt zu bekommen, führt zu Hörerlebnissen eigener Intensität. Bei aller Emotionalität bleibt Nott aber doch der in Kategorien der Moderne denkende Musiker, der er seit jeher ist (die jüngste CD-Publikation des Genfer Orchesters mit dem fabulösen Tessiner Pianisten Francesco Piemontesi gruppiert Klavierkonzerte von Maurice Ravel und Arnold Schönberg um die «Oiseaux exotiques» für Klavier und Ensemble von Olivier Messiaen). In gleichem Mass, wie er auf den zugespitzten Gefühlsausbruch hinsteuert, hat der Dirigent die strukturelle Seite des musikalischen Geschehens im Blick – und die ist im Falle von Mahlers Neunter von besonderer Vielschichtigkeit. Mit Blicken, mit den Händen, dem Oberkörper ist Nott zur Stelle, wenn es ernst gilt. Das bringt musikalische Energie zutage, sorgt aber auch für jene Trennung der Farben, die das Stimmengeflecht zum Leuchten bringt. Besondere Spannung trug den zweiten Satz, und das bis zum Schluss, wo Elçim Özdemir, die Stimmführerin der Bratschen, mit ihren kernigen solistischen Interventionen das Bild wesentlich prägte. Überhaupt fehlte es nicht an glanzvollen Leistungen einzelner Orchestermitglieder; einmal mehr war zu begreifen, wie sehr die Wirkung des Ganzen bei der Beteiligung des Einzelnen beginnt.

Neues vom Chiaroscuro-Quartett

Mozarts «Preussische» Quartette
und Beethovens Opus 18

 

Von Peter Hagmann

 

Warum schauen sie auf dem Cover ihrer jüngsten Veröffentlichung nur so trüb in die Welt, die vier jungen Leute vom Chiaroscuro-Quartett? Hat sie die Aufnahmesitzung, hat sie der Fototermin erschöpft? Oder dachten sie an die deplorablen Lebensumstände, unter denen Wolfgang Amadeus Mozart seine «Preussischen» Streichquartette, wohl im Auftrag Friedrich Wilhelms II., in den Jahren 1789/90 komponiert hat? Keine Ahnung; Grund zu Missmut gibt es jedenfalls keinen. Das Ensemble mit Alina Ibragimova und Pablo Hernán Benedí (Violinen), Emilie Hörnlund (Viola) und Claire Thirion gehört nach wie vor zu den bedeutendsten, weil zukunftsweisenden Streichquartetten dieser Tage. Besonders fassbar wird das im Repertoirebereich der Wiener Klassik. Vor fünf Jahren begannen sie mit Joseph Haydn – und dort mit nicht weniger als den späten, anspruchsvollen Quartetten op. 76, Hob. III:75-80 (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 06.05.20 und vom 03.02.21). Sie liessen damals erleben, wie feinsinnig und berührend diese Musik klingen kann – keine Spur von Papa Haydn, keine Rede von der angeblichen Verzopftheit des Streichquartetts. Vielmehr pulsierendes Leben.

Inzwischen ist das Chiaroscuro-Quartett weitergegangen zu Ludwig van Beethoven. Hier nun allerdings nicht zu Stücken aus dem schwierigen, widerständigen Spätwerk, sondern zu den weitherum geliebten sechs Streichquartetten des Opus 18. Die Nummer 3 zum Beispiel in D-dur, die vermutlich 1798 als erstes der sechs für den Fürsten Lobkowitz komponierten Quartette entstand: leicht und hell ist da der Ton der alten, mit Darmsaiten bespannten und mit klassischen Bögen gespielten Instrumente, federnd die Artikulation, spritzig die Akzentsetzung. Was die historisch informierte Spielweise, zu der etwa der nuancierte, bewusste Gebrauch des Vibratos gehört, an Gewinn einbringt, es ist etwa an den liegenden Dreiklängen zu hören, die mit ihrer Schönheit ganz unerhört in die Ohren dringen – so ist es eben, wenn solche Akkorde mit geraden Tönen gespielt werden und im Zusammenklingen perfekt austariert sind. Wunderbar ausschwingend zudem die Kantilenen der Primgeige, die sich mit unaufdringlichem Espressivo und zartem Rubato über die von den drei anderen Instrumenten gebildete Harmonie legen.

Und nun also Mozart, der zusammen mit Haydn dem jungen Beethoven so viel Respekt vor dem Streichquartett abgenötigt hat. Rückt das Chiaroscuro-Quartett das Opus 18 Beethovens klanglich in die Nähe zu Haydn, so gibt es die «Preussischen» Streichquartette Mozarts in selbstbewusstem, ja stolzem, festlichem Klang. Natürlich herrscht auch hier, in der Auslegung der drei Quartette in D-dur (KV 575), B-dur (KV 589) und F-dur (KV 590), letzte Genauigkeit gegenüber dem Notentext. Und lebt eine Kultur des Zusammenspiels, in der bei allem klanglichen Ausgleich die vier Stimmen ihre je eigene Individualität pflegen. Auffällig ist aber auch, wie sich das Quartett in der Auseinandersetzung mit Mozart vom streng durchgehaltenen Puls emanzipiert und sich, auch das ist historisch legitim, Freiheiten in der Tempogestaltung nimmt, die wesentlich zur Vitalität des musikalischen Geschehens beitragen – ausserordentlich spannend ist das. In der allgemeinen Wirksamkeit der Musik Mozarts stehen die Streichquartette, wie übrigens auch die Lieder, in einem hinteren Glied. Zu Unrecht, wie die anregende Lektion mit dem Chiaroscuro-Quartett lehrt.

Wolfgang Amadeus Mozart: Die «Preussischen» Streichquartette in D-dur (KV 575), in B-dur (KV 589) und in F-dur (KV 590). Chiaroscuro-Quartett. BIS 2558 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2022)

Ludwig van Beethoven: Sechs Streichquartette op. 18. Chiaroscuro-Quartett. BIS 2488 und 2498 (2 CD, Aufnahme 2019, Publikation 2021)

Joseph Haydn: Streichquartette op. 76. Chiaroscuro-Quartett. BIS 2348 und 2358 (2 CD Aufnahmen 2017 und 2018, Publikation 2020)

Zweimal sieben Todsünden

Brecht und Weill in Biel und Solothurn

 

Von Peter Hagmann

 

Christiane Boesiger in Solothurn (Bild Suzanne Schwiertz, Konzert-Theater Biel-Solothurn)

«Die sieben Todsünden» von Kurt Weill auf einen Text von Bertolt Brecht aufzuführen – was für eine gute Idee. Dieter Kaegi, der Intendant von Theater-Orchester Biel-Solothurn, dem es an guten Ideen bekanntlich nicht fehlt, hatte sie. Gut ist die Idee, weil das Stück, weder Schauspiel noch Oper, sondern ein Ballett mit Gesang, sehr selten auf den Spielplänen erscheint – wo es in seiner ganz eigenartigen Gegenwärtigkeit doch das Gegenteil verdient hätte. Allein, der guten Idee widersetzen sich Schwierigkeiten, denn wie soll sich die halbe Stunde, in der «Die sieben Todsünden» verhandelt werden, zu einem tragfähigen Abend werden? Mit anderen Worten: Was soll dazugestellt werden? Auch zu solchen Fällen hat es in Biel und Solothurn schon gute Ideen gegeben, unvergessen zum Beispiel «La notte di un nevrastenico», ein hinreissender Spass von Nino Rota, vor Puccinis «Gianni Schicchi» (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 04.01.17). Diesmal aber entschieden Dieter Kaegi und der von ihm engagierte Regisseur Olivier Tambosi, dass nichts dazukommen soll. Dafür wird das Stück zweimal gespielt, einmal in der deutschen Originalsprache, einmal in einer Übersetzung ins Englische.

Das ist eine ebenso aufschlussreiche wie witzige Anspielung an die Rezeptionsgeschichte der «Sieben Todsünden». Tatsächlich geriet die Pariser Uraufführung von 1933 zum Misserfolg; der im Original gegebene Text blieb dem Grossteil des Publikums unverständlich. Weshalb schon rasch eine neue Fassung in den Blick genommen wurde, eine den Zeitläuften entsprechend in englischer Sprache. Beim Zuhören anlässlich der Premiere im Stadttheater Solothurn entstand der Eindruck, dass sich das Englische besser, wenigstens müheloser, mit der Musik Weills verbindet als das für Brecht kennzeichnende, etwas kantige Deutsch. Dafür kommt bei der Begegnung mit dem ursprünglichen Text die unzweideutige Botschaft Brechts mit ihrer Aktualität kraftvoller zur Geltung als im Englischen, wo sich eine wohlige, leicht verharmlosende Musicalatmosphäre einstellt – was vielleicht auch auf die reduzierte Fassung von HK Gruber und Christian Muthspiel mit ihren Anklängen an den Ton der «Dreigroschenoper» zurückgeht. Wer vorwärtskommen will, so die Maxime der von Brecht in seinem Stücktitel ausdrücklich angesprochenen Kleinbürger, muss kompromisslos Fleiss zeigen, keine Zeit für Gefühle verschwenden, sein Selbstgefühl unter den Scheffel stellen und erfüllen, was die Umgebung wünscht – es könnte von heute sein. Zum Beispiel, umgelegt auf Medien aller Art: Klickzahl als Zeichen der Anpassung an den Publikumsgeschmack vor Qualität des Produkts und der Aussage.

Um die Botschaft auf der Bühne fassbar zu machen, hat Brecht in die Trickkiste gegriffen. Im Zentrum steht Anna, die von ihrer Familie im armen Süden der Vereinigten Staaten auf eine Reise in den Norden geschickt wird, um Geld für den Bau eines eigenen Häuschens zu erwirtschaften. Die Familie ist von brutaler Zielgerichtetheit, weshalb sie Männerstimmen gesungen wird (Remy Burnens, Konstantin Nazlamov, Félix Le Gloahec und Jean-Philippe McClish bewältigen das blendend). Anna wiederum ist aufgeteilt auf zwei Figuren, auf Anna I, die den Katalog der Todsünden verkörpert, und Anna II, die diesen Todsünden noch so gerne nachlebt, von ihrer Schwester aber immer wieder in den Senkel gestellt wird. In Analogie zur Besetzung der vier Familienmitglieder werden die beiden Annas von einem Mann wie einer Frau verkörpert, wobei die Rollen in der Wiederholung des Stücks gewechselt werden. Das schafft erheiternde Wirkung. Zu Beginn, während die fünfzehn Mitglieder des Sinfonieorchesters Biel-Solothurn unter der Leitung von Iwan Wassilevski mit Schwung zur Sache gehen, bleibt der Vorhang geschlossen. Ein weiss geschminktes Frauengesicht schiebt sich durch den Spalt und singt das eröffnende «Lied der Schwester». Nur, so gleich die Frage, hat Christiane Boesiger inzwischen eine so tiefe, verrauchte Diseusenstimme?

Natürlich nicht. Es ist Christian Manuel Oliveira, der noch unsichtbar das «Lied der Schwester» singt, während Christiane Boesiger bloss die Lippen bewegt, das aber in derart perfekter Übereinstimmung tut, dass man unversehens ins Spiegelkabinett der kleinbürgerlichen Todsünden hineintaumelt. Im ersten Durchgang, auf Deutsch, erscheint Christian Manuel Oliveira als Anna I und zeigt, dass er nicht nur zu agieren, sondern auch zu singen versteht. Erst recht gilt das für Christiane Boesiger, die diese Aufgabe im zweiten Durchgang übernimmt und dabei mit ausgezeichnet verständlichem Englisch und gepflegtem kleinem Vibrato auffällt. Anna II dagegen ist als stumme Rolle anwesend; die Partie, so wollten es Brecht und Weill, so mussten sie es 1933 der Umstände wegen wollen, ist für eine Tänzerin gedacht, was in der Produktion von Biel und Solothurn nicht beim Wort genommen wird. Hier schlägt vielmehr die Stunde von Olivier Tambosi, der sich nicht nur als Regisseur, sondern auch Bühnenbildner eingebracht hat. Elegant arbeitet er mit verschiebbaren Transparenten, was auf den kleinen Bühnen der beiden Häuser Raum lässt, aber auch diskret auf die Schrifttafeln in Brechts Epischem Theater verweist. Hochbeschäftigt sind die Protagnisten wie die Familie, deren Mitglieder den Nibelungen gleich Würfel um Würfel zum Bau des Häuschens herbeischleppen. Das alles in einer zirkusartigen Umgebung, wie sie die Kostümbildnerin Lena Weikhard in grellen Farben herausstellt. Die Doppelbödigkeit, ja der Zynismus von Brechts Vorlage findet darin adäquate Spiegelung.

Rausch und Bogen

Krystian Zimerman spielt Karol Szymanowski

 

Von Peter Hagmann

 

Was für ein Flügel. Ob es wie üblich sein eigener, auch eigenhändig betreuter war? Wie auch immer, als Krystian Zimerman im Juni dieses Jahres ins japanische Fukuyama reiste, um sich dort der wunderbaren, leider viel zu selten gespielten Musik seines Landsmannes Karol Szymanowski (1882-1937) zu widmen, war Steinway & Sons zur Stelle, im Booklet zur jüngsten CD-Veröffentlichung des polnischen Pianisten wird mit speziellem Dank darauf hingewiesen. Es ist also anzunehmen, dass die hohen Anforderungen, die Zimerman ans Instrument stellt, erfüllt worden sind – zumal es ganz danach klingt. Obertonreich und entsprechend hell der Ton, fulminant und orchestral die Bässe, brillant die Präsenz in ihrer Mischung zwischen Direktheit und Räumlichkeit – wozu die akustisch von Yasuhisa Toyota konzipierte Fukushima Hall of Art & Culture, aber natürlich auch die Tontechnik aus den Emil Berliner Studios das Ihre beigetragen haben. Das ist ein Erlebnis eigener Art.

Welche Bedeutung all dem zukommt, wird ohrenfällig im zweiten Schritt der vierteiligen CD. Dort stehen von Karol Szymanowski die «Masques» op. 34 an. Zimerman hat die drei Charakterstücke aus der Zeit des Ersten Weltkriegs schon 1994 in einer Aufnahme festgehalten, die jedoch nie erschienen ist. Für die Einspielung im Kopenhagener Tivoli stand ein ebenfalls sehr ordentlicher Flügel zur Verfügung, nur fehlt seinem Klang viel von dem, was die Besonderheit des Instruments in Fukuyama ausmacht. Etwas enger, im Fortissimo etwas angestrengt erscheint das Klangbild – und gerade Fortissimo braucht es hier reichlich. In «Tantris le Bouffon», dem mittleren der drei Stücke, denkt Szymanowski die Figur des Tristan weiter, der sich seiner Isolde zunächst als Tantris vorstellt. Gefordert sind hier anforderungsreiches Laufwerk, Kraftentfaltung und ein hohes Mass an Koloristik – Krystian Zimerman bietet das alles hinreissendem Mass. Auch für Scheherazade in Nummer eins, die vorliest und zugleich um ihr Leben fürchtet, wie für den grossspurigen, die Gitarre für sein Ständchen stimmenden Don Juan hat Zimerman alle Sympathie.

Nur eben: der Flügel. Die Differenz fällt auf, wenn man die «Masques» von den vier Préludes aus op. 1 her erreicht. Staunenswert, was dem 18-jährigen Komponisten in seinem Erstling gelungen ist; die Anklänge an das grosse Vorbild Chopin sind nicht zu überhören, das Aufkeimen der eigenen Handschrift aber ebenso wenig. Und Zimerman, der leider etwas vernehmlich mitsingt, schenkt diesen frühen Werken seine ganze Liebe. In den vier Beispielen aus den Mazurken op. 50 von 1924/25 ist dann eindrücklich zu erleben, in welche Richtung Szymanowski unter dem Einfluss impressionistischer Anregungen seine Handschrift weiterentwickelt hat. Vielleicht braucht es etwas Zeit, bis man dieser Musik näherkommt, Krystian Zimerman hilft einem dabei aber mit seinem Einfühlungsvermögen und seiner einzigartigen Kunst. Erst recht gilt das für für die Variationen über ein polnisches Volkslied op. 10 aus den Jahren 1900 bis 1904, ein erstaunliches Frühwerk, das in seiner Grundhaltung bei der von Béla Bartók und Zoltán Kodály gepflegten Auseinandersetzung mit der autochthonen Volksmusik anschliesst. Welch ganz eigenen Weg Szymanowski schon hier einschlägt, wie exzessiv er das Rauschhafte in der Musik pflegt und wie er zugleich einen geradezu dramaturgisch wirkenden Bogen über die zehn Variationen schlägt, in Krystian Zimermans formidabler Auslegung kommt es bester Geltung.

Karol Szymanowski: Préludes op. 1 (Auswahl), Masques op. 34, Mazurken op. 50 (Auswahl), Variationen über ein polnisches Volkslied op. 10. Krystian Zimerman (Klavier). Deutsche Grammophon 4863007 (CD, Aufnahmen 1994 (Masques) und 2022, Publikation 2022)