«I muess rede, süscht wurgets mr d Seel ab»

«Marie und Robert» von Jost Meier als Uraufführung im Stadttheater Biel

 

Von Peter Hagmann

 

Geani Brad (Robert) und Leila Pfister (Marie) im Stadttheater Biel / Bild Frances Marshall, Theater Orchester Biel Solothurn

Marie liebt Robert, geht dann aber auf Nummer sicher und heiratet den begüterten, einflussreichen Theophil. Robert wiederum liebt Marie, leidet jedoch an seinem unterlegenen sozialen Status als Arbeiter, an seinem schlechten Lohn und der damit verbundenen Zurücksetzung. Theophil schliesslich ist so eifersüchtig auf Robert, dass er ihn die Macht des Gläubigers spüren lässt und ihn mit steigenden Zinsforderungen in die Enge treibt. Marie will Robert mit Geld ihres Mannes helfen, Theophil entdeckt die beiden und wird von Robert erschlagen. Als einzige Zeugin beteuert Marie vor Gericht, dass es sich um einen Unfall gehandelt habe, und legt einen falschen Eid ab. Endlich vereint, kommen die beiden aber nicht zusammen; zu viel steht zwischen ihnen.

Der Plot ist so gut, dass er wahr sein könnte. Er stammt aus «Marie und Robert», dem Drama des früh verstorbenen Aargauer Pfarrers, Lehrers und Schriftstellers Paul Haller, dem bedeutendsten Vertreter des Naturalismus in der Schweiz. Unglaublich stark ist dieser Text, wenn auch nicht einfach zu lesen. Er ist in einem pointierten Schweizer Dialekt geschrieben, der in seiner schriftlichen Form einiges an Entschlüsselung verlangt. Vielleicht aber wirkt das Stück gerade darum so direkt, so eindringlich. Es rufe förmlich nach Musik, fand Dieter Kaegi, der Intendant des «Theater Orchester Biel Solothurn», wie sich die kleine, aber äusserst lebendige Oper in der Schweizer Uhrenmetropole Biel heute umständlich genug zu nennen hat. In Jost Meier hat er den lange gesuchten Komponisten gefunden – den genau richtigen, denn nicht nur hat der 78-jährige Musiker in Biel als Orchestergründer und Chefdirigent eine wichtige Rolle gespielt, als eingefuchster Theaterpraktiker weiss Meier auch, wonach die Bühne verlangt.

So wurde «Marie und Robert» denn von Hans Jörg Schneider, dem bekannten Schweizer Schriftsteller, einem langjährigen Freund und Mitstreiter des Komponisten, in ein Libretto umgeformt – und dabei ins Hochdeutsche übersetzt. So sehr man das im Hinblick auf die Verbreitung der Oper verstehen kann, so sehr muss man es bedauern. Höhepunkt der als Ganzes grandiosen Uraufführung im Stadttheater Biel war nämlich ein Monolog, in dem das Innere Roberts zu sprechen beginnt: «I muess rede, süscht wurgets mr d Seel ab.» Ja, die Stelle ist im originalen Dialekt geblieben, sie ist als Melodram eingerichtet, als gesprochener Text zu instrumentaler Musik, und vorgetragen wird sie von einem jungen Mädchen in unschuldigem Weiss (die Kostüme stammen von Katharina Weissenborn). Mit welchem Selbstbewusstsein, welcher Souveränität und welcher Ausstrahlung Shirin Patwa das tat, gehört zum Erstaunlichsten an diesem Abend. Zu spüren war aber auch, wie viel auf dem Weg vom Drama zum Libretto und vom Dialekt zur Schriftsprache verloren gegangen ist.

Das gilt auch für einzelne Figuren. Frau Schödler zum Beispiel, die Mutter des Titelhelden, ist bei Haller nicht bloss die am Alter leidende Frau, als die sie das Libretto zeigt, sondern auch eine arge Strippenzieherin, die das Geschehen mit hinterhältigem Nachdruck in ihrem Sinn zu lenken versucht. Und in ihrem Sinn wäre es, wenn sie bis ans Ende ihrer Tage in dem Häuschen verbleiben könnte, das die Erbschaft ihres verstorbenen Gatten darstellt, und wenn sie ihren Sohn, der lieber nach Amerika auswandern und ein neues Leben beginnen möchte, bei sich behalten könnte – weshalb sie Marie als ihren Köder mit Worten umgarnt. Tritt dieser Zug in Haller Stück als dramaturgisches Movens klar und deutlich heraus, geht es im Libretto weitgehend verloren; die Figur verliert damit an Prägnanz – das ist der Preis der Raffung, die der Operntext verlangt. Einiges davon kompensiert Franziska Hirzel, welche die Partie dieser bösen Mutter stimmlich grossartig meistert, durch ihre starke, anhaltende Bühnenpräsenz.

Und das trotz der etwas zu bewegungsreichen Inszenierung Reto Nicklers. Geschickt gelöst hat der Bühnenbildner Christoph Rasche die fast filmisch raschen Wechsel zwischen Innen und Aussen. Und der (von Valentin Vassilev vorbereitete) Chor ist so schwarz gekleidet und geschminkt, dass er beinah im Hintergrund verschwindet. Allerdings setzt die Produktion das Stück von 1916 ins Umfeld des Landesstreiks vom Herbst 1918. Das hat insofern seine Plausibilität, als der Unmut der Arbeiterschaft nicht erst 1918 auf einen Schlag ausgebrochen ist, sondern sich in den Jahren zuvor schon aufgestaut hat. Die in die Oper einmontierten Zitate von General Wille und dem späteren SP-Bundesrat Nobs wirken aber anachronistisch. Zudem wird mit zwei dem Werk angefügten Sätzen ein in seiner Direktheit nicht unproblematischer Zusammenhang zwischen der innerlich zerrissenen Hauptfigur und dem Suizid ihres Erfinders Paul Haller im Frühjahr 1920 hergestellt.

Solcher Einschränkungen zum Trotz bietet «Marie und Robert» Stoff für einen ausnehmend anregungsreichen Abend. Die Musik Jost Meiers, im weitesten Sinn avantgardistischen Idiomen verpflichtet, arbeitet mit fasslichem Klang, was auch das Sinfonie-Orchester Biel unter der Leitung seines Chefdirigenten Kaspar Zehnder hörbar macht. In eindringlichen Farben erzählt sie die schauerliche Geschichte. Und Leila Pfister (Marie), Geani Brad (Robert) sowie Boris Petronje (Theophil) sorgen mit ihrem Können und ihrem Engagement dafür, dass diese Dreiecksbeziehung zu ihrer fatalen Erfüllung findet. Ob Robert mit seinen aufgehäuften Schuldgefühlen tatsächlich als Schweizer Wozzeck gesehen werden kann, wie an der Premiere gesagt wurde, mag dahingestellt bleiben. Tatsache ist aber – und darauf verweist nicht zuletzt der von Konstantin Nazlamov virtuos gezeichnete Auftritt des aalglatten Immobilienhändlers Müller –, dass die Thematik des Stücks in ganz ausserordentlicher Weise mit unseren Tagen zu tun hat.

Der Tod als ein Stück Leben

Verdis «Traviata» am Theater Basel

 

Von Peter Hagmann

 

 

Corinne Winters als Violetta in Basel / Bild Sandra Then, Theater Basel

Fast trotzig, jedenfalls recht energisch – und energischer, als es einer Sterbenskranken anstünde – hebt Violetta im dritten Akt von «La traviata» ihr eigenes Grab aus. Natürlich nicht in ihrem Schlafzimmer, sondern auf einem Friedhof, und der besteht in der neuen Basler Produktion von Giuseppe Verdis Oper aus regelmässig aufgereihten Matratzen; an deren Kopfenden legen die Teilnehmer am Karnevalsumzug, der gewöhnlich nicht sichtbar wird, hier aber als Gemeinschaft von Trauernden über die Bühne zieht, Blumengebinde und Totenkerzen nieder. Rabenschwarz ist dieses Ende – aber doch nicht ganz so finster, wie es der Komponist und sein Librettist Francesco Maria Piave erdacht haben. Violetta nimmt nämlich ihre letzten Worte ernst; sie steht zwar im Grab, deutet aber an, dass sie ins Leben zurückkehre und darob in Freude ausbreche – und so hält sie bis zum Schluss ihre Arme hoch und die Augen leuchtend offen. Der Tod als ein Stück Leben, als ein Abschluss in Frieden, nachdem sie den Mann, mit dem sie die Urgewalt der Liebe entdeckt hat, noch einmal hat an sich drücken können.

Das ist so berührend wie alles, was Corinne Winters an diesem denkwürdigen Abend im Stadttheater Basel über die Rampe bringt. Der Regisseur Daniel Kramer entwickelt seine Inszenierung für das Theater Basel – sie wird im nächsten Frühjahr an die English National Opera London weitergehen – aus aus der Protagonistin heraus, indem er das Geschehen am Körper und am Singen der Darstellerin aufzäumt. Wie in Claude Debussys Oper «Pelléas et Mélisande», in der sie 2016 im Opernhaus Zürich mit einer überraschenden, ja schockierenden Auslegung der weiblichen Titelfigur von sich reden machte, ist Corinne Winters in Verdis «Traviata» nicht das blasse, fragile, von der Tuberkulose gezeichnete und darum von heftigen Stimmungsschwankungen heimgesuchte Mädchen, als das sie gerne gesehen wird. Im ersten Akt erscheint ihre Violetta kraftvoll, geradezu sonnengebräunt. Mit Lust stürzt sie sich in die ziemlich wüste Party, die Lizzie Clachan (Bühne) und Esther Bialas (Kostüme) in einem reich bestückten, chromblitzenden, rundum verspiegelten Salon arrangieren. Und wenn sie das von Alfredo angestimmte Brindisi aufnimmt, geschieht das mit einigem Applomb. Umso bestürzender wirkt der Moment, da sie sich im Spiegel erblickt und die Züge der Krankheit erkennt.

Was für einen Kontrast dazu bietet der zweite Akt. Hier dominiert nicht der Schein, hier geht es allein um das Sein: um die Liebe in ihrer ganzen Wahrhaftigkeit. Darum ist die Drehbühne vollkommen leergeräumt. Im Zentrum ein simples Doppelbett, das sich sanft wie eine Schaukel hin- und her bewegt. Links eine Reihe Blumen, die an den originalen Spielort erinnern: an ein Landhaus in der Nähe von Paris. Sowie ein kleines Erdloch mit Häufchen, wie es dann etwas grösser im Finalakt erscheinen wird – aber nicht ein Miniatur-Grab, sondern die Stelle, an der Alfredo eine Pflanze einsetzt: eine Pflanze der Hoffnung. Pavel Valuzhyn gibt den scheuen jungen Mann ebenfalls ganz aus seiner Erscheinung und seinem Timbre heraus. Wenn er will und soll, findet er zu einem strahlenden, auch warmen und geschmeidigen Forte. Häufiger hält er sich jedoch, das verlangt sein Rollenporträt, in tieferen dynamischen Bereichen auf – und da hat er einiges an seidiger, hauchiger Klanglichkeit zu bieten. Allerdings sind die beiden dynamischen Bereiche nicht wirklich miteinander verbunden; bisweilen klingt es, als träte der Sänger mit zwei Stimmen auf.

Für Ivan Inverardi in der Rolle des Giorgio Germont gilt das nicht. Mit seinem Kreuz, das er sich über die Kravatte gelegt hat, erscheint er ganz und gar als der gestrenge, um nicht zu sagen: bösartige Vater Alfredos. Sängerisch steht sein Auftritt klar in der italienischen Tradition: majestätisch der Bariton, ausgeprägt das Vibrato, geschmackvoll die Portamenti. Szenisch allerdings ist die Figur wohl doch zu einseitig gezeichnet. Dass bei diesem älteren Herrn, was Violetta betrifft, noch anderes als normatives Denken und Egoismus mitspielen könnte, wird nicht einmal angedeutet – wie auch der Konflikt zwischen Vater und Sohn einigermassen handzahm bleibt, trotz der Spucke, die Alfredo seinem Vorfahren auf die Wange wirft.

Corinne Winters freilich, sie findet in dieser Landhaus-Szene zu sich selbst – vielleicht gerade darum, weil sie keine Arie hat, vielmehr stets im Dialog agiert und daraus besondere Energie gewinnt. Ihre Stimme ist eher dunkel gefärbt und hat einen sicheren Anker in einer wohlgestützten Tiefe. Mühelos steigt sie von dort in die Höhe, die Register sind ganz hervorragend ineinander übergeführt, ihr Legato ist von exzellenter Dichte, während das farbliche Spektrum, das sie in der Mittellage auszubreiten vermag, betörende Richesse zeigt. Dazu kommen die Durchdringung einer Partie, für die sie mittlerweile zwischen London, Hongkong und Melbourne gesucht ist, und eine einzigartige Identifikation mit ihr. Wie sie das Schwinden des Widerstands gegen die grenzüberschreitenden Forderungen von Vater Germont spüren lässt, ist schon bewegend genug; wie sie unmittelbar vor der erzwungenen Trennung von Alfredo ihren Geliebten noch einmal um eine Versicherung seiner Liebe bittet, bildet aber fraglos den emotionalen Höhepunkt des Abends – da werden nur wenige Augen trocken geblieben sein.

Der Moment wirkt auch so stark, weil er aus dem Graben durch eine Empathie sondergleichen gestützt ist. Am Pult steht Titus Engel. Eher als Spezialist für neue Musik bekannt, 2016 in Basel gerühmt für die musikalische Leitung in der grandiosen Produktion von Karlheinz Stockhausens «Donnerstag aus Licht», dirigiert er Verdis «Traviata» zum ersten Mal. Fast scheint es, als sei für den Dirigenten damit ein Herzenswunsch in Erfüllung gegangen, denn auch er dringt mit aller Hinwendung in die Partitur ein. Er hält das Basler Sinfonieorchester, das ihm in seltener Einmütigkeit folgt, diskret präsent und sorgt für manch überraschenden instrumentalen Akzent. Vor allem aber entwickelt er äusserst stimmige Tempi und griffige rhythmische Verläufe; selten wird so deutlich, dass «La traviata» über weite Strecken im Dreiermetrum geschrieben ist. Nicht zuletzt atmet er sorgsam mit den Sängern und bietet ihnen damit die Basis, auf der sie sich entfalten können: ein geborener Maestro concertatore.

Brutal dann der Umschlag im zweiten Bild des zweiten Akts, wo es zurück geht in einen Pariser Salon, diesmal den von Flora Bervoix (Kristina Stanek), und wo es zum dramatischen Höhepunkt kommt. Sehr bühnenwirksam, dass das Bett der Landhaus-Szene nun der Spieltisch wird, auf dem die Scheine noch und noch zu Alfredo wandern und auf dem er Violetta schliesslich das gewonnene Geld ins Gesicht schleudert. Und effektvoll, wie genau in diesem Moment der Vater dasteht. Das zeugt von Handwerk – genau gleich, wie der überdrehte Auftritt des übrigens hervorragenden, inzwischen von Michael Clark geleiteten Chors viel Sinn für verspielte Ironie erkennen lässt.

Mit Mozart in Las Vegas

«Don Giovanni» in Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Glitzerwelt, gespiegelt / Bild Konzert-Theater Bern, Philipp Zinniker

Die Überraschung kommt am Schluss. Die «scena ultima» nämlich, das Sextett, das üblicherweise auf die Höllenfahrt Don Giovannis folgt, ist kurzerhand gestrichen. In der neuen Produktion von «Don Giovanni», die das Konzert-Theater Bern jetzt im Stadttheater zeigt, endet die Oper Wolfgang Amadeus Mozarts mit dem Untergang oder vielmehr der Selbstauflösung der Titelfigur, nicht mit jenem der Tradition der Opera buffa geschuldeten Ensemble, in dem die Welt wieder zurechtgerückt wird. Das hat seine Logik. Während die Oper in der Regel als Mischung aus ihren beiden Versionen von Prag (1787) und Wien (1788) gezeigt wird, versucht das Berner Haus, sich auf die Wiener Fassung zu konzentrieren – und tatsächlich fehlt im gedruckten Libretto aus Wien die «scena ultima». Don Ottavio singt in Bern denn auch nur eine einzige Arie, nämlich «Dalla sua pace» im ersten Akt, und nicht auch noch im zweiten Akt «Il mio tesoro» aus der Prager Fassung. Ausgelassen ist allerdings auch hier die Begegnung zwischen Zerlina und Leporello, die Mozart für Wien nachkomponiert hat.

Ganz selbstverständlich ergibt sich der Verzicht auf das abschliessende Sextett auch aus der fabelhaft durchdachten und tadellos umgesetzten Inszenierung, die der in der Branche noch nicht sehr bekannte Südafrikaner Matthew Wild entwickelt hat. Das Stück spielt bei ihm in Las Vegas, woran die Bühne von Kathrin Frosch und die Kostüme von Ingo Krügler niemanden im Zweifel lassen. Zumal alles sehr genau zu sehen ist – denn wie sich der Vorhang öffnet, wird nicht nur die Spielfläche sichtbar, sondern auch ein riesiger, schräg über die gesamte Bühnenbreite gespannter Spiegel. Da sitzen sie denn an scheppernden Automaten, Häschen servieren Drinks, und wenn es ans Heiraten geht, fehlt es nicht an Cowboy-Stiefeln und den dazu passenden Hüten, an kitschigem Mobiliar und erregtem Trippeln (der von Zolt Czetner vorbereitete Chor tut da amüsant mit). Don Giovanni ist nicht so sehr ein Macho als vielmehr ein Dandy am Ende seiner Laufbahn. An Geld fehlt es ihm nicht, und weil es ihm daran nicht fehlt, nimmt er sich eine nach der anderen – Amerika, ein Präsident und ein Filmproduzent lassen grüssen. Für dieses sein Leben braucht er allerdings laufend einen Kick mehr, weshalb er sich seine Dosen Koks immer häufiger und hastiger in die Nase zieht. Am Ende fährt er nicht zur Hölle, denn da ist er schon; er besteigt vielmehr den silbernen Pegasus in seinem Casino und entflieht gen Himmel.

Todd Boyce, mit seinem hellen, leicht metallisch gefärbten Bariton, seiner agilen Gestaltungskraft und seinem blendenden Aussehen eine Idealbesetzung für die Partie des Don Giovanni, bildet das Epizentrum eines Abends, der nur so vorüberfliegt. Der zugleich aber von zahlreichen dramaturgisch sinnvollen wie sorgsam ausgearbeiteten Einzelheiten lebt. Sie stehen alle im selben Zeichen: in jenem der erstarkten Frau. Anna, Elvira, Zerlina – sie sind keine Opfer eines Grapschers, oder nicht nur, sie wissen auch genau, was sie wollen. Und sei es eben einen Mann wie Don Giovanni. Anna zum Beispiel wurde nicht verführt, sie verführte, ein mit versteckter Kamera in einem Hotelzimmer aufgezeichnetes Video bringt es an den Tag. Im Zuschauerraum weiss man davon, weil das Register, aus dem Leporello (Michele Govi) zu Beginn der Oper vorträgt, nicht als das übliche Büchlein gezeigt wird, sondern als ein Stapel Kartonschachteln mit Videokassetten. Und zufällig steht auf der Bühne ein Abspielgerät mitsamt Bildschirm bereit – so dass sich Ottavio seine Zweifel an Annas unendlich wiederholten Beteuerungen eins zu eins bestätigen lassen kann. Er nimmt es als der Gentleman, der er an diesem Abend ist.

In der Tat erscheint Ottavio, Andries Cloete formt da wieder eine seiner durchs Band packenden Bühnenfiguren, nicht als der weinerliche Antiheld, zu dem er so oft wird, nein, der vornehm gelassene Adlige bleibt ganz sich selbst – auch in jenem Moment, da er das diskriminierende Video mit einem raschen Griff ins Bandmaterial unbrauchbar macht. Anna wiederum ist nicht die der Opera seria entstiegene Leidensfigur, sondern eine Frau, die eben erwacht ist und nun gegen ihr loderndes Begehren ansingt – Elissa Huber bringt das glaubwürdig zur Geltung. Nicht weniger fasslich die sitzengelassene Elvira, der Evgenia Grekova keine hysterischen Züge verleiht, der hier vielmehr eine verletzliche und verletzte Seite zugestanden wird. Und dann die Zerlina von Eleonora Vacchi: ein hochschwangeres Temperamentsbündel, das ihren etwas waschlappigen Masetto – das liegt nicht an Carl Rumstadt, sondern an der Partie – am liebsten einmal kräftig durchschütteln würde. Bemerkenswert auch der Commendatore, den Young Kwon mit einer für diese Rolle auffallend leichten, aber mit Durchschlagskraft versehenen Stimme gibt: ein Mann, ein Mensch, keine Statue.

Sehr schön ist das Personal in dieser Produktion gezeichnet. Und auf durchwegs hohem Niveau wird das szenische Konzept umgesetzt: von Darstellerinnen und Darstellern, die fast alle fest dem Haus verbunden sind; sie zeugen davon, dass der Ensemblegedanke leben kann – wenn Besetzung und Geist stimmen. In diesen Kontext gehört auch das Berner Symphonieorchester, das am Premierenabend ausgezeichnete Eindrücke hinterliess. Kevin John Edusei, Chefdirigent im Bereich des Musiktheaters und fraglos ein Mann mit Zukunft, liess erkennen, worin der Mozart-Ton unserer Tage besteht: in flüssigen Tempi (überraschend schon in der Ouvertüre) und einem Zug, der jenem der Inszenierung entsprach, in griffiger Phrasierung, ja überhaupt deutlich herausmodellierten Ausdruckszuständen und in einem aufgehellten, farbenreichen Klang, zu dem auch das von Anne Hinrichsen gespielte Hammerklavier gehörte.

Das Leben – zwischen Traum und Wirklichkeit

«Eugen Onegin» von Peter Tschaikowsky zur Saisoneröffnung am Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Am Ende: Peter Mattei (Onegin) Und Olga Bezsmertna (Tatjana) aif der Zürcher Opernbühne / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

 

Was für ein unglaublich gutes Stück – das darf an dieser Stelle zuallererst festgehalten werden. Die Geschichte um den schon etwas in die Jahre gekommenen, ortlosen Onegin, einen Vertreter der obersten Gesellschaftsschicht im zaristischen Russland, und die junge, schwärmerisch veranlagte, in die Welt der Bücher versunkene Tatjana, die beide einander je zum falschen Zeitpunkt begehren, könnte spannender nicht ausfallen – dass «Eugen Onegin» in einer Gegenwart des ausgehenden 19. Jahrhunderts lebt, spielt da absolut keine Rolle. Und die Musik von Peter Tschaikowsky, die in aufgeklärten Kreisen über Jahrzehnte hinweg nur hinter vorgehaltener Hand geschätzt werden durfte, sie zieht die Zuhörerin und erst recht den Zuhörer machtvoll mit sich, aus dem Hic et Nunc des Alltags in ihre ganz eigene Welt, wo sich das eine mit staunenswerter Folgerichtigkeit aus dem anderen ergibt.

Jedenfalls dann, wenn einer den Taktstock führt, der mit den gedruckten Noten etwas anzufangen weiss – und genau da liegt das Problem der Eröffnungspremiere zur Saison 2017/18 am Opernhaus Zürich. Hölzern klingt die Philharmonia, einförmig in der Attacke, grobkörnig im Farbenspiel und unbelebt in den herrlichen Bögen, welche die Partitur spannt. Schon das Duett zwischen Tatjana (Olga Bezsmertna) und ihrer Schwester Olga (Ksenia Dudnikova), das den Abend eröffnet: vollkommen verschenkt. Die beiden Sängerinnen sind durch die Inszenierung unsichtbar in die Tiefe der Bühne verbannt und gehen in den Wogen des Instrumentalen unter – niemand hat hier Einspruch erhoben gegen diese unsinnige, weil unmusikalische szenische Idee, deren fatale Wirkung noch dadurch verstärkt wird, dass im Vordergrund lebhaftestes Gestikulieren die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Und wie es nicht selten geschieht, ist auch in dieser Aufführung die tiefere Stimme der Olga gegenüber der höheren der Tatjana dynamisch zurückgebunden, so dass die Terz- und Sextparallelen, die so erregend klingen können, in Schieflage geraten – niemand hat hier zugehört und sich für die notwendige Balance stark gemacht.

Dabei wäre das zum Beispiel die Aufgabe von Stanislav Kochanovsky gewesen. Mit dem jungen, in Sachen «Eugen Onegin» aber keinesfalls unerfahrenen Dirigenten aus der ehrwürdigen Musikstadt St. Petersburg erreicht die Philharmonia bestenfalls mittleres Niveau, und so misslingt leider auch die Briefszene Tatjanas, der Ausgangs- und Mittelpunkt der Oper Tschaikowskys. Fragmentiert erscheint sie, ja zerstückelt, Kochanovsky vermag die Sache nicht zusammenzuhalten. Olga Bezsmertna wiederum, die über eine jugendliche, helle Stimme verfügt, sie möchte sich hingeben an diesen grossen Moment und gestalterisch wirksam werden, das ist sehr wohl zu spüren. Aus dem Orchestergraben erhält sie aber vorab mausgraues Mezzoforte; viel zu wenig ist im Instrumentalen ausgeformt, was der Notentext suggeriert. Und ist es tatsächlich sinnstifend, wenn die Sängerin wichtige Teile der Arie mit dem Rücken zum Publikum und mit dem Kopf im Dunkeln ausserhalb eines Lichtkegels singt? Auch da hätte jemand eine Frage stellen können. Schliesslich: die Walzer. Plump klingen sie, sowohl beim ländlichen Fest der Larins als auch beim vornehmen Ball des Fürsten Gremin. Und das bei einem Komponisten, der wie kein zweiter ausserhalb der Donaumetropole energiegeladene und elegante Walzer zu Papier zu bringen verstand.

Als die Gutsbesitzerin Larina macht Liliana Nikiteanu das Beste aus der Lage, Martin Zysset gibt das Couplet des Franzosen Triquet verdienstvollerweise nicht als Knallnummer, sondern gepflegt, wohingegen Margerita Nekrasova als die Amme Filipjewna doch zu arg chargiert. Immerhin gibt es noch die Herren der Schöpfung, an die kann man sich halten. Christoph Fischesser ist ein stimmlich nobler, in seiner emotionalen Ausstrahlung äusserts berührender Fürst Gremin; dass Tatjana, inzwischen Fürstin, diesem Mann die Treue hält, hat nicht oder wenigstens nicht nur mit der materiellen Sicherheit im Hause Gremin zu tun – Fischesser vermittelt das eindrucksvoll. Pavol Breslik dagegen ist, seinem untadeligen Tenor zum Trotz, der Verlierer vom Dienst. Das liegt an der Partie des Lenski, die man nun einmal von Anbeginn an aus dem Wissen um den weiteren Verlauf heraus wahrnimmt. Man kann sie nicht recht glauben, die stürmische Hinwendung zu der sprunghaften Olga; den Zusammenbruch vor dem Duell mit seinem Freund macht Breslik aber zu einem Glanzpunkt des Abends.

Der Freund, das ist Onegin – und das ist Peter Mattei. Was für eine sagenhafte Entwicklung hat dieser Sänger durchlaufen. Seinem Don Giovanni 1998 in Aix-en-Provence schienen noch die Kanten zu fehlen, der Bariton klang weich und wolkig. Das ist Vergangenheit. Funkelndes Metall bildet inzwischen das Zentrum seines Timbres, eine grandiose Farbenpalette kleidet diesen Kern ein, und dazu kommt eine Diktion, die auf das Raffinierteste mit den Vokalen und Konsonanten arbeitet. Und dann die Vergegenwärtigung auf der Bühne. Unglaublich zunächst, wie blasiert Onegin, der gelangweilte Egozentriker, seiner Umgebung begegnet; von packender Dramatik dann der plötzliche Umschlag im dritten Akt, die Menschwerdung, die so tragisch in die Sackgasse führt. Im Vergleich zum Onegin, den Mattei 2007 mit Andrea Breth bei den Salzburger Festspielen entwickelt hat, wirkt der Auftritt in dieser Zürcher Produktion noch einmal um mehreres perfektioniert – grossartig ist das.

Ohne Zweifel geht der Eindruck, den der Sänger-Darsteller hinterlässt, auch auf die Inszenierung von Barrie Kosky zurück. Anfangs fragt man sich, ob der Überrealismus des dunkelgrünen Gartens, der an die in Luzern gezeigten Gemälde des Schweizer Malers Robert Zünd erinnern, wörtlich zu nehmen sei – die sprechenden Kostüme von Klaus Bruns legen es nahe. Je weiter der Abend voranschreitet, desto deutlicher wird aber der interpretierende Ansatz, der «Eugen Onegin» möglicherweise als eine Projektion Tatjanas, als eine aus der Vertiefung in die Lektüre gewonnene Einbildung der jungen Frau zeigen möchte. Alle Szenen spielen in diesem von hohen Bäumen umgebenen und von krautigem Gras bedeckten Garten, wie ihn die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst entworfen hat – sogar der Ball im Palast des Fürsten Gremin, für den würdige Kulissen aufgebaut und vor dem Finale wieder händisch abgetragen werden (was man nicht ohne zirzensische Spannung verfolgt). Und wie das eröffnende Duett spielt sich das entscheidende Duell zwischen Lenski und Onegin im Off ab – ein Hinweis auf szenisches Strukturdenken, das der Arbeits Tschaikowskys mit Leitmotiven entspricht. An den «Macbeth» vom Frühjahr 2016 kommt die Arbeit nicht heran, das ist auch nicht ganz einfach. Wer mag, kann sich aber auch bei dem aus der Komischen Oper Berlin übernommenen Zürcher «Eugen Onegin» an einer von unzähligen Ideen sprudelnden, witzig verspielten Theaterlust freuen – wie sie bei Barrie Kosky nun mal Sitte ist.

Neues Licht auf Schrekers «Gezeichnete»

Saisoneröffnung im Musiktheater St. Gallen – sowie in Luzern und Genf

 

Von Peter Hagmann

 

Claude Eichenberger und Andreas Conrad auf der St. Galler Bühne / Bild Iko Freese, Theater St. Gallen

Äusserst ambitioniert, was sich das Theater St. Gallen zur Eröffnung seiner Opernsaison vorgenommen hat. Nicht weniger als «Die Gezeichneten» nämlich, die inhaltlich hochkomplexe, orchestral stark besetzte, stimmlich höchst anspruchsvolle Oper, mit deren Uraufführung 1918 in Frankfurt der Österreicher Franz Schreker vollends zu einem der bedeutendsten Komponisten seiner Zeit avancierte. Das hat durchaus seine Logik. Noch in den zwanziger Jahren geriet Schreker rasch in Vergessenheit, der Machtantritt der Nationalsozialisten tat das Seinige dazu. Fünfzig Jahre später kam es dann aber zu einer bedeutenden Schreker-Renaissance, und da hatte das damalige Stadttheater St. Gallen die Nase vorn, indem es den «Schatzgräber» von 1920 ans Licht geholt und damit der Schreker-Renaissance in der Schweiz einen entscheidenden Anstoss gegeben hat. «Die Gezeichneten» sind nun allerdings eine ganz andere Nummer.

Schon allein vom Textbuch her. Von Schreker selbst geschrieben, erzählt es die Geschichte von dem Adligen Alviano Salvago, der sich, selbst von denkbar hässlicher Gestalt, im Meer vor Genua eine Insel der reinsten Schönheit erbaut hat. Nichts weiss er freilich von dem Treiben seiner Freunde, die sich genau dort Mädchen zu Diensten halten, die schönsten Töchter aus den besten Familien der Stadt. Wie Alviano das Eiland der Öffentlichkeit überlassen will, kommen die Verbrechen ans Licht und wird der edle Gönner für sie verantwortlich gemacht: zu Unrecht. Das ist die eine Niederlage. Die andere bezieht sich auf die blendend schöne und ihrer Weise ebenfalls behinderte, nämlich herzkranke Malerin Carlotta Nardi, die Alviano zur Porträtsitzung lädt und ihm Avancen macht, sich am Ende aber doch dem Anführer der adligen Mädchenschänder in die Arme wirft. «Die Liebe sei Beute des Starken», so lautet das Motto, das ausgerechnet der bucklige Alviano ausgegeben haben soll. Was man dazu wissen muss: Schreker hat seinen Text ursprünglich für Alexander Zemlinsky niedergeschrieben, der zwar ein ausgezeichneter Komponist und Dirigent, aber von hässlicher Gestalt war und darum von seiner hübschen, durchtriebenen Schülerin Alma Schindler zu Gunsten von Gustav Mahler sitzengelassen worden ist.

Antony McDonald, Regisseur und Ausstatter in einer Person, hat den ausgesprochen spannenden, vielschichtig glitzernden Stoff in einen prägnanten szenischen Verlauf gefasst. Den Buckel Alvianos nimmt man kaum wahr, auf seine Behinderung deuten eher die Probleme beim Gehen und ein blutendes Mal auf der rechten Wange. Vor allem aber ist es die Stimme des ausdrucksstarken Tenors Andreas Conrad, die der Figur ihr schauerliches Profil verleiht. Gewöhnungsbedürftig ist sie, scharf und gellend – genau so, wie sie klingen muss für einen Sänger, der bei den Bayreuther Festspielen in der Tradition von Heinz Zednik den Mime aus Wagners «Siegfried» gesungen hat. Daran ist nichts Schlechtes, es ist vielmehr hochgradig charakteristisch. Und so plastisch geformt, wie die Figur Alvianos von Schreker erdacht ist: der Verlierer, der auf einen erschreckend abfallenden Pfad gerät, ohne es zu merken, am Ende gar der Beschuldigte, schliesslich der zweifach Gedemütigte, vom Nebenbuhler wie von der Geliebten. Dass er sich zuletzt die Narrenkappe aufsetzt und dem Wahnsinn verfällt, es ist nichts als verständlich.

Gegenspieler zu Alviano sind sie eigentlich alle, in erster Linie ist es aber die undurchsichtige Malerin Carlotta. Mit Claude Eichenberger, gewöhnlich im Ensemble des Konzert-Theater Bern tätig, ist die grosse Partie in dem grossen Werk absolut treffend besetzt. Stimmlich bildet sie das reine Gegenteil von Andreas Conrad; sie verfügt über ein rundes, eher dunkles Timbre von starker Ausstrahlung und setzt es sorgfältig nuancierend ein. Dazu kommen eine makellose Textverständlichkeit und, daraus hervorgehend, die bewusste Gestaltung der vokalen Lineatur aus der Sprache heraus. Das lässt sie als eine genuine Darstellerin erkennen – als ein Theatertier, um es etwas unvornehm auszudrücken. Jedenfalls nimmt ihre Bühnenerscheinung rasch und nachhaltig gefangen. Und geht einem seltsam nah, wie diese erst kalt und schnippisch wirkende Frau im Atelier auftaut und in Grenzsituationen gerät, sich am Ende aber doch dem Grafen Tamare zuwendet, dem Schönen und Starken vom Dienst.

Gleich zu Beginn der Premiere kam es bei Claude Eichenberger zu einem Fortissimo-Ausbruch, den man aufs erste Hören als zu masslos empfunden haben mochte. Nur wenig später kam dann der Verdacht auf, dass in diesem Moment ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Pult gegangen sein könnte. Der junge Dirigent Michael Balke lässt das an sich ausgezeichnet mitwirkende Sinfonieorchester St. Gallen zu oft zu massiv in den Vordergrund treten. Klar, «Die Gezeichneten» sind eine sinfonische Oper wie «Salome» oder «Elektra» von Richard Strauss, doch muss die Kunst des musikalischen Leiters darin bestehen, eine der Struktur angemessene, fürs Hören spannende Balance zu finden – und ausserdem die farblichen Reize der sinnlich angelegten Partitur Schrekers heraustreten zu lassen. Das ging an der Premiere schon im Vorspiel daneben, weil die Kantilenen der Celli gegenüber dem flimmernden harmonischen Hintergrund viel zu deutlich herausgehoben waren, was den Zauber dieses Beginns empfindlich schmälerte. Im weiteren Verlauf des Abends kam es immer wieder zu instrumentalen Massierungen, wo diese betörende Musik doch eigentlich einen am Impressionismus Debussys orientierten Pinsel bräuchte.

Das ändert nichts daran, dass dieser aussergewöhnliche Abend in St. Gallen von einer hervorragenden Ensembleleistung getragen ist. Dabei sind die Figuren sehr genau gezeichnet, arbeitet der Regisseur zum Beispiel bewusst mit den Standesunterschieden; die Malerin Carlotta kann für den überpotenten Grafen Tamare (Jordan Shanahan gibt ihn glänzend) keine wirkliche Option, nur Opfer sein, denn sie ist eine Bürgerliche. Umgekehrt toleriert der Herzog Adorno das Treiben der adligen Männerbande, weil man unter sich ist und es dort dazugehören mag. Tomislav Lucic, der den Herrn der Stadt mit edlem Ton singt, dabei aber leider aus dem Graben bedrängt wird, lässt jedenfalls keinen Zweifel daran, dass für ihn der Bürgermeister (Martin Summer) nichts als eine weit unten stehende Marionette abgibt. Zum eigenartigen erotischen Fluidum von Schrekers «Gezeichneten» stellt sich damit ein Blick auf soziale Zustände, wie sie der Entstehungszeit des Werks geschuldet sind. Schon allein deshalb verdient der Opernabend in St. Gallen alle Aufmerksamkeit.

Berichte zu weiteren Premieren auf Schweizer Musikbühnen: Ligetis «Grand Macabre» im Theater Luzern (siehe NZZ vom 11.09.17). Drei Mal «Figaro» im Genfer Grand Théâtre (siehe NZZ vom 19.09.17)

Theater zum Hören

Lucerne Festival III – John Eliot Gardiner und die Opern Monteverdis

 

Von Peter Hagmann

 

Ein Exerzitium war das, ebenso aufschluss- wie erlebnisreich. An drei langen Abenden die drei Opern, die von Claudio Monteverdi überliefert sind, und das in strenger Kost, ohne die Wirkungen eines Bühnenbilds und ohne die Segnungen szenischer Interpretation, vielmehr ganz und gar auf die Musik konzentriert. Das war die Idee, die sich John Eliot Gardiner zusammen mit den von ihm begründeten Formationen des Monteverdi Choir und der English Baroque Soloists für den halbrunden vierhundertfünfzigsten Geburtstag des Komponisten ausgedacht – und zur Verwirklichung gebracht hat. Tatsächlich läuft das gewaltige Vorhaben seit April diesen Jahres; es macht Station in einer ganzen Reihe europäischer Städte, darunter eben Luzern.

Ohne Kompromiss

Gardiner ist nun einmal nicht Musiker allein, er wirkt auch als Unternehmer. Als sein Vertrag mit der Deutschen Grammophon auslief, dockte er nicht irgendwo anders an, sondern gründete, damals war das noch keineswegs üblich, sein eigenes Label: Soli Deo Gloria – so lautete die Zeile, mit der Johann Sebastian Bach seine Werke zu signieren pflegte. Zum dreihundertsten Geburtstag des Thomaskantors, dem er inzwischen auch ein überaus anregendes Buch gewidmet hat, brachte er dessen Kantaten zu einer Gesamtaufführung und veranstaltete damit eine Tournée durch eine Reihe bedeutender Kirchen Europas. Wenn Gardiner etwas will, will er es und bringt es auf den Punkt.

Entsprechend radikal das Monteverdi-Unternehmen – in logistischer wie in künstlerischer Hinsicht. Ein Team über fast ein Jahr für Arbeitsphasen unterschiedlicher Länge zusammenzuhalten und es bis nach Chicago und New York zu bringen, ist mit beträchtlichem logistischem Aufwand verbunden. Und unter den beteiligten Sängern waren einige, die an mehr als einem Abend in tragenden Rollen mitwirkten. Die Sopranistin Hana Blažícková zum Beispiel sang die Euridice in «L’Orfeo» sowie die weibliche Hauptrolle und die der Glücksgöttin in «L’incoronazione di Poppea» – und sie tat das mit einer hellen, überaus beweglichen Stimme und ganz selbstverständlichem Umgang mit den technischen Prämissen im Bereich der alten Gesangstechnik.

Anforderungen stellte das Monteverdi-Projekt nicht zuletzt auch ans Publikum – und da stellte sich Erstaunliches ein. Die Reihen waren dicht besetzt, die Bereitschaft, sich einzulassen und die Konzentration zu wagen, schien hoch, der Geräuschpegel hielt sich jedenfalls sehr in Grenzen, und am Ende gab es die berühmte standing ovation: das anspruchsvolle Angebot des Lucerne Festival war auf Resonanz gestossen. Wer sich den drei Werken öffnete, konnte tatsächlich eine Erfahrung der eigenen Art machen. Konnte zum Beispiel dem schöpferischen Kosmos eines Künstlers nahekommen, der vor fast einem halben Jahrtausend gelebt hat, konnte in seine musikalische Welt eintauchen und sie sich in einer Weise aneignen, wie sie im Alltag des Musikbetriebs kaum je möglich ist. Dabei konnte er ganz bewusst wahrnehmen, wie Monteverdi das Fundament baute für das, was wir heute als Oper kennen – oder anders gesagt: wie die Oper als Gattung entstand.

Sprechend singen, singend sprechen

Der frühe «Orfeo» ist noch sehr überkommenen Modellen verpflichtet. Davon zeugt der reichliche Einsatz des Chors, wovon der Monteverdi Choir mit seiner kompakten Strahlkraft glänzendes Zeugnis ablegte. Mit den Zinken, den leicht gebogenen Blasinstrumenten mit ihrem an die Trompete erinnernden Klang, und der Gruppe der fünf Posaunisten, mit den Violini piccoli und dem schnarrenden Regal für die Sphäre der Unterwelt boten die English Baroque Soloists, das ganz und gar auf seinen Dirigenten eingeschworene Ensemble, farbliche Interventionen von hohem Reiz. Aber schon in diesem Stück trat zutage, wie individuell die Figur des Orfeo gezeichnet ist. Mit seiner Kunst vermag der Sänger angriffige Tiere, ja sogar den finsteren Caronte zu bändigen, und doch ist er ein Mensch wie alle – einer mit Selbstgewissheit wie Unsicherheit. Krystian Adam brachte das mit einem etwas engen Timbre, aber hoch entwickelter Technik packend zur Geltung. Und das mit den damals neuen, von Monteverdi entwickelten Mitteln des rezitativischen Singens: mit dem Leben der Melodielinie über einem harmonisierten Bass.

Mitten in die fröhlichen Vorbereitungen zur Hochzeit von Orfeo und Euridice platzt die Botin mit der entsetzlichen Nachricht, dass die Braut einem Schlangenbiss zum Opfer gefallen sei. Was das heisst, rezitativisches Singen, und was es vermag, liess Lucile Richardot erfahren. Von einem Lautenisten begleitet, strebte sie von hinten durch den Konzertsaal des KKL auf das Podium, wo sie Schrecken und Verzweiflung auslöste – allein durch ihr Singen. Eine grossartige Künstlerin war da kennenzulernen, eine Sängerin mit einem stupenden Stimmumfang zwischen tenoraler Tiefe und zarter Höhe und eine Darstellerin von schwindelerregender expressiver Kraft. Herzerweichend sang sie im «Ritorno d’Ulisse in patria» die im Warten auf ihren Odysseus erstarrte, am Ende wieder zur Frau werdende Penelope, erheiternd in der «Incoronazione di Poppea» die Amme der ehrgeizigen Thronanwärterin.

Da sind wir im Zentrum dieser überwältigenden Operntrilogie angelangt. Nicht nur machte sie bewusst, wie gegenwärtig diese vierhundert Jahre alten Werke sind; das kindische Stampfen des narzisstischen Kaisers Nero, das der Sopranist Kangmin Justin Kim fabelhaft umsetzte, liess durchaus an einen Präsidenten unserer Tage denken. Sie führte auch exemplarisch vor, worin die epochale Leistung Monteverdis liegt. Ohne die Monodie wäre die Oper nicht geworden, was sie wurde. Und diese Art des Singens ist, wenn sie so exemplarisch ausgeführt wird, wie es in Luzern der Fall war, von einer Kraft, dass sie auch lange Abende zu tragen vermag. Im Zentrum des Ausdrucks steht, das wurde im Durchgang durch «Ulisse» und «Poppea» immer fassbarer, das Wort – das in italienischer Sprache gehaltene Wort, das an diesen drei Abenden ohne Makel ausgesprochen und weitestgehend verständlich war.

Dem Wort schmiegt sich die Musik an – und wie das realisiert wurde, war grandios. Das Ensemble der Vokalsolisten wies nicht nur Glanzlichter auf, das schon, aber alle seine Mitglieder gaben sich mit letztem Elan dem sinnerfüllten, weil eben den Text musikalisch aussprechenden Singen hin. Und das von John Eliot Gardiner mit höchster Konzentration geleitete Instrumentalensemble stand den Sängerinnen und Sängern in einer unerhört flexiblen Präzision zur Seite. Besonderen Effekt machte hier der Generalbass, der, auf zwei Seiten des Podiums plaziert, mit zwei Cembali, zwei Orgeln und vier Lauten (zum Teil unterschiedlicher Bauart) sowie einer Gambe, einem Cello und einem Kontrabass so reichhaltig wie sparsam besetzt war. Auf dieser instrumentalen Basis kamen zum Teil hinreissende vokale Momente zustande. Im «Ulisse», wo Furio Zanasi die Titelpartie mit allem technischen Raffinement versah, gelang Robert Burt ein unglaublich komischer Auftritt des Gourmands Iro und zeigte Silvia Frigato als der das Geschehen steuernde Liebesgott, was Barockgesang sein kann. Mit von der Partie waren aber auch Sänger aus dem sozusagen konventionellen Bereich – denn auf einen so klangvollen Bass wie den von Gianluca Buratto (Caronte) mag niemand verzichten.

Oper aus Musik

Alles, was die drei Abende zu Opernabenden machte, entstand allein in der Musik und aus ihr heraus. Des Szenischen war kein Bedarf. Was John Eliot Gardiner zusammen mit Elsa Rooke, dem Lichtgestalter Rick Fisher und der Kostümbildnerin Isabella Gardiner hier einbrachte, sorgte für nette Abwechslung, wirkte bisweilen aber doch recht zufällig, wenn nicht hausbacken – in der Körpersprache wurde jedenfalls nicht dieselbe Professionalität erreicht wie im musikalischen Geschehen. Das war indessen von wenig Belang, denn an den drei Abenden, an denen das Drama aus der Musik allein entstand, ging es ums Zuhören. Schon Robert Wilson hat gezeigt, wie weit das Szenische entmaterialisiert werden kann, ohne dass die dramatische Wirkung leidet. Dasselbe, wenn auch ganz anders und unter dem Strich vielleicht noch stärker, hat das Luzerner Monteverdi-Projekt erwiesen. Oper ist auch ohne Bühne Oper. Und vielleicht sogar ohne Salle Modulable.

Macht in ihrer rohen Naturform

Salzburger Festspiele III – «Lady  Macbeth von Mzensk» von Dmitri Schostakowitsch

Von Peter Hagmann

 

Gefährliche Hochzeit: «Lady Macbeth von Mzensk» in Salzburg / Bild Thomas Aurin, Salzburger Festspiele

 

Macht, das ist das Thema, das die verschiedenen Programmschienen der Salzburger Festspiele 2017 umkreisen – ein Angebot, das von so feinsinniger Zusammenstellung und so vielfältiger Anregung lebt, wie es Markus Hinterhäuser, der neue Intendant der Festspiele, nun einmal liebt. Auffallend dabei ist, dass von den fünf neuen Opernproduktionen, mit denen Hinterhäuser seine Amtszeit eröffnet, drei ganz selbstverständlich Werke aus dem 20. Jahrhundert umfassen: Neben «La clemenza di Tito» von Mozart (1791) und Verdis «Aida» (1871) treten Alban Bergs «Wozzeck» von 1925 sowie «Lady Macbeth von Mzensk» von Dmitri Schostakowitsch aus dem Jahre 1932 und später im Kalender Aribert Reimanns «Lear» von 1978.

In Entsprechung dazu setzt das Konzertprogramm zwei Akzente – zusätzlich zu der aus der kurzen Ära Pereira übernommenen, leicht umgestalteten «Ouverture spirituelle». Unter dem Titel «Zeit mit Schostakowitsch» stellt der eine Schwerpunkt konzertante Werke des bis heute nicht wirklich ins Repertoire aufgenommenen Russen an die Seite seiner frühen Oper, zum Beispiel das verinnerlichte Streichquartett Nr. 8 mit dem Hagen-Quartett, das bruchlos aus Bachs «Kunst der Fuge» hervorwuchs, oder die Symphonien Nr. 1 und Nr. 15 mit den Berliner Philharmonikern und ihrem noch amtierenden Chefdirigenten Simon Rattle. Der andere Schwerpunkt, er nennt sich «Zeit mit Grisey», geht dem Schaffen des früh verstorbenen französischen Spektralisten Gérard Grisey nach. In einem raffiniert gebauten Programm stellte etwa das von Peter Rundel geleitete Klangforum Wien Musik Griseys Werken von Giacinto Scelsi und Tristan Murail gegenüber. Hinterhäusers Programme waren und sind immer Netzwerke.

Das gilt für das Festival insgesamt und somit auch für den Opernspielplan. Die Frage nach der Macht wird da von den verschiedensten Seiten her beleuchtet. Während Mozarts «Titus» dem Absolutismus die Prinzipien der Aufklärung gegenüberstellt und sich in Verdis «Aida» zwei im Krieg miteinander verstrickte Staaten gegen ein aus den verfeindeten Nationen stammendes Liebespaar durchsetzen, zeigt Schostakowitschs frühe Oper «Lady Macbeth von Mzensk» die Ausübung von Macht in ihrer rohen Naturform. Macht von Männern über Frauen, Macht von Reichen über Arme, Macht des Triebs über die Vernunft. Unterhaltsam oder gar lustig ist das nicht, vielmehr lässt die explizite Aufführung im Salzburger Grossen Festspielhaus handgreiflich nachvollziehen, wie die Mechanismen der Unterdrückung funktionieren. Anders als Andreas Homoki, der 2013 in Zürich die schreckliche Geschichte um Katerina Lwowna Ismailowa in die Groteske steigerte und Schostakowitschs Werk damit in ein expressionistisches Kabarett umkippen liess, bleibt Andreas Kriegenburg ganz und gar realistisch.

Einheitsspielort ist der düstere, von Treppen durchzogene Innenhof einer Mietskaserne, in die von links und rechts auf weit auskragenden Rampen Räumlichkeiten wie das Schlafzimmer Katerinas, das Büro ihres im Alkoholrausch verkommenen Gatten Sinowi Borissowitsch Ismailow oder die Polizeistation hineingefahren werden können – wie die Werkstätten den Entwurf von Harald B. Thor umgesetzt haben, stellt ein Gesellenstück eigener Art dar. An diesem Schreckensort wird auf Anhieb deutlich, wer oben steht und wer unten. Oben steht zum Beispiel Boris Timofejewitsch Ismailow, der Chef des Familienclans und Besitzer eines mysteriösen Unternehmens, der von Tanja Hofmann in bestes Tuch gehüllt ist und sich beständig mit Eau de cologne besprüht – Unterschied muss sein. Unten wiederum sind alle anderen, die in Lumpen gekleideten Arbeiter, aber auch die Anzugträger der mittleren Führungsschicht.

Unten ist auch Katerina. Sie ist eine Frau. Und sie hat noch keinen Erben geboren – wobei sie rechtzeitig, wenn auch nicht zu ihrem Vorteil darauf hinweist, dass es zum Kinderzeugen deren zwei braucht. Lüstern wird sie von ihrem Schwiegervater Boris (Dmitri Ulyanov) umkreist, und das um so aufdringlicher, nachdem sie ihm verraten hat, dass ihr Gatte Sinowi (Maxim Paster) ein Problem mit seiner Männlichkeit hat. So etwas kennt Sergej nicht; Draufgänger, der er ist, nimmt der soeben in den Betrieb eingetretene Arbeiter gleich, und zwar vor allen anderen, die Herrin in Besitz. Katerina lässt es geschehen – nicht ungern, so suggeriert es die Inszenierung, denn der Neue bietet, was dem Gatten versagt bleibt. Nina Stemme bewältigt das alles heldenhaft. Etwas Mühe hat sie mit der obersten Lage und dort dem Pianissimo, sonst ist sie aber phantastisch bei Stimme; sie verfügt über eine Kraft sondergleichen und bleibt darum noch gepflegt hörbar, wenn das Orchester seine Muskeln spielen lässt.

Das tun die Wiener Philharmoniker nach Massen – so wie die von Ernst Raffelsberger einstudierte Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor mit ihrer Strahlkraft zur Geltung bringt, dass «Lady Macbeth von Mzensk» auch eine Choroper ist. So laut wie bei der von Valery Gergiev geleiteten Salzburger Produktion von 2001 geht es allerdings nicht zu – vor allem nicht so durchgehend laut. Mariss Jansons, der 2006 in der Niederländischen Oper Amsterdam eine sensationelle Produktion von Schostakowitschs Oper dirigiert hat, leuchtet die Partitur bis in ihre hintersten Winkel aus, ohne dass der Abend an Schwung verlöre. Er weiss genau, wie weit er in der dynamischen Expansion gehen kann. Und er weiss auch, was dieses gefährlich freche Jugendwerk an stilleren Momenten und an Schönheiten der musikalischen Erfindung bereithält – zum Beispiel die Passacaglia am Schluss des zweiten Akts.

Kurz vor der Passacaglia: der erste Mord. Katerina verabreicht dem verhassten Schwiegervater ein Pilzgericht, das mit Rattengift angereichert ist. Boris hat Appetit, weil er zuvor Sergej, der sich bei Katerina eingeschlichen hatte, halbtot gepeitscht hat. In der Inszenierung von Andreas Kriegenburg bleibt der Mord selbst eigenartig harmlos, zumal der Auftritt des herbeigerufenen und natürlich betrunkenen Popen (Stanislav Trofimov) reichlich klischeehaft wirkt. Spannender gerät die Zeichnung der einzelnen Figuren und der Beziehungen zwischen ihnen. Sergej, der von Brandon Jovanovich mit kraftvollem Ton gegeben wird, ist zwar Macho durch und durch, spürt aber sogleich, wie er Katerina für seine Zwecke instrumentalisieren kann. Diese Art Macht – und das zu zeigen ist dem Regisseur ausgezeichnet gelungen – ist die schrecklichere als die Überwältigung und Erdrosselung des Wodka-getränkten Sinowi. Die Folgen dieser Tat sind allerdings erheblich: Katerina wie Sergej sehen sich bald unterwegs ins sibirische Arbeitslager. Dieses letzte Bild misslingt in der Inszenierung. In dem Moment, da Katerina sich in einem nahegelegenen See ertränkt und dabei ihre neue Nebenbuhlerin Sonetka (Ksenia Dudnikova) mit sich zieht, fallen zwei Puppen erhängter Frauen über ein Treppengeländer – szenisch eine Peinlichkeit. Es steht für eine Produktion, die insgesamt eher konventionellen Zuschnitts bleibt.

Theater ohne Theater als neues Theater?

Salzburger Festspiele II – Verdis «Aida» im Grossen Festspielhaus

 

Von Peter Hagmann

 

Der Triumphmarsch, oratorisch / Bild Monika Rittershaus, Salburger Festspiele

 

Golden prangt der Eiserne Vorhang, der die ganze Breite der Bühne im Salzburger Grossen Festspielhaus abdeckt. Verständlich, «Aida» steht auf dem Programm der Salzburger Festspiele 2017, da darf die vorsorgliche Assonanz an das Ausstattungstheater, das nicht nur in der Arena von Verona mit Giuseppe Verdis Oper verbunden ist, nicht fehlen. Allein, wer auf ein diesbezügliches Fest setzt, muss die Segel streichen. Kein einziger Elefant weit und breit. Aber was dann?

Musik, ganz einfach. Mit Riccardo Muti steht ein ausgewiesener Fachmann am Pult, und die Wiener Philharmoniker, die diesen Sommer neben ihren fünf doppelt bis dreifach geführten Konzerten vier der fünf neuen Produktionen im Opernprogramm bestreiten – die Wiener Philharmoniker geben dem Dirigenten, was sie zu geben vermögen. Dass sie hellwach auf die subtilen Tempoveränderungen reagieren, mit deren Hilfe Muti entweder den Sängern zur Seite bleibt oder das Geschehen vorantreibt, versteht sich angesichts der Erfahrung, über welche die Musiker, hauptberuflich Mitglieder des Wiener Staatsopernorchesters, naturgemäss verfügen. Aber die klangliche Flexibilität, die sie in den Abend einbringen, die leuchtende Transparenz im Leisen und die samtene Kraft im Lauten, vor allem aber die zartgliedrige, in vielen Farben schimmernde Lineatur, das ist nur bei diesem Orchester zu hören. Muti weiss wie kein Zweiter auf dieser Klaviatur zu spielen.

Und dann die Besetzung: erstklassig. Als ein profunder, seine Machtposition eins zu eins in seinen klangvollen Bass umlegender Oberpriester Ramfis eröffnet Dmitry Belosselskiy die Geschichte um die kriegerische Auseinandersetzung zwischen Äthiopien und Ägypten und die Liebe zwischen zwei jungen Menschen aus den gegnerischen Lagern. Und schon schlägt die Stunde für «Celeste Aida», wo sich Francesco Meli (Radamès) als Inbegriff des kultivierten italienischen Tenors vorstellt. Weil ihm Muti und das Orchester Raum lassen, braucht er nirgends zu drücken, sein schlanker, glänzender Ton breitet sich gleichsam von selbst im Raum aus. Italienische Gesangkunst, sie kann auch so klingen.

Einen Lidschlag später droht die erste Konfrontation, denn Amneris, die als Tochter des ägyptischen Königs (Roberto Tagliavini) auf ihre Ansprüche achtet, sind die Emotionen des jungen Offiziers nicht entgangen. Lauernd versucht sie die Situation zu erkunden, und das wirkt um so stärker, als Ekaterina Semenchuk auf einen Mezzosopran mit metallener Tiefe und grandioser Expansion vertrauen kann. Doch kaum ist man sich dessen gewahr, weitet sich das Duett zum Terzett, denn dazu tritt jetzt Aida, und das ist in diesem Fall Anna Netrebko: ganz in sich ruhend, mit perfektem Ausgleich zwischen den Registern und einem Timbre, das den weiten Ambitus der Stimme in jedem Moment trägt. «Ritorna vincitor» wird da zu einem ersten Höhepunkt.

Womit schon bald der Triumphmarsch ansteht. Überraschend rasch und behende steigt Muti in das gross angelegte Tableau ein; der von ihm eingeschlagene Weg zeigt an, dass er bei aller Grösse, bei aller emotionalen Dringlichkeit jedem Zug ins Demonstrative aus dem Weg zu gehen sucht. Sorgsam baut er die klanglichen Weiterungen auf; die ägyptischen Trompeten strahlen um die Wette, ohne dass je eine Spur Schärfe aufkäme. Und bewusst steuert er in den Tempi auf die abschliessende Hymne hin, die er dann breit aussingen lässt. Weil aber die Attacke jederzeit geschmeidig bleibt, schleicht sich kein Pomp ein. An Grösse freilich fehlt es diesem zweiten Finale nirgends; jeder Elefant wäre hier als schwergewichtig überflüssig aus dem musikalisch mit allem Raffinement gestalteten Rahmen gefallen. Dann allerdings wird es schwierig.

Markus Hinterhäuser, der neue Intendant der Salzburger Festspiele, hatte die gewiss reizvolle Idee, mit der im Exil lebenden Iranerin Shirin Neshat eine im Visuellen tätige Künstlerin zu verpflichten, die als Regisseurin des Abends für einen frischen Blick sorgen sollte. «Aida» auf der Opernbühne, und das bei den Salzburger Festspielen und mit Riccardo Muti, der für das rigorose Durchsetzen seiner musikalischen Interessen bekannt ist – es gibt einfachere Ausgangslagen. Dass das Experiment gescheitert sei, kann man so einfach nicht sagen, es ist aber auch nicht wirklich geglückt. Abstrakt, in kühlem, reinem Weiss hält Christian Schmidt die Bühne; sie bleibt frei von jeder Dekoration, jeder Annäherung an orientalisierende Formen und prunkendes Gold. Farbakzente setzen die sehr streng geschnittenen und dennoch strahlende Pracht verbreitenden Kostüme von Tatyana van Walsum.

Augenschmaus vom Feinsten bietet das, und in der ausgeprägten Kontrastbildung zu dem zwar klar kontrollierten, aber doch heftig aufwallenden musikalischen Geschehen bildet es eine spannungsvolle Folie. In den beiden eher statisch angelegten Akte eins und zwei bis hin zum Triumphmarsch funktioniert das glänzend. Unglaublich schön der riesige, weisse, in zwei Hälften geteilte Würfel, in dem sich die diversen szenischen Konstellationen effektvoll arrangieren lassen. Und das mit Sinn für symmetrische Bildungen, zum Beispiel mit der geistlichen Macht in Schwarz und Weiss auf der einen Seite und der weltlichen in Weiss und Schwarz auf der anderen.

Ob der blendenden Schönheit, die der musikalischen Qualität in nichts nachsteht, fällt nur wenig auf, dass sich die Darsteller zur Hauptsache an der Rampe aufhalten, wo der Dirigent sie haben will, und ausserdem so stereotyp agieren, wie es ihnen behagt. Das ist es, was in den Akten drei und vier, wo sich der Fokus verengt und das Licht auf die einzelnen Figuren fällt, zum Problem wird. So gut das Konzept von Shirin Neshat die Grand Opéra in Verdis «Aida» fasst, so sehr fällt es dort, wo das Drama an die Stelle des Tableaus tritt und das Theater sein Recht einfordert, wo Menschen in Erscheinung treten und Interaktion entsteht, in sich zusammen.

Als Amonasro, als äthiopischer König und Vater Aidas, bringt Luca Salsi einen weichen, warmen Bariton ein; mit dieser Stimme formuliert er aber eine Botschaft von ausgesuchter Grausamkeit, zwingt er doch seine Tochter, ihren Geliebten dazu zu bringen, ein innerstes militärisches Geheimnis preiszugeben. Aus der Spannung zwischen dem stimmlichen Profil und der inhaltlichen Brutalität vermag die Regisseurin jedoch keinerlei szenische Energie zu gewinnen – dazu fehlt ihr schlicht das Handwerk, das es bekanntlich auch in diesem Bereich braucht. So bleiben die Begegnungen zwischen Aida und Radamès, die besonders den vierten Akt tragen, musikalisch hochgradig erfüllt, szenisch aber unterentwickelt.

Am Ende des Abends dominierte das Gefühl, einer halbszenischen Aufführung von Verdis Oper «Aida» beigewohnt zu haben. Einer Aufführung, in der sich das Hörbare und das Sichtbare in einer sehr speziellen, bisweilen überaus glücklichen Weise begegnen, in der zur Musik aber kein Theater tritt und Musiktheater somit nicht entstehen kann, wenigstens nicht Musiktheater der hergebrachten Art. Weist diese Salzburger «Aida» ähnlich wie der unvergessliche «Ring des Nibelungen» beim Lucerne Festival des Sommers 2013 in die Richtung einer neuen Existenz des musikalischen Theaters oder handelt es sich bei dieser Produktion um eine hochästhetisch abgespeckte Version der als überholt empfundenen Ausstattungsoper italienischer Provenienz? Darüber darf nachgedacht werden.

Geist der Erneuerung, Lust an der Debatte

Salzburger Festspiele I – Mozarts «Clemenza di Tito» zur Eröffnung des Opernprogramms

Von Peter Hagmann

 

Mozarts «Clemenza di Tito» in Salzburg mit Florian Schuele (Bassettklarinette) und Marianne Crebassa (Sesto) / Bild Ruth Walz, Salzburger Festspiele

 

Dass die Salzburger Festspiele 2017, die erste Ausgabe unter der Gesamtleitung von Markus Hinterhäuser, ihr Opernprogramm mit «La clemenza di Tito» eröffneten, hat seine eigene Logik. Die Oper Wolfgang Amadeus Mozarts stand 1992, als Gerard Mortier als Intendant und Hans Landesmann als Geschäftsführer und Konzertdirektor die Salzburger Festspiele neu auszurichten begannen, an dritter Stelle im Opernprogramm – nach «Aus einem Totenhaus» von Leoš Janáček und der unvergesslichen Produktion von Olivier Messiaens Riesen-Oper «Saint-François d’Assise». Mit der Wahl von «La clemenza di Tito» verbeugt sich Hinterhäuser vor seinen Vorgängern, in deren Ära er selbst in die Welt der Salzburger Festspiele hineingewachsen ist – damals mit dem «Zeitfluss», dem Festival im Festival, das Mortier und Landesmann um so lieber in ihr Programm aufnahmen, als sie in seinem Anliegen viel von ihren ästhetischen und gesellschaftlichen Auffassungen wiederfanden. Zugleich zeigt sich in der Entscheidung für diese etwas abseits vom Kanon stehende Oper Mozarts, welcher Geist an den Salzburger Festspielen in den kommenden Jahren wieder herrschen soll. Es ist der Geist der ästhetischen Erneuerung und der inhaltlichen Debatte – deutlicher könnte der Kontrast zur jüngeren Vergangenheit der Festspiele nicht ausfallen.

Im Zeichen der Rückkehr zu einer qualifizierten Vorstellung dessen, was ein Festival sein soll, stehen auch die Namen auf dem Programmzettel. Für die Inszenierung von «La clemenza di Tito» kehrten der Regisseur Peter Sellars und der Bühnenbildner George Tsypin nach Salzburg zurück, die in der Ära Mortier/Landesmann für manchen Akzent gesorgt hatten. Und die musikalische Leitung hatte Teodor Currentzis übernommen, der mit den vokalen und instrumentalen Kräften von MusicAeterna aus dem russischen Perm angereist war. Gewiss, auch Peter Ruzicka hatte seine fünfjährige Intendanz 2003 mit Mozarts «Titus» eröffnet, und auch er hatte mit Nikolaus Harnoncourt einen prominenten, von Salzburg lange ferngehaltenen Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis ans Pult gebeten. Currentzis jedoch steht für eine Enkelgeneration der Arbeit mit alten Instrumenten und den ihnen entsprechenden Spielweisen, vor allem aber für einen pointierten Umgang mit den Notentexten und eine eigenwillige Expressivität. Widerspruch tut sich da keiner auf. Wenn die historisch informierte Aufführungspraxis zu den Quellen zurückging, so tat sie das, um dem schrankenlosen Subjektivismus zu entgehen, den die Interpreten der Spätromantik kultiviert hatten, und um andererseits dem scheinbar objektiven Musizieren entgegenzutreten, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg als das Mass aller Dinge etabliert hatte. Interpretation war aber auch im Bereich der historischen Praxis stets eingeschlossen, denn ohne Interpretation keine Musik.

Und interpretiert wird in der neuen Salzburger Produktion von «La clemenza di Tito» sehr ausgeprägt. Das von Mozart in allerhöchstem Auftrag komponierte und unter grösstem Zeitdruck zu Papier gebrachte Werk, das im Herbst 1791 anlässlich der Prager Krönungsfeierlichkeiten für den Habsburger Leopold II. zur Uraufführung kam, erscheint hier in keinem Augenblick als die feierliche Huldigungsoper, als die es gemeint sein mochte. Sellars und Currentzis haben sich dem Libretto von Caterino Tommaso Mazzolà zugewandt und es auf die Veränderungen hin geprüft, die Mozarts Textdichter an seiner Vorlage, einem von 1734 stammenden Libretto Pietro Metastasios, vorgenommen hat. Auf dieser Basis stellen sie «La clemenza di Tito» als Hohelied der Aufklärung heraus; sie zeigen, wie subtil und zugleich eindeutig das Werk Einspruch erhebt gegen die Prinzipien der absolutistischen Herrschaft – Leopold II. ist in der Geschichte ja als der Übergangskaiser bekannt, der viele der gesellschaftlichen Lockerungen, die sein 1790 verstorbener Bruder Joseph II. eingeführt hatte, wieder rückgängig gemacht hat. Machtausübung und Unterdrückung, so sehen Sellars und Currentzis die Botschaft der Oper, führe unweigerlich zu Gewalt; nur das Prinzip der Gleichheit aller Menschen und gegenseitiger Respekt liessen ein gedeihliches Zusammenleben entstehen. Das Loblied auf die Güte des Herrschers demnach als Aufforderung an ihn.

Und als Aufforderung an uns alle, die wir diese Jetztzeit bewohnen. Sellars siedelt «La clemenza di Tito» auf der abstrakt gehaltenen Bühne der Salzburger Felsenreitschule nicht in der fernen Antike an, sondern in der Gegenwart der Menschenströme und der Terroranschläge. Der (übrigens wieder ganz ausgezeichnete) Chor erscheint in den Kostümen von Robby Duiveman als eine Gruppe von Flüchtlingen, wie sie jeden Tag an einer Grenze erscheinen. Tito Vespasiano, der von Russell Thomas mit leuchtendem Timbre, aber wenig Koloraturensicherheit gesungen wird, ist kein Kaiser, sondern ein Präsident von heute mit Publio (der würdige Willard White) als seinem Sicherheitschef. Von Vitellia, einer auch in dieser Produktion exaltierten, von Golda Schultz mit etwas viel Druck gegebenen Frau, welche die Aufmerksamkeit des Herrschers als Zeichen der Liebe missversteht und sich zurückgesetzt fühlt, geht der Aufruf zur Gewalt aus, den Sesto (die sängerisch wie darstellerisch hinreissende Marianne Crebassa) zusammen mit einer Gruppe junger Rucksackträger ausführt. Titus wird schwer verwundet; anders als im originalen Text kämpft er im zweiten der zwei Akte auf einem mächtigen Spitalbett um sein Leben, erliegt am Ende aber seinen Verletzungen. Die Oper mündet in Salzburg also in schwarzes c-moll – und in einen Abgesang auf die Werte der Aufklärung?

Sellars Deutung fordert einige Verrenkungen, zu denen man stehen kann, wie man will. Die Aufrechterhaltung der dramaturgischen Stringenz erfordert zudem musikalische Eingriffe, die man goutieren kann oder nicht. Legitim sind sie aber vielleicht allemal; nicht nur war das im 18. Jahrhundert gängige Praxis, Mozart selbst hat, weil er unter so starkem Zeitdruck stand, für die Rezitative die Hilfe Franz Xaver Süssmayrs in Anspruch genommen. Die Zutaten von fremder Hand wollten Sellars und Currentzis entfernen, sie haben dafür Teile aus der c-moll-Messe, Adagio und Fuge in c-moll und einen Abschnitt aus der Maurerischen Trauermusik eingefügt. Das hatte zuallererst einen beinah subversiven Effekt – insofern nämlich, als auf Anhieb hörbar wurde, um wie viel die eingeschobene Musik in der kompositorischen Substanz die Oper überragt. Das wurde durch die Interpretation noch unterstrichen. Im Kyrie aus der c-moll-Messe, das zu Beginn des zweiten Akts erklang, liess einen die Sopranistin Jeanine De Bique, in der Oper mit der Partie des Annio betraut, durch ihr grossartiges Zurücknehmen von Spitzentönen geradezu den Atem anhalten. Indes gab es auch in der Oper selbst tief berührende Momente. Etwa das Duett zwischen Annio und Servilia, bei dem die junge Sopranistin Christina Gansch durch den Liebreiz ihrer Stimme, die Mühelosigkeit in der Höhe und die Sicherheit in den Koloraturen berückte. Oder die grosse Arie des Sesto im ersten Akt, für die sich Florian Schuele mit seiner Bassettklarinette auf die Bühne begab.

Durch die Einschübe ergab sich allerdings eine Tendenz zum Sakralen, die sich als ironisierende Überhöhung verstehen liess, die aber auch eine Spur Kitsch enthielt. Wenn der Kaiser ohne Zorn auf Servilia verzichtet und dann durch das «Laudamus te» aus der c-moll-Messe verherrlicht wird – wie soll man sich da fühlen? Auch macht es sich Peter Sellars, der im Programmbuch sehr anregend über seine Arbeit nachdenkt, wohl doch etwas zu einfach, wenn er behauptet, hinter jedem Sprengstoffgürtel stecke ein Problem der mangelnden Wahrnehmung; es gibt ja auch den blinden, fanatischen Hass und die Gehirnwäsche. Dessen ungeachtet setzt die Begegnung mit «La clemenza di Tito» in Salzburg, die ein hohes Mass an sinnlicher Erfüllung bringt, den Denkapparat mächtig in Gang. Das ist, was Markus Hinterhäuser schon immer gesucht hat, auch im «Zeitfluss», auch in den Programmen, die er als Konzertdirektor entworfen hat. Und was sich im Opernspielplan der Salzburger Festspiele 2017 vorbildlich verwirklicht. «Macht» heisst das Thema dieses Sommers. Mozarts späte Opera seria hat dazu eine so vielschichtige wie eindeutige Wortmeldung abgegeben.