Die Revolution und die Seelen

«Così fan tutte» in Bern

 

Von Peter Hagmann

 

In der Ausgangskonstellation: Ferrando und Dorabella, Guglielmo und Fiordiligi im Stadttheater Bern / Bild Tanja Dorendorf, Konzerttheater Bern

 

Ein gigantischer Scherbenhaufen – das ist, was am Ende übrig bleibt. Und es ist zugleich, was im Stadttheater Bern den Ausgangspunkt von «Così fan tutte» bildet. Denn während die Ouvertüre zu Wolfgang Amadeus Mozarts Oper aus dem Orchestergraben hervorwirbelt, kehrt Don Alfonso, der in der Inszenierung Maximilian von Mayenburgs kein alter Philosoph, sondern ein ausgesprochen rüstiger Barkeeper ist, vor dem bühnenbreiten Tresen die Scherben der vergangenen Nacht zusammen. Eine Verlobungsfeier war es; an Alkohol hat es nicht gefehlt – die imposante Ansammlung harter Getränke aus der Hand des Bühnenbildners Christoph Schubiger deutet es an. Dorabella und Fiordiligi, die beiden Bräute, schlafen auf den Barhockern ihren Kater aus, die beiden Bräutigame Ferrando und Guglielmo rappeln sich auf und halten sich knapp auf den Beinen. In dieser Lage überrascht sie der Barkeeper mit dem Vorschlag zu einem Experiment. Einem Menschenversuch.

Er führt ins totale Desaster. Wenn im zweiten und letzten Finale die ausladende Bar wieder zu sehen ist, wird gefeiert, was gewöhnlich auf eine Verlobung folgt, eine Hochzeit nämlich – nur geht die in diesem Fall übers Kreuz, was von Don Alfonso alsbald als perfid inszenierte Täuschung offengelegt wird. Schon sind die fürs Festmahl vorbereiteten Teller zu Boden gefallen – und da ist er erneut, der Scherbenhaufen, nun allerdings endgültig. Drastisch zeigt die Inszenierung, wie unbarmherzig das Stück der Katastrophe zustrebt, dem Gegenteil des von der Konvention verlangten «lieto fine». Die Gefühle und die von ihnen getragenen Beziehungen sind in Brüche gegangen, die Gegenwart ist erschreckend geworden, die Zukunft hochgradig unsicher. Die leicht schlüpfrige Tändelei im Rokoko-Kostüm, der bildungsbürgerlich geschilderte Abschied junger Menschen von unbeschwerter Liebe – von edlen Deutungsansätzen solcher Art ist hier keine Rede mehr. In Bern wird «Così fan tutte» zum Zeitstück.

Es ist nicht zu überhören. Kevin John Edusei, der Chefdirigent der Berner Oper, nimmt eine radikale Gegenposition ein zu dem kammermusikalisch aufgelichteten, geglätteten, ja harmlosen Ton, wie er gerade bei dieser Oper Mozarts lange Zeit üblich war. Er raut den Klang auf, indem er die Streicherbesetzung klein hält, den Bläsern Raum schafft und im Blech wie bei den Pauken auf Instrumente nach der Art des späten 18. Jahrhunderts setzt. Zudem spielen die Streicher oft mit wenig Vibrato, was die vielen liegenden Mittelstimmen heraustreten und den Instrumentalsatz in seiner ganzen farblichen Vielfalt leuchten lässt. Edusei ist kein genuiner Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis; dass er die in diesem Bereich gewonnen Erkentnnisse so selbstverständlich zu nutzen weiss, spricht aber sehr für ihn. Und für das Berner Symphonieorchester, das hier ganz ausgezeichnete Figur macht.

Messerscharf fallen die instrumentalen Akzente. Die tiefe Emotionalität des Stücks, die Nikolaus Harnoncourt so meisterhaft ans Licht gehoben hat, scheint allerdings nicht wirklich auf; das berührende Abschiedsquintett im ersten Akt bleibt darum beiläufig – auch weil das Verhaltene noch nicht leise genug klingt. Die Schärfe in der musikalischen Formulierung stimmt freilich überein mit dem szenischen Ansatz, der «Così fan tutte», entstanden 1789/90, als Essay über das Zerbrechen einer Gesellschaftsordnung vorführt. Schon die symmetrische Anlage mit der Bar zu Beginn und zum Schluss, vollends aber das weite Spiegelkabinett, in dem Don Alfonso das Labor für seinen Menschenversuch eingerichtet hat – sie nehmen den abgezirkelten Formverlauf der Oper auf, erinnern aber auch an die strengen französischen Gärten und das straff normierte Hofzeremoniell, die damals als Inbegriff des Ancien Régime galten.

Davon ist nun freilich schon einiges ins Wanken gekommen. Wenn Dorabella und Fiordiligi, wie es sich für Damen ihres Standes geziemt, zum Frühstück feinste heisse Schokolade erwarten und die vorlaute Dienerin Despina stattdessen mit einem billigen Glas Nutella aufkreuzt, ist das natürlich ein Gag, zugleich aber auch ein Fingerzeig darauf, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, von denen Mozarts Oper handelt, schon erheblich verändert haben und sich zweifellos noch weiter verändern werden. Das ist es, was Don Alfonso, ein Aufklärer der ersten Stunde, seinen Schützlingen beibringen möchte. Um sie mit der neuen Welt vertraut zu machen, lässt er sie Brillen aufsetzen – seine Brillen, durch die sie erkennen sollen, was er heraufziehen sieht. Es sind Sonnenbrillen, damit den vier jungen Adligen das Licht der Aufklärung – les lumières – nicht  allzu sehr aufs Auge schlage. Sie haben sie bald nicht mehr nötig, wie auch die diversen Verkleidungen entbehrlich sind. Machen sie mit oder doch eher gute Miene zum bösen Spiel?

Wie dem auch sei: Don Alfonso – der nur ein einziges, kurzes Mal zu einer Arie ansetzt, im übrigen aber beim Rezitativ bleibt – Don Alfonso beherrscht die Szene jederzeit virtuos. Anders als gewöhnlich steht er absolut im Zentrum des Geschehens; mit seinem sonoren Bass und seiner herrlich süffisanten Attitüde lässt Todd Boyce keinen Zweifel an seiner Funktion. Dennoch gelingt der Aufklärungsversuch nur bedingt, die Beteiligten spielen mit unterschiedlichem Feuer mit. Fiordiligi ist eine besonders harte Nuss, sie tut sich schwer, das Neue (oder den Neuen) anzunehmen – was Oriane Pons mit eindrücklicher Gestaltungskraft zum Ausdruck bringt. Zum Beispiel in ihrer grossen Arie im zweiten Akt – bei der dann aber unvermutet Regen ans Fenster schlägt: einer jener nicht ganz seltenen Momente, in denen der Regisseur zum Überschiessen neigt, so als hätte er kein Vertrauen in die Musik.

Dorabella dagegen, von Eleonora Vacchi mit mehr Selbstbewusstsein versehen als gewöhnlich, bricht bald einmal auf. Und Guglielmo ist rasch und bereitwillig zur Stelle – Michal Marhold lässt es mit seinem hellen Bariton hören und mit den roten Unterhosen, die ihm die Kostümbildnerin Marysol del Castillo besorgt hat, unzweideutig sehen. Ferrando, ganz anders veranlagt, macht das schwer zu schaffen; mit seinem geschmeidigen Tenor, aber ohne die geringste Spur von Kitsch bringt Nazariy Sadivskyy seine Probleme auf den Punkt. Am Ende kommt er aber doch ans Ziel – und hat auch er brav zu jenem Scherbenhaufen beigetragen, für dessen Anwachsen Orsolya Nyakas als eine behende, in keinem Augenblick aufs Maul gefallene Despina erfolgreich mitgesorgt hat. In Bern, unter der Verantwortung des Operndirektors Xavier Zuber, wird konsequent dem Ensemblegedanken nachgelebt. Wie erfolgreich das geschehen kann, der Abend mit «Così fan tutte» zeigt es.

Huis-Clos

«Pelléas et Mélisande» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Andrew Foster-Williams (Golaud) und Elsa Benoit (Mélisande) auf der Basler Bühne / Bild Priska Ketterer, Theater Basel

 

«Wagnérisme», das ist das Stichwort in der wunderbaren neuen Produktion von Claude Debussys Oper «Pelléas et Mélisande» am Theater Basel. Grenzenlos war die Bewunderung, die Debussy für Wagner empfand, und zugleich musste er sich als Franzose, dessen Nationalgefühl dreissig Jahre nach der bitteren Niederlage von 1871 wieder erstarkt war, mit allen Kräften gegen die ästhetische Übermacht des Deutschen zur Wehr setzen – will sagen: sich von ihm abheben. Selten kann man dieses Spannungsfeld so stark erleben wie jetzt in Basel, wo sich Erik Nielsen, der Musikdirektor des Hauses, der Partitur Debussys mit einer Ruhe sondergleichen nähert. Die langsamen Tempi, die der Komponist vorgesehen hat, nimmt Nielsen so, wie sie sein sollen; die ekstatischen Momente fahren darum besonders stark ein. Und sorgsam tariert er das Farbenspiel aus. Aufgelichtet und zugleich kernig präsent die Bässe und die Celli, in herrlicher Rundung mischen sich die Hörner in den Streicherklang, farbenreich die Holzbläser und die samten unterstreichenden Posaunen ­– das alles dank dem Sinfonieorchester Basel, das mit dem Feinsten vom Feinen aufwartet. Kein Wunder, horcht man mehr als einmal auf, um einen Anklang an «Tristan und Isolde» zu vernehmen. Oder noch mehr: um sich dem Neuen zu öffnen, das Debussy entwickelt hat.

So kommt denn auch der Sprechgesang ganz ausgezeichnet zur Geltung – zumal die Diktion des Französischen wenig Wünsche offen lässt. Und das Ensemble hervorragend besetzt ist. Rolf Romei gibt einen scheuen, ganz seinem Urinstinkt gehorchenden Pelléas; sein heller Tenor verfügt über jene fast baritonale Tiefe, die diese Partie so heikel macht. Seinen Gegenspieler Golaud verkörpert Andrew Foster-Williams mit einem strahlenden Bariton von ausnehmend pointierter Lineatur; grossartig, wie er den Verlauf der Seelenzustände, die dieser düstere Mann über die gut drei Stunden Spieldauer durchmacht, empfinden lässt. Arkël, der undurchsichtige Grossvater, der die Strippen bei sich zusammenlaufen lässt, sie in den entscheidenden Momenten aber nicht wirklich in den Händen hält, befindet sich bei Andrew Murphy und seinem dunkel timbrierten Bariton in besten Händen. Dunkel und klangvoll auch die Geneviève von Jordanka Milkova. Das Glanzlicht der Produktion setzt jedoch Elsa Benoit als Mélisande. Intensiv zeichnet sie die Figur dieser verletzlichen, verletzten und gleichwohl ganz in sich verankerten, mithin starken Frau – und sie tut das mit einem weiten Fächer an vokalen Farben.

Ihre Mélisande ist weder blond noch langhaarig. Der Regisseurin Barbora Horáková Joly geht es in keinem Augenblick um irgendeine Spur von Realismus. Die schwarze Holzhütte der Ausstatterin Eva-Maria Van Acker, die langsam und lautlos zerfallen kann und so den Zustand jener fundamentalistischen Familie abbildet, in die Mélisande gerät – diese Holzhütte bildet den erschreckend engen Raum, in dem sich das Geschehen in sozusagen neutraler Färbung ereignet. An konkreten Hinweisen fehlt es gleichwohl nicht. Mélisande, davon zeugen zu Beginn die Blutspuren an ihrem Kleid wie ihren Beinen, hat im Wald ein ungewolltes Kind zur Welt gebracht – nun gut. Weniger dringend erscheint die Unterstützung jener Szene, in der Golaud die schwangere Mélisande malträtiert, durch ein Video (Sarah Derendinger), in dem einem Fisch der Bauch aufgeschlitzt wird; die Szene ist von der Musik und der Aktion her so drastisch eingerichtet, dass sie diese Bebilderung keineswegs benötigt. Dass Mélisande ihren Ring lange, bevor es die Partitur andeutet, in eine Badewanne fallen lässt, dass der nahezu blinde Arkël einen Brief liest, dass in dem Kellerverliess, in das Golaud seinen Halbbruder Pelléas führt, ein frisch geschlachtetes Schwein hängt, aus dem dann Blut hervorschiesst – das alles ist fragwürdige Zutat, die bestenfalls auf künstlerische Vorbilder der Regisseurin verweist. Es verdeckt die Vorzüge einer Inszenierung, in der die Figuren mit ausgeprägter Empathie geführt sind. In der die Beziehung zwischen Pelléas und Mélisande in ihrer ganzen Zartheit aufscheint. Und in der mit Händen zu greifen ist, wie in diesem morbiden Huis-Clos jeder an jedem vorbeiredet. Unter dem Strich überwiegt der szenische Gewinn.

«Zauberflöte» und «Salome» in Salzburg

Der Geist von einst ist wieder da

Mit Markus Hinterhäuser als Intendant haben die Salzburger Festspiele an Energie gewonnen. Konzise Programmgestaltung und mutige Interpretationen zeugen davon. «Die Zauberflöte» und «Salome» bestechen und lösen Diskussionen aus.

Von Peter Hagmann

Vgl. www.republik.ch vom 07.08.18

 

Vom Unbedingten – und vom Scheitern

Tschaikowskys «Pique Dame» bei den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Ruth Walz, Salzburger Festspiele

Keine Frage: Es ist der Abend des Dirigenten. Mariss Jansons nähert sich «Pique Dame» mit derart glühendem Herzen und derart profunder Einsicht, dass die Begegnung mit der Oper Peter Tschaikowskys, welche die Salzburger Festspiele als dritte Premiere dieses Sommers zeigen, allein schon musikalisch tiefe Regungen auslöst. Nichts wird da unterstrichen, nichts wird überzeichnet, eines scheint ganz natürlich aus dem anderen hervorzugehen und sich in einem kontinuierlichen Strom zu erfüllen. Einem Klangstrom von wohlgrundierter Wärme und feinfühlig abschattierter Farbigkeit, von spürbarer Kraft, aber auch hochprofessioneller Zurückhaltung dort, wo es angebracht ist. Jansons gehört zu den wenigen Dirigenten, mit denen die Wiener Philharmoniker auf der Höhe ihres Könnens und ihres Vermögens zusammenarbeiten; was für ein wunderbares Orchester sie bilden, wenn sie wirklich wollen, in dieser Produktion ist es zu hören.

Vor dem anderen Protagonisten des Abends konnten sich Besucher dieser Festspielpremiere vielleicht gefürchtet haben. Wieder eine dieser Aufregungen wie 2001, im letzten Salzburger Sommer mit dem streitbaren Gerard Mortier, als «Die Fledermaus» dermassen derb gegen den Strich lief, dass es zu einem handfesten Skandal und am Ende gar einer Verhandlung vor Gericht kam? Wieder einer dieser Abende, an denen vor lauter Grübeln über die Rätsel auf der Bühne das ganzheitliche Erlebnis auf der Strecke bleibt? Nichts von all dem ist hier der Fall. Hans Neuenfels, inzwischen 77 Jahre alt, zeigt in dieser Produktion, dass er keineswegs der Skandalist vom Dienst ist, sondern ganz einfach ein grosser Theatermann – einer, der sein Handwerk wie nur wenige beherrscht. Altersmilde? Mag sein; wäre es verwerflich? Eine Enttäuschung? Das wäre allerdings völlig verfehlt. Neuenfels, so liess er in seinen Auslassungen vor der Premiere erkennen, hat bloss massiv Feuer gefangen. Und hat sich berühren lassen von der Geschichte, die «Pique Dame» erzählt.

Es ist die Geschichte von der Unbedingtheit einer Liebe – eines Begehrens, um im Motto der Salzburger Festspiele 2018 zu bleiben. Erfunden hat sie Alexander Puschkin, in ein Libretto geformt hat sie Modest Tschaikowsky, der Bruder des Komponisten, auf die Opernbühne gebracht hat sie Peter Tschaikowsky, der zur Zeit der Komposition, er hielt sich damals in Florenz auf, eine letzte glückliche Phase seines Lebens durchschritten hat. Hermann erlebt einen coup de foudre, aber Lisa, die Angebetete, die keineswegs gleichgültig reagiert, ist bereits einem anderen versprochen – einem, der passt: Der Fürst stammt nicht nur aus der richtigen Schicht, er ist auch in jeder Hinsicht wohlbestallt. Für Hermann bleibt Lisa unerreichbar – es sei denn, er verfügte über jenes Kleingeld, das ihm erlaubte, zusammen mit der Geliebten aus der Gesellschaft auszubrechen und zu fliehen. Geld gleich Freiheit… Wie es in der Oper nun einmal kommen muss (und im Leben wohl auch käme), misslingt der Plan und endet die Liebe im Tod.

Bild Ruth Walz, Salzburger Festspiele

Gleich, wie es Jansons mit den Wienern tut, legt Neuenfels zusammen mit einem exzellent besetzten Ensemble diese Geschichte in vibrierender Emotionalität aus. So scharf lodern da die Gefühle auf, dass sie nur zum Schlimmsten führen können. Hermann, den der Kostümbildner Reinhard von der Thannen in der weitgehend auf Schwarztönen basierenden Ausstattung mit einem knallroten Anzug versieht – Hermann ist ein Aussenseiter. Nicht zu helfen weiss er sich in seinem brennenden Verlangen nach Lisa, mit seinem strahlkräftigen Tenor und seiner sportlichen Erscheinung bringt das Brandon Jovanovich blendend über die Rampe. Wie Hermann der Gräfin – Hanna Schwarz, 74 Jahre alt, das darf man sagen, und grandios bei Stimme –, wie Hermann der Gräfin das Geheimnis der drei Karten zu entreissen sucht, stellt er sich nicht besonders geschickt, aber auch nicht ungeschickt an. Die Gräfin stirbt nicht an der entscheidenden Frage, sie gerät schon vorher ins Delirieren: in dem Augenblick, da in dem hochweissen Zimmer mit dem Spitalbett der junge Mann im roten Anzug hinter dem Paravent hervortritt.

Mit derselben Unbedingtheit, wie sie Hermann kennt, entscheidet sich Lisa, aus der Gesellschaft, der sie als Adlige angehört, auszutreten und sich auf den Weg ins Ungewisse zu machen. Zuvor hatte sie noch artig mit ihrer Freundin das Terz- und Sextparallelen schwelgende Duett des Anfangs gesungen – das an diesem Abend regelrechten Schwindel auslöst, denn Oksana Volkova (Polina), welche die untere Stimme versieht, bringt einen ausserordentlich kernigen Mezzosopran ein. Noch donnernder klingt nur Margarita Nekrasova als die Gouvernante, die das ausgelassene Treiben der Freundinnen um Lisa entschieden zu Ende bringt. Als Lisa kann Evgenia Muraveva auf einen hellen Sopran setzen, der aber fest in sich ruht. Ihren Bräutigam, dem edlen Fürsten Jelezki (und dem äusserst edel singenden Bariton Igor Golovatenko) kehrt sie rasch den Rücken. Wenn sie aber wissen will, wie es wirklich steht zwischen ihr und Hermann, in dieser bedrückenden Szene um Mitternacht, leitet sie eine mächtige Expansion ein. Hingabe wie Verzweiflung erscheinen da, auch szenisch, klar als existentiell. Nur logisch, dass sie nach dem schlechten Ausgang der Begegnung mit Hermann ihrem Leben ein Ende setzt.

Eingebettet ist das Geschehen von «Pique Dame» in eine Reihe prächtigster Massenszenen, die meist zu pittoresken Einlagen werden. Neuenfels wäre nicht Neuenfels, nähme er diese Massenszenen – die er übrigens mit unglaublich effektsicherer Hand choreographiert hat – nicht zum Anlass, das gesellschaftliche Umfeld zu beleuchten, in dem die Liebe zwischen Lisa und Hermann scheitern muss. Die Kinder, die zu Beginn, eine Reminiszenz an Bizets «Carmen», eine militärische Parade spielen, tun das im Zeichen der Einpassung ins System. Sie werden in kleinen Käfigen herangeführt und bleiben nach dem Öffnen von deren Gittertüren an den Kandaren der Kinderfrauen, unter denen die Ammen mit riesigen Brüsten und roten Nippeln herausragen (vorbereitet von Ernst Raffelsberger lässt die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor in diesen Szenen ihre ganz Strahlkraft hören). Auch sonst ist in dem prachtvollen, von Christian Schmidt gestalteten Bühnenraum, in dem anthrazitfarbene Kacheln eine düstere Atmosphäre schaffen, das gesellschaftliche System präsent – auch dort, wo in einem gewaltigen Tableau die Zarin höchstselbst auftritt: in Form einer schwer abgemagerten Monstranz, die wie eine Marionette an Fäden bewegt wird.

Ein einziges Mal gerät das gesellschaftliche Spiel ins Wanken. Es geschieht in der finalen Spielszene, wo die Umgebung um den Protaginsten, alles Herren in bodenlangen, schweren Pelzmänteln, angesichts von Hermanns Gewinnen die Fassung verlieren. Bekanntlich hat sich der Held getäuscht. In der dritten Runde hat er die falsche Karte in der Hand und verliert alles. In diesem Augenblick drückt er auf seiner Pistole wirklich ab. Ein weiteres Salzburger Highlight. Und Jubel sondergleichen.

Ein wenig rehabilitiert

«Edgar» von Giacomo Puccini vor der Kathedrale St. Gallen

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Tanja Dorendorf, Konzert-Theater St. Gallen

Neigt sich die Spielzeit dem Ende zu, legt sich das Konzert-Theater St. Gallen, einfach gesagt: das Theater St. Gallen, noch einmal richtig ins Zeug. Da brechen in der Stadt für zwei Wochen die Festspiele an, für die das Ostschweizer Mehrspartenhaus das Tafelsilber aufdeckt. Auf dem Programm stehen dann eine Open-Air-Opernproduktion, ein neuer Abend des Tanztheaters und eine Reihe spezieller Konzerte – und das alles einer klar erkennbaren dramaturgischen Linie verpflichtet. In dem von Florian Scheiber gestalteten Konzertprogramm wandelt man dieses Jahr von Flandern aus südwärts, meist mit älterer, oft mit wenig bekannter Musik. Für die Kathedrale hat die Tanzchefin Beate Vollack zusammen mit Willibald Guggenmos, dem St. Galler Titular-Organisten, eine getanzte Pilgerreise entworfen, bei der sich das Publikum mit durch den Kirchenraum bewegt. Und draussen im Klosterhof ist «Edgar» von Giacomo Puccini angesetzt, wo die Themenkreise «Flandern» und «Glauben» ihre Verankerungen finden.

«Edgar»? Tatsächlich? So schlecht ist das Stück gar nicht, man muss es nur überzeugend auf die Bühne bringen – was kaum je an die Hand genommen wird. Die Bühne, das ist hier der Platz vor der mächtigen Fassade der spätbarocken Stiftskirche. Mit dabei sind die Magie des Ortes, die Dämmerung und sowie die Schwalben, die sich um Vierteltöne zu hoch ins musikalische Geschehen einmischen und schliesslich in den Büschen des Bühnenbilds verschwinden. Oper unterm Sternenzelt, da mag der Kenner die Nase rümpfen. Den Festspielen St. Gallen tut er damit eindeutig Unrecht. Hier wird nämlich gerade nicht das Eingängige gesucht, in St. Gallen verbindet sich die Suggestivkraft der Freilichtaufführung vielmehr mit der Besonderheit des Repertoires. Raritäten wie «Loreley» von Alfredo Catalani, «Attila» von Giuseppe Verdi oder «Il diluvio universale» von Gaetano Donizetti Beispiel waren da zu erleben – und das in teils bemerkenswerten Produktionen.

Jetzt also dieses schräge Stück von 1889. «Edgar» existiert in nicht weniger als vier Versionen, von denen in St. Gallen die vierte und letzte von 1905 gezeigt wird, allerdings auch die mit Modifikationen. Verquer schon das Sujet. Mit dem Titelhelden führt das Libretto von Ferdinando Fontana einen Mann zwischen zwei Frauen vor, einer sittsamen und einer sinnlichen – als Konstellation ist das, wenn man an Wagners «Tannhäuser» oder Bizets «Carmen» denkt, nicht ganz unvertraut. Unüblich, auch nicht ganz leicht nachzuvollziehen ist jedoch die Folge von Volten, mit denen sich Edgar der triebgesteuerten Tigrana entledigt, um sich Fidelia und den bürgerlichen Tugenden zuzuwenden.

Edgar, das ist der Komponist selber, der zur Entstehungszeit der Oper in wilder Ehe mit einer verheirateten Frau lebte und deshalb an den von der Kirche vorgegebenen Normen verzweifelte – davon sind der Regisseur Tobias Kratzer und der Ausstatter Rainer Sellmair zum einen ausgegangen. Beim Wort nahmen sie zum anderen die Nähe des Stücks zur Grand Opéra, die sie in einem attraktiven Arrangement von Tableaux nachzeichnen. Ein idyllischer Garten vor der Silhouette einer flandrischen Stadt nimmt die «Anbetung des Lammes» von Jan van Eyck zum Vorbild, und dass dort diverse Päpste mit ihren goldenen Tiaren auftreten, lässt erahnen, dass sich nicht alles im Lot befindet. Für den nachgestellten Venusberg im zweiten Akt kommt dann Hieronymus Bosch mit seinem «Garten der Lüste» zum Zug, und da fehlt es denn nicht an jenem optischen Kitzel, der in der Freilichtaufführung unentbehrlich ist. Wenn zum Finale schliesslich ein Pferd mit Leichenwagen über den Kunstrasen stakst, kennt das Glück keine Grenzen mehr.

Allein, in St. Gallen bleibt es eben nicht dabei. Dank dem geschmeidigen Dirigat von Leo Hussain und der hochstehenden Mitwirkung des (aus Lautsprechertürmen klingenden) Sinfonieorchesters St. Gallen kommt die wunderliche Kraft des jungen Puccini zu voller Geltung. Viel von dem, was die Handschrift des Komponisten ausmacht, ist bereits ausgebildet, der raffinierte Umgang mit Oktavierungen etwa, doch ist es noch nicht wirklich kontrolliert eingesetzt, es schiesst vielmehr geradezu erheiternd ins Kraut. Die vokalen Lineaturen hingegen lassen durchaus schon die spätere Meisterschaft erahnen. Besondere Momente gelingen hier Alessandra Volpe (Tigrana), deren Partie Puccini offenbar mit besonderer Hingabe gestaltet hat. Marcello Giordani ist ein kraftvoll aufbrausender Edgar, Evez Abdulla mit seinem sonoren Bariton sein Alter Ego Frank. Einmal mehr darf man staunen, was das Theater St. Gallen, ein vergleichsweise kleines Mehrspartenhaus, an vokaler Qualität zu bieten vermag.

Schauerliches Thema, schönste Musik

«L’incoronazione di Poppea» von Claudio Monteverdi im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Über vierzig Jahre sind vergangen, seit Nikolaus Harnoncourt als Dirigent und Jean-Pierre Ponnelle auf der Bühne die Opern Claudio Monteverdis in Zürich wieder ans Licht gebracht haben. Sie taten es auf Anregung des damaligen Opernhaus-Direktors Claus Helmut Drese, und es darf mit Fug und Recht behauptet werden, dass damals in Gang kam, was heute selbstverständlich wirkt. «Orfeo», «Il ritorno d’Ulisse in patria» und «L’incoronazione di Poppea» gelten längst nicht mehr als Raritäten, die drei Stücke gehören in Europa vielmehr zum Standard-Repertoire. Allerdings ist die Aufführung der Opern Monteverdis noch immer mit besonderen Herausforderungen verbunden. Die Partituren enthalten nämlich nur ein Skelett, meist bloss Singstimme und Bass, alles andere darf und muss, das war im 17. Jahrhundert Tradition, von den Interpreten eigenhändig eingerichtet werden. So ist es auch bei «L’incoronazione di Poppea», der letzten Oper Monteverdis, die jetzt im Opernhaus Zürich Premiere gehabt hat – knapp fünfzehn Jahre nach einer zweiten Produktion des Werks mit Nikolaus Harnoncourt am Pult.

Fast vierhundert Jahre alt ist dieses Stück, und es wirkt, als stamme es von heute. Tatsächlich zeigt «L’incoronazione di Poppea», entstanden wohl 1642, eine Versammlung von Menschen, die nichts anderes kennen als: das Ich. Sei es im Rom Kaiser Neros einige Jahrzehnte nach Christi Geburt, sei es im mächtigen, übersatten Venedig des Komponisten Claudio Monteverdi, sei es heute, im Zeitalter der Willkürherrscher und des Selfiesticks – die Verhaltensmuster sind dieselben. Im Opernhaus Zürich legt Calixto Bieito den Finger nun genau darauf, und er tut das so unbarmherzig, wie es seine Art ist. Die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst hat ihm einen ovalen Laufsteg der Eitelkeiten entworfen; er läuft aus der Bühne heraus über den Orchestergraben in den Zuschauerraum und von dort wieder zurück.  Das schafft eine ungewohnte Nähe – die noch dadurch unterstützt wird, dass die Video-Einrichtung von Sarah Derendinger das Geschehen scharf heranzoomt und auf zwei Mal sieben Bildschirmen links und rechts im Raum vergrössert. Die Bühne selbst ist dominiert von einem steil ansteigenden Podest mit zusätzlichen Sitzplätzen für Zuschauerinnen und Zuschauer sowie einer Mitteltreppe, über die auf- wie abgetreten werden kann.

Die Wirkungsmacht dieses vervielfachten Raumtheaters hat den Vorteil, dass das Egomane der Figuren in Monteverdis Oper krass zutage tritt. Mit seiner unerhört klangvollen Höhe zeigt der Sopranist David Hansen, der an die Stelle des erkrankten Valer Sabadus getreten ist, den Nerone als einen Nihilisten der ersten Stunde; für diesen wahrhaft zügellosen Machthaber zählt einzig das momentane Bauchgefühl, sei es Lust oder Wut. Zuckt es ihm zwischen den Beinen, nimmt er sich, was er braucht, und sei es der Erste Offizier seiner Garde (Thobela Ntshanyana), der nach vollzogenem Akt mit einem lautlosen Kopfschuss beseitigt wird. Wer ihm jedoch widerspricht, wie es der salbungsvolle Philosoph Seneca tut (und wie es Nahuel Di Pietro mit wohlklingender Tiefe hören lässt), dem versucht der Tyrann mitten unter den Zuschauern eigenhändig die Zunge auszureissen – ein einigermassen blutiges Unterfangen wie stets bei Bieito. Abhanden kommt dem Kaiser die Macht allein vor Poppea, die ihren Weg nach oben noch eine Spur kaltblütiger verfolgt; die Domina nimmt man der ausgezeichnet singenden Julie Fuchs allerdings nicht restlos ab. Da wirkt Deanna Breiwick mit ihrem hellen Sopran als die unverstellt mit ihren Reizen spielende Drusilla doch noch eine Spur packender.

Allein, so intensiv Monteverdis Oper über die Rampe gebracht wird, so rasch zeigt der Ansatz der Produktion seine Grenzen. In ihrer blinkenden Bilderflut geht die szenische Einrichtung über eine durchschnittliche Aufnahmekapazität hinaus; vor lauter Zuschauen gerät das Zuhören bald einmal ins Hintertreffen. Das wird noch dadurch verstärkt, dass die Bühnenarchitektur akustisch nicht eben zu überzeugen vermag. Delphine Galou, die den von Poppea verschmähten Liebhaber Ottone verkörpert, muss mit ihrer im Leisen verankerten Stimme merklich pressen, was bisweilen auch für Stéphanie d’Oustrac gilt, die als die von ihrem Gatten verstossene Kaiserin Ottavia einen ebenso majestätischen wie berührenden Auftritt hat. Noch schwieriger ist die Lage im Graben. Koordiniert von Ottavio Dantone, der die Partitur eingerichtet hat und den Abend vom Cembalo aus brillant leitet, bringt La Scintilla, das mit der Musik Monteverdis bestens vertraute Originalklangorchester der Oper Zürich, gewiss ein Optimum an instrumentalem Reiz ein, doch derart versenkt im Inneren des ovalen Laufstegs vermögen die Musikerinnen und Musiker ihre Vorzüge, gerade etwa im reich besetzten Generalbass, nicht wirklich zur Geltung zu bringen.

Dennoch herrscht trotz des grausigen Sujets fast durchwegs gute Laune. Das liegt an den komischen Einlagen und dem witzigen Spielen mit dem Genderismus. Die tragende Figur des Nerone wird von einem in hoher Kopfstimme singenden Mann verkörpert, während des Kaisers rasch abgehalfterter Nebenbuhler Ottone von einer tief klingenden Frau gespielt wird. Die beiden Ammen wiederum, tief liegende Frauenpartien, sind in Zürich Männern übertragen, die nicht als weibliche Vertraute, sondern als (wenigstens halb) männliche Berater erscheinen: Emiliano Gonzalez Toro als Arnalta an der Seite Poppeas, Manuel Nuñez Camelino als Nutrice an jener Ottavias. Dennoch bleibt unter dem Strich der Eindruck, dass die neue Zürcher «Poppea» nicht immer das erreicht, was sie erreichen könnte – weder in der Flexibilität der Prosodie noch in der instrumentalen Agilität, weder in der orchestralen Farbigkeit noch in vokalen Qualität. Die Erinnerung an die sensationelle halbszenische Aufführung, die John Eliot Gardiner letzten Sommer beim Lucerne Festival geboten hat, steht übermächtig im Raum. Auch an das Elementare der Zürcher Wiederentdeckung von 1977 kommt sie nicht heran. Angesichts der Tatsache, dass heute vertraut ist, was damals neu wirkte, ist das aber vielleicht kein Wunder.

Operation geglückt, Patient weiterhin tot

Rettungsversuch an Othmar Schoecks Oper «Das Schloss Dürande» in Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Die Berliner Staatsoper war nach den Bombardementen der Alliierten eben notdürftig wieder aufgebaut, als am Ende des Abends eine weitere Detonation das Gebäude erschütterte. Zuschauer sollen geschrien, Schrecken soll sich verbreitet haben – allein, es war Theaterdonner. So geschehen am Donnerstag, den 1. April 1943, anlässlich der Berliner Uraufführung von Othmar Schoecks Oper «Das Schloss Dürande». Der Schweizer Komponist, damals 56 Jahre alt, in Deutschlands erstem Opernhaus, und das mitten im Krieg? Die unter Beizug des Winterthurer Mäzens Werner Reinhart sorgfältig herbeigeführte Konstellation hat Schoeck wenig Gutes gebracht. Zumal er mit dem ebenfalls von Reinhart geförderten Hermann Burte einen Librettisten beigezogen hatte, der seit vielen Jahren für seine völkischen Einstellungen bekannt war.

Schon die äusserst prominent besetzte Uraufführung – ein partieller Mitschnitt ist bei Cantus Classics als CD greifbar – stand trotz milder Reaktion der (gleichgeschalteten) Kritik unter keinem guten Stern; nach wenigen Aufführungen wurde die Produktion abgesetzt. Dies zuallererst der kriegerischen Umstände wegen, dann aber auch unter dem Einfluss eines ominösen Telegramms von Hermann Göring, in dem der «Reichsmarschall» das Libretto zwei Mal als «aufgelegten Bockmist» bezeichnete. Auch die Übernahme ans Opernhaus Zürich, wo kein Geringerer als der Startenor Max Lichtegg für die tragende Rolle des jungen Grafen Armand von Dürande verpflichtet war, endete im Fiasko eines ausbleibenden Publikumsinteresses. Schoecks Oper geriet in Vergessenheit, woran auch ein Wiederbelebungsversuch durch den Dirigenten Gerd Albrecht von 1993 nichts änderte. Und der Ruf des Komponisten war bis weit über seinen Tod 1957 hinaus ramponiert.

Dass über dem Werk und seinem Autor derart unerbittlich der Stab gebrochen wurde, hat allerdings auch etwas Hohles an sich. Wenn Chris Walton in seiner als Dissertation entstandenen Biographie Schoecks erregt ausruft, das Werk dürfe niemals mehr auf die Bühne kommen, spricht einer, dem die Gnade der späten Geburt zuteil wurde. Schoeck war nicht verwerflicher als Wilhelm Furtwängler oder Richard Strauss; er war ein Künstler und als solcher von einem Egoismus, der keine Skrupel kannte. Kommt dazu, dass in den nordöstlichen Teilen der Schweiz die Sympathien für das Deutsche und sein Reich damals mehr oder weniger unverhohlen gepflegt wurden – wie etwa die Aktivitäten hoher Zürcher Offiziere gegen den welschen Oberbefehlshaber der Armee erkennen lassen. Schoecks Verhalten soll durch Hinweise solcher Art nicht gerechtfertigt, die moralische Empörung Nachgeborener aber doch etwas relativiert werden.

Wie es um das Werk selbst stand, das war bis anhin schlecht abzuschätzen. Jetzt freilich haben sich der Dirigent Mario Venzago und mit ihm die von Thomas Gartmann geleitete, äusserst regsame Forschungsabteilung der Musikhochschule Bern seiner angenommen. Für den Chefdirigenten des Berner Symphonieorchesters, der sich nicht nur schon verschiedentlich erfolgreich für die Musik Schoecks eingesetzt hat, sondern auch eine sehr prononcierte Auffassung von musikalischer Interpretation vertritt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 11.04.18:  http://www.peterhagmann.com/?p=1580), aber auch für seine musikologischen Mitstreiter kam eine Aufführung von «Schloss Dürande» tel quel nicht in Frage; als zu peinlich wurde die sprachliche Ausformung, vor allem aber die ideologische Färbung des Librettos empfunden. In Betracht gezogen wurde deshalb eine Befreiung von diesem Ballast: durch die Schaffung eines neuen Librettos zur Musik Schoecks. Abgesehen von Vorgängen der Neutextierung etwa im Barockzeitalter ein in der Musikgeschichte singulärer Vorgang.

So machten sie sich denn an die Arbeit: das von Thomas Gartmann gesteuerte Forschungsteam, das in aller Sorgfalt das Umfeld von Schoecks Oper erkundete und dazu zwei hochinteressante, ungemein informative Buchpublikationen vorlegte, der Berner Schriftsteller Francesco Micieli, der das neue Libretto verfasste, und Mario Venzago, der die monumentale Partitur Schoecks, zu der übrigens Anton Webern den Klavierauszug hergestellt hat, den neuen textlichen Gegebenheiten anpasste. Und auch im Ton etwas gedämpft haben soll – ein Eingriff in den Notentext, der für Dirigenten wie Gustav Mahler, Felix Weingartner, Hermann Scherchen oder Michael Gielen noch selbstverständlich war, der heute aber einen eigentlichen Tabubruch darstellt. Francesco Micieli wiederum ersetzte im Libretto Burtes jene Passagen, die zu ungeschickt, zu gestelzt oder zu fragwürdig formuliert waren, durch Texte und Gedichtzeilen Joseph von Eichendorffs – in seinen Ursprüngen geht das Libretto ja auf die 1835/36 entstandene Erzählung «Das Schloss Dürande» des deutschen Dichters zurück. Dabei wechselt Micieli bisweilen die Perspektive, indem er den einzelnen Figuren Sätze in der dritten Person in den Mund legt, also im Geiste Brechts distanzierende Brüche einfügt.

In dieser dergestalt entstandenen Neufassung ist «Das Schloss Dürande» von Othmar Schoeck von Konzert-Theater Bern in zwei konzertanten Aufführungen zur Diskussion gestellt worden. Ein riesiges Unterfangen, sichtbar allein schon im Aufbau über dem verdeckten Orchestergraben bis tief in die Bühne des Berner Stadttheaters hinein: Raum für die nicht weniger als zwanzig Vokalsolisten, für den (von Zsolt Czetner vorbereiteten) Chor von Konzert-Theater Bern, das Berner Symphonieorchester sowie den von seiner Mission zutiefst durchdrungenen, am Ende der Aufführung glücklich erschöpften Dirigenten Mario Venzago. Und ein zutiefst berührender Abend, weil hier eine grosse Gruppe von Menschen zusammenfand, um einem darniederliegenden Kunstwerk auf die Beine zu helfen.

Grandios, was dabei geleistet wurde: vom Chor wie dem durch den Überdruck seines Dirigenten vielleicht etwas beengten Orchester. Vor allem aber von den Solisten, von denen hier nur wenige genannt werden können. Andries Cloete zum Beispiel; er versah den alten Grafen von Dürande, der sich vor den heraufdämmernden «neuen Zeiten», welcher Art sie auch sein mögen, in den Tod zurückzieht, mit packender Ausdrücklichkeit. Ebenfalls mit einem Tenor besetzt ist die Partie des jungen Grafen, Armand von Dürande, der in Uwe Stickert einen unglaublich geschmeidigen, durchwegs verständlichen und eindringlichen Darsteller fand. Als Renald Dubois setzte Robin Adams etwas zu viel von der immer gleich lauten Kraft ein; dass es dem Jäger des Grafen ernst ist mit der Verteidigung der Ehre seiner Schwester, wurde fast zu deutlich. Die wiederum, Gabriele, erhielt in der Auslegung durch Sophie Gordeladze ein in vielgestaltiger Ambivalenz schimmerndes Profil. Eindrücklich auch der alte Diener (und Strippenzieher) Nicolas, den Jordan Shanahan mit seinem kernigen Bass zu einer einflussreichen Figur machte. Die Krone gebührt aber Ludovica Bello, die mit einer Stimmkunst und einer Präsenz sondergleichen die Gräfin Morvaille gab – die auf Schoecks Wunsch eingefügte Figur einer Adligen, die den Widerstand gegen die Aufständischen zu organisieren sucht, darin scheitert und sich daraufhin in die Einsamkeit verzieht.

So wäre da ein Rettungsversuch gelungen? Das ist die Frage. Ungeschickt gebaute, hölzern formulierte Libretti gibt es zu Hauf. Aber käme jemand auf die Idee, den Stabreimen Wagners – so er sie nicht aus ironischer Distanz heraus wahrzunehmen vermag – auf den Pelz zu rücken? Das Loblied auf die «heil’ge deutsche Kunst» aus dem «heil’gen deutschen Reich» in dessen «Meistersingern» zu eliminieren? Oder den «Trovatore» Verdis ein bisschen zu begradigen? Gewiss sind die ideologischen Implikationen bei Hermann Burte ganz anderer Natur, aber vielleicht schiessen die Bearbeiter in ihrem Eifer bisweilen doch übers Ziel hinaus – wenn auch betont werden muss, dass diese textliche Neueinrichtung als Akt der Interpretation ihr Recht hat. Einschränkungslos erfolgreich erscheint der Versuch Francesco Micielis, die Übersteuerungen Burtes zu dämpfen, indem der Bearbeiter den Fluss der direkten Rede mit beobachtenden, reflektierenden Einwürfen durchsetzt. Er wäre noch erfolgreicher gewesen, wenn in der Aufführung selbst der Text noch besser verständlich geworden wäre (oder die Übertitelungsanlage zuverlässiger funktioniert hätte).

Der Text ist das eine, die Musik (in ihrem Verhältnis dazu) das andere. In seinem letzten Bühnenwerk greift Othmar Schoeck nach den Sternen. Überlebensgross erhebt sich der Komponist in einer Musik von enormer Emphase, um nicht zu sagen: ins Letzte gesteigertem Pathos. Schoeck mag sich, nachdem ihm klar geworden ist, wie sehr er sich mit der Berliner Uraufführung kompromittiert hat, noch so sehr von Burte abgewandt haben: In der Wucht der Expression haben Komponist und Textdichter durchaus etwas gemeinsam. Das ist bei «Penthesilea» von 1927 auch so, nur herrscht dort neben der höchststehenden Sprache Kleists auch eine musikalische Diktion, die in ihrer spezifischen Eigenheit und ihrem Gegenwartsbezug unmittelbar packt. «Das Schloss Dürande» dagegen wirkt, so der Eindruck nach der Berner Aufführung, ein Alterswerk, dem es ein wenig – nicht an expressivem, wohl aber an musikalischem Aplomb fehlt. Jedenfalls klingt manches etwas angejahrt. Es ist ein wenig wie bei Franz Schreker, dessen späte Werke nie und nimmer an «Die Gezeichneten» oder den «Fernen Klang» heranreichen. Mario Venzago mag in gewisser Weise recht haben, wenn er sagt, jetzt stünden im «Schloss Dürande» Text und Musik auf gleicher Höhe. Ob Othmar Schoeck damit seine Eichendorff-Oper habe, es bleibt aber doch zu bezweifeln.

Zurück zu Eichendorff! Zur Neufassung von Othmar Schoecks belasteter historisch Oper «Schloss Dürande». Herausgegeben von Thomas Gartmann. Chronos-Verlag, Zürich 2018. 332 S.
«Als Schweizer bin ich neutral». Othmar Schoecks Oper «Das Schloss Dürande» und ihr Umfeld. Herausgegeben von Thomas Gartmann mit Simeon Thompson unter redaktioneller Mitarbeit von Daniel Allenbach. Edition Argus, Schliengen 2018. 343 S.

Carmen ist mitten unter uns

Georges Bizets Oper in Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Claude Eichenberger (Carmen) und Winston Arnon (Joker) / Bild Tanja Dorendorf, Konzert-Theater Bern

Für einen wie ihn ist «Carmen» eine Einladung – für einen wie Mario Venzago, der sich in einem emphatischen Sinn als Interpret versteht. Sehr persönlich bringt er sich in seine Projekte ein, und dabei scheut er auch nicht vor Eingriffen in den Notentext zurück. Vor produktiven Eingriffen. Federführend beteiligt war er an jenem Vorhaben der Berner Musikhochschule, das der 1943 in Berlin uraufgeführten Oper «Schloss Dürande» von Othmar Schoeck ein neues Libretto beschert hat. Und für die h-moll-Sinfonie Franz Schuberts, die sogenannten Unvollendete, hat er die beiden fehlenden Sätze, zu denen nur wenige Skizzen bekannt sind, dergestalt eingerichtet, dass sie aufgeführt werden können. So liegt nahe, dass sich Venzago für die von ihm dirigierte Neuinszenierung von «Carmen» im Stadttheater Bern den Editionsproblemen von Georges Bizets Oper zugewandt – und seine eigene Fassung erstellt hat.

Das ist darum legitim, weil «Carmen» nicht wirklich in einer eindeutigen, auktorial festgelegten Version vorliegt. Schon während der Vorbereitungen zur Uraufführung in der Pariser Opéra-Comique 1875 wurde heftig an der Partitur herumgedoktert. Um das Werk nach seiner kühl aufgenommenen Premiere in die Opernhäuser zu bringen, sollten die gesprochenen Dialoge in Rezitative umgewandelt werden, womit, da der Komponist inzwischen verstorben war, Ernest Guiraud beauftragt wurde. Unter dessen Händen erhielt «Carmen» eine andere Gestalt – und in der hat die Oper ihren Siegeszug über die Bühnen der Welt angetreten. Inzwischen freilich sind mehrere kritische Ausgaben der Partitur erschienen, ist man wieder näher bei Bizet – doch ganz nah wird man ihm nicht kommen, auch wenn der Prozess der Umarbeitung durch fremde Hände genau dokumentiert und somit nachvollziehbar ist.

Was nun in Bern geboten wird, stellt nicht, wie es Nikolaus Harnoncourt 2005 in Graz und vier Jahre später John Eliot Gardiner in Paris versucht haben, eine möglichst textgetreue Annäherung an die Version der Uraufführung, sondern eine Mischfassung eigener Art dar. Sie verzichtet auf die originalen Dialoge ebenso wie auf die nachkomponierten Rezitative, weiss die dramaturgische Stringenz aber gleichwohl zu wahren. Zugleich sehen sich Zuhörerin wie Zuhörer da und dort in der gemütlichen Begegnung mit dem Vertrauten aufgerüttelt. Wenn kurz nach Beginn die Gassenjungen als kleine Soldaten aufmarschieren (in Bern sind es kleine Schönheitsköniginnnen), singen sie ihr «tête haute» nicht mit vier Silben, sondern mit deren drei, wie es die Partitur vorsieht. Erhellender ist das stets gestrichene Couplet am Anfang, in dem sich der Soldat Moralès über eine junge Frau und ihren deutlich älteren, sichtbar eifersüchtigen Ehemann lustig macht – Carl Rumstadt bringt das gekonnt. Aufsehenerregend auch die berühmte «Habanera» der Carmen, deren erste Strophe hier in einer früheren Fassung erklingt; dass das Pizzicato unmittelbar davor durch einen heftigen Paukenschlag ergänzt ist (so war es doch?), sorgt überdies für heilsames Erschrecken.

Überhaupt darf man sich an diesem Abend über Einiges wundern. Über die Herren im Anzug zum Beispiel, die im ersten Rang dreist auf den Treppen ganz am Rand Platz nehmen – das soll erlaubt sein? Nun, es sind Herren aus dem Chor, die, von Zsolt Czetner ausgezeichnet vorbereitet, aus dem Zuschauerraum heraus agieren. So wie José, der als artiger Premierenbesucher vorn im Parkett sitzt und sich, nachdem ihm Carmen nicht eine Blume, sondern einen ihrer roten Handschuhe zugeworfen hat, durch die Zuschauer zwängen muss, um auf der Bühne und dem um den Graben laufenden Steg seine Pflicht zu tun. Das hat mit dem Konzept von Stephan Märki zu tun, dem Berner Hausherrn, der für diesen Abend in die Rolle des Regisseurs geschlüpft ist. Eines phantasievollen, witzig verspielten Regisseurs. Carmen, so zeigt es das Konzert-Theater Bern, ist nicht die zur Theaterfigur gewordene Männerprojektion, nicht das Inbild gefährlicher Erotik, wie es Agnes Baltsa vor, mein Gott, fünfunddreissig Jahren im Opernhaus Zürich so unvergesslich vorgeführt hat – Carmen ist mitten unter uns.

Darum wird die Bühne des Berner Stadttheaters in der Ausstattung des Berliner Künstlers und Bühnenbildners Philipp Fürhofer zu drei Seiten von raumhohen, in ihrem unteren Bereich sichtbar zersprungenen Spiegelwänden eingefasst. Wenn die Ouvertüre erklingt – Mario Venzago zeigt mit dem klangschön wie rhythmisch präzis spielenden Berner Symphonieorchester schon hier ganz klar, in welch unsentimentale Richtung die Reise gehen wird –, sehen wir uns selbst: zu ebener Erde und in den oberen Stockwerken. Und sehen wir mit uns jene hohe Gestalt, die an einer Wand steht, an einer Spiegelwand eben; die offenkundig nicht weiter weiss, die möglicherweise genug hat – und die im letzten Moment von einem Tänzer aufgefangen wird. Als Joker wird der agile Winston Arnon bezeichnet, dies in Anlehnung an das düstere Kartenspiel später im Lager der Schmuggler; seine Funktion ist eher die eines Spielleiters, vor allem aber steht er für das Pantomimische, das Körpersprachliche in Bizets Oper – die in der Berner Fassung der Einkleidungen in Folklorismus und Gaunerromantik völlig entbehrt. Der Blick ist ganz und gar fokussiert.

Auf Carmen, die mit ihrer Siebzigerjahrefrisur und dem weissen Hosenanzug das Gegenteil ihrer selbst vorstellt. Müde ist sie, ermüdet von den Männern, von der Unmöglichkeit einer Beziehung, vom Leben überhaupt. Claude Eichenberger stellt das vor echte Herausforderungen; mit ihrem warm timbrierten Mezzosopran, ihrer vorzüglichen französischen Diktion, ihrer Bühnenpräsenz und ihrem darstellerischem Können meistert sie selbst diese Aufgabe, auch wenn ihr deren Anlage mitunter gegen den Strich laufen mag. Schon in der ersten Begegnung mit José schlägt Enttäuschung durch, denn dieser Unteroffizier – Xavier Moreno gibt ihn mit ungemein strahlendem Tenor und fesselnder Gestik – erweist sich rasch als ein Mann wie alle anderen. Selbst das von Kastagnetten begleitete Lied, mit dem Carmen den aus dem Gefängnis entlassenen José zu verführen sucht, will nicht recht in Schwung kommen, vielmehr wird einem bewusst, wie erschreckend früh das fatale Trompetensignal einsetzt, das den Soldaten zurückruft. Carmen scheint den Misserfolg vorausgeahnt zu haben; ihr Wutausbruch hält sich dementsprechend in Grenzen.

Micaëla dagegen, sie wirkt unbeschädigt und kennt keine Grenzen. Annährend gleich aufgemacht wie Carmen, erscheint sie als Alter Ego der Protagonistin. Nur trägt sie weisse Handschuhe, solche der Unschuld – es sind diese kleinen, sorgfältig gesetzten Zeichen, mit denen die Inszenierung die mächtige Spiegelarchitektur auf der Bühne belebt. Elissa Huber legt denn auch mächtig los; die junge Sopranistin bringt einen hellen, leuchtenden, klar zeichnenden Sopran ein, und so kennt ihre Micaëla keine Spur jener Naivität, die dieser Partie gerne zugedacht wird. Lebensfreudig und stimmlich brillant auch Frasquita (Marielle Murphy) und Mercédès (Eleonora Vacchi). Als Josés Konkurrent Escamillo gibt Jordan Shanahan einen prächtigen Macho vom Dienst ab, nur fehlt es ihm etwas an Tiefe, was sich von Young Kwon (Zuniga) nicht behaupten lässt. Etwas enigmatisch ist allein das Finale geraten. In abgezirkelten Schritten kreuzen sich Carmen und José, der aus der Spiegelwand herausgebrochene Glassplitter, den er als Dolch mit sich trägt, scheint durch sie hindurch zu fahren, danach sinkt sie entseelt in die Arme des Jokers: womöglich gestorben an sich selbst.