Golaud et Mélisande

Pelléas
Golaud (Kyle Ketelsen) und Mélisande (Corinne Winters) in der Zürcher Oper / Bild Toni Suter T + T Fotografie, Opernhaus Zürich

 

Peter Hagmann

Männerwirtschaft, schonungslos demaskiert

«Pelléas et Mélisande» von Debussy im Opernhaus Zürich

 

Im Grunde gibt es nur zwei Wege, das Stück auf die Bühne zu bringen: so, wie es Claude Debussy auf den Text von Maurice Maeterlinck ersonnen hat, oder eben nicht so. Beide Wege haben ihre Gültigkeit – besonders dann, wenn sie kompromisslos und konsequent ausgeschritten werden. Als in den frühen neunziger Jahren Peter Stein «Pelléas et Mélisande» herausbrachte, er tat das in der Abgeschiedenheit der Welsh Opera von Cardiff, aber doch zusammen mit Pierre Boulez am Dirigentenpult, entschied er sich für eine Lesart, welche die Bühnenanweisungen eins zu eins in szenische Realität überführte. Der Turm war der Turm, Mélisande trug ihre Haare so lang, dass sie tatsächlich auf Pelléas herniederfallen konnten, und selbst die Tauben, die in diesem Augenblick aus dem Gemäuer emporfliegen, waren Tauben, richtige nämlich. Das wirkte klassizistisch, ein wenig leblos vielleicht, in seiner Geradlinigkeit vermochte es aber durchaus zu packen.

Genau das Gegenteil davon ist jetzt im Opernhaus Zürich zu erleben: in einer konzis durchdachten und fabelhaft ausgearbeiteten Produktion von «Pelléas et Mélisande», die sich radikal von der originalen Einkleidung der Geschichte verabschiedet, das Thema des Stücks vielmehr in ganz eigener Weise aufbereitet. In der Sicht des Regisseurs und Bühnenbildners Dmitri Tcherniakov ist das Schloss Allemonde eine moderne Villa, durch deren Fenster jener dichte, tiefe Wald sichtbar wird, von dem an verschiedenen Stellen des Stücks die Rede ist. Es ist der Wald des Unbewussten, und betrachtet wird er von einer Familie, in der die Kunst der Psychotherapie gelebt wird. Das obligate Glas Wasser steht immer bereit, Hypnose gehört dazu, und selbst Yniold, der jüngste Spross, übt sich früh, wenn er den Schäfer auf die Couch zwingt und sich protokollierend danebensetzt. Dominiert wird der Clan durch Arkel, der vom Alter sichtlich gebeugt ist, deshalb an Charisma und Autorität jedoch nicht das Geringste eingebüsst hat. Wie Brindley Sherratt das verkörpert und wie er es mit seinem festen, voluminösen Bass in Klang setzt – allein schon das ist ein Erlebnis.

Ein Trauma und seine Wirkung

Zu Beginn sitzt die Familie im Hintergrund am Esstisch beim Tee – bis, ein veritabler coup de théâtre, das Licht auf einen Schlag erlischt und das Haus in tiefstes Dunkel gehüllt ist. Zu den ersten Klängen aus dem Graben erscheint eine Schrift, ein wenig wie im epischen Theater Bertolt Brechts. Der Psychiater Golaud, heisst es sinngemäss, habe sich in seine Patientin Mélisande verliebt und bringe sie nach Hause, um die Therapie dort fortzusetzen. Womit alles gesagt ist und das Unglück seinen Lauf nehmen kann. Golaud, sonst gerne auf eine Nebenrolle als Bösewicht reduziert, erscheint hier als der eigentliche dramatische Täter, Pelléas tritt später und eher zufällig auf und stiehlt sich am Ende fast unbemerkt davon – nichts von dem tödlichen Hieb Golauds, den das Libretto erwähnt. Und erst noch Mélisande. Sie ist in Zürich alles andere als die geheimnisvolle, zartgliedrige Schönheit mit langem blondem Haar, als die sie in der Regel erscheint. Nein, sie ist ein kratzbürstiges Strassenmädchen ganz in Schwarz, mit schwerem Schuhwerk, zerschlissenen Jeans und dunklen Ringen um die Augen. Dass diese junge Frau eine schwere Bürde trägt, ist nicht zu übersehen.

Bei Docteur Golaud ist sie allerdings an den Falschen geraten. Mit seinem virilen Bariton und dem eleganten Outfit, das ihm die Kostümbildnerin Elena Zaytseva auf den Leib gezaubert hat, gibt sich Kyle Ketelsen als der berühmte Mann in den besten Jahren zu erkennen. Er denkt zuerst an sich und dann nochmals an sich. Doch je länger ihm der Erfolg versagt bleibt – und er bleibt ihm versagt, obwohl ihm Mélisande am Ende eine Tochter gebiert –, desto krasser gerät er auf die schiefe Bahn, die bestialische Demütigung Mélisandes, für die es in dieser Inszenierung kein Schwert braucht, sagt diesbezüglich alles. Pelléas ist kein Haar besser. Jacques Imbrailo hat stimmlich wie darstellerisch das Zeug zum jugendlichen Liebhaber und Sympathieträger, aber er macht Worte, unendlich viele Worte, er zögert, obwohl sich ihm Mélisande wieder und wieder an die Brust wirft – und wenn es am Ende doch zum Kuss kommt, wirkt dieser scheue Höhepunkt der Oper fast wie ein Zufall. Zum Titelhelden taugt dieser Pelléas nicht, daran lässt Tcherniakov keinen Zweifel; «Golaud et Mélisande» müsste das Werk Debussys hier heissen.

Oder vielleicht einfach: «Mélisande». Durch ihr Trauma gebrochen und damit elementar auf sich selbst zurückgeworfen, trägt diese junge Frau eine unsichtbare Schutzhülle um sich. So wie Golaud als Täter erscheint, der zum Opfer (seiner selbst) wird, so tritt Mélisande als Opfer auf, das gerade in seiner Unberührbarkeit von stärkster Wirkung ist. Die Männergesellschaft auf Schloss Allemonde – als Geneviève hat Yvonne Naef zwar einen wirkungsvollen Auftritt, doch bleibt die Mutter Golauds eine Randfigur –, die Männergesellschaft auf Schloss Allemonde wird durch Mélisande jedenfalls kräftig durcheinandergebracht. Corinne Winters setzt das blendend um. Trotzige Ablehnung und verletzliche Zartheit sind im Spiel der jungen Amerikanerin gleichermassen präsent, und in ihrer flexiblen Stimme vermischt sich das Rauhe mit dem Sirenenhaften. Dazu kommt eine hervorragende Diktion – wobei das für alle Mitglieder dieses sehr speziellen, sehr exquisiten Ensembles gilt.

Spannung von A bis Z

Nichts an diesem Abend ist vom Regisseur dazu erfunden, er nimmt bloss den Text beim Wort. Und lässt ihn in einem ganz und gar gegenwärtigen Ambiente eine Dringlichkeit finden, wie sie bei «Pelléas et Mélisande» selten eintritt. Die Geschichte kommt einem heftig nah – auch weil der Abend, genau gleich wie Verdis «Macbeth» vor einem knappen Monat, aus einem Guss geformt ist. Die auf der Bühne erscheinenden Physiognomien spiegeln sich grossartig in deren stimmlichen Profilen, während unter der Leitung von Alain Altinoglu die Philharmonia Zürich mit jenem symphonischen Selbstbewusstsein agiert, das die Partitur nahelegt, ohne dabei aber die Sänger zu bedrängen. Gewisse Probleme der Balance werden sich noch einpendeln, und dass die Musik Debussys hier insgesamt etwas direkt wirkt, mag auch auf den vergleichsweise kleinen Raum im Opernhaus Zürich zurückgehen. Mit äusserster Sorgfalt mischt der Dirigent die Farben, so dass sich klangliche Mixturen in grosser Vielfalt ergeben – und das Geschehen auch musikalisch jenes Knistern entstehen lässt, das diese Begegnung mit einem impressionistischen Werk zu handgreiflicher Spannung bringt.

Kulturpolitik und Volkes Wille – in der Tonhalle Zürich

 

Peter Hagmann

Mit voller Kraft voraus

Das Tonhalle-Orchester Zürich blickt nach vorn

 

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Das gibt es nur in der Schweiz: Dass Stimmbürger über die Existenz eines Orchesters befinden. In Winterthur gab es das, und das dortige Musikkollegium hat damals kräftigen Sukkurs aus der Bevölkerung erhalten. Bei der Volksabstimmung, die am 5. Juni in Zürich stattfindet, geht es nur indirekt um das Tonhalle-Orchester. Dies allerdings in existentieller Weise. Denn vom Ausgang der Abstimmung über die Umgestaltung des Kongresshauses und die Renovation der Tonhalle hängt, das lässt sich durchaus so sagen, nicht weniger als der Weiterbestand des Tonhalle-Orchesters ab. Martin Vollenwyder, der Präsident der Tonhalle-Gesellschaft Zürich, pflegt es in diesen Tagen noch und noch auszusprechen. Ohne das geplante Bauvorhaben muss die Tonhalle-Gesellschaft die Zahl der Plätze im Grossen Saal von derzeit 1500 auf 750 reduzieren, das verlangen die Sicherheitsvorschriften, deren Einhaltung von der Feuerpolizei seit Jahren angemahnt wird. Mit der Hälfte der Sitze aber lässt sich das Orchester so, wie es heute besteht, nicht halten, die durch den Konzertbetrieb erwirtschafteten Mittel wären zu gering.

Mit Augenmass

Von den politischen Parteien hat sich einzig die SVP gegen das Kongresshaus-Projekt ausgesprochen. Sie stört sich an der Höhe der Kosten; das Innere des Grossen Saals zum Beispiel werde mit einem für die Partei nicht nachvollziehbaren Aufwand restauriert. Das ist freilich kein Argument, sondern einer jener Hüftschüsse, für welche die SVP bekannt ist; mit Hüftschüssen aber lässt sich nicht politisieren, wenigstens nicht auf dem hierzulande üblichen Niveau. In Tat und Wahrheit ist es so, dass von den 240 Millionen Franken, die für das Projekt veranschlagt sind, allein 73 Millionen Franken für die Entschuldung der Kongresshaus-Stiftung und deren Umwandlung in eine öffentlich-rechtliche Stiftung benötigt werden. Und dass von den verbleibenden 167 Millionen Franken der Löwenanteil an den Umbau des Kongresshauses und die dringend erforderliche Anpassung des Gebäudes an die heute gelten Massstäbe in punkto Technik und Sicherheit gehen. Dass bei einem derartigen Eingriff in die Bausubstanz auch der Grosse Saal gründlich überholt wird und dass dabei in gleicher Weise wie beim Kongresshaus die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands angestrebt wird, ist nichts als vernünftig.

Die optische Anmutung eines Konzertsaals darf nicht ausser Acht bleiben. Als ich in den späteren achtziger Jahren nach Zürich kam und das Tonhalle-Orchester einigermassen deprimiert zu Boden lag, wurde dieser Eindruck unterstützt durch das Grau in Grau des an sich opulent gedachten Grossen Saals – durch eine Farbgebung, die nicht dem ursprünglichen Zustand entspricht, sondern auf eine später durchgeführte Renovation zurückgeht. Inzwischen hat sich das Tonhalle-Orchester mächtig erhoben; es hat sich ein im Vergleich zu damals ganz anderes künstlerisches Profil erworben, weshalb es die Wiederherstellung des Saals mehr als verdient hat. Angestrebt wird, nicht zuletzt dank Elmar Weingarten, dem früheren Intendanten des Orchesters, eine leuchtend festliche Farbgebung, wie sie bei der Eröffnung der Tonhalle 1895 vorhanden war – und wie sie sich anhand der noch vorhandenen Farbschichten erschliessen lässt. Welche Wirkung ein solcher Schritt haben haben kann, war 1989 in Basel zu erleben, als der Musiksaal im dortigen Stadtcasino nach einer Renovation, die den Urzustand von 1876 wiederherstellte, mit einem Mal in fröhlichem pompejanischem Rot erstrahlte.

Über die Wiederherstellung des Grossen Saals in der Tonhalle Zürich hinaus soll auch der Hinterbühnenbereich auf Vordermann gebracht werden, sollen also die Aufenthaltsbedingungen für die Musikerinnen und Musiker, die hier immerhin ihren Arbeitsplatz haben und beträchtlich Lebenszeit verbringen, auf ein menschenwürdiges Mass angehoben werden. Weder die Garderoben noch die sanitären Anlagen entsprechen heutigen Gepflogenheiten, die zum Teil sehr wertvollen Instrumente müssen unter Bedingungen aufbewahrt werden, die Schäden zur Folge haben können. Zu diesem Zweck müssen zwei Nachtclubs weichen, die an dieser Stelle ohnehin am nicht eben richtigen Platz waren. Dies alles geschieht im Rahmen einer Neugestaltung des Kongresshauses, das für einen Kongressbetrieb der heutigen Zeit fit gemacht werden soll. Anders als bei dem Neubau-Projekt des spanischen Architekten Rafael Moneo, das 2008 an der Urne gescheitert ist, soll der Bau von Haefeli Moser Steiger aus dem Jahre 1939 insgesamt in seinen ursprünglichen Zustand werden. Die umstrittenen Zubauten von 1985 sollen wieder abgetragen und durch moderate Erweiterungen ersetzt werden, die das Äussere des Gebäudes nicht tangieren, in seinem Inneren jedoch die dringend notwendigen Optimierungen möglichen machen.

Mit voller Kraft voraus

Bei der Volksabstimmung vom 5. Juni geht es also im Grunde um drei Aspekte, nämlich um das Kongresshaus, um die in das Kongresshaus integrierte Tonhalle mit ihrem Orchester und um die Struktur der Trägerschaft dieser Einrichtungen. Aus dem Blickwinkel der Kulturstadt Zürich ist es die Tonhalle, die im Zentrum steht. Dessen ist sich das Orchester bewusst, und so hat es jetzt, gut vier Wochen vor dem Urnengang, das Programm für die Saison 2016/17 vorgelegt. Dabei zeigt sich das Tonhalle-Orchester Zürich in seiner dritten Spielzeit unter der neuen Leitung mit dem Chefdirigenten Lionel Bringuier, der Intendantin Ilona Schmiel und dem Präsidenten Martin Vollenwyder in voller Blüte. Dieser Institution durch ein Nein an der oder das Fernbleiben davon die Lebensader zu kappen, wäre ein Fehler von fürwahr historischem Ausmass.

Lionel Bringuier, der ein gutes Drittel der etwas mehr als einhundert Konzerte dirigiert, wendet sich in der neuen Saison den Ballets Russes zu, jenen meist gross besetzten Werken aus dem frühen 20. Jahrhundert, die im Umkreis um den Intendanten Serge Diahilew entstanden sind. So sind denn der «Sacre du printemps» und «L’Oiseau de feu» von Strawinsky oder «Der Dreispitz» von de Falla zu hören. Bringuier erarbeitet aber auch deutsches Repertoire, Schumanns Vierte etwa oder von Mendelssohn ebenfalls die Vierte sowie den «Lobgesang». Unter den Gastdirigenten finden sich die grossen Alten wie Herbert Blomstedt, Bernard Haitink oder der Ehrendirigent David Zinman, aber auch einige Newcomer wie Jakub Hrůša, der demnächst die Leitung der Bamberger Symphoniker übernehmen wird, oder die drei Damen Emmanuelle Haïm, Barbara Hannigan und Alondra de la Parra. Aus dem Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis sind John Eliot Gardiner, der mit seinem Orchestre Révolutionnaire et Romantique kommt, Thomas Hengelbrock und Philippe Herreweghe angekündigt. Macht alles ziemlich neugierig.

Besondere Aufmerksamkeit erweckt auch die nochmals verstärkte Hinwendung zur neuen Musik, die beim Tonhalle-Orchester, das darf auch einmal ausgesprochen werden, inzwischen ganz selbstverständlich dazugehört. An vorderster Front tragen dazu bei der «Artist in Residence» Martin Grubinger, ein Schlagzeuger von unglaublichem Können und sensationeller Breitenwirkung, sowie der Dirigent und Komponist Peter Eötvös als Inhaber des «Creative Chair». Taktisch ausgesprochen geschickt, diese Mischung zwischen alt und jung, zwischen avanciert und ohrenfällig – und Zeichen für die prickelnde Lebendigkeit, die beim Orchester inzwischen zum Alltag gehört. Damit gemeint sind nicht nur die zahlreichen Angebote an jüngere Konzertbesucher, das bezieht sich auch auf den Kalender an sich. Im Januar 2017 zum Beispiel folgen sich Kent Nagano, der die «Eclairs sur l’Au-Delà» dirigiert, ein wunderschönes Spätwerk von Olivier Messiaen, und Christoph von Dohnányi, der die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta von Béla Bartók im Gepäck hat, worauf der vom SWR her rühmlich bekannte François-Xavier Roth mit der spätromantischen Tondichtung «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönberg erscheint und ihm dann das hochgelobte Schumann-Quartett mit einem Kammermusikabend nachfolgt. Am Totenbett, das von den Medien und ihren Managern für die klassische Musik so gern heraufbeschworen wird, geht es anders zu.

Westwärts

In voller Fahrt (und temperamentvoll angeleitet durch Giovanni Antonini) steuert das Tonhalle-Orchester Anfang Juli 2017 auf einen Abschied zu. Dann heisst es: Koffer packen, westwärts ziehen – hoffentlich, nein, sicherlich. Für die drei Spielzeiten bis 2020 nimmt das Orchester seinen Sitz in einem dannzumal fertiggestellten Provisorium auf dem Maag-Areal ein, in unmittelbarer Nähe des Schiffbaus, der Zürcher Hochschule der Künste und der Probebühnen des Opernhauses. Was von diesem Übergangssaal schon sichtbar geworden ist, lässt einiges erwarten. Und wer sich an den temporären Konzertsaal von 1997 in der Luzerner von-Moos-Halle erinnert, als das dortige Kunsthaus abgebrochen und das KKL noch nicht fertiggestellt war, wird keinen Zweifel am Wert dieser Übergangslösung in Züri-West hegen.

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So soll sich der Konzertsaal im Zürcher Maag-Areal, der provisorische Sitz des Tonhalle-Orchesters Zürich in den Jahren 2017 bis 2020, präsentieren / Visualisierung von Spillmann Echsle Architekten, Bild Tonhalle Zürich

 

«Macbeth» in Zürich

 

Verfolger und Verfolgter: Macbeth (Markus Brück) auf der Zürcher Bühne / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

 

Peter Hagmann

Ehrgeiz, Machtrausch und Verfolgungswahn

Verdis «Macbeth» mit Teodor Currentzis und Barrie Kosky am Opernhaus Zürich

 

Zu sehen gibt es da rein gar nichts. Oder, konkreter und korrekter, nur sehr wenig. Dabei befinden wir uns doch im Opernhaus Zürich und in einem Stück musikalischen Theaters. Doch der Regisseur Barrie Kosky wollte «Macbeth», die Oper Giuseppe Verdis, als ein Geschehen zeigen, das sich allein im Innern der beiden Protagonisten abspielt: als eine Geschichte von Ehrgeiz, Machtrausch und Verfolgungswahn. Eben genau so, wie er das Stück hört. Kosky, der Nachfolger Andreas Homokis an der Komischen Oper Berlin und ein Theatertier voller unkonventioneller Ideen, empfindet «Macbeth» nicht als ein Schauerstück voll von Mord und Totschlag; die schauerlichen Kämpfe, von denen Shakespeare berichtet, spielen sich für ihn vielmehr als psychische Reflexe ab. Diesen durchaus subjektiv interpretierenden, aber gerade darum hochinteressanten Ansatz bringt er mit hinreissender Konsequenz und einer Radikalität sondergleichen auf die Bühne.

Klangwunder aus dem schwarzen Loch

Auf eine Bühne, die ein schwarzes Loch ist. Klaus Grünberg, der auch die ungewöhnliche, mit überraschen Effekten aufwartende Beleuchtung konzipierte, machte das Spielfeld zu einem ansteigenden, sich im Unendlichen verlierenden Tunnel, der an den beiden Seiten durch kurze, dämmerig glühende Lichtsäulen begrenzt wird. Den Vordergrund beherrscht eine mächtige, hier tief, dort höher hängende Dose, aus der trüber Schein fällt; das Licht erhellt den dramatischen Ort, der allein durch zwei karge Holzstühle markiert ist. Jeder Anschein von Realismus ist da getilgt. Es gibt keinen Aufzug des amtierenden Königs, der kurze Zeit nach seiner Ankunft von Gastgeber erschlagen wird, kein grosses Fest, an dem sich der Mörder blossstellt, kein Schlafzimmer, in dem die furchterregende Strippenzieherin schliesslich doch die Contenance verliert. Allein die Hexen werden eine Spur fassbarer – aber doch nicht wirklich, ist dieser als Schemen erscheinende Bewegungschor doch aus nackten Wesen gebildet, die Mann und Frau zugleich sind. Alles, was das grosse Bild erzeugt, kommt aus dem Dunkel des Hintergrunds und der Bühnenseiten, und das rein akustisch, dafür effektvoll in den Raum rund ums Publikum gesetzt.

So erscheint «Macbeth» hier als ein veritables dramma in musica – und das heisst, dass das Instrumentale, durchaus der Partitur gemäss, nicht begleitende, untermalende Funktion erfüllt, sondern zu einem zentralen Parameter wird. Ebenso sehr, wie es die Darsteller auf der Bühne tun, ist es das Orchester, das die Geschichte erzählt – die Philharmonia Zürich tut das brillant: mit aufgerauhten Klängen, beissend scharf bisweilen, aber auch flüsterleise. Kein Wunder, am Pult steht nämlich Teodor Currentzis, der Grieche aus Russland oder der Russe griechischer Herkunft, der seiner aufschiessenden musikalischen Phantasie freien Lauf lässt. Wüst stellte sich Verdi seine Oper vor, und er bezog das in erster Linie auf die vokale Darstellung. Currentzis, mit seinem Ensemble Musica Aeterna als ein wilder, ja frecher Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis bekannt geworden, nimmt sich das für seine Aufgaben nicht weniger radikal zu Herzen, als es der Regisseur auf seinem Feld tut.

Er geht Verdis Musik aus dem Geist ihrer Entstehungszeit an und lässt sie gerade darum ganz heutig wirken. Das Spiel ohne Vibrato zum Beispiel, für das Zürcher Opernorchester eine Selbstverständlichkeit, gehört absolut dazu – und mehr noch: es wir dazu einem der wirkungsvollsten Ausdrucksmittel. Ganz gläsern können da die Klänge werden, und sie nehmen dabei eine Bedrohlichkeit sondergleichen ein. Dazu kommen noch nie gehörte Effekte, etwa ein Flüstern des Chors gleichzeitig zu seinem Singen oder ein Gejohle des Volks, in dem die hinter Bühne agierende Band völlig untergeht. Nicht zuletzt aber die Vielfalt der Artikulation, auch der Unterscheidung zwischen schweren und leichten Tönen, sowie die Spannweite in der Wahl der Tempi – alles mit dem Ziel, die Musik Verdis in einem Zustand fiebriger Erregung klingen zu lassen. Das alles weitaus freier, souveräner als in der Pariser Produktion von 2009, die auf DVD vorliegt. Man muss es gehört haben, um es zu begreifen.

Extrem und schön zugleich

Wie auf der Bühne gesungen wird, steht dem in keiner Weise nach. Der grosse Chor des leidenden Volkes, mit dem Verdi an seinen Erfolg mit «Nabucco» anzuschliessen suchte, wird vom Chor und dem Zusatzchor der Oper Zürich zu einer Eindringlichkeit gebracht, die das legitime Anliegen des Moments und die Fragwürdigkeit seiner Umsetzung in gleicher Weise fühlbar macht. Und die beiden Protagonisten kommen dem, was sich Verdi an Verbindung zwischen dem Extremen und dem Schönen gedacht haben mag, in packender Weise nahe. Was besonders darum beeindruckt, da die schwarzen, durchgehend gleich geschnittenen Kostüme von Klaus Bruns nicht die Individualitäten unterstreichen, sondern vielmehr die Figuren als Chiffren stehen lassen. Um so effektvoller, wenn Lady Macbeth im Schlafzimmer in unschuldigem Weiss und Macbeth am Ende in seinem verschmutzten Unterhemd als eine Art Saddam Hussein nach dem Herauskommen aus dem Erdloch erscheinen.

Als Lady Macbeth bringt Tatiana Serjan einen in der Tiefe ruhenden, opulent leuchtenden Sopran ein, der keinen Zweifel daran lässt, wer in diesem Haushalt die Hosen trägt. Die Schlafwandlerszene zeigt dann aber grossartig, wie nahe Stärke und Schwäche nebeneinander liegen können. Umgekehrt ist Macbeth hier ganz aufbrausender Schwächling. Etwas kleiner als seine Gattin und gern mit rundem Rücken sitzend, hängt er sich an den Rocksaum der Frau, die für ihn eher eine Mutter zu sein scheint – eine horribel strenge Mutter, in deren Schlafzimmer sich der Sohn/Gatte nicht mehr wagt. Markus Brück verkörpert das darstellerisch grandios, und sein vielfarbiger, kraftvoller Bariton erlaubt ihm, das Körpersprachliche ungeschmälert hörbar zu machen. Dazu kommen bei ihm eine stilistische Versatilität und eine derart idiomatische Diktion, das man ihn geradewegs für einen geborenen Italiener halten könnte. Nicht weniger überzeugend sind in dieser Produktion die kleineren Partien besetzt, etwa der Banco von Wenwei Zhang, der Macduff von Pavol Breslik, der Malcolm von Airam Hernandez oder die Kammerfrau von Ivana Rusko.

Gegen Ende gibt es sogar noch etwas zu sehen, etwas durchaus Spektakuläres. Es sind fünf Krähen, die den Abgang des Schreckenspaars begleiten. Zunächst hält man sie für echt und runzelt angesichts des Tierschutzes die Stirn; wie sie jedoch so ungerührt dasitzen und dann ihre Schnäbel in einer Weise öffnen, als setzten sie zum Singen an, blickt man durch und erkennt eine stupende Leistung der Abteilung Theaterplastik der Zürcher Oper. Und einen genialen dramaturgischen Trick. In einem Zug sind die drei Stunden dieses Abends vorbei: in einer Aufführung, die nicht anders als weltstädtisch genannt zu werden verdient.

Festival Alte Musik Zürich

 

Peter Hagmann

Neue Alte Musik

«Trauer und Trost» – in Klängen aus dem 16. Jahrhundert

 

Vor Mozart, vor Bach, selbst vor Monteverdi gab es schon kunstvoll gemachte Musik: alte Musik eben oder, wenn man will, Alte Musik (wobei ja schon Bach zur alten Musik gerechnet wird). Seit dem zweiten Aufbruch, an dessen Dynamik Nikolaus Harnoncourt entscheidenden Anteil hatte, also seit ungefähr 1950, hat sich diese alte Musik ein ungeheuer weites Feld geschaffen. Von den pionierhaften Anfängen, die an den schmalen Fluss kurz nach der Quelle erinnern, ist sie zu einem breiten Strom geworden; sie hat sich ihren eigenen Markt geschaffen mit spezialisierten Interpreten, CD-Labels, Festivals und, nicht zuletzt, einem gewaltig gewachsenen Publikum. Jedenfalls ausserhalb der musikalischen Weltstadt Zürich.

In der Stadt Zwinglis stösst alte Musik auf vergleichsweise geringe Beachtung. Während in den Anlässen der «Resonanzen», des gut einwöchigen Festivals im Wiener Konzerthaus, die Säle zum Bersten voll sind und die Interpreten so gefeiert werden wie andernorts die Pavarottis und die Domingos, findet sich zu den Konzerten des Forums Alte Musik Zürich ein seinerseits spezialisiertes, spürbar engagiertes, aber zahlenmässig ernüchternd kleines Publikum ein – ganz ähnlich wie dort, wo die Tonkunst unserer Tage im Zentrum steht. Es geht halt nichts über den guten Brahms. Und was man nicht kennt, mag man eben nicht.

Phantasievolle Programme für Spitzeninterpreten

Das ist nun allerdings ein Fehler. Denn was das von der Stadt und einer Reihe weiterer Institutionen unterstützte Forum Alte Musik Zürich unter der Leitung der Musikerin Martina Joos und des emeritierten Musikredaktors Roland Wächter realisiert, braucht keine Vergleiche zu scheuen. Seit 2002 gibt es bei der 1995 gegründeten Konzertreihe jedes Jahr ein Festival zu einem Thema aus dem Bereich der alten Musik, seit 2007 sind es sogar deren zwei. Sie erstrecken sich jeweils über zwei Wochenenden und bieten Veranstaltungen verschiedenster Art – vom wissenschaftlichen Symposion bis zum Apéro-Konzert. Und das an den unterschiedlichsten Orten: Im Frühjahr 2014 etwa gab es eine musikalische Stadtwanderung, die im Hotel Hirschen, im Zentrum Karl der Grosse, im Zunfthaus zur Waag und im Lavatersaal nächst St. Peter vier Stationen aus der älteren Musikgeschichte Zürichs veranschaulichte. Die Kirche St. Peter mit ihrem herrlichen, stuckverzierten Innenraum bildet in dieser Reihe der Lokalitäten gewiss einen Höhepunkt.

Ausserdem empfangen die Örtlichkeiten immer wieder hochkarätige Interpreten. Die Camerata Köln oder die Akademie für Alte Musik Berlin waren ebenso zu Gast wie Kristian Bezuidenhout am Fortepiano, der Geiger Daniel Sepec oder Hille Perl mit ihrer Gambenkunst – beim Forum Alte Musik Zürich bekommt man zu hören, wer in diesem inzwischen ganz eigenen Segment der Kunstmusik das Sagen hat. Nicht zuletzt geschieht das in anregend gebauten Programmen. Die Themen sind da nicht einfach Aufputz, sie bilden vielmehr den Kern, von dem das Gebotene ausgeht. Im Frühjahr 2015 gab es zum Beispiel eine veritable Karwoche, davor war der ansonsten wenig bemerkte 300. Geburtstag von Carl Philipp Emanuel Bach begangen worden, hatte eine Ausgabe auf alte Musik jenseits der bekannten Zentren aufmerksam gemacht oder war die Rede von Himmelsmusik und Höllenlärm.

König Davids Reue

Die Frühlingsausgabe dieses Jahres nun – die am kommenden Sonntag mit einer Aufführung von Bachs h-moll-Messe mit den Kräften der St. Galler Bachstiftung unter der Leitung von Rudolf Lutz endet – stellte ein Meisterwerk aus dem 16. Jahrhundert in den Mittelpunkt. Orlando di Lasso, 1530 oder 1532 geboren, 1594 gestorben, war einer der berühmtesten Musiker seiner Zeit: als Komponist und Kapellmeister am Hof des Herzogs Albrecht V. in München engagiert, aber weit über Bayern hinaus verehrt. Im Auftrag seines Dienstherrn komponierte er in den Jahren 1584 bis 1586 Motetten über die «Psalmi Davidis poenitentiales», die sieben zerknirschten, aber auch tröstlichen Busspsalmen Davids, die in zwei grosse, mit äusserster Pracht illuminierte Handschriften gebracht wurden. Und das ist nun das Spezialgebiet des Zürcher Musikhistorikers Andreas Wernli, der diese Handschriften präsentierte. Danach wurden die sieben Psalmen integral vorgetragen – nicht nur eine Rarität, sondern auch ein Grossunternehmen.

Der Anspruch ist hoch – an die Sängerinnen und Sänger wie an die Zuhörerschaft. Es handelt sich hier um a-cappella-Gesänge, um Musik ohne Instrumentalbegleitung, über lateinische Texte, und das in einem Stil, der in der Zeit vor dem Aufkommen der harmonischen Tonalität wurzelt, heutzutage also geradezu modern anmutet. Da muss man die Ohren spitzen. Und sich mit Geduld einlassen: Immer besser erschien im Verlauf der Darbietung jedenfalls die Verständlichkeit, immer mehr liessen sich – auch anhand der an die Wand projizierten Übersetzungen ins Deutsche – die Reaktionen der Musik auf die Inhalte der Texte erkennen, immer lebendiger wurde einem das musikalische Geschehen insgesamt. Ein musikalisches Geschehen, das aufs erste Hören hin einfach wirkt und seine kunstvolle Faktur erst bei näherem Hinhören offenbart.

Vokale und instrumentale Kunst

Dazwischen gestreut war Instrumentalmusik aus dem Umfeld der Busspsalmen. Zum Beispiel ein stupendes Ricercar zu vier Stimmen über die Tonfolge c-d-e-f-g-a und zurück von Hans Leo Hassler, das Polyphonie vom Feinsten bietet. Das Cellini Consort mit den vier Gambisten Brian Franklin, Thomas Goetschel, Tore Eketorp und Leonardo Bortolotto brachte den näselnden, ziehenden Ton seiner Instrumente zu blendender Wirkung. Für die Busspsalmen Lassos war das von Stephen Smith geleitete Ensemble Corund gerufen worden, eine hochstehende professionelle Vokalgruppe aus Luzern, die ihre Aufgabe ausgezeichnet meisterte und auch plötzlich auftretende Klippen gewandt zu umschiffen wusste. Ob Tempo und Dynamik tatsächlich so gleichförmig bleiben müssen, wie es der Dirigent wollte, bleibe dahingestellt; und wenn ein Wunsch offen wäre, dann der, dass die Anfänge gleich auf Anhieb so strahlend klängen wie das, was danach folgt. Dessen ungeachtet geriet dieser Auftritt zu St. Peter zu einem grossen Moment.

Das nächste Festival ist bereits in Sicht. «Mittelalter» nennt es sich, ganz lapidar. Und es präsentiert fünf musikalische Biographien; angekündigt sind Hildegard von Bingen, Francesco Landini, Eleonor von Aquitanien, Guillaume de Machaut und Oswald von Wolkenstein. An Entdeckungen wird es in einem halben Jahr nicht fehlen.

Mozarts Violinkonzerte

 

Peter Hagmann

Das Schwere am Leichten

Vilde Frang, Christian Tetzlaff und Frank Peter Zimmermann spielen Mozart

 

Zeiten kommen und gehen, auch in der klassischen Musik – das macht ihr Leben aus. Die Violinkonzerte Wolfgang Amadeus Mozarts (und mit ihnen die Sinfonia concertante für Violine, Viola und Orchester in Es-dur, KV 364) sprechen davon. Sie im philharmonischen Gewand zu spielen, wie es etwa Herbert von Karajan 1978 mit der noch blutjungen Anne-Sophie Mutter getan hat, ist heute obsolet. Nur die Wiener Philharmoniker als die Gralshüter des Vergangenen wagen es noch. Sie taten es im Sommer 2014 beim Lucerne Festival, zusammen mit dem Konzertmeister Rainer Küchl und dem Solo-Bratscher Heinrich Koll, am Dirigentenpult begleitet von Gustavo Dudamel – ein gespenstischer Moment «à la recherche du temps perdu».

Beim Musikkollegium Winterthur

Selbst ein so ausgeprägt, aber auch bewusst der Tradition verbundener Geiger wie Frank Peter Zimmermann hält fest, dass er Mozarts Violinkonzerte keinesfalls mehr so spielen könne, wie er es in seinen Aufnahmen von 1984 (mit dem Württembergischen Kammerorchester und dem Dirigenten Jörg Faerber) und von 1995 (mit Wolfgang Sawallisch am Pult der Berliner Philharmoniker) getan habe. Tatsächlich herrscht in der Einspielung der Konzerte Nr. 1, 3 und 4, die er im letzten Jahr vorgelegt hat (Hänssler 98.039), ein neuer Ton: leichter in der Substanz und zugleich griffiger in der Artikulation. Die historisch informierte Aufführungspraxis hat ja manches an den Tag gebracht, was heute auch von Musikern, die nicht explizit für diese Richtung stehen, ganz selbstverständlich berücksichtigt wird. Der sorgsame Umgang mit dem Vibrato, das nicht mehr als Grundlage der Tonbildung eingesetzt, sondern wieder als Verzierung verstanden wird, mag davon zeugen.

Die Verschlankung des Tons hat natürlich auch mit der Besetzungsstärke des begleitenden Orchesters zu tun. Heute werden die Violinkonzerte Mozarts im Prinzip als Kammermusik angesehen – dies im Gegensatz zu den Klavierkonzerten, die schon von der Gattung her mehr auf Repräsentanz als auf Intimität hin angelegt sind. Beispiel dafür ist das Projekt des Musikkollegiums Winterthur, das die fünf Geigenkonzerte und die Sinfonia concertante mit Christian Tetzlaff erarbeitet hat – mit ihm allein, ohne Dirigenten. Ein interessanter, auch mutiger Ansatz, der durchaus die Zeichen der Zeit aufnimmt: Das Zürcher Kammerorchester, das Kammerorchester Basel, das Freiburger Kammerorchester, aber auch grösser besetzte Klangkörper wie die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, Les Dissonances aus Dijon oder Spira mirabilis verzichten bisweilen auf den Dirigenten.

Allein, auch das braucht Übung, das war beim Musikkollegium Winterthur zu hören. Fehlt der Dirigent, nicht nur als Koordinator, sondern auch als Energiezentrum, sind die Orchestermusiker in einer besonderen Weise gefordert, einer anderen als unter der Leitung eines Dirigenten. Der Konzertmeister – leider werden im Programmheft die Namen der an den jeweiligen Konzerten beteiligten Orchestermitglieder im Gegensatz zu jenen der Gönner nicht genannt – hielt die Fäden energisch in der Hand, die beiden Hörner und die beiden Oboen setzten leuchtkräftige Farblichter – und dennoch fehlte den Interpretation so etwas wie eine Mitte.

Das vielleicht um so mehr, als Christian Tetzlaff doch eher als Solist und nicht so sehr Primgeiger in Erscheinung trat. Ausserdem hinterliess der eine von mir besuchte Abend im Musiksaal des Winterthurer Stadthauses den Eindruck, Tetzlaff habe seine Aufgabe vielleicht doch nicht ernst genug genommen. Viel Temperament gab es da, gewiss – und das hat als Einspruch gegen das Apollinische, das Verharmlosende, das bei den Geigenkonzerten Mozarts auch heute noch gern hervortritt, Reiz wie Berechtigung. Aber es war auch ein gerüttelt Mass an Ungenauigkeit, an Verschleifungen und Beiläufigkeit wahrzunehmen. Als ob der gerade auch für seine Präzision geschätzte Geiger hier den stürmischen Naturburschen hätte geben wollen.

Arcangelo aus London

Von diesem Burschikosen ist die Vorstellung der Violinkonzerte Mozarts durch die kometenhaft aufsteigende Norwegerin Vilde Frang und das Londoner Ensemble Arcangelo mit seinem Dirigenten Jonathan Cohen ganz und gar frei. Hier herrschen so viel Innigkeit des Gefühlsausdrucks und so natürliche Musikalität, dass diese Stücke in neuer Beleuchtung erscheinen – und was die ebenfalls letztes Jahr erschienene CD (Warner 08256462776776) diesbezüglich erkennen lässt, hat der Live-Auftritt bei der Neuen Konzertreihe Zürich voll und ganz bestätigt.

Vilde Frang gehört zu den Geigerinnen einer neuen Generation. Sie spielt nicht auf einem Instrument aus der Entstehungszeit der Kompositionen, wenn auch immerhin auf einer (übrigens sehr schönen) Geige von Jean-Baptiste Vuillaume von 1864. Aber das an sprachlichen Mustern orientierte Phrasieren statt dem möglichst weiten Bogen, die lebendige Artikulation anstelle des möglichst geschlossenen Legatos sind ihr selbstverständlich. Dazu pflegt sie einen mit feinem Pinsel gezogenen, äusserst farbenreichen Ton, der nicht das Gepresste des philharmonischen Klangs hat, aber auch nicht das Zirpende, das in der historischen Praxis da und dort auftaucht. Und nicht zuletzt verbindet sie ihre unverstellte, direkte Emotionalität mit grossartiger Präzision. Und das will etwas heissen, denn die Violinkonzerte Mozarts sind diesbezüglich nicht zu unterschätzen; das scheinbar Leichte ist hier besonders schwer.

Mit Arcangelo bildet die junge Geigerin eine sozusagen ideale Partnerschaft. Vor vier Jahren von dem Cellisten, Cembalisten und Dirigenten Jonathan Cohen gegründet und hierzulande erst wenig bekannt, gehört das Ensemble nicht im strengen Sinn der historischen Praxis an. Die Hörner arbeiten zwar ohne Ventile, die Streicher halten die Bögen so, wie es im 18. Jahrhundert üblich war, also etwas weiter entfernt vom Frosch, aber der Stimmton bleibt bei 440 Hertz. Auch das, die Vermischung von Elementen aus der hergebrachten wie der historisch informierten Praxis, gehört zum neuen Stil dieser Tage. Dazu eben der Beizug eines Dirigenten – der sich hier um so vorteilhafter auswirkt, als Jonathan Cohen starke, federnde Energie aus dem klein besetzten und geschickt ausbalancierten Ensemble hervorzulocken vermag. Das verleiht auf der CD den beiden Violinkonzerten Nr. 1 (B-dur, KV 207) und Nr. 5 (A-dur, KV 219) hinreissenden Biss. Im Zürcher Konzert profilierte sich das Ensemble zudem mit der A-dur-Sinfonie, KV 201, von Mozart und der sehr eigenartigen, überaus spannend wiedergegebenen Sinfonie in G-dur, Hob. I:47, von Joseph Haydn.

Weniger gut gelang in der Zürcher Tonhalle Mozarts Sinfonia concertante. Lawrence Power war nicht der richtige Partner für diese Interpretation. Sein Ton trägt viel kräftiger auf als der von Vilde Frang und von Arcangelo, was dazu führte, dass die Bratsche sinnwidrig in den Vordergrund geriet. Die Geigerin musste sich nach Kräften dagegen wehren, an die Wand gespielt zu werden, zumal die Körpersprache des Bratschers, der sich über weite Strecken von seiner Partnerin an der Geige abwandte und seine Aufmerksamkeit den Oboen schenkte, einige Fragen in den Raum stellte. Mit Maxim Rysanov gerät das auf der CD erheblich besser. Weitaus eindrücklicher wirkte das Stück auch beim Musikkollegium Winterthur, wo der Geiger Christian Tetzlaff mit Hanna Weinmeister an der Bratsche ein echtes Duo bildete und das Orchester aktiv bei der Sache war.

Hohe Kunst und privates Engagement

Das gemeinsame Musizieren hat eben in hohem Mass mit der zwischenmenschlichen Beziehung zu tun. Das war auch vor dem Auftritt von Arcangelo bei einem Sonderkonzert im Kleinen Saal der Tonhalle zu erleben, wo Jürg Hochuli, der engagierte Unternehmer, der die Neue Konzertreihe Zürich veranstaltet, die Gründung einer Stiftung zur Förderung junger Musikerinnen und Musiker bekanntgab. Geboten wurden das Klavierquartett in g-moll, KV 478, von Mozart und das Klavierquartett von Brahms, das ebenfalls in g-moll steht und die Opuszahl 25 trägt. Und das auf jenem hohen Niveau, das in den Konzerten Hochulis fast die Regel ist. Bei Mozart brachte sich der Pianist Martin Helmchen auf dem etwas grellen, für diesen Saal zu lauten Steinway derart prononciert ein, dass einem im Zuhören bewusst wurde, wie sehr dieses Stück ein heimliches Klavierkonzert ist. Bei Brahms dagegen fügte er sich ganz in den Gesamtklang ein und bildete mit der Geigerin Veronika Eberle, dem Bratscher Antoine Tamestit und der Cellistin Marie-Elisabeth Hecker ein äusserst vital agierendes Ensemble. So lange es solche Musiker gibt, wird es klassische Musik geben. Der Saal war nämlich voll besetzt.

Wolfgang Rihm in Zürich

 

Hamlet I alias Heiner Müller (Matthias Reichwald) zwischen Leitfiguren: Rihms «Hamletmaschine» auf der Zürcher Opernbühne / Bild Opernhaus Zürich, Tanja DOrendorf
Hamlet I alias Heiner Müller (Matthias Reichwald) zwischen Leitfiguren: Rihms «Hamletmaschine» auf der Zürcher Opernbühne / Bild Opernhaus Zürich, Tanja Dorendorf

 

Peter Hagmann

Zukunft in der Vergangenheit?

«Die Hamletmaschine» von Wolfgang Rihm im Opernhaus Zürich

 

Nicht laut genug kann begrüsst werden, mit welcher Konsequenz und welchem Mut am Opernhaus Zürich das Musiktheater der jüngeren Zeit gepflegt wird. Und das umso mehr, als es hier nicht so sehr um Uraufführungen geht, wie sie manches Haus landauf, landab präsentiert (oder wenigstens zu präsentieren ankündigt). Im Fokus steht eher die Pflege dessen, was als Repertoire des neuen Musiktheaters zur Verfügung steht, im Alltag des Opernbetriebs aber kaum Beachtung findet. Da setzt die Zürcher Oper unter der Leitung von Andreas Homoki an. 2012/13 gab es die «Drei Schwestern» von Peter Eötvös, in der Spielzeit darauf «Die Soldaten» von Bernd Alois Zimmermann, jetzt steht Wolfgang Rihms «Hamletmaschine» auf dem Programm.

Was übrigens nicht weniger Risiko birgt als eine Uraufführung. Nachdem es 1987 in Mannheim aus der Taufe gehoben worden war, ist das Stück nämlich nur noch zwei weitere Male herausgekommen: wenige Wochen nach der Uraufführung in Freiburg, 1990 dann in Hamburg. Dass das Werk in der Schublade verschwand, hat vielleicht seine Gründe – von der üppigen Besetzung der Partitur über die Ansprüche an die Ausführenden bis hin zu der geheimnisvollen Textvorlage, einer Auseinandersetzung mit Shakespeares «Hamlet», die Heiner Müller 1977 innerhalb einer Nacht auf neun Seiten hingeworfen hat. Vor allem aber, das erweist die erneute Begegnung mit Rihms frühem Beitrag zum Musiktheater, ist das Werk mehr als andere seiner Entstehungszeit verpflichtet – eine Art Zeitoper wie Hindemiths «Neues vom Tage» oder «Von heute auf morgen» von Arnold Schönberg.

Wolfgang Rihm wandelte damals auf den Pfaden Antonin Artauds, des französischen Theatertheoretikers, der ihm entscheidende Anstösse für eine neue Art szenischer Kunst vermittelte. Nicht mehr die linear erzählte und in Musik gesetzte Geschichte sollte die Grundlage des Geschehens bilden, diese hergebrachten Parameter sollten vielmehr ersetzt werden durch Elementares und Rituelles. «Tutuguri» nannte sich zum Beispiel ein Ballett von 1982, das mit ebenso grosser Orchesterbesetzung arbeitet wie «Die Hamletmaschine», das ebenfalls ein reich bestücktes Schlagwerk im Raum verteilt und das in gleicher Weise wie das Musiktheaterwerk (die Bezeichnung «Oper» ist hier eindeutig weniger am Platz) Strategien der Überwältigung verfolgt. Rihm hatte hier einen Weg gefunden, auf dem er sich gegen die verfehlte, weil simplizistische Etikettierung als Galionsfigur einer «Neuen Einfachheit» begegnen zu können hoffte.

Heiner Müller wiederum schrieb sich mit der «Hamletmaschine» von der Seele, was ihn damals beschäftigte und belastete. Die Idee einer neuen Gesellschaftsordnung hatte sich aufgelöst im bürokratisierten Unrechts-Alltag der DDR, die Rolle des Schriftstellers und Intellektuellen als Vordenker und Wegpfader erschien gescheitert an der Anwendung schierer Gewalt, wie ihn der erst wenige Jahre zurückliegende Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag veranschaulichte. In seinem nächtlichen Schreibrausch projizierte Müller seine persönliche Problemlage in die Figuren des Hamlet und seiner Umgebung. Extrem kondensiert türmt der Text eine Fülle von Gedankensplittern und Assoziationen aufeinander, zugleich wirkt er selbst in der geräuschlosen Lektüre als ein heftiger Aufschrei.

Wie damit umgehen? Das ist die Frage, der sich jetzt das Opernhaus Zürich gestellt hat – und an der es letztlich gescheitert ist. In Ehren gescheitert. Nach dem eineinhalbstündigen Donnerwetter dieses Abends verliess ich das Haus weder überwältigt noch kathartisch geläutert, sondern – zugedröhnt und zusammengeschlagen. In Heiner Müllers Text möchte man an diesem überintensiven Abend durchaus eindringen; allein, zu verstehen ist wenig, derartiges Toben und Schreien herrscht auf der Bühne. Der äusserst gespannten, über weite Strecken expansiven Musik möchte man gerne zuhören, zumal das vom Komponisten phantasievoll eingesetzte Schlagwerk optimal in den vergleichsweise kleinen Raum des Zürcher Opernhauses verteilt ist und der Dirigent Gabriel Feltz am Pult der Zürcher Philharmonia die Zügel fest in der Hand hält. Stattdessen wird der Zuhörer bedrängt durch eine Flut penetranter Bilder aus dem Geist des Theaters der Grausamkeit.

In der Uraufführung hatte «Die Hamletmaschine» als vielversprechender Prototyp des nicht-narrativen, sozusagen abstrakten Musiktheaters gewirkt – und äusserst anregend gewirkt. Text und Partitur stützten diese Empfindung. In Zürich ereignet sich gerade das Gegenteil, denn Sebastian Baumgarten, der Regisseur des Abends, unterliegt der Vorstellung, möglichst jeden Satz in möglichst heftige Bilder übersetzen zu müssen -in Bilder auch, die eins zu eines unserer Tagesaktualität angehören. So werden, wenn gegen das Ende hin Ophelia (die schlichtweg grossartige Nicola Beller Carbone) das Heft in die Hand nimmt, jene Szenen aus Guantanamo, die als Inbegriff pervertierter Grausamkeit um die Welt gingen, in allen Einzelheiten nachgestellt – allerdings dergestalt, dass die Lagerwächter die Opfer sind und die von der Kostümbildnerin Marysol Del Castillo in die bekannten orangen Overalls gesteckten weiblichen Gefangenen die Täterinnen.

Dabei folgen sich in der einem Schiffsrumpf gleichenden Festung, die Barbara Ehnes auf die Bühne gestellt hat, die Bilder in hektischem Ablauf, als müsste die Szene den bisweilen hechelnden Tonfall des Textes abbilden. Der Schuss geht in den Ofen, denn was damit heraufbeschworen wird, ist justament die alte Oper, an die Heiner Müller bei diesem Text mitnichten gedacht und von der Wolfgang Rihm gerade wegkommen wollte. Einmal mehr hat sich hier ein Regisseur – gewiss guten Willens, in aller Ernsthaftigkeit, mit reicher Vorstellungskraft – überschätzt und als Deuter in den Vordergrund geschoben. Mit Anne Ratte-Polle und Matthias Reichwald in den Sprechrollen von Hamlet I und II sowie dem Bariton Scott Hendricks als Hamlet III standen ihm neben dem grossen Ensemble Darsteller zur Verfügung, die es vielleicht auch anders gekonnt hätten. Denn vielleicht käme das Stück zu mehr Eindringlichkeit, würde es szenisch ganz und gar abstrakt geboten.

Bernard Haitink und das Requiem von Brahms

 

Peter Hagmann

Wenn die Zeit zu Ende ist

Das Tonhalle-Orchester Zürich mit seinem heimlichen Hauptdirigenten

 

Sonder Zahl sind die musikalischen Höhepunkte, die der Dirigent Bernard Haitink mit dem Tonhalle-Orchester Zürich geschaffen hat. Zumal seit der Jahrtausendwende, seit er einigermassen regelmässig ans Zürcher Pult tritt. Unvergesslich etwa die Reihe der Sinfonien Bruckners, die Sechste Anfang 2003, die Achte im Frühjahr 2007, die Neunte von 2010. Oder jene der Sinfonien Mahlers von der Fünften 2002 bis zur denkwürdigen Aufführung der Neunten im Mai 2014. Das waren jeweils, und durchwegs, Konzerte der Sonderklasse. Nämlich Weltklasse.

Grund dafür ist auch, dass das Tonhalle-Orchester, wenn Bernard Haitink erscheint, sogleich ein anderes wird. Das ist so, seit ich es erlebe. Vor einem Vierteljahrhundert war es so, als das Orchester in schwerer Depression darniederlag, in dem Augenblick aber, da Haitink für Mahlers Erste den Taktstock hob, sich wie ein Phoenix aus der Asche erhob. Heute gilt es erst recht. Nichts von jener klanglichen Grobheit, die nach dem Abschluss der Ära Zinman um sich griff, ist zu hören, wenn Haitink das Zepter führt – im Gegenteil: Warm klingt das Orchester, wie es seine Natur und seine Tradition ist; mächtig, aber nie schmerzhaft im Fortissimo, sensibel abgestuft bis hin zum zart schimmernden Pianissimo der Ersten Geigen. Oft ist die Rede vom Identitätsverlust der Orchester im Zeichen der Globalisierung; das mag ja sein. Dass aber jeder Dirigent von Format seinen ganz eigenen Klang erzeugt, sei das bei welchem Orchester auch immer, bei Bernard Haitink ist es offenkundig.

Schwarze Trauer, tröstliche Zuversicht

Auch der jüngste Auftritt Haitinks in Zürich, eine drei Mal gebotene Aufführung des «Deutschen Requiems» von Johannes Brahms, stand in diesem Zeichen. Haitink nutzte den Klang, den er mit dem Tonhalle-Orchester erzielt, zu einer ganz und gar dunklen, in den Grabes-Tiefen der Bässe ruhenden Wiedergabe. Unterstrichen wurde diese Tiefe durch die Mitwirkung des Kontrafagotts und der Orgel. Beide Instrumente hat Brahms «ad libitum» vorgesehen; sie können verwendet werden, müssen es aber nicht. Haitink setzte sie ein, und er liess damit erleben, wie sie, der Pauke vergleichbar, das Geschehen von Fall zu Fall unterstreichen – was zu ebenso hinreissenden wie sinnfälligen Wirkungen führte.

Äusserst leise und in herrlich ausgesungenem Legato erhebt sich der Anfang aus dem tiefen F heraus, und weil die Bratschen mit ihrer kernigen Mittellage zunächst die höchste Stimme bilden, wirkt der Chor bei seinem ersten Einsatz vergleichsweise hell. Es ist in dieser Aufführung die Zürcher Sing-Akademie, die in ihrer erweiterten Besetzung als grosser Bürgerchor angetreten ist. Während in Chören solcher Art die Alt- und die Tenorstimmen gerne Probleme bereiten, ist es hier gerade umgekehrt: strahlend der Tenor, leuchtend der Alt, der Sopran dagegen etwas im Schatten und nicht immer sicher, der Bass immerhin solide. An eine Professionalität, wie sie sich im Orchester von selbst versteht, ist die Sing-Akademie noch nie herangekommen, da war ihr der von Fritz Näf geleitete Schweizer Kammerchor um Welten voraus. Im Rahmen des Möglichen hat Tim Brown, der seine Aufgabe als Chorleiter jetzt unter einigen Misstönen niederlegt, hier jedoch ein Optimum erreicht.

Jedenfalls macht das ausgesprochen langsame Tempo, das Haitink im ersten Satz anschlägt, niemandem Schwierigkeiten. Es erlaubt dem Dirigenten, den Gegensatz zwischen schwarzer Trauer und tröstlicher Zuversicht, der sich hier erstmals anzeigt, das Werk aber insgesamt prägt, plastisch herauszuarbeiten. Den von zukünftigen Freuden kündenden Mittelteil nimmt er eine Spur schneller, um bei der Reprise des Anfangs mit Nachdruck in die ursprüngliche Gemessenheit zurückzufinden. Grossartig, wie sich der Kontrast zwischen Schmerz und Hoffnung dann im zweiten Satz zeigt: im Gewand eines Trauermarsches, eines heftigen «Memento mori» und eines fast trotzigen Blicks auf den Kreislauf der Natur.

Und dann: Christian Gerhaher, Bariton. Er streut Salz in die Wunden. Und das mit einem Auftritt, der aus der Sprache lebt und den Text in beinah szenisches Licht stellt. Er tut es mit seiner unglaublich prägnanten Diktion, die auf hellen Vokalen basiert, und mit der Vielfalt der Töne, die bei aller Schönheit seines Timbres auch das Aschfahle einschliesst. So macht er unmissverständlich bewusst, worum es hier geht: um Endlichkeit und Tod. Dass jedes Leben ein Ziel hat und jeder, wie es der Text fünf Mal ausspricht, «davon muss» – Gerhaher stellt diesen Satzteil mit einer Drastik heraus, dass es einem kalt wird. Er kann es, weil ihm Haitink, der zuhört wie kein Zweiter, das Feld dafür bereitet.

Grundlegend anders Camilla Tilling. Die schwedische Sopranistin gestaltet ihren kurzen Part ganz aus der vokalen Linie heraus: mit einer schlanken, trotz der heiklen Lage wunderbar leuchtenden Höhe, mit geschmeidigem Legato und konsequenter Verschmelzung der sprachlichen Formanten. In diesem Moment scheint etwas nach oben zu schweben, ein Engel vielleicht. Da ist er wieder, der Kontrast, aus dem das Werk seine Spannung gewinnt. Und für einen Augenblick scheint der Trost die Oberhand gewonnen zu haben.

Es kommt aber bald wieder heftig; die Posaune erschallt, und die Toten erheben sich aus den Gräbern. Da findet die Aufführung zu einer Intensität, wie sie sich eindringlicher kaum denken lässt. Sie hat sich schon einmal angedeutet: über dem gewaltigen Orgelpunkt am Ende des dritten Satzes, in dessen unglaublichem Zug das Orchester förmlich in Trance geraten ist. Im sechsten Satz kommt dieses Vibrierende nun zu voller Ausformung. Viel macht Bernard Haitink nicht, seine Zeichengebung skizziert bloss, es ist allein das Charisma, das hier wirkt, und vielleicht die einzigartige Identifikation des stumm gestaltenden Dirigenten mit dem Komponisten. Das Tonhalle-Orchester klingt, als spiele es stehend, und zieht den Chor mit, Christian Gerhaher blickt immer wieder fast ungläubig zum Dirigenten empor, Camilla Tilling beginnt den Kopf zu wiegen – und kann dann nicht mehr anders als ganz leis in den Chor einzustimmen. Das lässt sich nicht beschreiben, man muss es gesehen, man muss es gehört haben. Am Ende, nach dem in leiser Feierlichkeit verklingenden siebten Satz, ein unglaublicher Moment der Stille. Dann Stehapplaus und verstohlenes Augenwischen, hüben wie drüben.

Weite des Horizonts

Vielleicht gelingt ein solcher Moment nur einem ganz alten Menschen – einem, der schon etwas losgelassen hat und sich dem Glück des noch einmal geschenkten Augenblicks hingibt. Jedenfalls war es die reine Liebe, die hier sprach: die Liebe zu einer Kunst und zu den Menschen, die sie weitertragen. Stilistisch stand diese Aufführung für eine romantische Tradition, die längst entschwunden schien, ersetzt durch ein neues, von verschlanktem Ton, flüssigeren Zeitmassen und verdeutlichter Artikulation geprägtes Brahms-Bild. Die Abende in der Tonhalle Zürich liessen dieses Romantische noch einmal auferstehen: in exzellenter Ausformung, in bezwingender Authentizität und damit gültig.

Das heisst nicht, dass Bernard Haitink ein Traditionalist wäre. Seines hohen Lebensalters zum Trotz nimmt er die Bewegungen in seinem musikalischen Umfeld wahr, lässt er sich anregen und macht er sich zu eigen, was ihm gelegen kommt. Sein Beethoven-Bild etwa hat in jüngerer Vergangenheit eine beträchtliche Wandlung erlebt – angeregt durch die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis und durch deren Weiterungen auf den Konzertpodien. In aller Eindrücklichkeit war das beim Lucerne Festival zu erfahren, wo er die Sinfonien Beethovens mit dem Chamber Orchestra of Europe in ihrer Gesamtheit auslegt hat. Zu hören war es auch beim Tonhalle-Orchester Zürich, mit dem er eine Woche vor dem Brahms-Requiem das Klavierkonzert Nr. 3 in c-moll und die Sinfonie Nr. 3 in Es-dur, die «Eroica», dirigiert hat. Bei beiden Werken war das Orchester klein besetzt und herrschte griffiges Musizieren – auch wenn der Solist Igor Levit im Largo des Klavierkonzerts ein sehr langsames, allerdings erfüllt langsames Tempo anschlug. Glücklich, wer diese Konzerte gehört hat.

Der Pianist Igor Levit

 

Peter Hagmann

Strukturelle Einsicht und glühende Empathie

Igor Levit als Solist und Partner in der Tonhalle Zürich

 

In Zürich eingeführt hatte sich Igor Levit, es war Anfang Mai 2014 in der «Série Jeunes» des Tonhalle-Orchesters, mit nicht weniger als den «Diabelli-Variationen» Ludwig van Beethovens und «The People United Will Never Be Defeated», den 1975 entstandenen Variationen des Amerikaners Frederic Rzewski – ein denkwürdiges Programm, von dem bis heute die Rede ist. Inzwischen sind die beiden Zyklen zusammen mit den «Goldberg-Variationen» Johann Sebastian Bachs bei Sony in einer wagemutigen CD-Edition herausgekommen; neben den zwei Jahre zuvor erschienenen Einspielungen der fünf letzten Klaviersonaten Beethovens aus dem Jahre 2013 bildet diese Box die Visitenkarte eines Pianisten, der zwar erst 28 Jahre alt ist, aber schon gehörig von sich reden macht.

Während Radu Lupu auf seinem gewöhnlichen Stuhl mit Rückenlehne am Klavier sitzt, als harre er der demnächst beginnenden Mahlzeit, lehnt sich Igor Levit immer wieder ganz weit nach vorn – so weit, dass es kein Klavierlehrer durchliesse. Fast hat es den Anschein, als wolle er die Noten, wenn nicht gar die Hämmer verschlingen. Das ist keine Macke, so viel ist deutlich geworden bei der einwöchigen Residenz, die den aus Nischni Nowgorod stammenden, in Hannover aufgewachsenen Pianisten in die Tonhalle Zürich gebracht hat. Es ist vielmehr Ausdruck einer unbändigen Intensität, einer ganz aus dem Inneren des Musikers kommenden, ebenso erfüllten wie unmittelbaren Verbindung mit der Musik. Sie überträgt sich sogleich auf die Zuhörer. Die Aufmerksamkeit war enorm, die Spannung mit Händen zu greifen, und am Ende kam es zu Ovationen, wie sie sich das im Masshalten geübte Zürcher Publikum selten erlaubt.

Ein Kosmos

Und das bei einem Projekt, das alles andere als einfache Kost versprach. In drei aufeinander folgenden Programmen gab es – übrigens trotz den Bereicherungen, mit denen ein ungemütlich in die Schlagzeilen geratener Sportverband die Langmut der Konzertbesucher testete – die Gesamtheit der Sonaten für Klavier und Violine, die Ludwig van Beethoven zwischen 1797 und 1803 sowie im Jahre 1812 zu Papier gebracht hat. Zehn Werke sind das, und auch wenn sie nicht in gleichem Mass eine Reise durch das musikalische Denken des Komponisten erlauben wie die ins radikale Spätwerk reichenden Klaviersonaten, so machte der chronologisch angeordnete Zyklus doch offenkundig, wie rasch sich Beethoven von vorgegebenen Modellen gelöst und seiner stupenden Erfindungskraft ihre eigenen Wege eröffnet hat.

Klavier und Violine – nicht umgekehrt, nicht Violine mit Klavierbegleitung. Hat das Julia Fischer verstimmt? Am ersten Abend erschien die 32-jährige Münchnerin arrogant, ja widerborstig, jedenfalls nur wenig verbunden mit ihrem Gegenüber am Klavier. Für die sonntägliche Matinee hatte sich der Himmel etwas aufgelichtet, schien die Geigerin nicht nur bei besserer Laune, sondern auch stärker involviert, weshalb sich die «Frühlingssonate» zu herrlicher Kantabilität aufschwang. Ganz auf der Höhe – und ein grossartiger Moment der kammermusikalischen Verständigung – dann der dritte Abschnitt, zu dem die fast eine Dreiviertelstunde währende «Kreutzersonate» den vor Spannung schier berstenden Hauptteil bildete.

Allein, eine Patricia Kopatchinskaja ist Julia Fischer nicht. Deren ungezügelte Wildheit, die vor Extremen nicht zurückschreckt und kompromisslos auf das Grenzgängerische der A-dur-Sonate op. 47 mit dem Beinamen ihres Widmungsträgers zielt, gehört nicht zum musikalischen Weltbild Julia Fischers. In ihrer ästhetischen Grundeinstellung steht sie Anne-Sophie Mutter näher. Jedenfalls bleibt ihr Ton stets gepflegt – auch dort, wo Beethoven Schroffheit aufblitzen, Abgründe einbrechen oder überraschende Kehrtwendungen eintreten lässt. Und bildet das Vibrato eine Konstante. Wenn es nuanciert wird, dann in engen Grenzen. Das verlieh dem Spiel der Geigerin, so berückende Momente sie auf ihrer Guadagnini immer wieder schuf, ebenso oft Augenblicke der Beiläufigkeit, zumal in den frühen Sonaten. Dabei liess der von Julia Fischer in geradem Ton genommene Einstieg in das wunderbare Adagio der Es-dur-Sonate op. 12, Nr. 3 erahnen, welches Potential hier zu heben wäre – die Geiger, die um die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis wissen, machen es vor.

Wunderbar aufgegangen

Bei Igor Levit sind solche Anregungen längst auf fruchtbaren Boden gefallen – obwohl er an seinem Steinway natürlich nicht als ein Vertreter der historischen Praxis agieren kann. Aber er bringt die Phrasen zum Sprechen, indem er, ohne den Überblick zu verlieren, in die Einzelheiten der Struktur eindringt und den Motiven mit einer Zuwendung sondergleichen individuelle Physiognomien verleiht. Daraus entsteht packende Lebendigkeit. Dazu passt, dass der Pianist die Geigensonaten Beethovens aktiv und explizit ganz unterschiedlich beleuchtet: sie hier als Solosonaten mit Begleitung durch die Violine, dort als Duosonaten in Gleichberechtigung zwischen Violine und Klavier, manchmal aber auch als echte Triosonaten erscheinen lässt – gebildet durch die Stimme der Geige und jene der rechten Hand des Pianisten sowie den Bass seiner linken Hand.

Besonders deutlich wurde das in der F-dur-Sonate op. 34, der «Frühlingssonate» – bei der die Violine schwelgte, an den Lichtwechseln des Pianisten aber doch etwas wenig Anteil nahm, hie und da sogar reine Begleitfiguren zu sehr in den Vordergrund rückte. Umso klarer trat heraus, in welch bewegender Weise der Pianist an seinem im Grunde perkussiven Instrument zu singen versteht. Er kann das, weil er – auch das Adagio der A-dur-Sonate op. 30, Nr. 1 sprach davon – die Dynamik bis ins Äusserste ausdifferenziert, weil er ein Mezzavoce von zarter Innigkeit pflegt und das rechte Pedal mit letzter Sorgsamkeit einsetzt. Und das bei einem für diesen Satz vergleichsweise flüssigen, fast wie ein ruhiges Andante wirkenden Grundtempo. Da ging alles in eigener Weise auf.

Dabei bleibt Igor Levit dem Zerklüfteten, das zu Beethovens Handschrift gehört und in Werken wie der grossartigen c-moll-Sonate op. 30, Nr. 2 oder der «Kreutzersonate» zum Ausdruck kommt, nicht das Geringste schuldig. Die Kontrastbildungen geraten ihm gerne heftig ausgeprägt. Und in einzelnen, allerdings den genau richtigen Momenten lässt er den zur Gänze geöffneten Flügel in jenes donnernde Fortissimo ausbrechen, das dem Komponisten die Instrumente seiner Zeit schuldig bleiben mussten. Das alles wird mit einer hohen musikalischen Intelligenz ins Werk gesetzt – was beim letzten Stück des Zyklus zu besonderen Überraschungen führte. Die Ambiguität der musikalischen Verläufe in den beiden ersten Sätzen der G-dur-Sonate op. 96 lösten Julia Fischer und Igor Levit nicht auf; sie bewahrten das Schwebende, das im Kopfsatz von dem kleinen, aus einem Triller herauswachsenden Zentralmotiv ausgelöst wird, und überliessen es dem vielleicht doch etwas verdutzten Zuhörer, in diesem zarten Gewebe seinen eigenen Sinn zu finden.

Gegenwärtigkeit

Von all dem lebte auch Beethovens Klavierkonzert Nr. 3 in c-moll, op. 37, für das sich Igor Levit vor dem Zyklus der Geigensonaten mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und dem Dirigenten Bernard Haitink zusammengetan hatte. Auch hier tauchte er ganz in die Partitur ein – und hob Schätze, die man bis dato noch nie gehört. Nach dem kraftvollen Einstieg schlug der Pianist bald einen ausnehmend geschmeidigen Ton an; er horchte ins Geschehen hinein – und auch ins Orchester, das ihm dank Haitinks empathischem Mitgehen allen Raum liess. Überraschend, wie er im Kopfsatz die Durchführung dynamisch drosselte und die harmonischen Weiterungen in einem Selbstgespräch vorüberziehen liess. Wie er später einen ersten Triller sacht beschleunigte und dann die Kadenz unter einen immensen Bogen brachte. Besonders eindringlich geriet das Largo, das er mit einer vielleicht etwas problematischen Fermate begann, dann aber in goldener Ruhe zur Entfaltung brachte. Dabei blieb nichts stehen, denn raffiniert liess Igor Levit da und dort die rechte Hand etwas drängen, während die linke den Schlag bewahrte, was enorme Spannung auslöste. Und Spannung heisst hier: Gegenwärtigkeit.

Tage für Neue Musik Zürich

 

Peter Hagmann

Klarheit in der Vielfalt

Das Tonhalle-Orchester Zürich erstmals mit Sylvain Cambreling

 

Schreiben sie sich jetzt mit grossem oder mit kleinem «N», die Tage für Neue Musik Zürich? Einmal und meist mit grossem, ein anderes Mal mit kleinem – und das hat durchaus seinen Hintersinn. Erinnert das grosse «N» im Adjektiv doch an jene nun schon weit zurückliegende Zeit, da sich die Neue Musik mit aller Emphase als unerhört, als Beitrag zur Weiterentwicklung des Materials, somit im weitesten Sinn als Fortschritt verstand. Während das kleine «n», das heute und im Zeichen des «anything goes» üblich geworden ist, bescheidener auf irgendeine Art Gegenwärtigkeit verweist.

Beides gehört zu dem von der Stadt Zürich jeden Herbst durchgeführte – und grosszügig durchgeführte – Festival. Auf der einen Seite nämlich, so scheint es, nehmen die Tage für Neue Musik Zürich durchaus in Anspruch, zeigen zu wollen, dass die Tonkunst keineswegs so stehenbleibt, wie es das Abonnementskonzert suggeriert, dass sie sich vielmehr laufend und produktiv verändert. Auf der anderen möchte aber auch dieses Kurzfestival, und das ist legitim, reine Information bieten über das, was sich in der Szene tut.

Das Kuratorenmodell

Ihre Ziele verfolgen die Tage für Neue Musik Zürich in ausgesprochen persönlicher Weise. Jedes Festival im Bereich der Gegenwartsmusik wird von einer Handschrift geprägt, die sich in der Programmgestaltung verwirklicht. Die Donaueschinger Musiktage trugen lange Zeit die Signatur von Armin Köhler, der letztes Jahr viel zu früh einer Krebserkrankung erlegen ist, bei Wien Modern wirkte im Hintergrund der überaus kenntnisreiche und stilsichere Lothar Knessl und wird im nächsten Jahr der in Österreich lebende Schweizer Bernhard Günther das Zepter übernehmen, bei der Strassburger Musica bestimmt seit langem Jean-Dominique Marco den Kurs. In solcher Konstellation entwickelt sich die Handschrift über längere Zeiträume, sie verändert sich im besten Fall, im schlechteren versteinert sie.

Bei den Tagen für Neue Musik Zürich ist das grundsätzlich anders. 1986 von den beiden Komponisten Thomas Kessler und Gérard Zinsstag ins Leben gerufen und 1994 ins Dossier von René Karlen aus der Präsidialabteilung der Stadt Zürich übergeführt, trug das Festival lange den Stempel der Gründer. Seit einiger Zeit wird es nun aber von jährlich wechselnden Kuratoren geleitet. Das führt zu raschen Beleuchtungswechseln, zu erhöhter Agilität und letztlich vielleicht doch einer breiteren Wahrnehmung der Geschehnisse. Jeder Kurator hat seinen ganz persönlichen Blick, das bringt Einengung mit sich und zugleich, in der Abfolge der Kuratoren, Erweiterung.

Diesen Herbst war die Reihe an Bettina Skrypczak, der seit langem in der Schweiz lebenden Komponistin aus Polen. «Heureka!» überschrieb sie ihr vier Tage umfassendes Programm – als ob sie hätte anzeigen wollen, was die Neue oder die neue Musik ausmache. Fehlanzeige; gerade das Gegenteil war der Fall. Ihr Programm liess vielmehr aufscheinen, mit welcher Vielfalt der Erscheinungsformen der Begriff der «neuen Musik» heute verbunden ist. Die ehemalige Avantgarde von Karlheinz Stockhausens «Gesang der Jünglinge» kam ebenso zu Wort wie das Unterfangen des «Stone Orchestra», das den Klang von Natursteinen in die Szene einzubringen sucht.

Besonders packend verwirklichte sich der Ansatz der Kuratorin dieses Jahres in jenem Konzert, mit dem sich das Tonhalle-Orchester Zürich an den Tagen für Neue Musik beteiligte. Programme, die so schlüssig gebaut sind und so anregend wirken, wie es an diesem Abend der Fall war, sind Raritäten, die man nicht hoch genug schätzen kann. Und die Selbstverständlichkeit, mit der hier Musik unserer Zeit als Ausdruck von Geschichte wie von Gegenwart dargebracht wurde, hatte etwas Bezwingendes. Zu verdanken war das dem Dirigenten Sylvain Cambreling, einem Interpreten, der im Spezialgebiet der neuen Musik genauso profiliert wirkt wie im Bereich des klassisch-romantischen Repertoires. Und der hier zum ersten, aber hoffentlich nicht letzten Mal ans Pult des Zürcher Orchesters trat.

Freiheit und Kontrolle

Zwei Stücke in der Besetzung des Tripelkonzerts bildeten sozusagen einen langen ersten Teil des Abends; und zwei Werke, in denen das Erklingende nicht ausschliesslich auf schriftlicher Fixierung basiert, die Klammer. In dieses dramaturgisch konzis gebaute Programm mischten sich Töne denkbar unterschiedlichster Herkunft. Eröffnet wurde der Abend durch die Uraufführung von «No Alarming Interstice» des Genfers Jacques Demierre – wobei das schon eine halbe Fehlinformation darstellt. Demierre ist Pianist und wirkt zusammen mit dem Luzerner Saxophonisten Urs Leimgruber und dem aus San Francisco stammenden Kontrabassisten Barre Phillips in einem Trio, das seine Musik aus der Improvisation heraus entwickelt. Und das sich hier mit einem Klangkörper zusammengetan hat, der mit notierter Musik zu arbeiten gewohnt ist. Was das im Einzelnen bedeutet, war im Zuhören nicht direkt zu fassen. Das Stück, im Rahmen des Projekts «œuvres suisses» entstanden, wartete mit einer Fülle an disparaten Entwicklungen auf, an denen das Orchester auch mit Geräuschklängen  Anteil nahm. Im Endergebnis präsentierte sich da eine rüde, aufgeladene Klangwelt, wie sie in gewissen Sektoren der neuen Musik zum guten Ton gehört.

Welchen Gegensatz bot da Wolfgang Rihm mit seinem 2014 in Berlin uraufgeführten, vom Tonhalle-Orchester mitbestellten «Trio Concerto» für Klaviertrio und Orchester, also die von Beethoven her bekannte Tripelkonzert-Besetzung. Rihm hat alle Zwänge der avantgardistischen Masken hinter sich gelassen; er komponiert, wozu er Lust hat und was ihm einfällt – aber jenseits jeder Beliebigkeit: kreatürlich und zugleich bewusst entwickelnd. In seinem Tripelkonzert geht er diesbezüglich besonders weit. Das Trio Jean Paul mit Ulf Schneider (Violine), Martin Löhr (Violoncello) und Eckart Heiligers (Klavier) sowie das Tonhalle-Orchester Zürich verbreiteten ein hohes Mass an Sinnlichkeit: in Kantilenen, innerhalb deren dichte Bezüge hörbar werden – etwa dort, wo Gesten vom einen Instrument ans andere weitergegeben und dann verwandelt werden. Vor tonalem Wohlklang schreckt der Komponist keineswegs zurück, ja er spricht sogar offen von seiner Liebe zur Musik Gabriel Faurés. Die neue Musik nicht als Unerhörtes, sondern als Teil, Fortsetzung und Erweiterung des Gewesenen.

Ähnlich hat der grosse, leider viel zu selten gespielte Pole Witold Lutoslawski gedacht: streng in seinen handwerklichen Kriterien, frei in seinen Vorstellungen von Klangentwicklung. In «Livre pour orchestre» von 1968 setzt er ein wenig nach der Art eines Rondos den kontrollierten Zufall ein. Zwischen vier Hauptteile schieben sich Intermedien, bei denen sich die Orchestermitglieder im Rahmen gewisser Vorgaben nach eigenem Gutdünken entfalten können. Dem Tonhalle-Orchester Zürich hat das einen ungeheuren Energieschub verliehen; präsent, lustvoll und mit Verve nahmen sich die Musikerinnen und Musiker des Stücks an und brachten es unter der so präzisen wie motivierenden Leitung von Sylvain Cambreling zu einer eine absolut bezwingenden – mehr noch: zu einer restlos begeisternden Deutung. Ob das nun Neue oder neue Musik sei oder vielleicht gar nichts von beidem, durfte da getrost offen bleiben.