Pygmalion, ein neuer Stern aus Frankreich

 

Peter Hagmann

Wenn Musik erzählt

«Rheinmädchen», eine CD mit dem Ensemble Pygmalion und seinem Leiter Raphaël Pichon

 

Eine ganze CD mit Musik für Frauenchor, entweder allein oder in Begleitung von Harfe und bis zu vier Hörnern – damit überrascht das französische Ensemble Pygmalion auf seiner jüngsten Neuerscheinung bei Harmonia mundi (902239). «Rheinmädchen» ist das dramaturgisch konzipierte Programm überschrieben. Es beginnt mit dem Vorspiel zu Wagners «Rheingold», dem aus der Tiefe des Rheins oder des Unbewussten aufsteigenden, immer dichter wogenden Es-dur-Akkord, der hier von 24 im Raum verteilten Frauenstimmen, einer Harfe, vier Hörnern und zwei Kontrabässen realisiert wird. Das Wagalaweia des Originals kommt so etwas anders daher als gewohnt, aber mit fast noch mehr Suchtpotential. Das liegt natürlich an der Komposition, ebenso sehr aber am sinnlichen Reiz der Bearbeitung – und, nicht zuletzt, an der technisch ganz ausgezeichneten Aufnahme, die Hugues Deschaux im Pariser Temple du Saint-Esprit gelungen ist. Dass die Reproduktion von Musik, wiewohl ein Artefakt, dieser Kunst zu einer klanglichen Realität eigenen Rechts verhilft, bestätigt sich hier aufs Neue.

Es folgt ein abwechslungsreicher, atmosphärisch dichter Verlauf von Werken, der die Namen von Wagner und Brahms, Schubert und Schumann fast kontrapunktisch ineinanderflechtet. Auf das sanfte «Wiegenlied» von Robert Schumann, bei dem der Frauenchor hier nicht vom Klavier, sondern von der Harfe begleitet wird, folgt mit «Ich schwing mein Horn ins Jammertal» ein Männerchor a cappella von Johannes Brahms, der in diesem Programm aber vier Hörnern übertragen ist – Naturhörnern, wie sie Brahms den zu seiner Zeit neuartigen Ventilhörnern vorzog. Der kontrapunktisch gedachten «Meerfey» Schumanns für Frauenchor allein schliesst sich der homophone Psalm 23 «Gott ist mein Hirt» von Franz Schubert an – wie das Programm überhaupt sehr spielerisch umgeht mit den verschiedenen Satztechniken. Und immer wieder klingt «Der Ring des Nibelungen» an, das Monumentalwerk Richard Wagners, das etwa in Siegfrieds Hornruf erscheint oder im Trauermarsch aus der «Götterdämmerung», hier in einer freien Version für vier Hörner des Amerikaners James H. Wilcox. Am Ende schält sich aus dem Gesang der Rheintöchter in der «Götterdämmerung» ein Hornmotiv heraus, das direkt überführt in die Vier Gesänge op. 17 für Frauenchor, zwei Hörner und Harfe von Johannes Brahms. Womit die beiden von ihrer Umwelt zu schärfsten Rivalen gemachten Komponisten Arm in Arm von dannen ziehen.

Hochattraktiv ist nicht nur die Programmgestaltung, die ungewöhnliche Beziehungen schafft und manche Rarität ans Licht bringt, zum Beispiel das «Ständchen», das Schubert für Mezzosopran, Frauenchor und Klavier (Harfe) komponiert hat. Hinreissend ist auch die interpretatorische Leistung. Das Ensemble Pygmalion, gegründet 2006, umfasst wie Les Arts Florissants von William Christie einen Chor und ein Orchester, beide der historisch informierten Aufführungspraxis verpflichtet. Geleitet wird das Ensemble von dem etwas über dreissigjährigen Countertenor und Dirigenten Raphaël Pichon. Der Frauenchor, der die CD mit den «Rheinmädchen» bestreitet, ist mit vierzehn hohen und zehn tiefen Stimmen besetzt. Mit einem ganz lichten Sopran und in einem Alt, der eine unglaublich sonore Tiefe erreicht – besonders dann, wenn die beiden Herren, die als Countertenöre im Alt mitwirken, in ihre normale Stimmlage gehen. Hell und klar der Klang, homogen in den Akkorden und transparent in den Stimmverflechtungen, dabei blitzsauber in der Intonation – das ist professioneller Chorgesang vom Feinsten, dem sich das Instrumentale würdig anschliesst. Rasch und immer wieder drückt man hier die Repetitionstaste.

Und freut man sich an einer Neuerscheinung, die den Zeitgeist Lügen straft. Unentwegt wird ja der endgültige Tod der um 1980 eingeführten Compact Disc heraufbeschworen. Und gern wird im Zusammenhang damit auch der Tod der klassischen Musik vorausgesagt – wie er sich auch in der Überalterung des Konzertpublikums manifestiere. Tatsache ist indessen, und die «Rheinmädchen» zeugen davon, dass nach wie vor und durchaus mit Erfolg neue CDs produziert werden. Zum Beispiel eben von dem Label Harmonia mundi, das in diesem Bereich eine führende Position einnimmt und die sogenannten Majors längst hinter sich gelassen hat. Selbstverständlich ist das nicht, denn das französische Unternehmen verfolgt eine Geschäftsidee, die unbeirrt auf Inhalt und Qualität setzt; im Vordergrund steht die künstlerische Ambition, während das kommerzielle Interesse eher als Mittel zum Zweck erscheint. Zum Glück.

Bachs Geige

 

Peter Hagmann

Vielstimmigkeit in der Einstimmigkeit

Midori Seiler spielt Bachs Solosonaten für Violine

 

Paganini oder Ysaÿe, das ist gut und recht, aber doch fast harmlos im Vergleich mit den drei Sonaten und den drei Partiten für Violine solo (BWV 1001 bis 1006), die Johann Sebastian Bach 1720 zu Papier gebracht hat. Für jeden Geiger, für jede Geigerin stellen diese sechs Stücke den Prüfstein par excellence dar. Und Pflichtstoff zugleich, wie die Fülle der erhältlichen Aufnahmen zeigt. Eben ist die Liste nochmals erweitert worden: durch eine bei Berlin Classics unter der Bestellnummer 300721 erschienene Einspielung, die einen bedeutungsvollen Schritt in der Rezeptionsgeschichte dieser Werke markiert. Nach den Partiten, die sie 2009 aufgenommen hat, lässt Midori Seiler, nicht zu verwechseln mit dem ehemaligen Geigenwunderkind Midori, die drei Sonaten folgen. Anders als die Partiten, die einer Suite gleich eine Reihe von Tanzsätzen aufeinander zueinander stellen, geben sich die Sonaten abstrakter; auf ein Präludium folgen jeweils eine Fuge, ein langsamer und ein abschliessender schneller Satz – die Herausforderungen sind hier noch einmal gesteigert.

Genius loci

Denn wie soll auf einer Geige, einem für Einstimmigkeit gedachten Instrument, eine drei- bis vierstimmige Fuge erklingen? Das ist genau das Problem. Um ihm beizukommen, suchte Midori Seiler die Nähe des Komponisten. Bach hat die Sonaten und Partiten für Violine solo in Köthen komponiert, wo er zwischen 1717 und 1723 im Dienst des Fürsten Leopold stand. Als Hofkapellmeister und Hofkammermusikdirektor hatte er ein Orchester mit bis zu siebzehn Mitgliedern zur Verfügung, unter ihnen erstklassige Solisten aus der kurz zuvor aufgelösten königlich preussischen Kapelle in Potsdam, die der Hof von Köthen übernommen hatte. Mit dabei war aber auch der ebenso begeisterte wie kundige Fürst – man stelle sich das vor: ein Fürst, der unter der Leitung eines seiner Diener musiziert… An der Spitze des Orchesters hatte Bach selbst die Geige in der Hand; er war beileibe nicht nur ein Virtuose an Tasteninstrumenten – und er wusste genau, was er tat, als er die Sonaten und Partiten komponierte.

So hat sich Midori Seiler für die Aufnahme der Sonaten erneut nach Köthen begeben, wo allerdings nicht ein sozusagen originaler, sondern vielmehr ein neuer, aber akustisch ausgezeichnet gelungener Konzertsaal zur Verfügung stand. Dass ihr Blick, wenn sie denn aufgeschaut habe, auf die Wirkungsstätte Bachs gefallen sei, habe ihr viel bedeutet, betont die Geigerin im Booklet. Fast noch wichtiger dürfte die Mitwirkung von Ines Kammann gewesen sein. Der Tonmeisterin ist es nämlich gelungen, das Instrument äusserst präsent erscheinen zu lassen, ohne dem Zuhörer den Eindruck zu vermitteln, er habe sein Ohr direkt am Steg plaziert. Das Räumliche wirkt vielmehr geschickt in den Klangeindruck integriert, so dass sich im Zuhören jene Weite ergibt, welche die gebrochene Mehrstimmigkeit und die vorgespiegelte Polyphonie verlangen.

Vor allem aber nimmt Midori Seiler für ihre Deutung der Solosonaten Bachs die Bedingungen ernst, die zur Entstehungszeit der Komposition geherrscht haben. Ihr Instrument ist eine Geige von Andrea Guarneri, des Grossvaters des berühmten Guarneri del Gesù, von zirka 1680. Bespannt ist sie, wie es damals üblich war, mit Darmsaiten, was spieltechnisch zusätzliche Anforderungen stellt, aber der klanglichen Wärme förderlich ist. Und gestrichen wird das Instrument mit einem Bogen des Berliner Geigenbauers Bastian Muthesius, der einem barocken Bogen nachgebildet ist und darum die Mehrstimmigkeit etwas weniger schwer verwirklichen lässt als mit einem der heute üblichen Bögen. Aus all dem ergibt sich ein Klang, der in der Höhe runde Fülle verbreitet und in der Tiefe zu samtener Opulenz findet. Auffällig ist dabei das leicht nasale Timbre, das die Geige bisweilen wie eine Leier klingen lässt.

Das Heute im Gestern

Nicht zuletzt gelten für Midori Seiler, die neben der solistischen Tätigkeit in Originalklangensembles wie der Akademie für alte Musik Berlin und der von Jos van Immerseel geleiteten Anima Eterna in Brügge als Konzertmeisterin wirkt, die Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis. Das Vibrato bildet nicht die Grundlage des Spiels, sondern wird äusserst sparsam als Verzierung eingesetzt; die von Bach sehr detailliert vorgegebenen Phrasierungen werden akribisch umgesetzt. Sehr bewusst wird auch mit der Länge der Töne gearbeitet; damit werden die Gewichte zwischen den starken und den schwachen Taktteilen verteilt, so dass den musikalischen Verläufen jeder Anflug von Flächigkeit fehlt. Von Bedeutung ist schliesslich die Tatsache, dass Midori Seiler die Sonaten Bachs auf dem barocken Kammerton von 415 Hertz für a’ spielt, also einen Halbton tiefer als heute üblich. Für die klangliche Pracht, die in dieser Aufnahme herrscht, ist das durchaus von Belang.

Unterstützung findet die klangliche Sinnlichkeit dadurch, dass sich Midori Seiler alle Zeit nimmt, die Gesten auszuspielen. Während andere Geiger den über zwei Oktaven gespannten g-moll-Akkord, mit dem die erste Sonate anhebt, in einem raschen Arpeggio hinstellen, lässt ihn Midori Seiler ganz ruhig aus dem Grundton heraus erwachsen. Viel, aber stets kontrollierte Bewegung herrscht bei ihr in diesem Adagio, das Geschehen erhält dadurch seine ganz eigene Geschmeidigkeit. Dann aber die Fuge. Spritzig, in klarer Artikulation nimmt sie das Thema, geschmeidig arpeggiert sie die Akkorde – und bald hat man vergessen, dass dieses kontrapunktische Meisterwerk von einer Violine allein vorgetragen wird. Implizite, nämlich durch Einstimmigkeit erzeugte Mehrstimmigkeit findet sich auch im abschliessenden Presto, in dem es Midori Seiler weder an Temperament noch an Virtuosität fehlt.

Den Höhepunkt dieser CD-Neuerscheinung bietet jedoch die dritte Sonate. Sie steht in C-dur, erweitert aber schon im eröffnenden Adagio den tonartlichen Raum ganz unerhört – und wie die Geigerin das mit Spannung erfüllt, zeugt von Durchdringung des Textes wie von Identifikation mit ihm. Erst recht gilt das für die riesige, eine knappe Viertelstunde währende Fuge, in der die Verbindung von konstruktivem Denken und klangsinnlicher Wirkung, wie sie für Bachs Handschrift kennzeichnend ist, zu voller Erfüllung kommt. Können, Wissen und Einfühlung finden hier eine Verbindung von vibrierender Eindrücklichkeit. Den einzig richtigen Weg zu dieser Musik gibt es nicht, auch nicht für den Interpreten, der sich der historisch informierten Aufführungspraxis verschrieben hat. Dass der Blick zurück aber ein ganz besonderes Heute entstehen lässt, ist an dieser Einspielung einmal mehr zu erfahren.

Bachs Johannes-Passion mit René Jacobs

 

Peter Hagmann

Bewegend gegenwärtig

Eine Neuaufnahme von Bachs Johannes-Passion mit dem Dirigenten René Jacobs

 

Einmal mehr gibt es viel zu erleben, viel zu bedenken und viel zu reden bei der neuen CD-Publikation mit dem Dirigenten René Jacobs. Drei Jahre nach der ebenso speziellen wie berührenden Einspielung von Bachs Matthäus-Passion folgt nun die Johannes-Passion – und dies unter denselben Voraussetzungen. Wieder ist der instrumentale Teil einem Spezialensemble aus dem Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis anvertraut, der Akademie für alte Musik Berlin, die auf Instrumenten aus dem 18. Jahrhundert (oder den entsprechenden Kopien) und einen Halbton tiefer als heute üblich spielt. Umgekehrt sind für die vokale Seite wieder Kräfte beigezogen, die nicht dem Bereich der historischen Praxis angehören. Der Rias-Kammerchor ist eine Formation, die mit professionell ausgebildeten Sängern besetzt und in allen Bereichen der Repertoires tätig ist; und in den Solopartien sind Sänger mit dabei, die keineswegs als Spezialisten für alte Musik bekannt sind.

Der gemischte Stil

Mag sein, dass damit auch für die Musik Johann Sebastian Bachs jene Verbindung von allgemeiner und spezieller Praxis gefördert werden soll, die in anderen Bereichen des Repertoires üblich geworden ist. Anders als bei Bach haben sich bei Mozart und Beethoven, ja selbst bei Brahms und Bruckner die Spielweisen längst durchdrungen. Tatsächlich gehört es für Interpreten jüngerer Generation ganz selbstverständlich dazu, sich im Bereich der historisch informierten Praxis auszukennen. Ein Dirigent wie Pablo Heras-Casado widmet sich neuer Musik am Pult des Lucerne Festival Academy Orchestra ebenso kundig, wie er mit dem Balthasar-Neumann-Ensemble ein Magnificat von Michael Praetorius erarbeitet oder mit dem Freiburger Barockorchester Sinfonien von Mendelssohn aufnimmt. Und eine Sängerin wie die Sopranistin Anna Prohaska brilliert mit barocken Koloraturen nicht weniger als mit den halsbrecherischen Sprüngen der Musik Luigi Nonos. Die Polarität zwischen den Positionen, die noch in jüngerer Vergangenheit ausgeprägt und durchaus emotional gepflegt wurde, scheint immer mehr einer Art gemischten Stils Platz zu machen.

Indessen herrscht auch in diesem gemischten Stil hohes Bewusstsein für das interpretatorische Tun – die neue Aufnahme von Bachs Johannes-Passion zeigt das sehr schön. René Jacobs reflektiert zum Beispiel die Fragen der Besetzung so eindringlich, wie es ein Dirigent von Format tun muss. Von der rein solistischen Besetzung, für die sich der amerikanische Musikforscher und Dirigent Joshua Rifkin aufgrund seiner Deutung der Quellen in den 1980er Jahren stark gemacht hat, hält Jacobs nichts. Er geht vielmehr von jener Eingabe Bachs an den Rat der Stadt Leipzig aus, in welcher der Thomaskantor vier Sänger pro Stimme als Minimum bezeichnet, deren fünf dagegen als Ideal. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es in jeder Stimme einen Konzertisten sowie eine Gruppe von drei bis vier Ripienisten gegeben hat, weil nämlich der Konzertist die Soli sang und er bei den Chören durch die Ripienisten unterstützt wurde. So hält es John Eliot Gardiner mit seinem spezialisierten Elitechor aus London – und René Jacobs versucht dasselbe nun mit Sängerinnen und Sängern herkömmlicher Ästhetik.

Der Chor ist mit fünf Mitwirkenden pro Stimme besetzt, einem Solisten als Konzertisten und vier Mitgliedern des Rias-Kammerchors als Ripienisten. So wirken Sunhae Im mit ihrem leichten, leuchtenden Sopran, der Tenor Sebastian Kohlhepp und Johannes Weisser mit seinem kernigen Bass als Christus solistisch – und zugleich nehmen sie ihre Individualität immer wieder zurück, um zusammen mit den Ripienisten den Chor zu bilden. Speziell ist das für Benno Schachtner, der einen klar zeichnenden Altus einbringt, sich dann aber mit vier Altistinnen zusammenfinden muss. Dazu kommt nun aber eine weitere Verstärkung aus den Reihen des Rias-Kammerchors, und zwar werden fallweise nochmals 21 Sänger beigezogen – dies für die Choräle, die in dieser Aufnahme, wie René Jacobs im Booklet erläutert, klingen sollen, als seien sie von der Gemeinde gesungen. Das alles ergibt ein vokal äusserst vielschichtiges Bild und eine Lebendigkeit, die jenseits jeder opernhafter Attitüde das düstere Geschehen von Bachs Johannes-Passion überaus plastisch fassbar werden lässt.

Die Reize des Basso continuo

Unterstützt wird das durch die Phantasie, mit der Jacobs das Instrumentale einsetzt. Klein besetzt ist die Akademie für alte Musik Berlin, aber sie bringt unerhört Farbe in den musikalischen Verlauf. Zuallererst dadurch, dass der Basso continuo nicht durch ein einzelnes Cello und ein kleines Portativ zwinglianisch bescheiden gehalten ist. Er ist vielmehr – René Jacobs liebt den Generalbass, das zeigt sich bis hin zu seinen Aufführungen von Opern Mozarts – äusserst reich besetzt mit Orgel, Cembalo und Laute, mit Violoncello, Kontrabass und bisweilen sogar mit Kontrafagott sowie mit einer Gambe. Dies letztere, die Mitwirkung einer die Verläufe frei umspielenden, zudem sehr charakteristisch klingenden Gambe, erinnert rührend an die Anfänge der Wiederentdeckung Bachs im 19. Jahrhundert, war man damals doch der Auffassung, dass die Harmonisierung der Basslinie nicht doch ein Klavier (das Cembalo war noch nicht wieder in Gebrauch), sondern durch einen Gambenconsort auszuführen sei.

Das alles kommt dank der hervorragenden Aufnahmetechnik, die im Teldex-Studio in Berlin gepflegt wird, zu bester Wirkung. Gemeinsam mit Jacobs wurde eine Aufstellung der Mitwirkenden im Studio eingerichtet, die dem Chor bei ungeschmälerter Präsenz des Orchesters ein hohes Mass an Textverständlichkeit ermöglicht. Auch die verschiedenen Dichtegrade in den Chören und den Chorälen zwischen rein solistischer und mehrfach verstärkter Besetzung lässt sich ausgezeichnet nachvollziehen – besser jedenfalls als in der Aufnahme der Matthäus-Passion. Und nicht zuletzt scheint im Anhang zur Aufnahme, wo zusätzlich alternative Fassungen einzelner Nummern eingespielt sind, die komplexe Entstehungsgeschichte von Bach Johannes-Passion auf. Die bewusste Begegnung mit dem Notentext, der ja sein eigenes Leben wie sein eigenes Nachleben hat, gehört zu den Errungenschaften der historisch informierten Aufführungspraxis. Wenn sie sich mit derart vitaler Gegenwärtigkeit verbindet, wie es in dieser Aufnahme der Johannes-Passion geschieht, darf von einem Glücksfall die Rede sein.

Mozarts Violinkonzerte

 

Peter Hagmann

Das Schwere am Leichten

Vilde Frang, Christian Tetzlaff und Frank Peter Zimmermann spielen Mozart

 

Zeiten kommen und gehen, auch in der klassischen Musik – das macht ihr Leben aus. Die Violinkonzerte Wolfgang Amadeus Mozarts (und mit ihnen die Sinfonia concertante für Violine, Viola und Orchester in Es-dur, KV 364) sprechen davon. Sie im philharmonischen Gewand zu spielen, wie es etwa Herbert von Karajan 1978 mit der noch blutjungen Anne-Sophie Mutter getan hat, ist heute obsolet. Nur die Wiener Philharmoniker als die Gralshüter des Vergangenen wagen es noch. Sie taten es im Sommer 2014 beim Lucerne Festival, zusammen mit dem Konzertmeister Rainer Küchl und dem Solo-Bratscher Heinrich Koll, am Dirigentenpult begleitet von Gustavo Dudamel – ein gespenstischer Moment «à la recherche du temps perdu».

Beim Musikkollegium Winterthur

Selbst ein so ausgeprägt, aber auch bewusst der Tradition verbundener Geiger wie Frank Peter Zimmermann hält fest, dass er Mozarts Violinkonzerte keinesfalls mehr so spielen könne, wie er es in seinen Aufnahmen von 1984 (mit dem Württembergischen Kammerorchester und dem Dirigenten Jörg Faerber) und von 1995 (mit Wolfgang Sawallisch am Pult der Berliner Philharmoniker) getan habe. Tatsächlich herrscht in der Einspielung der Konzerte Nr. 1, 3 und 4, die er im letzten Jahr vorgelegt hat (Hänssler 98.039), ein neuer Ton: leichter in der Substanz und zugleich griffiger in der Artikulation. Die historisch informierte Aufführungspraxis hat ja manches an den Tag gebracht, was heute auch von Musikern, die nicht explizit für diese Richtung stehen, ganz selbstverständlich berücksichtigt wird. Der sorgsame Umgang mit dem Vibrato, das nicht mehr als Grundlage der Tonbildung eingesetzt, sondern wieder als Verzierung verstanden wird, mag davon zeugen.

Die Verschlankung des Tons hat natürlich auch mit der Besetzungsstärke des begleitenden Orchesters zu tun. Heute werden die Violinkonzerte Mozarts im Prinzip als Kammermusik angesehen – dies im Gegensatz zu den Klavierkonzerten, die schon von der Gattung her mehr auf Repräsentanz als auf Intimität hin angelegt sind. Beispiel dafür ist das Projekt des Musikkollegiums Winterthur, das die fünf Geigenkonzerte und die Sinfonia concertante mit Christian Tetzlaff erarbeitet hat – mit ihm allein, ohne Dirigenten. Ein interessanter, auch mutiger Ansatz, der durchaus die Zeichen der Zeit aufnimmt: Das Zürcher Kammerorchester, das Kammerorchester Basel, das Freiburger Kammerorchester, aber auch grösser besetzte Klangkörper wie die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, Les Dissonances aus Dijon oder Spira mirabilis verzichten bisweilen auf den Dirigenten.

Allein, auch das braucht Übung, das war beim Musikkollegium Winterthur zu hören. Fehlt der Dirigent, nicht nur als Koordinator, sondern auch als Energiezentrum, sind die Orchestermusiker in einer besonderen Weise gefordert, einer anderen als unter der Leitung eines Dirigenten. Der Konzertmeister – leider werden im Programmheft die Namen der an den jeweiligen Konzerten beteiligten Orchestermitglieder im Gegensatz zu jenen der Gönner nicht genannt – hielt die Fäden energisch in der Hand, die beiden Hörner und die beiden Oboen setzten leuchtkräftige Farblichter – und dennoch fehlte den Interpretation so etwas wie eine Mitte.

Das vielleicht um so mehr, als Christian Tetzlaff doch eher als Solist und nicht so sehr Primgeiger in Erscheinung trat. Ausserdem hinterliess der eine von mir besuchte Abend im Musiksaal des Winterthurer Stadthauses den Eindruck, Tetzlaff habe seine Aufgabe vielleicht doch nicht ernst genug genommen. Viel Temperament gab es da, gewiss – und das hat als Einspruch gegen das Apollinische, das Verharmlosende, das bei den Geigenkonzerten Mozarts auch heute noch gern hervortritt, Reiz wie Berechtigung. Aber es war auch ein gerüttelt Mass an Ungenauigkeit, an Verschleifungen und Beiläufigkeit wahrzunehmen. Als ob der gerade auch für seine Präzision geschätzte Geiger hier den stürmischen Naturburschen hätte geben wollen.

Arcangelo aus London

Von diesem Burschikosen ist die Vorstellung der Violinkonzerte Mozarts durch die kometenhaft aufsteigende Norwegerin Vilde Frang und das Londoner Ensemble Arcangelo mit seinem Dirigenten Jonathan Cohen ganz und gar frei. Hier herrschen so viel Innigkeit des Gefühlsausdrucks und so natürliche Musikalität, dass diese Stücke in neuer Beleuchtung erscheinen – und was die ebenfalls letztes Jahr erschienene CD (Warner 08256462776776) diesbezüglich erkennen lässt, hat der Live-Auftritt bei der Neuen Konzertreihe Zürich voll und ganz bestätigt.

Vilde Frang gehört zu den Geigerinnen einer neuen Generation. Sie spielt nicht auf einem Instrument aus der Entstehungszeit der Kompositionen, wenn auch immerhin auf einer (übrigens sehr schönen) Geige von Jean-Baptiste Vuillaume von 1864. Aber das an sprachlichen Mustern orientierte Phrasieren statt dem möglichst weiten Bogen, die lebendige Artikulation anstelle des möglichst geschlossenen Legatos sind ihr selbstverständlich. Dazu pflegt sie einen mit feinem Pinsel gezogenen, äusserst farbenreichen Ton, der nicht das Gepresste des philharmonischen Klangs hat, aber auch nicht das Zirpende, das in der historischen Praxis da und dort auftaucht. Und nicht zuletzt verbindet sie ihre unverstellte, direkte Emotionalität mit grossartiger Präzision. Und das will etwas heissen, denn die Violinkonzerte Mozarts sind diesbezüglich nicht zu unterschätzen; das scheinbar Leichte ist hier besonders schwer.

Mit Arcangelo bildet die junge Geigerin eine sozusagen ideale Partnerschaft. Vor vier Jahren von dem Cellisten, Cembalisten und Dirigenten Jonathan Cohen gegründet und hierzulande erst wenig bekannt, gehört das Ensemble nicht im strengen Sinn der historischen Praxis an. Die Hörner arbeiten zwar ohne Ventile, die Streicher halten die Bögen so, wie es im 18. Jahrhundert üblich war, also etwas weiter entfernt vom Frosch, aber der Stimmton bleibt bei 440 Hertz. Auch das, die Vermischung von Elementen aus der hergebrachten wie der historisch informierten Praxis, gehört zum neuen Stil dieser Tage. Dazu eben der Beizug eines Dirigenten – der sich hier um so vorteilhafter auswirkt, als Jonathan Cohen starke, federnde Energie aus dem klein besetzten und geschickt ausbalancierten Ensemble hervorzulocken vermag. Das verleiht auf der CD den beiden Violinkonzerten Nr. 1 (B-dur, KV 207) und Nr. 5 (A-dur, KV 219) hinreissenden Biss. Im Zürcher Konzert profilierte sich das Ensemble zudem mit der A-dur-Sinfonie, KV 201, von Mozart und der sehr eigenartigen, überaus spannend wiedergegebenen Sinfonie in G-dur, Hob. I:47, von Joseph Haydn.

Weniger gut gelang in der Zürcher Tonhalle Mozarts Sinfonia concertante. Lawrence Power war nicht der richtige Partner für diese Interpretation. Sein Ton trägt viel kräftiger auf als der von Vilde Frang und von Arcangelo, was dazu führte, dass die Bratsche sinnwidrig in den Vordergrund geriet. Die Geigerin musste sich nach Kräften dagegen wehren, an die Wand gespielt zu werden, zumal die Körpersprache des Bratschers, der sich über weite Strecken von seiner Partnerin an der Geige abwandte und seine Aufmerksamkeit den Oboen schenkte, einige Fragen in den Raum stellte. Mit Maxim Rysanov gerät das auf der CD erheblich besser. Weitaus eindrücklicher wirkte das Stück auch beim Musikkollegium Winterthur, wo der Geiger Christian Tetzlaff mit Hanna Weinmeister an der Bratsche ein echtes Duo bildete und das Orchester aktiv bei der Sache war.

Hohe Kunst und privates Engagement

Das gemeinsame Musizieren hat eben in hohem Mass mit der zwischenmenschlichen Beziehung zu tun. Das war auch vor dem Auftritt von Arcangelo bei einem Sonderkonzert im Kleinen Saal der Tonhalle zu erleben, wo Jürg Hochuli, der engagierte Unternehmer, der die Neue Konzertreihe Zürich veranstaltet, die Gründung einer Stiftung zur Förderung junger Musikerinnen und Musiker bekanntgab. Geboten wurden das Klavierquartett in g-moll, KV 478, von Mozart und das Klavierquartett von Brahms, das ebenfalls in g-moll steht und die Opuszahl 25 trägt. Und das auf jenem hohen Niveau, das in den Konzerten Hochulis fast die Regel ist. Bei Mozart brachte sich der Pianist Martin Helmchen auf dem etwas grellen, für diesen Saal zu lauten Steinway derart prononciert ein, dass einem im Zuhören bewusst wurde, wie sehr dieses Stück ein heimliches Klavierkonzert ist. Bei Brahms dagegen fügte er sich ganz in den Gesamtklang ein und bildete mit der Geigerin Veronika Eberle, dem Bratscher Antoine Tamestit und der Cellistin Marie-Elisabeth Hecker ein äusserst vital agierendes Ensemble. So lange es solche Musiker gibt, wird es klassische Musik geben. Der Saal war nämlich voll besetzt.

Ehrenrettung für Sibelius

 

Peter Hagmann

Ein Kantiger, klangvoll beim Wort genommen

Simon Rattle und die Berliner präsentieren die Sinfonien von Jean Sibelius

 

Der Bannfluch, mit dem Theodor W. Adorno in einem Text von 1938 Jean Sibelius belegt hat, haftet dem finnischen Spätromantiker bis heute an. 1968 in einer Sammelausgabe musikalischer Schriften Adornos noch einmal aufgelegt, kam er zu voller Wirkung. Er bereitete den Weg für die Verachtung, mit der Zeitgenossen, die sich für aufgeklärt hielten, dieser Musik begegneten – und eben bis in unsere Tage begegnen. Dabei ist das Argumentarium Adornos einigermassen schwachbrüstig, und noch weitaus bedenklicher ist seine Art der Formulierung. Sibelius’ Themen, schreibt Adorno zum Beispiel, beständen aus unplastischen und trivialen Tonfolgen; sie glichen «einem Säugling, der vom Tisch herunterfällt und sich das Rückgrat verletzt. Sie können nicht richtig gehen. Sie bleiben stecken. An einem unvorgesehenen Punkt bricht die rhythmische Bewegung ab: der Fortgang wird unverständlich. Dann kehren die simplen Tonfolgen wieder; verschoben und verbogen, ohne doch von der Stelle zu kommen.»

Eigentlich erstaunlich, dass Sätze dieser Art zu derart schwerwiegender Wirkung geführt haben. Tatsache ist jedenfalls, dass das Schaffen von Sibelius, ganz besonders der Korpus seiner sieben Sinfonien, doch deutlich am Rand des Repertoires steht – wenigstens hierzulande und in gewiss unterschiedlichem Mass. Als Brite teilt der Dirigent Simon Rattle die kontinentaleuropäischen Berührungsängste allerdings nicht. Unverkrampft gibt er sich politisch inkorrekter, nämlich in je eigener Weise dem Vokabular des ausgehenden 19. Jahrhunderts verpflichteter Musik hin: den «Enigma-Variationen» und dem «Dream of Gerontius» von Edward Elgar oder der Sinfonischen Dichtung «The Planets» von Gustav Holst. Er tut es ebenso selbstverständlich, wie er die «Gruppen» von Karlheinz Stockhausen, «Eclairs sur l’Au-delà» von Olivier Messiaen oder die zehnte Sinfonie von Hans Werner Henze dirigiert.

So legt jetzt Simon Rattle zusammen mit den von ihm geleiteten Berliner Philharmonikern zum 150. Geburtstag von Sibelius Ende 2015 dessen sieben Symphonien im luxuriösen Format der «Berliner Philharmoniker Recordings» vor. Die Aufnahmen basieren auf Konzertmitschnitten, die im Laufe des Jahres 2015 in der Berliner Philharmonie entstanden sind. Sie werden auf vier Compact Discs präsentiert, ausserdem auf einer Blu-Ray Disc in der besonders hohen Audio-Qualität sowie, ebenfalls auf einer Blu-Ray Disc, als Videoaufzeichnungen. Dazu gibt es ein opulentes Booklet, in dem sich etwa der finnische, in Deutschland wirkende Sibelius-Spezialist Tomi Mäkelä seine Gedanken macht – auch über Adorno.

Nicht minder prachtvoll, und das ist das Entscheidende, wird hier musiziert. Hochemotional, spannungsgeladen und zugleich strukturklar geht Simon Rattle zu Werk; klangsatt, aber ohne jeden Abrutscher ins Kitschige schafft er hörbare Wirklichkeit; und nicht ohne Eleganz setzt er die Musik dieses Kantigen ins Recht – die Schärfung des interpretatorischen Profils im Vergleich zur Gesamtaufnahme der Sinfonien von Sibelius, die Rattle in den frühen 1980er Jahren mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra erstellt hat, ist nicht zu überhören. Und die Berliner Philharmoniker tragen den gestalterischen Impetus ihres Chefdirigenten ohne Einschränkung mit. Unglaublich, mit welcher Hingabe sie sich den Kompositionen stellen, mit welcher Farbenpracht sie diese so eigene Musik leuchten lassen. Wie sehr die Musik von Sibelius der Landschaft verpflichtet ist, in der sie entstanden ist – in diesen Aufnahmen ist es mit Händen zu greifen. Dass hier irgendetwas von irgendwo heruntergefallen und zerbrochen sei, allerdings weniger.

«Die Fünfte» mit Harnoncourt

 

Peter Hagmann

Noch einmal – und ganz anders

Der Concentus Musicus Wien spielt Sinfonien Beethovens

 

Aufgewühlt, zerzaust, ja erschrocken sassen die Zuhörer im Grossen Saal der Tonhalle Zürich. So hatten sie «die Fünfte», Ludwig van Beethovens berühmte c-moll-Sinfonie, op. 67, noch nie gehört – so wie sie Nikolaus Harnoncourt anlässlich eines Gedenkkonzerts für den verstorbenen Zürcher Operndirektor Claus Helmut Drese am 26. November 2011 präsentiert hat. Eine radikal eigenwillige Sicht war das, ein Akt der Interpretation im besten Sinn des Wortes. Zur geplanten Publikation des Mitschnitts auf CD ist es allerdings nicht gekommen; statt dessen sind jetzt bei Sony Beethovens Sinfonien vier und fünf als Aufzeichnung einer Konzertserie vom Mai 2015 im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins erschienen. Sie war als Auftakt einer neuen Edition der neun Sinfonien Beethovens mit dem Concentus Musicus Wien gedacht; nach dem vor kurzem verkündeten Abschied Harnoncourts muss sie wohl oder übel als Schwanengesang angesehen werden.

Die Musik und ihre Botschaft

Nach einer Produktion von Beethovens Oper «Fidelio» 2013 im Theater an der Wien, so lässt sich Harnoncourt im Booklet zitieren, hätten sich seine Freunde vom Concentus und er gedacht, dass jetzt der Moment gekommen sei, die Sinfonien Beethovens in den Blick zu nehmen. Zum ersten Mal in seiner Laufbahn sollte Harnoncourt diese Werke mit einem sogenannten Originalklang-Ensemble erarbeiten. Denn wohlverstanden, bei jenem Beethoven-Zyklus, mit dem Harnoncourt vor einem Vierteljahrhundert in Graz Aufsehen erregt hatte, war mit dem Chamber Orchestra of Europe ein konventionell besetztes Orchester beteiligt. Die Verwendung alter Instrumente oder entsprechender Kopien und die entsprechenden Spielweisen machen indessen noch keineswegs die Besonderheit der neuen Aufnahme aus. Es ist gerade umgekehrt; erst die Mittel der historischen Aufführungspraxis ermöglichen Harnoncourt, seinen Intentionen als Interpret tatsächlich nahe zu kommen.

Was das heisst, ist zu erkennen, wenn man von der neuen Aufnahme von Beethovens Fünfter zur Einspielung von 1990 zurückkehrt. Vieles ist dort angelegt, aber bei weitem nicht so radikal verwirklicht – das verunmöglichte etwa das Instrumentarium. Gewiss prägen die Hörner des Chamber Orchestra of Europe das Geschehen mit scharf leuchtendem Klang, aber es sind doch Ventilhörner, bei denen jeder Ton in seiner Farbe mit dem vorangehenden oder dem nächsten klar verwandt ist. Beim Concentus Musicus Wien werden dagegen Naturhörner verwendet, bei denen jene Töne, die ausserhalb der Naturtonreihe liegen, durch Stopfen erzielt werden müssen – was erhebliche Klangveränderungen zur Folge hat. Das Näseln, das die Instrumente in solchen Fällen annehmen (und das manchenorts als hässlich empfunden wird), unterstreicht die Schärfe einer Stelle, aber eben nicht durch Lautstärke, sondern durch Klangfarbe.

Und scharf klingt Beethovens Fünfte bei Harnoncourt in der Tat. Seit er in seinen Forschungen zur Frage, wie Musik früherer Epochen zu ihrer Entstehungszeit gespielt worden ist, auf die barocke Rhetorik gestossen ist und dabei erkannt hat, dass viele musikalische Gestalten mit konkreten Bedeutungsinhalten verbunden sind, hat jede Musik für ihn ihre Botschaft. Auch und gerade Beethovens Fünfte. Für Harnoncourt spricht dieses Werk aber nicht von dem mit dumpfem Klang an die Pforte schlagenden Schicksal, es trägt für ihn vielmehr einen emanzipatorischen, mithin hochgradig politischen Charakter. Da dringe nicht etwas von aussen herein, es strebe im Gegenteil etwas von innen nach aussen, vom Eingeschlossenen ins Freie, von c-moll nach C-dur. Im Booklet erläutert er das in farbiger Rede, wie er es vor den Konzerten zu tun pflegte, doch braucht es die Erläuterung nicht wirklich, die musikalische Auslegung spart nicht mit Deutlichkeit.

Indes ist das keine Frage der Lautstärke oder der Wucht. In konsequenter Abkehr von dem überkommenen Beethoven-Bild, wie es etwa noch Daniel Barenboim und die Staatskapelle Berlin in ihrer Gesamtaufnahme der Sinfonien von 1999 pflegten, findet Harnoncourt das Zeichenhafte seiner Interpretation in einer äusserst differenzierten, agilen Phrasierung, die in erster Linie durch Nuancierungen des Tempos erzielt wird. Wie bei der Grazer Aufnahme von 1990, von der sich die Zeitdauern in der neuen Aufnahme von 2015 praktisch nicht unterscheiden, ist für ihn die Einhaltung der von Beethoven 1817 mit Hilfe des Metronoms festgelegten Tempi nicht das Mass aller Dinge. Er bleibt in der Regel leicht unter den Vorgaben. Viel wichtiger ist ihm – und das ist im Zuhören nun wirklich gewöhnungsbedürftig – die stete Anpassung der Zeitmasse an den jeweiligen musikalischen Verlauf. Und das unter Verzicht auf jenen durchgehenden Puls, der sich im 20. Jahrhundert als Norm durchgesetzt hat.

Das neue alte Espressivo

Der dritte Satz zum Beispiel. Er hebt mit einem geflüsterten Pianissimo der Celli und der Bässe an, in welches das Sforzato, das wenige Takte nach Beginn notiert ist, als regelrechter Schock einfährt – als ein Blitzschlag vor dem scharfen Weckruf des ersten Horns mit den drei Vierteln und der punktierten Halben, die als das Zentralmotiv vom Anfang der Sinfonie her bekannt sind. Beginnt dann aber der bewegte, nach der Art einer Fuge gestaltete Binnenteil, wird das Grundzeitmass abrupt gesenkt. Das Viertel, das diesen Teil als Auftakt einleitet, wird verlängert, die mit dem ersten vollen Takt einsetzende, nach oben strebende Achtelbewegung wird durch ein Accelerando unterstrichen, die Pausen, die diesen Verlauf noch und noch unterbrechen, werden gedehnt. Das ist irritierend und wirkt aufs erste, oberflächliche Hören übertrieben, wenn nicht manieriert. Wer aber zum Ende des Satzes gelangt, wer dort die mit unglaublicher Spannung erfüllte Überleitung in das ohne Pause folgende Finale und schliesslich die Explosion in C-dur erlebt, begreift das, was vorausgegangen, als eine unablässige Folge von Versuchen, aufzustehen und ins Freie zu gelangen. Von da her ist nur logisch, dass Harnoncourt die grosse Wiederholung in diesem Satz ausführt. Und selbstverständlich kommt die kräftig erweiterte Instrumentation des Finales mit ihrem präsenten, aber nirgends grellen Piccolo nach solcher Vorbereitung zu besonderer Geltung.

Interessant ist dabei, wie nahe Harnoncourt mit dieser Lesart von Beethovens Fünfter der romantischen Tradition der musikalischen Interpretation kommt. Auch dort, etwa in der Aufnahme der Sinfonie mit Arthur Nikisch und den Berliner Philharmonikern von 1913, herrscht eine Freiheit in der Tempogestaltung, die heutigen Ohren wenig verständlich, ja willkürlich erscheint. Den Interpreten des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts galt der durchgehende Puls als unkünstlerisch – davon sprechen die Tondokumente aus jener Zeit, aber auch die auf Papierrollen festgehaltenen Interpretationen für das Welte-Mignon-Klavier; und thematisiert wird es in den Schriften zur Ästhetik der musikalischen Interpretation. Erst die rabiat gegen diese Art Espressivo gerichtete Neue Sachlichkeit etablierte den regelmässig durchgehenden Puls als Dogma. Ein Leben lang – und je weiter die Jahre voranschritten, desto deutlicher – opponierte Harnoncourt gegen dieses nach dem Zweiten Weltkrieg mit besonderer Insistenz durchgesetzte Gleichmass. Allerdings basiert sein Espressivo nicht auf jener Subjektivität des Empfindens, die den romantisch ausgerichteten Interpreten heilig war, sondern auf dem Verstehen von Musik als Sprache. Was das heisst, kann in der neu erschienenen Aufnahme von Beethovens Fünfter erlebt werden.

Von Richter zu Harnoncourt

 

Peter Hagmann

Sinn und Gewinn der Klangrede

Bachs Weihnachtsoratorium gestern und heute

 

Weihnachten naht, und mit ihm das Weihnachtsoratorium. Jene von Johann Sebastian Bach aus sechs Kantaten zusammengestellte Werkfolge für die Zeit zwischen dem Weihnachtstag und dem Dreikönigstag. Wer das Weihnachtsoratorium in diesen Tagen nicht im Konzert hören kann, führt es sich vielleicht mit Hilfe einer Aufnahme zu Gemüte – ich wenigstens tue das. Und in der Regel entscheide ich mich für den bei der Deutschen Harmonia Mundi erschienenen Mitschnitt zweier Konzerte, die Nikolaus Harnoncourt Anfang Dezember 2006 und Mitte Januar 2007 im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins dirigiert hat. Mit von der Partie waren dort sein Freundeskreis, wie er sich im Concentus Musicus Wien jeweils versammelt, der Arnold Schönberg-Chor Wien und ein erlesenes Solistenquartett mit Christine Schäfer (Sopran), Bernarda Fink (Alt), Werner Güra (Tenor) sowie Gerald Finley (Bass) für die erste Hälfte und Christian Gerhaher für die zweite. Die Aufnahme hat bei mir Kultstatus.

Früher war das anders. Vor einem halben Jahrhundert war es eine ganz andere Aufnahme, die diese Position einnahm – jene mit Karl Richter, die 1965 im Münchner Herkules-Saal für die Archiv-Produktion der Deutschen Grammophon entstanden ist. Auch dort war ein Kreis äusserst prominenter Vokalsolisten am Werk, nämlich Gundula Janowitz (Sopran), Christa Ludwig (Alt), Fritz Wunderlich (Tenor) und Franz Crass (Bass). Und auch dort waren mit dem Münchner Bach-Chor und dem Münchner Bach-Orchester Stammkräfte versammelt. Karl Richter, damals noch nicht vierzig Jahre alt, hatte sich als Organist, Cembalist und Dirigent schon eine bemerkenswerte Position erarbeitet und galt als eine Autorität auf dem Gebiet der Bach-Interpretation. Als eine nicht ganz unbestrittene Autorität freilich, denn etwas weiter östlich, in Wien, regte sich Widerstand gegen die Art und Weise, in der Richter die Musik Bachs erklingen liess. Es waren der Concentus Musicus Wien und sein Leiter Nikolaus Harnoncourt, die aufbegehrten. Und einen ganz anderen Zugang propagierten.

Jetzt, da Harnoncourt, zehn Tage ist es her, seinen Rückzug vom Konzertpodium bekannt gegeben hat, ist vielleicht der Moment, innezuhalten und darüber nachzudenken, was in den sechs Jahrzehnten seit der Gründung des Concentus Musicus Wien geschehen ist. Die beiden Aufnahmen von Bachs Weihnachtsoratorium laden dazu ein. Und der Vergleich macht deutlich, dass Musik – auch die Kunstmusik, die gerne als museal empfunden wird – eine höchst lebendige, stetem Wandel unterworfene Erscheinung ist. Wer von Karl Richter her zu Nikolaus Harnoncourt kommt oder umgekehrt von Nikolaus Harnoncourt zu Karl Richter zurückgeht, kann das in geradezu drastischer Weise erleben. Nicht dass das Wirken Richters etwas Falsches oder etwas Überholtes an sich hätte, keineswegs. Die Konfrontation mit den Auffassungen Harnoncourts macht jedoch deutlich, in welchem Mass musikalische Interpretation ihrer Zeit verpflichtet ist. Mit dem Vergehen der Zeit also veraltet und zugleich als dokumentierter Ausdruck ihrer Zeit eine ganz eigene Gültigkeit bewahrt.

Das ist keine Frage des Instrumentariums und des Stimmtons. Der Concentus Musicus Wien verwendet Instrumente aus der Entstehungszeit der gespielten Kompositionen oder entsprechende Kopien, und er agiert einen halben Ton tiefer, als es der heute übliche Stimmton mit dem a’ auf 440 Hertz (oder etwas mehr) anzeigt. Aber das ist nicht das Wesentliche. Im Vokalen zeigt es sich besonders deutlich. Der Arnold Schönberg-Chor, der mit Harnoncourt zusammenarbeitet, ist kein professionelles Ensemble wie etwa der von John Eliot Gardiner gegründete Monteverdi Choir, und er ist nicht auf die Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis eingeschworen. Und anders als beispielsweise bei William Christie und Les Arts Florissants entstammen die Vokalsolisten Harnoncourts nicht der spezialisierten Szene, sie stehen vielmehr in einer allgemeinen Weise für die Gesangskunst von heute. Dennoch unterscheiden sich die beiden Aufnahmen wie Tag und Nacht.

Der Grund dafür ist jener Kern der historisch informierten Aufführungspraxis, den Harnoncourt die Klangrede genannt hat. Barockmusik, das hat ihm das langjährige, intensive Studium der aufführungspraktischen Quellen jener Zeit zu erkennen gegeben, basiert auf Formeln, die mit der Sprache verbunden sind – eine Tatsache, die weit über ihre Zeit hinaus wirksam war, ja eigentlich bis heute Gültigkeit besitzt: Musik als eine höhere Art Sprache. Damals wie heute versteht der kundige Hörer sogleich, was eine absteigende Folge von Halbtonschritten bedeutet; es ist der «passus duriusculus», der für Trauer steht. Und wie die Sprache, kennt auch die Musik Hebungen und Senkungen, längere und kürzere Töne – und das, auch wenn die Notenzeichen genau gleich aussehen: Es ist die Position des einzelnen Tons im Takt, welche die Länge mitbestimmt. Darum klingen, wenn historisch informiert gespielt und gesungen wird, gleiche Töne nie gleich lang, was unter anderem zu jener erhöhten Lebendigkeit führt, die man an der historischen Praxis schätzt.

Der Eingangschor zur ersten Kantate des Weihnachtsoratoriums lässt es auf Anhieb hören. Er beginnt mit drei Schlägen der Pauke, drei gleich hohen Achteln in einem Drei-Achtel-Takt, die auf eine Eins im nächsten Tag hinführen und in einem absteigenden Quartschritt auf der Zwei dieses zweiten Taktes enden. Bei Karl Richter klingt dieser kleine, aber überaus wichtige Verlauf, ebenmässig – so wie die Musik Bachs als eine gleichsam objektivierte Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg neu entdeckt worden ist. Ganz anders Nikolaus Harnoncourt, dessen Pauker die drei wiederholten Achtel in der Lautstärke ansteigen und auf dem vierten Achtel kulminieren lässt, was gleich zu Beginn Entwicklung, Atmen, Leben offenbart.

In gleicher Weise manifestieren sich gut dreissig Takte später Unterschiede im Chor. Der Text heisst dort: «Jauchzet, frohlocket! Auf, preiset die Tage!» Bei Harnoncourt wird musikalisch nachgebildet, was sprachlich vorgegeben und in den Drei-Achtel-Takt eingefügt ist. Gesungen wird also ungefähr: «Jáuchzèt, frohlóckèt! Auf, préisèt die Tágè!» – denn im Drei-Achtel-Takt ist der erste Schlag der stärkste, der zweite der schwächste und der dritte ein wieder etwas stärkerer. Bei Karl Richter dagegen herrscht auch hier Ebenmässigkeit, ja das Achtel auf der letzten Silbe von «frohlocket» und «Tage» wird bisweilen fast zu einem Viertel: «frohlockeet» und «Tagee». Wer spricht so? Nur Musiker tun das, wenn sie musizieren, weil dieses Sitzenbleiben auf dem zweiten Achtel des Drei-Achtel-Takts einer gängigen, in der Oper besonders verbreiteten Unsitte entspricht. Sie ist leider noch keineswegs aus den Köpfen verschwunden. Aber immerhin gibt es inzwischen, zum Beispiel bei den Lehrkräften an den Musikhochschulen, ein gewisses Problembewusstsein.

Das ist jetzt vielleicht mit der Lupe auf die Einzelheiten geblickt, aber es sind genau Details solcher Art, die anzeigen, wie sich die musikalische Interpretation weiterentwickelt hat. Darum lasse ich bei aller Verehrung für Karl Richter und sein unschätzbares Wirken die von ihm dirigierte Aufnahme im CD-Gestell. Ich lege die Einspielung mit Nikolaus Harnoncourt ein und bin im Zuhören dankbar, dass ich den epochalen Einschnitt, den dieser grossartige Musiker unserer Zeit beschert hat, mit eigenen Ohren miterleben durfte.

Gardiner dirigiert Bach

 

Peter Hagmann

Klangsprache schönster Art

Eine erstklassige Aufnahme von Bachs h-moll-Messe

 

In der diesjährigen Osterausgabe des Lucerne Festival bildete sie einen sensationellen Höhepunkt, jetzt ist die h-moll-Messe Johann Sebastian Bachs in der Lesart von John Eliot Gardiner als CD-Aufnahme auf den Markt gekommen (Soli Deo Gloria 722). Was sich im Konzert als Sternstunde der musikalischen Interpretation eingeprägt hat, lässt sich nun medial nachvollziehen. Das ist nicht das Gleiche, aber immerhin nicht wenig, in diesem Fall sogar sehr viel. Denn hier kommt ein bald dreihundert Jahre altes Werk von höchstem intellektuellem wie kompositionstechnischem Anspruch zu einer Gegenwärtigkeit und einer sinnlichen Wirkung, wie es sich erregender kaum denken lässt. Und das aufgrund der klaren, reichen Vorstellung, die sich der Dirigent als Interpret erarbeitet hat: Auf höchstem künstlerischem Niveau lässt er das Werk in einem bruchlosen Spannungsbogen vorbeiziehen und zu einer Erzählung eigener Art werden.

John Eliot Gardiner, eine Galionsfigur der historisch informierten Aufführungspraxis wie Nikolaus Harnoncourt, kennt die Quellen und weiss, was die Entstehungszeit der Komposition vom Aufführungsstil fordert. Als Orchester sind die English Baroque Soloists nicht solistisch besetzt, sie bestehen aber aus grossartigen Solisten, wie die vielen Arien mit obligaten Instrumenten bewiesen. Dasselbe gilt für den nun wirklich professionell ausgebildeten Monteverdi Choir, aus dessen Reihen sich die acht mit solistischen Aufgaben betrauten Sänger rekrutieren. Was dieses dreissig Mitglieder zählende Ensemble an Strahlkraft wie an Beweglichkeit hören lässt, darf als ein Wunder bezeichnet werden. Der Verzicht auf das Vibrato im Verbund und dessen sehr bewusster Einsatz als Verzierung im Solo, die Reinheit der Intonation und der vokale Farbenreichtum – das führt hier zu einer Plastizität der Strukturen und einer Fasslichkeit des Ausdrucks, die beim Zuhören ganz ausserordentliche Schwingungen erzeugen.

Die vokale Ästhetik ist eine ganz andere als in herkömmlichen Aufführungen; sie orientiert sich nicht ausschliesslich, aber vielleicht doch vornehmlich am Instrumentalen. Im Vordergrund stehen also die klare Linienführung und die prononcierte Artikulation. Betont die Arbeit mit den Gewichtungen im Taktverlauf sowie mit der Unterscheidung zwischen dem Gebundenen und dem Gestossenen den Sprachcharakter der Musik, so fördert die schlanke und gerade Tongebung die Klarheit der Polyphonie. Wenn die Musik Bachs zu sprechen beginnt, und wenn dieses Sprechen in durchsichtiger Vielstimmigkeit geschieht, ist man denkbar weit entfernt vom pastosen Klang des gross besetzten Bürgerchors (gegen den hiermit rein gar nichts gesagt sei) und beglückend nah an den Intentionen des Komponisten, so wie sie sich heute erkennen lassen.

Es beginnt schon mit jenem h-moll-Akkord in Terzlage, der das Werk eröffnet. Satt und prächtig klingt er, zugleich aber rein und frei von jeder Zutat. Das Instrumentale verbindet sich nahtlos mit dem Vokalen, und die Orgel, die zusammen mit dem Cembalo die harmonische Ausführung des Generalbasses besorgt, setzt mit ihrer Mixtur eine glänzende Krone auf das Geschehen. Gewiss, die eine oder andere Artikulation klingt demonstrativ – fast wie zu jenen längst vergangenen Zeiten, da Vertreter der historischen Praxis der Welt mit langem Zeigefinger weis machen wollte, wie die Musik «richtig» zu klingen habe. Das lässt sich umso eher in Kauf nehmen, als es selten geschieht und als Manier abgetan werden kann. Weitaus wichtiger ist die gestische, ja mehr noch: die geradezu körperliche Energie, die von den Chorsätzen ausgeht, seien sie homophon oder polyphon gesetzt. In den solistischen Partien kommt sie ohnehin ganz wunderbar zur Erfüllung. «Das grösste musikalische Kunstwerk aller Zeiten und Völker» nannte der Zürcher Komponist und Musikverleger Hans Georg Nägeli Bachs h-moll-Messe. Mit seiner in langen Jahren gewachsenen Interpretation schliesst sich John Eliot Gardiner dieser Umschreibung an.