Höhenflug in Lugano

Das Orchestra Mozart mit Isabelle Faust und Bernard Haitink im LAC

 

Von Peter Hagmann

 

Wie wenn der Tod Claudio Abbados am 20. Januar 2014 nicht traurig genug gewesen wäre, wurde in unmittelbarem Zusammenhang damit bekannt, dass das Orchestra Mozart, die letzte Gründung des Dirigenten, aus finanziellen Gründen seine Aktivitäten einstellen müsse. Die Musiker waren freilich nicht gewillt, den administrativen Akt anzunehmen. Sie leiteten eine ganze Reihe von Initiativen ein, welche die Wiederbelebung des 2004 mit Abbado an der Spitze eingerichteten Orchesters ermöglichen sollten. Die Regia Accademia Filarmonica in Bologna, dem letzten Wohnsitz Abbados, hatte schon bei der Gründung Hand geboten; sie ist jetzt wieder im Boot. Gestartet wurde ausserdem eine Crowdfunding-Aktion, die bis heute bereits mehr als 90’000 Euro erbracht hat. Nun sind die Musiker wieder aufs Podium gegangen. Das Orchestra Mozart lebt, und wie.

Zu hören war es am vergangenen Wochenende in Lugano, im Konzertsaal des neuen Kulturzentrums LAC, und dort im Rahmen der von Etienne Reymond geleiteten Konzertreihe LuganoMusica. Zwei Tage zuvor hatte das Orchestra Mozart in Bologna sein erstes Konzert der Post-Abbado-Ära gegeben, danach ist es für sein erstes Konzert im Ausland nach Lugano gereist, wo es ein hingerissenes Publikum gefunden hat. Kraftvoll blickt das Orchester jetzt nach vorn, doch tut es das im Wissen um seine grosse Vergangenheit. So hat es denn den Faden, der vor drei Jahren niederfiel, wieder aufgenommen. Am Pult stand erneut Bernard Haitink; er hatte das letzte Konzert des Orchestra Mozart vor Abbados Tod dirigiert. Und mit von der Partie war die Geigerin Isabelle Faust, die in der späten Zeit Abbados oft mit dem Dirigenten zusammengearbeitet hat.

Auch das Programm stellte eine Hommage an den Gründer des Orchesters dar. Die «Egmont»-Ouvertüre Ludwig van Beethovens war das erste Stück, das in einem Konzert des Orchestra Mozart erklang. Beethovens Violinkonzert hat Isabelle Faust mit dem Orchestra Mozart unter Abbados Leitung 2010 aufgenommen, dies zusammen mit dem Violinkonzert Alban Bergs – die CD ist dann 2012 erschienen. Und die «Rheinische», die Sinfonie Nr. 3 in Es-dur von Robert Schumann, war das letzte Werk, an dem Abbado mit dem Orchester gearbeitet hat. So schliesst sich jener Kreis, zu dem auch Bernard Haitink gehört. Im Spätsommer 2000 ist er zum ersten Mal für den akut erkrankten Claudio Abbado eingesprungen, damals noch am Pult der Berliner Philharmoniker; 2014 dirigierte er an Abbados Stelle das Orchestra Mozart, ein knappes Jahr später das ebenfalls auf Initiative Abbados installierte Lucerne Festival Orchestra.

Indes, bei dem jüngsten Konzertprojekt des Orchestra Mozart ging es keineswegs um die Retrospektive allein. Zu spüren war vielmehr ein klarer Wille zum Aufbruch. Das Orchester klang ungemein frisch und zupackend, seine knapp 60 Mitglieder wirkten motiviert und engagiert bis in die hintersten Ränge. Sie wollen, was sie tun; sie tun es nicht, weil sie es müssen. Ihren Lebensunterhalt verdienen sie sich anderswo, im Orchestra Mozart finden sie zusammen für Projekte, für begrenzte Arbeitsphasen. An ausgedehnte Konzertreisen, wie sie die anderen von Abbado gegründeten Orchester pflegen, denken sie weniger; eher möchten sie sich in einigen Städten Europas als Residenzorchester verpflichtet sehen, um sich dort mit einer breiten Palette musikalischer Darbietungsformen vom Sinfoniekonzert zum Kammermusikprogramm und zu pädagogischen Projekten einzubringen. Auch in Lugano hat das Orchestra Mozart vor seinem abendlichen Auftritt Kammermusik präsentiert: im Foyer des LAC, wo sechzig Stühle aufgestellt und dreissig Kissen für Kinder ausgelegt wurden. Fünfhundert Zuhörer seien gekommen, berichtet Etienne Reymond; die meisten von ihnen hätten von den Treppen aus zugehört.

Der Geist, der hier zum Ausdruck kommt, ist nicht unbekannt. Es ist jener des Lucerne Festival Orchestra – und tatsächlich gibt es hörbare klangliche Verwandtschaften. Kein Wunder, fand sich unter den Musikern, die in Lugano auftraten, doch eine ganze Reihe von Mitgliedern des Luzerner Lucerne Festival Orchestra: vom Geiger Raphael Christ, der beim Orchestra Mozart als Konzertmeister wirkt, über Danusha Waskiewicz, die Stimmführerin der Bratschen, und dem Solo-Cellisten Gabriele Geminiani bis hin zum Solo-Oboisten Lucas Marcías Navarro und seinem Kollegen Carlos del Ser Guillén. Die Schnittmenge umfasst zwanzig Prozent der Mitglieder. Das ist nicht so viel, dass die Eigenständigkeit der beiden Klangkörper tangiert wäre, fällt aber doch ins Gewicht. Bedeutender sind freilich die Prämissen des Musizierens, die hier wie dort dieselben sind: die Exzellenz auf dem Instrument, Präsenz und Reaktionsvermögen im Geist der Kammermusik, das Engagement aus freien Stücken und die freundschaftliche Verbundenheit untereinander – das macht den sagenhaften Klang auch des Orchestra Mozart aus.

Es ist ein persönlicher Klang mit einem kompakten Kern und einer starken Leuchtkraft. In dem akustisch hervorragenden Saal des LAC – was vom Podium kommt, wirkt in der Höhe des Balkons genau so präsent wie im Parkett – kam er um so mehr zur Geltung, als Bernard Haitink die Eigenheiten der Orchester Abbados optimal zu nutzen und sie zur Geltung zu bringen versteht. Eindrucksvoll auch, wie die Energien zwischen dem Dirigenten und dem Orchester fliessen. Der Kopfsatz der «Rheinischen» mag im Tempo etwas behäbig geraten sein, jedenfalls lag er merklich unter der von Schumann stammenden Metronomzahl; in der vibrierenden Spannkraft, mit welcher der Pauker Robert Kendell das Orchester voranzog, gewann das Tempo jedoch seine eigene Plausibilität. Die «Egmont»-Ouvertüre wiederum geriet so wuchtig, dass man sie durchaus auch als Ausdruck der Orchesterbiographie hören konnte. Während das Violinkonzert Beethovens von Isabelle Faust und dem Orchester derart berührend nach innen gewandt vorgetragen wurde, dass auch der Zuhörer zu aktiver Partizipation eingeladen war. Meine Nachbarin im Saal scheint davon wenig bemerkt zu haben; unverdrossen beleuchtete sie ihre Umgebung und liess sie an den Eingebungen teilhaben, die sie in ihr iPad tippte.

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