Der Konzertsaal blüht auch im Winter

 

Peter Hagmann

Lauter Gipfeltreffen

Zeitreisen bei und mit dem Tonhalle-Orchester Zürich

 

Dicht das Angebot, anregend die Abfolge in ihrer Vielgestaltigkeit, waches Interesse und gute Laune in den durchgehend dicht besetzten Rängen – sieht so das demnächst eintretende Absterben des Konzerts mit klassischer Musik aus? Wenn es so aussieht, ist gegen dieses aus unterschiedlichsten Gründen prophezeite Absterben nicht das Geringste einzuwenden, es ist nämlich munter, vergnüglich und sehr lebendig. Zumal für diese angeblich in den Orkus steigende Kunstgattung laufend neue Häuser entstehen: in Hamburg, in Paris, in Bochum, in Krakau etwa. Während andere wie in Zürich, Basel oder Bern tiefgreifend renoviert werden.

In der Tonhalle Zürich zum Beispiel herrschte während der vergangenen gut vier Wochen regstes Kommen und Gehen. Ein erster Überblick. Zunächst gab es ein Gipfeltreffen im Bereich der alten Musik, erschienen doch mehr oder weniger kurz hintereinander so prominente Dirigenten wie John Eliot Gardiner, René Jacobs und Thomas Hengelbrock mit ihren Ensembles. Worauf Bernard Haitink ans Pult des Tonhalle-Orchesters trat. Während eine Woche später Paavo Järvi erschien und eine derart blendend aussehende Visitenkarte auf den Tisch legte, dass er flugs zum Papabile im Rennen um die Nachfolge des glücklosen Lionel Bringuier an der Spitze des Tonhalle-Orchesters ernannt wurde.

Ganz unverständlich ist das nicht. Sogar für das Orchester nicht. Zwar hatte es laut nach Bringuier gerufen, hatte es mit Feuereifer die ersten Konzerte unter seiner Leitung vor gut zwei Jahren mitgetragen; wer damals vor dem Strohfeuer warnte und auf künstlerische Defizite hinwies, wurde ewiggestriger Haltung geziehen. Rascher als erwartet war die Luft jedoch draussen, verschlechterte sich die Beziehung zwischen dem Orchester und seinem Chefdirigenten. Nach zwei Spielzeiten wurde diesen Sommer bekannt, dass der Vertrag mit Lionel Bringuier nicht über 2018 hinaus verlängert werde. Kaum hatte man begonnen, war man schon wieder auf der Suche. Diesmal unter veränderten Voraussetzungen; die Fehler, die bei der Bestellung Bringuiers begangen wurden, sollen nicht wiederholt werden.

Paavo Järvi – ruhige Souveränität und klares Wollen

So steht jetzt jeder Gastdirigent unter erhöhter Beobachtung. Für Paavo Järvi gilt das besonders, weil er von Alter, Profil und Notorietät her gewiss passen würde. Er präsentierte sich mit einem Abend, der Züge des Massstäblichen trug. Schon allein im Programm. Im ersten Teil das Cellokonzert von Sergej Prokofjew und darauf, allerdings nur am dritten der drei Abende, «Signs, Games and Messages» von György Kurtág, nach der Pause die dritte Sinfonie Robert Schumanns, die «Rheinische» in Es-dur. Wenige Menschen im Grossen Saal der Zürcher Tonhalle dürften Prokofjews Cellokonzert von 1938 je live gehört haben; für das Tonhalle-Orchester war es offenbar eine Erstaufführung. Das Werk wird äusserst selten gespielt – auch weil es für eine ästhetische Auffassung steht, die obsolet geworden ist. Im westlichen Ausland berühmt geworden, war Prokofjew 1936 nach Russland zurückgekehrt und hatte sich dort hochoffiziell der Doktrin der sozialistischen Realismus unterworfen. Sein Cellokonzert klingt danach, es ist ein schwer verdaulicher Brocken voller Ecken und Kanten, dem ich persönlich nie mehr zu begegnen brauche. Steven Isserlis hat sich dieser Partitur verschrieben, er hat das Werk vor drei Jahren zusammen mit Paavo Järvi und dem hr-Sinfonieorchester Frankfurt auf CD aufgenommen und jetzt auch in Zürich vorgestellt.

Schumanns Dritte wirkte danach wie ein Akt der Befreiung. Hell und frisch das Klangbild, dabei kräftig zupackend, aber nirgends laut, grob oder unstrukturiert. Im Gegenteil, Järvi schichtete den Satz äusserst sorgfältig und stellte hochgradig Transparenz her, er liess Nebenstimmen ins Spiel kommen und Gegenakzente setzen – das alles auf der Basis geerdeter und klar erkennbarer persönlicher Auffassungen. Schumann klang hier grundlegend anders als bei David Zinman, extravertiert, lebenszugewandt, ja optimistisch – der strahlende Ton, mit dem die Hörner immer wieder ihre Signale setzten, mag davon zeugen. Nirgends stellte sich freilich je Bombast oder Härte ein, das verhinderte die Genauigkeit im Austarieren der Instrumentalfarben, etwa in der Abmischung von Bläsern und Streichern im dritten Satz und mehr noch im vierten, wo die Ersten Geigen ohne jedes Vibrato silberhellen Seidenglanz erzeugten. Wie dort am Ende der Choral mit voller, gerundeter Kraft eintrat, wurde auch klar, warum Järvi die grosse Besetzung mit sechzehn Ersten Geigen gewählt hatte.

Bei all dem stand der Dirigent in einer Ruhe vor dem Orchester, die Souveränität anzeigte; gleichzeitig setzte er mit wenigen Energieschüben zumal der linken Hand seine Schwerpunkte. Järvi braucht das Licht nicht auf sich zu lenken, es strahlt von selbst. Analytischer Geist und Klangsinn, Erfahrung und Spontaneität – da liegt sein Geheimnis. Seine Sporen hat er längst abverdient, hauptsächlich im Konzertsaal. 1962 im estnischen Tallin als erster von zwei dirigierenden Söhnen des Dirigenten Neeme Järvi geboren, war er Chefdirigent beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt oder beim Orchestre de Paris; in dieser Funktion wirkt er derzeit beim NHK-Orchester in Tokio – und vor allem bei der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, die in den zwölf Jahren mit ihm zu internationaler Reputation gekommen ist.  Er weiss, was er will, und bringt es unaufgeregt an den Mann, an die Frau. Das Tonhalle-Orchester reagierte darauf mit gespannter Aufmerksamkeit; es gab zu erkennen, dass es, wenn ein Dirigent etwas von ihm will, durchaus zu geben in der Lage ist – und dass dieses Geben nicht gering ausfällt. Das ist, was bei Lionel Bringuier viel zu wenig geschieht, hier aber ganz unverkrampft eingetreten ist.

Bernard Haitinks feuerfeste Gelassenheit

Wenn es darf, ist das Orchester in altgewohnter Höhe da. So war es auch beim Gastspiel Bernard Haitinks, der, mittlerweile 87 Jahre alt, Bruckners Neunte dirigierte. Ein ganz klein wenig erinnerte dieser Auftritt an die späten achtziger Jahre, als das Tonhalle-Orchester über wenig taugliche Chefdirigenten verfügte und oft unter seinem Niveau spielte. Damals kam Bernard Haitink nach Zürich, setzte Mahlers Erste an und liess das Orchester unvergesslich anders klingen. So ist es bei diesem Dirigenten. Mit Haitink am Pult nimmt jedes Orchester einen ganz eigenen Ton an – eben jenen, den nur Haitink zu erzielen vermag. Und das Tonhalle-Orchester Zürich gehört zu jenen Klangkörpern, die auf Haitinks Ausstrahlung besonders gut reagieren; nicht von ungefähr wird das Zürcher Orchester hie und da mit dem Concertgebouworkest Amsterdam, bei dem Haitink von 1961 bis 1988 als Chefdirigent wirkte, in Verbindung gebracht.

Anders als mit Paavo Järvi wird der Klang des Tonhalle-Orchesters mit Haitink leuchtend warm, ja von innen heraus glühend, offen in seinen Formanten und enorm geschmeidig. Das ist die Basis für Haitinks Blick auf Bruckner – einen Blick, der von einer tief empfundenen Menschlichkeit lebt. Die musikalischen Gestalten Bruckners bis hin zu dem riesigen, scharf dissonanten Akkord im Adagio, der in drei Anläufen seinen Höhepunkt erreicht, haben nichts Dröhnendes an sich; keine Spur von Machtausstrahlung geht von ihnen aus – auch wenn sie sich zu jenem kraftvollen Forte erheben, das sich der Organist Bruckner erträumt haben mag, von seinen Instrumenten aber nicht erhalten hat. Insofern steht Haitink, wiewohl älterer Generation, für ein jüngeres Bruckner-Bild ein; auch für ihn ist der Bruckner der Ringstrassen-Architektur, wie ihn etwa Eugen Jochum in seiner Weise so hervorragend gepflegt hat, Vergangenheit.

Darum erhalten im Kopfsatz die Triolen in dem auf das gerade Vier-Takt-Schema ausgerichteten Denken eine weiche Fügung. Darum entfalten in dem durchaus gemessen genommenen Scherzo die trocken absteigenden Viertel packende Energie, ohne dass Schneidendes oder gar Stampfendes ins Spiel käme. Und darum erhält das Adagio eine Grösse, die sich in dem ganz einfachen E-dur-Akkord der Blechbläser, in den drei Pizzicati der Streicher fallen, eine so vollkommene Erfüllung, dass man an einen fehlenden vierten Satz gar nicht mehr denken mag. Zutiefst bewegend war das wieder – nicht weniger bewegend als bei Haitinks Zürcher Aufführungen der Neunten Bruckners in den Jahren 2005 und 2010. Das Tonhalle-Orchester dankte es seinem heimlichen Ehrendirigenten mit jener Wärme, zu der es in seinen besten Momenten so einzigartig in der Lage ist.

Panorama der historischen Praxis

In den Wochen zuvor waren die Akzente von ganz anderer Seite gekommen, hatte die Aufmerksamkeit der historisch informierten Aufführungspraxis gegolten. Die Dirigenten John Eliot Gardiner (http://www.peterhagmann.com/?p=817), René Jacobs und Thomas Hengelbrock führten vor, dass diese Spielart der musikalischen Interpretation, die so reiche Innovation ins Musikleben gebracht hat, lange Zeit aber als dogmatisch, ja als ideologisch belastet galt, inzwischen eine beträchtliche Vielfalt an persönlichen Handschriften hervorgebracht hat. Und die  Zürcher Tonhalle wurde wieder einmal hörbar zu jenem Zentrum der städtischen Musikkultur, das sie in den besten Momenten ihrer Saison sein kann. Übrigens einem durchaus schweizerisch, nämlich föderalistisch geprägten Zentrum, waren doch Gardiner und Hengelbrock Gäste des Tonhalle-Orchesters, während Jacobs von der Neuen Konzertreihe Zürich eingeladen war.

Thomas Hengelbrock kam mit dem von ihm gegründeten, ein Orchester und einen Chor umfassenden Balthasar-Neumann-Ensemble. Und mit einem Programm, das seinesgleichen sucht. Er stellte Vokalmusik von Felix Mendelssohn Bartholdy vor, die so gut wie nie aufgeführt wird. Werke, die das dreizehnjährige Wunderkind zeigen und einen Blick in das Todesjahr des im Alter von achtunddreissig Jahren verstorbenen Komponisten werfen lassen. Stücke auch, die von der Bedeutung des Chorgesangs im früheren 19. Jahrhundert berichten. Und nicht zuletzt Musik, anhand derer über die diffizile Religiosität ihres Komponisten nachgedacht werden kann – eines Komponisten, der einer jüdischen Familie entstammte, aber christlich getauft war, und der sich ebenso einem katholischen «Ave Maria» wie einer protestantischen Weihnachtskantate zuwenden konnte. Hengelbrock, der einen ganz ausgezeichneten Chor geformt hat, in diesen aber nicht so erstklassige Solisten inkorporiert, wie es Gardiner oder Philippe Herreweghe tun – Hengelbrock liess der wunderbaren, in ihrem blühenden musikalischen Satz unglaublich zu Herzen gehenden Musik Mendelssohns alle Gerechtigkeit angedeihen. Und das in einem Tonfall, der, auf alten Instrumenten und in tiefer Stimmung erzeugt, ebenso viel Gelassenheit wie Identifikation spüren liess.

Für René Jacobs, den RIAS-Kammerchor und das Freiburger Barockorchester gilt im Prinzip dasselbe. Jedenfalls im Falle der Harmoniemesse Joseph Haydns, einem enorm festlichen Stück Kirchenmusik, das in vollem Glanz daherkam und aus dem Quartett der Vokalsolisten Sophie Karthäuser (Sopran) und Marie-Claude Chappuis (Alt) besonders zur Geltung kommen liess. Etwas Unbehagen liess dagegen Mozarts «Requiem» zurück. Nicht wegen der Neufassung der fragmentarischen Partitur durch Pierre-Henri Dutron, die nur wenig an der Vervollständigung des Mozart-Zeitgenossen Franz Xaver Süssmayr veränderte. Stirnrunzeln löste vielmehr der Versuch des Dirigenten aus, Mozarts Stück aus dem geistlichen Kontext, dem es eben doch entstammt, herauszulösen und es zugleich von jenen Rezeptionsmomenten zu befreien, die sich ihm durch die Figur des am Wiener Hof so erfolgreichen Kontrahenten Antonio Salieri angelagert haben. Jacobs, so der Eindruck, wollte Mozarts «Requiem» einfach als ein unglaublich gut durchdachtes, hochvirtuoses Stück Musik vorstellen. Er wählte darum Tempi, welche die an der Aufführung beteiligten Kräfte enorm forderten (und deren sagenhaftes Können zeigten), die im Zuhörer bisweilen aber auch leichte Atemnot auslösten. Wirklich aufgegangen ist das nicht – so ist das Leben.

Tief in die Weite erstreckt sich der musikalische Garten, den man in der Tonhalle Zürich betreten kann. Da und dort gibt es Stellen, die etwas der Bewässerung bedürfen. Dass dieses kleine Paradies im Begriff sei, zur Steppe zu werden, davon kann freilich keine Rede sein.

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