Kulturpolitik und Volkes Wille – in der Tonhalle Zürich

 

Peter Hagmann

Mit voller Kraft voraus

Das Tonhalle-Orchester Zürich blickt nach vorn

 

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Das gibt es nur in der Schweiz: Dass Stimmbürger über die Existenz eines Orchesters befinden. In Winterthur gab es das, und das dortige Musikkollegium hat damals kräftigen Sukkurs aus der Bevölkerung erhalten. Bei der Volksabstimmung, die am 5. Juni in Zürich stattfindet, geht es nur indirekt um das Tonhalle-Orchester. Dies allerdings in existentieller Weise. Denn vom Ausgang der Abstimmung über die Umgestaltung des Kongresshauses und die Renovation der Tonhalle hängt, das lässt sich durchaus so sagen, nicht weniger als der Weiterbestand des Tonhalle-Orchesters ab. Martin Vollenwyder, der Präsident der Tonhalle-Gesellschaft Zürich, pflegt es in diesen Tagen noch und noch auszusprechen. Ohne das geplante Bauvorhaben muss die Tonhalle-Gesellschaft die Zahl der Plätze im Grossen Saal von derzeit 1500 auf 750 reduzieren, das verlangen die Sicherheitsvorschriften, deren Einhaltung von der Feuerpolizei seit Jahren angemahnt wird. Mit der Hälfte der Sitze aber lässt sich das Orchester so, wie es heute besteht, nicht halten, die durch den Konzertbetrieb erwirtschafteten Mittel wären zu gering.

Mit Augenmass

Von den politischen Parteien hat sich einzig die SVP gegen das Kongresshaus-Projekt ausgesprochen. Sie stört sich an der Höhe der Kosten; das Innere des Grossen Saals zum Beispiel werde mit einem für die Partei nicht nachvollziehbaren Aufwand restauriert. Das ist freilich kein Argument, sondern einer jener Hüftschüsse, für welche die SVP bekannt ist; mit Hüftschüssen aber lässt sich nicht politisieren, wenigstens nicht auf dem hierzulande üblichen Niveau. In Tat und Wahrheit ist es so, dass von den 240 Millionen Franken, die für das Projekt veranschlagt sind, allein 73 Millionen Franken für die Entschuldung der Kongresshaus-Stiftung und deren Umwandlung in eine öffentlich-rechtliche Stiftung benötigt werden. Und dass von den verbleibenden 167 Millionen Franken der Löwenanteil an den Umbau des Kongresshauses und die dringend erforderliche Anpassung des Gebäudes an die heute gelten Massstäbe in punkto Technik und Sicherheit gehen. Dass bei einem derartigen Eingriff in die Bausubstanz auch der Grosse Saal gründlich überholt wird und dass dabei in gleicher Weise wie beim Kongresshaus die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands angestrebt wird, ist nichts als vernünftig.

Die optische Anmutung eines Konzertsaals darf nicht ausser Acht bleiben. Als ich in den späteren achtziger Jahren nach Zürich kam und das Tonhalle-Orchester einigermassen deprimiert zu Boden lag, wurde dieser Eindruck unterstützt durch das Grau in Grau des an sich opulent gedachten Grossen Saals – durch eine Farbgebung, die nicht dem ursprünglichen Zustand entspricht, sondern auf eine später durchgeführte Renovation zurückgeht. Inzwischen hat sich das Tonhalle-Orchester mächtig erhoben; es hat sich ein im Vergleich zu damals ganz anderes künstlerisches Profil erworben, weshalb es die Wiederherstellung des Saals mehr als verdient hat. Angestrebt wird, nicht zuletzt dank Elmar Weingarten, dem früheren Intendanten des Orchesters, eine leuchtend festliche Farbgebung, wie sie bei der Eröffnung der Tonhalle 1895 vorhanden war – und wie sie sich anhand der noch vorhandenen Farbschichten erschliessen lässt. Welche Wirkung ein solcher Schritt haben haben kann, war 1989 in Basel zu erleben, als der Musiksaal im dortigen Stadtcasino nach einer Renovation, die den Urzustand von 1876 wiederherstellte, mit einem Mal in fröhlichem pompejanischem Rot erstrahlte.

Über die Wiederherstellung des Grossen Saals in der Tonhalle Zürich hinaus soll auch der Hinterbühnenbereich auf Vordermann gebracht werden, sollen also die Aufenthaltsbedingungen für die Musikerinnen und Musiker, die hier immerhin ihren Arbeitsplatz haben und beträchtlich Lebenszeit verbringen, auf ein menschenwürdiges Mass angehoben werden. Weder die Garderoben noch die sanitären Anlagen entsprechen heutigen Gepflogenheiten, die zum Teil sehr wertvollen Instrumente müssen unter Bedingungen aufbewahrt werden, die Schäden zur Folge haben können. Zu diesem Zweck müssen zwei Nachtclubs weichen, die an dieser Stelle ohnehin am nicht eben richtigen Platz waren. Dies alles geschieht im Rahmen einer Neugestaltung des Kongresshauses, das für einen Kongressbetrieb der heutigen Zeit fit gemacht werden soll. Anders als bei dem Neubau-Projekt des spanischen Architekten Rafael Moneo, das 2008 an der Urne gescheitert ist, soll der Bau von Haefeli Moser Steiger aus dem Jahre 1939 insgesamt in seinen ursprünglichen Zustand werden. Die umstrittenen Zubauten von 1985 sollen wieder abgetragen und durch moderate Erweiterungen ersetzt werden, die das Äussere des Gebäudes nicht tangieren, in seinem Inneren jedoch die dringend notwendigen Optimierungen möglichen machen.

Mit voller Kraft voraus

Bei der Volksabstimmung vom 5. Juni geht es also im Grunde um drei Aspekte, nämlich um das Kongresshaus, um die in das Kongresshaus integrierte Tonhalle mit ihrem Orchester und um die Struktur der Trägerschaft dieser Einrichtungen. Aus dem Blickwinkel der Kulturstadt Zürich ist es die Tonhalle, die im Zentrum steht. Dessen ist sich das Orchester bewusst, und so hat es jetzt, gut vier Wochen vor dem Urnengang, das Programm für die Saison 2016/17 vorgelegt. Dabei zeigt sich das Tonhalle-Orchester Zürich in seiner dritten Spielzeit unter der neuen Leitung mit dem Chefdirigenten Lionel Bringuier, der Intendantin Ilona Schmiel und dem Präsidenten Martin Vollenwyder in voller Blüte. Dieser Institution durch ein Nein an der oder das Fernbleiben davon die Lebensader zu kappen, wäre ein Fehler von fürwahr historischem Ausmass.

Lionel Bringuier, der ein gutes Drittel der etwas mehr als einhundert Konzerte dirigiert, wendet sich in der neuen Saison den Ballets Russes zu, jenen meist gross besetzten Werken aus dem frühen 20. Jahrhundert, die im Umkreis um den Intendanten Serge Diahilew entstanden sind. So sind denn der «Sacre du printemps» und «L’Oiseau de feu» von Strawinsky oder «Der Dreispitz» von de Falla zu hören. Bringuier erarbeitet aber auch deutsches Repertoire, Schumanns Vierte etwa oder von Mendelssohn ebenfalls die Vierte sowie den «Lobgesang». Unter den Gastdirigenten finden sich die grossen Alten wie Herbert Blomstedt, Bernard Haitink oder der Ehrendirigent David Zinman, aber auch einige Newcomer wie Jakub Hrůša, der demnächst die Leitung der Bamberger Symphoniker übernehmen wird, oder die drei Damen Emmanuelle Haïm, Barbara Hannigan und Alondra de la Parra. Aus dem Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis sind John Eliot Gardiner, der mit seinem Orchestre Révolutionnaire et Romantique kommt, Thomas Hengelbrock und Philippe Herreweghe angekündigt. Macht alles ziemlich neugierig.

Besondere Aufmerksamkeit erweckt auch die nochmals verstärkte Hinwendung zur neuen Musik, die beim Tonhalle-Orchester, das darf auch einmal ausgesprochen werden, inzwischen ganz selbstverständlich dazugehört. An vorderster Front tragen dazu bei der «Artist in Residence» Martin Grubinger, ein Schlagzeuger von unglaublichem Können und sensationeller Breitenwirkung, sowie der Dirigent und Komponist Peter Eötvös als Inhaber des «Creative Chair». Taktisch ausgesprochen geschickt, diese Mischung zwischen alt und jung, zwischen avanciert und ohrenfällig – und Zeichen für die prickelnde Lebendigkeit, die beim Orchester inzwischen zum Alltag gehört. Damit gemeint sind nicht nur die zahlreichen Angebote an jüngere Konzertbesucher, das bezieht sich auch auf den Kalender an sich. Im Januar 2017 zum Beispiel folgen sich Kent Nagano, der die «Eclairs sur l’Au-Delà» dirigiert, ein wunderschönes Spätwerk von Olivier Messiaen, und Christoph von Dohnányi, der die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta von Béla Bartók im Gepäck hat, worauf der vom SWR her rühmlich bekannte François-Xavier Roth mit der spätromantischen Tondichtung «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönberg erscheint und ihm dann das hochgelobte Schumann-Quartett mit einem Kammermusikabend nachfolgt. Am Totenbett, das von den Medien und ihren Managern für die klassische Musik so gern heraufbeschworen wird, geht es anders zu.

Westwärts

In voller Fahrt (und temperamentvoll angeleitet durch Giovanni Antonini) steuert das Tonhalle-Orchester Anfang Juli 2017 auf einen Abschied zu. Dann heisst es: Koffer packen, westwärts ziehen – hoffentlich, nein, sicherlich. Für die drei Spielzeiten bis 2020 nimmt das Orchester seinen Sitz in einem dannzumal fertiggestellten Provisorium auf dem Maag-Areal ein, in unmittelbarer Nähe des Schiffbaus, der Zürcher Hochschule der Künste und der Probebühnen des Opernhauses. Was von diesem Übergangssaal schon sichtbar geworden ist, lässt einiges erwarten. Und wer sich an den temporären Konzertsaal von 1997 in der Luzerner von-Moos-Halle erinnert, als das dortige Kunsthaus abgebrochen und das KKL noch nicht fertiggestellt war, wird keinen Zweifel am Wert dieser Übergangslösung in Züri-West hegen.

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So soll sich der Konzertsaal im Zürcher Maag-Areal, der provisorische Sitz des Tonhalle-Orchesters Zürich in den Jahren 2017 bis 2020, präsentieren / Visualisierung von Spillmann Echsle Architekten, Bild Tonhalle Zürich

 

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