Von Richter zu Harnoncourt

 

Peter Hagmann

Sinn und Gewinn der Klangrede

Bachs Weihnachtsoratorium gestern und heute

 

Weihnachten naht, und mit ihm das Weihnachtsoratorium. Jene von Johann Sebastian Bach aus sechs Kantaten zusammengestellte Werkfolge für die Zeit zwischen dem Weihnachtstag und dem Dreikönigstag. Wer das Weihnachtsoratorium in diesen Tagen nicht im Konzert hören kann, führt es sich vielleicht mit Hilfe einer Aufnahme zu Gemüte – ich wenigstens tue das. Und in der Regel entscheide ich mich für den bei der Deutschen Harmonia Mundi erschienenen Mitschnitt zweier Konzerte, die Nikolaus Harnoncourt Anfang Dezember 2006 und Mitte Januar 2007 im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins dirigiert hat. Mit von der Partie waren dort sein Freundeskreis, wie er sich im Concentus Musicus Wien jeweils versammelt, der Arnold Schönberg-Chor Wien und ein erlesenes Solistenquartett mit Christine Schäfer (Sopran), Bernarda Fink (Alt), Werner Güra (Tenor) sowie Gerald Finley (Bass) für die erste Hälfte und Christian Gerhaher für die zweite. Die Aufnahme hat bei mir Kultstatus.

Früher war das anders. Vor einem halben Jahrhundert war es eine ganz andere Aufnahme, die diese Position einnahm – jene mit Karl Richter, die 1965 im Münchner Herkules-Saal für die Archiv-Produktion der Deutschen Grammophon entstanden ist. Auch dort war ein Kreis äusserst prominenter Vokalsolisten am Werk, nämlich Gundula Janowitz (Sopran), Christa Ludwig (Alt), Fritz Wunderlich (Tenor) und Franz Crass (Bass). Und auch dort waren mit dem Münchner Bach-Chor und dem Münchner Bach-Orchester Stammkräfte versammelt. Karl Richter, damals noch nicht vierzig Jahre alt, hatte sich als Organist, Cembalist und Dirigent schon eine bemerkenswerte Position erarbeitet und galt als eine Autorität auf dem Gebiet der Bach-Interpretation. Als eine nicht ganz unbestrittene Autorität freilich, denn etwas weiter östlich, in Wien, regte sich Widerstand gegen die Art und Weise, in der Richter die Musik Bachs erklingen liess. Es waren der Concentus Musicus Wien und sein Leiter Nikolaus Harnoncourt, die aufbegehrten. Und einen ganz anderen Zugang propagierten.

Jetzt, da Harnoncourt, zehn Tage ist es her, seinen Rückzug vom Konzertpodium bekannt gegeben hat, ist vielleicht der Moment, innezuhalten und darüber nachzudenken, was in den sechs Jahrzehnten seit der Gründung des Concentus Musicus Wien geschehen ist. Die beiden Aufnahmen von Bachs Weihnachtsoratorium laden dazu ein. Und der Vergleich macht deutlich, dass Musik – auch die Kunstmusik, die gerne als museal empfunden wird – eine höchst lebendige, stetem Wandel unterworfene Erscheinung ist. Wer von Karl Richter her zu Nikolaus Harnoncourt kommt oder umgekehrt von Nikolaus Harnoncourt zu Karl Richter zurückgeht, kann das in geradezu drastischer Weise erleben. Nicht dass das Wirken Richters etwas Falsches oder etwas Überholtes an sich hätte, keineswegs. Die Konfrontation mit den Auffassungen Harnoncourts macht jedoch deutlich, in welchem Mass musikalische Interpretation ihrer Zeit verpflichtet ist. Mit dem Vergehen der Zeit also veraltet und zugleich als dokumentierter Ausdruck ihrer Zeit eine ganz eigene Gültigkeit bewahrt.

Das ist keine Frage des Instrumentariums und des Stimmtons. Der Concentus Musicus Wien verwendet Instrumente aus der Entstehungszeit der gespielten Kompositionen oder entsprechende Kopien, und er agiert einen halben Ton tiefer, als es der heute übliche Stimmton mit dem a’ auf 440 Hertz (oder etwas mehr) anzeigt. Aber das ist nicht das Wesentliche. Im Vokalen zeigt es sich besonders deutlich. Der Arnold Schönberg-Chor, der mit Harnoncourt zusammenarbeitet, ist kein professionelles Ensemble wie etwa der von John Eliot Gardiner gegründete Monteverdi Choir, und er ist nicht auf die Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis eingeschworen. Und anders als beispielsweise bei William Christie und Les Arts Florissants entstammen die Vokalsolisten Harnoncourts nicht der spezialisierten Szene, sie stehen vielmehr in einer allgemeinen Weise für die Gesangskunst von heute. Dennoch unterscheiden sich die beiden Aufnahmen wie Tag und Nacht.

Der Grund dafür ist jener Kern der historisch informierten Aufführungspraxis, den Harnoncourt die Klangrede genannt hat. Barockmusik, das hat ihm das langjährige, intensive Studium der aufführungspraktischen Quellen jener Zeit zu erkennen gegeben, basiert auf Formeln, die mit der Sprache verbunden sind – eine Tatsache, die weit über ihre Zeit hinaus wirksam war, ja eigentlich bis heute Gültigkeit besitzt: Musik als eine höhere Art Sprache. Damals wie heute versteht der kundige Hörer sogleich, was eine absteigende Folge von Halbtonschritten bedeutet; es ist der «passus duriusculus», der für Trauer steht. Und wie die Sprache, kennt auch die Musik Hebungen und Senkungen, längere und kürzere Töne – und das, auch wenn die Notenzeichen genau gleich aussehen: Es ist die Position des einzelnen Tons im Takt, welche die Länge mitbestimmt. Darum klingen, wenn historisch informiert gespielt und gesungen wird, gleiche Töne nie gleich lang, was unter anderem zu jener erhöhten Lebendigkeit führt, die man an der historischen Praxis schätzt.

Der Eingangschor zur ersten Kantate des Weihnachtsoratoriums lässt es auf Anhieb hören. Er beginnt mit drei Schlägen der Pauke, drei gleich hohen Achteln in einem Drei-Achtel-Takt, die auf eine Eins im nächsten Tag hinführen und in einem absteigenden Quartschritt auf der Zwei dieses zweiten Taktes enden. Bei Karl Richter klingt dieser kleine, aber überaus wichtige Verlauf, ebenmässig – so wie die Musik Bachs als eine gleichsam objektivierte Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg neu entdeckt worden ist. Ganz anders Nikolaus Harnoncourt, dessen Pauker die drei wiederholten Achtel in der Lautstärke ansteigen und auf dem vierten Achtel kulminieren lässt, was gleich zu Beginn Entwicklung, Atmen, Leben offenbart.

In gleicher Weise manifestieren sich gut dreissig Takte später Unterschiede im Chor. Der Text heisst dort: «Jauchzet, frohlocket! Auf, preiset die Tage!» Bei Harnoncourt wird musikalisch nachgebildet, was sprachlich vorgegeben und in den Drei-Achtel-Takt eingefügt ist. Gesungen wird also ungefähr: «Jáuchzèt, frohlóckèt! Auf, préisèt die Tágè!» – denn im Drei-Achtel-Takt ist der erste Schlag der stärkste, der zweite der schwächste und der dritte ein wieder etwas stärkerer. Bei Karl Richter dagegen herrscht auch hier Ebenmässigkeit, ja das Achtel auf der letzten Silbe von «frohlocket» und «Tage» wird bisweilen fast zu einem Viertel: «frohlockeet» und «Tagee». Wer spricht so? Nur Musiker tun das, wenn sie musizieren, weil dieses Sitzenbleiben auf dem zweiten Achtel des Drei-Achtel-Takts einer gängigen, in der Oper besonders verbreiteten Unsitte entspricht. Sie ist leider noch keineswegs aus den Köpfen verschwunden. Aber immerhin gibt es inzwischen, zum Beispiel bei den Lehrkräften an den Musikhochschulen, ein gewisses Problembewusstsein.

Das ist jetzt vielleicht mit der Lupe auf die Einzelheiten geblickt, aber es sind genau Details solcher Art, die anzeigen, wie sich die musikalische Interpretation weiterentwickelt hat. Darum lasse ich bei aller Verehrung für Karl Richter und sein unschätzbares Wirken die von ihm dirigierte Aufnahme im CD-Gestell. Ich lege die Einspielung mit Nikolaus Harnoncourt ein und bin im Zuhören dankbar, dass ich den epochalen Einschnitt, den dieser grossartige Musiker unserer Zeit beschert hat, mit eigenen Ohren miterleben durfte.

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