Patricia Kopatchinskaja als Diseuse

 

Von Peter Hagmann

 

Stimmkunst ist mehr als schöner Ton, die Musik der Moderne hat es deutlich gemacht. Seit dem Wirken Arnold Schönbergs hat sich das Feld dessen, was man im Allgemeinen unter Kunstgesang vorstellt, beträchtlich erweitert – in der Oper ohnehin, im Bereich des Konzerts aber ebenfalls. Auch Sänger und Sängerinnen ganz eigener Art sind hervorgetreten, man denke nur an den österreichischen Bariton Georg Nigl, mehr noch an Barbara Hannigan oder Salome Kammer mit ihren ganz eigenen Repertoires und Ausdrucksformen. Aber auch an Sängerinnen wie Lucile Richardot oder Anna Prohaska, die in der alten Musik berühmt gewordenaber ebenso selbstverständlich der Avantgarde verbunden sind. Zu diesen Stimmkünstlerinnen der Avantgarde zählt jetzt auch Patricia Kopatchinskaja.

Wie das? Die Geigerin? Für ihr unkonventionelles Künstlertum, ihre immer wieder überraschenden Werkzusammenstellungen, auch ihre radikalen, dem Mainstream bisweilen denkbar fernstehenden Interpretationen bekannt, hat sich Patricia Kopatchinskaja den Wunsch erfüllt, gemeinsam mit einem musikalischen Freundeskreis den «Pierrot lunaire» Arnold Schönbergs einzuspielen – das Label Alpha, in dessen Katalog die Geigerin mit einer Reihe sehr spezieller Alben präsent ist, hat es möglich gemacht.

Herausgekommen ist eine ganz besondere Auslegung der drei Mal sieben Gedichte von Albert Giraud für Sprechgesang und Instrumente; in mancher Hinsicht erinnert sie an eine denkwürdige Salzburger Aufführung von «Pierrot lunaire» im Sommer 1996 – nämlich an die für die Festspiele eingerichtete szenische Fassung von Christoph Marthaler mit dem krächzenden Graham F. Valentine im Zentrum. Wie bei Valentine trägt die deutsche Sprache bei Kopatchinskaja fremdländische Farben – wobei zu betonen ist, dass die Geigerin, die seit langem in Bern lebt, die Diktion hervorragend im Griff hat. Und wie in der Aufführung der Salzburger Festspiele wird das Geschehen auch auf dieser neuen CD von ungewöhnlichen, teils heftig ausschlagenden Stimmeffekten geprägt. Dies durchaus im Geiste des Melodrams, an das Schönbergs Sprechgesang anschliesst.

Die expressive Zuspitzung, ja die expressionistischen Züge in «Pierrot lunaire» stellt Patricia Kopatchinskaja ohne Scheu heraus. Wie der Dandy im Badezimmer unschlüssig vor seinen Flacons steht, kommt äusserst bildhaft daher, und wenn er sich am Ende in Pierrot verwandelt, der sich kurz entschlossen einen Mondstrahl aufs Gesicht malt, tritt ein Moment an ironischem Pomp dazu – das ist hochtheatralisch gemacht. Steigt Patricia Kopatchinskaja mit ihrer an sich hellen, leichten, gern in der Kopflage gehaltenen Stimme in die Tiefe, dann tut sie es so kompromisslos, als hätte sie die Strohbässe im «Scardanelli-Zyklus» ihres Freundes Heinz Holliger im Ohr. Ihr Pierrot: Mann oder Frau? Schräger Mensch oder rein aus Fantasie geboren? Es bleibt erheiternd die Frage.

Zugleich aber herrscht letzte Genauigkeit in der Umsetzung des Notentextes. Ohne dass Zwang spürbar wäre, gehorcht das Rhythmische einem Höchstmass an Schärfe. Und dann die vieldiskutierte Frage der Tonhöhe im Sprechgesang, die Schönberg nur approximativ, in den Bewegungsrichtungen aber exakt ausgeführt haben wollte – da zahlt es sich aus, dass weder eine Sängerin noch eine Schauspielerin am Werk ist, sondern ganz einfach eine Musikerin, für die, auch wenn sie nicht am Instrument wirkt, Exzellenz zu den Grundlagen gehört. In jeder Hinsicht ausgesucht auch die instrumentale Seite, die durch Mesung Hong (Violine und Viola), Júlia Gállego (Flöte), Reto Bieri (Klarinette), Thomas Kaufmann (Violoncello) und Joonas Ahonen (Klavier) getragen wird.

Wie stets bei den Projekten von Patricia Kopatchinskaja ist auch das programmliche Umfeld vorzüglich durchgestaltet: mit Repertoirekenntnis und Sinn für den guten Effekt. So folgt auf «Pierrot lunaire» der «Kaiserwalzer» von Johann Strauss (Sohn), den Schönberg für das «Pierrot»-Ensemble arrangiert hat – eine treffliche Arbeit des Komponisten, zum Weinen schön gespielt und darüber hinaus ein Musterbeispiel an mitreissender Tempogestaltung. Schneidend fährt daraufhin Schönbergs Phantasy for Violin with Piano Accompaniment op. 47 aus der späten, amerikanischen Zeit des Komponisten ein. Ganz anders dann die Vier Stücke für Violine und Klavier des Schönberg-Schülers Anton Webern, die Patricia Kopatchinskaja und Joonas Ahonen sehr zart, an der Grenze zum Zerbrechen geben. Ahonen allein lässt sich – dazwischen steht ein ironischer Wiener Marsch von Fritz Kreisler – in aller Ruhe und mit Feinsinn auf Schönbergs Klavierstücke op. 19 ein, auf sechs atonale und zugleich wohlklingende Miniaturen. Das Schlusswort der CD überlässt Patricia Kopatchinskaja dem Kollegen am Klavier. Auch das ist ein Zeichen.

Arnold Schönberg: Pierrot lunaire und andere Stücke. Patricia Kopatchinskaja (Sprechgesang und Violine), Mesung Hong (Violine und Viola), Júlia Gállego (Flöte), Reto Bieri (Klarinette), Marko Milenković (Viola, im «Kaiser-Walzer»), Thomas Kaufmann (Violoncello), Joonas Ahonen (Klavier). Alpha 722 (CD, Aufnahme 2019, Publikation 2021).

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