Mit Klarheit, Einfall und Mut – das Chiaroscuro Quartet

Die zweite Folge der Streichquartette op. 76 von Joseph Haydn

 

Von Peter Hagmann

 

Die Streichquartette Joseph Haydns gehören zum innersten Kern des bildungsbürgerlichen und musikgeschichtlichen Kanons. Allein, so zeitlos sie sind, ist es doch genau diese Verortung, die ihrer heutigen Wirksamkeit im Wege steht. Ein reiferes Alter müsse man erreicht haben, bevor sich einem der Reichtum dieser Werke erschliesse, wurde bis vor noch nicht so langer Zeit gerne behauptet – eine Annahme, die auf unrichtigen Voraussetzungen beruht, wie gerade dieser Tage zu erleben ist. Dies dank dem Chiaroscuro Quartet, einer jungen Formation europäischen Zuschnitts, durch deren Interpretationen diese Musik farbiges Leben erhält, weshalb sie mit einem Mal ganz nah an uns heranrückt. Zu spüren ist das an den sechs späten Streichquartetten des Opus 76, wie sie Alina Ibragimova und Pablo Hernán Benedí (Violinen), Emilie Hörnlund (Viola) und Claire Thirion (Violoncello) verstehen und zum Klingen bringen.

Im vergangenen Sommer sind die ersten drei Quartette erschienen, unter ihnen das berühmte «Kaiser-Quartett», und was damals an dieser Stelle dazu geäussert wurde (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 06.05.20) gilt ein zu eins für die zweite Folge mit den Nummern vier bis sechs. Die Aufnahme, die in den nächsten Tagen in den (derzeit leider geschlossenen) Läden und auf den Streaming-Diensten erscheinen wird, steht erneut für höchstes Niveau in Sachen Kammermusik. Das Geheimnis dahinter ist zunächst der Teamgeist. Im Chiaroscuro Quartet stehen nicht nur vier vernünftige Leute miteinander im Gespräch, hier herrscht auch der Geist der Gleichberechtigung. In den Quartetten des Opus 76 kommt es immer wieder zu Momenten, in denen die Erste Geige solistisch aus dem Ensemble heraustritt. Doch selbst dann bleiben die vier Mitglieder des Ensembles in gleicher Weise beteiligt, weil die Begleitung der solistischen Aufschwünge ihrerseits jederzeit klar strukturiert bleibt.

Zu diesem Teamgeist tritt, darin liegt beim Chiaroscuro Quartet die Besonderheit, eine genuine Verankerung in der historisch informierten Aufführungspraxis. Die vier Ensemblemitglieder verwenden Instrumente aus der Entstehungszeit der Kompositionen oder sogar deutlich ältere Exemplare; sie sind mit Darmsaiten bespannt und werden mit klassischen Bögen gespielt. Dazu kommt der Kammerton von wohl 430 Hertz, also ein etwas tieferer Stimmton als die heute üblichen 440 Hertz. Von besonderer Bedeutung sind jedoch die im späten 18. Jahrhundert üblichen Spielweisen, also der sparsame Umgang mit dem Vibrato und damit die Schärfung von Konsonanz wie Dissonanz, die klare, bewusst getroffene Unterscheidung zwischen gebundenen und gestossenen Tönen, die Respektierung der im Prinzip ganztaktigen, nicht auftaktigen Phrasierungen, ja überhaupt ein Gliedern der musikalischen Verläufe, das sich weniger am durchgehenden Legato als am Atmen des menschlichen Sprechens orientiert.

Auf diesen Prämissen basiert die merklich andere Klanglichkeit des Chiaroscuro Quaret. Die Musik Haydns gewinnt daraus entschieden Gewinn. Ausgezeichnet beobachten lässt es sich am Beginn des Streichquartetts in B-Dur, op. 76 Nr. 4. Über einem liegenden Akkord von Geige zwei, Bratsche und Cello erhebt sich eine sehr speziell gestaltete Linie der Ersten Geige, die von Alina Ibragimova mit aller solistischen Freiheit genommen wird. Bald wird aber deutlich, dass selbst ein liegender Akkord, wenn er denn ohne Vibrato gespielt wird, spezifische Färbungen erhält – Färbungen, die durch die geschärfte Beziehung der einzelnen Töne zueinander geprägt werden. Im weiteren Verlauf emanzipieren sich die unteren Stimmen und beginnen, sich ins Gespräch einzumischen, während umgekehrt die Primaria zusehends Teil des Ganzen wird. So erhalten die musikalischen Vorgänge jene lichte Transparenz, die sich denkbar radikal abhebt von dem eher orchestral determinierten Ansatz, den die berühmten Ensembles aus dem späten 20. Jahrhundert zeigen. Das Chiaroscuro Quartett denkt eben, das wird hier deutlich, pointiert in Stimmen – selbst bei homophonen Verläufen, wie auch der sehr innig gegebene zweite Satz dieses «Sonnenaufgang-Quartetts» hören lässt.

Mit dem Denken in Stimmen verbinden sich die reichen Farben der alten Instrumente und die Freiheit in der Tempogestaltung, selbst auf kleinem Raum. In solchen Aspekten ist denn auch zu erkennen, wie sehr sich die historische Praxis gerade in den vergangenen zwei Jahrzehnten weiterentwickelt hat; wer die vorbildliche Gesamtaufnahme der Streichquartette Haydns durch das ungarische Festetics Quartet von 1998 beizieht und sich vom warmen Ton dieses Ensembles begeistern lässt, kann das umstandslos nachvollziehen. Die Agilität, die Alina Ibragimova, Pablo Hernán Benedí, Emilie Hörnlund und Claire Thirion pflegen, erlaubt ihnen, die Reichhaltigkeit der Erfindung, das Komplexe im Einfachen und den immer wieder aufblitzenden Witz in der Musik Haydns in helles Licht zu stellen. Wenn der Cellist an einer Stelle im Kopfsatz des B-Dur-Quartetts op. 76 Nr. 4 mächtig Anlauf nimmt und sich auf der Stelle in einer Sackgasse findet, weil ihm die drei anderen davongezogen sind, macht das erheiternden Effekt. Staunen lässt dagegen, zu welcher Virtuosität das Chiaroscuro Quartet das eröffnende Allegretto im D-Dur-Quartett op. 76 Nr. 5 zu steigern vermag. Und wie das Ensemble im Finale des Es-Dur-Quartetts op. 76 Nr. 6 die taktgebundenen Schwerpunkte ganz und gar im Schwebezustand zu behalten versteht. Spannend und gegenwärtig ist das – jedenfalls denkbar fern einem wie auch immer gearteten Kanon.

Joseph Haydn: Streichquartette op. 76, Nr. 4 bis 6. Chiaroscuro Quartet. BIS 2358 (CD, Aufnahme 2018, Produktion 2020).

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