Tschaikowskys Winterträume aus dem virtuellen Raum

Das Tonhalle-Orchester Zürich in der Global Concert Hall der Streaming-Plattform Idagio

 

Von Peter Hagmann

 

Eine eigentümliche Veranstaltung. Da sitzen sie im Konzertgewand, tragen Masken, sofern es die Tätigkeit zulässt, halten sichtbar Distanz, auch bei den Streichinstrumenten gibt es anders als gewohnt einzelne Pulte. Der Dirigent betritt das Podium, legte seine Maske ab und verneigt sich zusammen mit allen Musikerinnen und Musikern – vor dem leeren, ganz und gar stummen Saal. Schön ist anders, es ist mit Händen zu greifen, aber so verlangen es nun einmal die Zeitläufte. Angesichts dessen kann man nur einmal mehr festhalten: Besser so als nicht.

Natürlich ist ein Geisterkonzert kein wirkliches Konzert. Dennoch war der Auftritt, wie ihn das Tonhalle-Orchester Zürich und sein Musikdirektor Paavo Järvi jetzt in der «Global Concert Hall» der Streaming-Plattform Idagio absolviert haben, von ganz eigenem Interesse (leider und unverständlicherweise sind diese Streamings nur für kurze Zeit verfügbar). In der Simulation der Konzertsituation entstand viel von jener Spannung, die das Konzert von der Probe (und wohl ebenso von der Aufnahmesitzung) unterscheidet. Auch für den Zuschauer gab es Mehrwert. Der Blick tief ins Orchester hinein, der einem im Konzertbesuch weitestgehend verwehrt bleibt, gab zu erkennen, welche Höhe die Fokussierung bei jedem Orchestermitglied im Moment der Klangerzeugung erreicht, welches Mass an Konzentration, ja an Hingabe da gefordert ist – dies neben der technischen Zuverlässigkeit, die als selbstverständlich vorausgesetzt wird. So ist es nun einmal beim Musizieren im Orchester – bei einem Tun, das nur gelingen kann, wenn jedes der zahllosen Elemente, die es zum Ganzen fügen, sein adäquates Niveau findet. Darüber hinaus liessen die Kameras in der Tonhalle Maag aber auch manch amüsantes Detail sehen – zum Beispiel den Frackärmel über der rechten, ins Instrument eingeführten Hand, den der einmal mehr fabelhafte Solohornist Ivo Gass wohl aus spucktechnischen Gründen weit nach oben gekrempelt trug.

So waren sie denn wieder einmal allesamt auf dem Podium vereint – in voller Besetzung und guter Laune. Dazu beigetragen hat das Programm, das ausschliesslich Musik von Peter Tschaikowsky bot. Eröffnet wurde es von dem nicht eben gehaltvollen Festmarsch in D-Dur, den Tschaikowsky 1883 für die Krönungsfeierlichkeiten des Zaren Alexander III. 1883 komponiert hat. Eine Spur Ironie lag über der Wiedergabe – was freilich mehr auf die oft im Bild erscheinende Mimik Paavo Järvis als auf das klangliche Gewand zurückging. Es folgte das populäre «Capriccio italien» in A-Dur, eine 1880 in Rom entstandene Folge von Variationen über italienische Volkslieder, die das Orchester zu einem heiteren, wenn auch gleich wieder vergessenen Erlebnis machte.

Zentrum des angenehm dimensionierten, nämlich gut einstündigen Programms bildete jedoch die Sinfonie Nr. 1 in g-Moll, die in der Gesamtaufnahme der Sinfonien Tschaikowskys mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und Paavo Järvi noch aussteht (so Gott, Corona und Berset wollen, kommt sie vom 10. bis zum 12. März in der Tonhalle Maag live zur Aufführung). Vom Komponisten als Jugendsünde bezeichnet, aber ganz besonders geliebt, verfehlen die «Winterträume», so der von Tschaikowsky stammende programmatische Übertitel, ihre Wirkung nicht. In seinem Blick auf die Partitur setzt Järvi auf leichten Ton und weite, ruhige Gesten. Ausgeprägt tut er das im Kopfsatz, wo die Akzente federnd daherkommen und die Steigerungen in der Durchführung gezügelt ausgelebt werden – die zugespitzte, durch Tempowechsel unterstrichene Emotionalität, die seine Wiedergabe der Fünften kennzeichnet, ist da noch ganz fern. Besonders gelungen wirkte das Adagio des zweiten Satzes wo zwar nicht alles mit letzter Präzision geriet, die Atmosphäre aber ausserordentlich dicht war. Spritzig das ursprünglich als Klavierstück entstandene Scherzo, elegant in den kontrapunktischen Verschlingungen und kontrolliert majestätisch das Finale. Das Tonhalle-Orchester Zürich ist auferstanden. Wenigstens digital.

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