Gottvertrauen nach dem Ende – Messiaens «Saint-François» im Theater Basel

 

Von Peter Hagmann

 

 

Bild Ingo Hoehn, Theater Basel

Ein richtiges Ausrufezeichen sollte es werden, darum fiel die Wahl auf «Saint François d’Assise». Mit der ausladenden Oper Olivier Messiaens wollte Benedikt von Peter seine Intendanz und Operndirektion am Theater Basel einläuten. Das hat, denkt man die räumlichen Gegebenheiten und die Traditionen in der Musikstadt Basel, seine Plausibilität. Und die Planungen, vor zwei Jahren in die Wege geleitet, liefen ausgezeichnet – bis die Pandemie dazwischenkam. Aviel Cahn, der «Saint François d’Assise» als Schweizer Erstaufführung zum Abschluss seiner ersten Spielzeit am Genfer Grand Théâtre angesetzt hatte, musste Ende Juni der Theaterschliessungen wegen auf die Produktion verzichten. Benedikt von Peter in Basel blieb bei seinen Plänen und kam so nicht nur zu unerwarteter Ehre, er lieferte auch ein äusserst starkes Lebenszeichen aus dem so hochgradig gefährdeten Bereich des Musiktheaters. Der Preis, den er dafür zahlte, war freilich hoch.

Denn unter den derzeit herrschenden Voraussetzungen liessen sich die Vorgaben, von denen Olivier Messiaen in «Saint François d’Assise» ausgeht, in keiner Weise beim Wort nehmen. Sie sind exorbitant, und zwar nach allen Seiten. Das Publikum sieht sich mit einer Spieldauer von über vier Stunden konfrontiert, der Chor soll mit 150, das Orchester mit 120 Mitgliedern besetzt sein – alles unmöglich in Zeiten von Abstandsregel und Maskenpflicht. Das neue Basler Team bat daher den argentinischen Komponisten Oscar Strasnoy, über seinen Lehrer Gérard Grisey ein Enkelschüler Messiaens, um die Erstellung einer Kammerversion. Auf 42 Sänger ist der Chor verkleinert; er wirkt unsichtbar hoch oben im Schnürboden. 45 Mitwirkende umfasst das Orchester, das, auf der Bühne sitzend, geradezu als gross besetztes Solistenensemble erscheint. Reduziert wurden vorab die Mehrfachbesetzungen bei den Bläsern und den Streichern, während das wie oft bei Messiaen stark ausgebaute Schlagwerk sowie die heulenden Ondes Martenot ihre prägenden Rollen bewahren.

Die Einrichtung zeugt von hoher Kunst. Die Verkürzung der Spieldauer, sie ist, soweit sich das in einer einzigen Aufführung beurteilen lässt, nicht wirklich zu spüren. Und was der von Michael Clark betreute Theaterchor wie das Sinfonieorchester Basel unter der Leitung des fabelhaft präsenten Dirigenten Clemens Heil leisten, verdient alle Bewunderung. Die kompositorische Handschrift ist da, hörbar, erkennbar – und gleichwohl: Ist das noch das als Oper verkleidete Mysterienspiel Olivier Messiaens? Erhöht ist die Durchhörbarkeit, das steht ausser Frage. So lässt sich denn auch besser als bei der Grossbesetzung in die rhythmischen Vertracktheiten eindringen. Mehr Schwierigkeiten öffnen sich auf der Ebene der Klangfarben und ihrer Balance. In der Basler Fassung klingt Messiaens Partitur wesentlich monochromer, trockener, ja spröder als im Original – als ein Stück der Avantgarde von gestern.

Da liegt er, der Konflikt. An Olivier Messiaen kann man sich reiben – bis heute. Die von ihm nach dem Zweiten Weltkrieg vorangetriebene Schärfung des Denkens in Reihen hat die Serialität zum Herzstück der musikalischen Avantgarde Westeuropas werden lassen. Seine Neigung zu komplexen Rhythmen und aperiodischen Verläufen, zu denen er sich durch die Erkundung der Vogelgesänge inspirieren liess, war ebenso folgenreich wie der Umgang mit Klangfarben, der durch fernöstliche Praktiken genährt war. Allein, dass all das mit einem tiefen Glauben verbunden war, dass es sich zu einer Musik fügte, die sich als Gotteslob und nur als das verstand, davon wollten manche der diesseitigen, ganz dem technischen  Fortschritt verpflichteten Avantgardisten nichts wissen.

So erscheint es auch in der Basler Aufführung von «Saint François d’Assise». In den Hintergrund gerät durch die Reduktion auf eine Kammerfassung nämlich der enthusiastische Ton, der auf Messiaens authentischer Frömmigkeit beruht. Nichts kann dem Komponisten gross genug sein, um die Schöpfung und ihren Schöpfer zu lobpreisen, darum muss auch der C-Dur-Akkord am Schluss der Oper mindestens doppelt so lang ausgehalten werden, als es Clemens Heil anzeigt – beim Organisten Messiaen lässt sich das lernen. All die Momente der Freude, der Zuversicht auf die bevorstehende Auferstehung und das Erscheinen der endgültigen Wahrheit, all die Harmonien in Terz- und Quintlage wirken so, als wären sie ihrer Spitzen beraubt. Die im Spätromantischen wurzelnde Überwältigungskraft wird im Basler Programmheft mit einem Zitat des amerikanischen Komponisten Morton Feldman abgetan, der Messiaens Orchesterbehandlung als Disney-Kitsch bezeichnet. Das ist ein Missverständnis. Gerade in «Saint-François d’Assise» ist Messiaens Musik genuin katholisch, von Weihrauch umgeben. Was in der evangelisch-reformierten Basler Auslegung nur wenig spürbar wird.

Zumal das Bühnengeschehen in eine ähnliche Richtung wirkt. Als entschieden deutender Regisseur bekannt, hat Benedikt von Peter zusammen mit seinem Ausstatter Márton Ágh und dem Lichtdesigner Tamás Bányai seine eigene Bilderwelt entwickelt. Sie basiert auf einem Konzept, das den Raum als Ganzen in den Blick nimmt: die Bühne mit Hilfe von Rampen in den nur zu sechzig Prozent besetzten Zuschauerraum verlängert und umgekehrt Zuschauer auf der Bühne platziert. Als Ort des Geschehens dient ein verwahrloster städtischer Platz mit ehemaligem Warenhaus und verlassener Bankfiliale. Die Vögel auf der Hochspannungsleitung, die sich durch den Raum zieht, sind papierene Abbilder ihrer selbst – wir befinden uns in einer Situation fünf nach zwölf. Einzig ein Bettler und seine Spiessgesellen bevölkern die Szenerie. Nach und nach wird deutlich, dass der Bettler der Heilige ist, der mitten im Zerfall für Mitmenschlichkeit und Liebe steht. Die Botschaft der Inszenierung verleiht dem Stück Messiaens eine überraschend kritische Note.

Schade nur, dass der Regisseur die langen musikalischen Verläufe bisweilen mit ablenkendem Aktionismus stört. Der Effekt des grossen Vogelkonzerts im sechsten der acht Bilder zum Beispiel wird dadurch unnötig vermindert. Die Ausstrahlung der Akteure auf der Bühne ist aber von zutiefst berührender Wirkung. Nathan Berg, der viel kerniger, präsenter, gleichsam menschlicher singt als es der grosse José van Dam seinerzeit getan hat, lebt von packender Unmittelbarkeit. Und an der Spitze des ausgezeichnet besetzten Ensembles gibt Rolf Romei den Leprakranken, der von Saint François geheilt wird, mit einer Intensität sondergleichen. Zum Lichtpunkt des Abends wird jedoch die Erscheinung des Engels, der kein Engel ist, sondern ein junges Mädchen, das dem Heiligen bis zu seinem sehr menschlichen Tod beisteht. Was Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, die junge isländische Sopranistin, mit ihrem kristallklaren Timbre aus diesem Auftritt macht, gehört zum Besten des Abends.

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