Im Irrgarten

Mozarts «Figaro» mit Barbara Frey in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Oksana Sekerina (Gräfin), Flavio Mathias (Antonio), Thomas Lehman (Graf), Sarah Brady (Susanna) im Basler «Figaro» / Bild Lucia Hunziker, Theater Basel

Anfangs ahnt man wenig. Das fensterlose Zimmer mit seiner floralen Ausstattung nimmt sich ein wenig eng aus – klar, es ist ein Dienerzimmer, in dem sich Figaro und Susanna nach ihrer Eheschliessung niederlassen sollen. Doch je weiter in «Le nozze di Figaro», der «commedia per musica» Wolfgang Amadeus Mozarts, das Geschehen vorankommt, desto mehr öffnet sich die von Bettina Meyer hinreissend gestaltete Bühne. Wie ein grosses Labyrinth zieht sie sich weit in die Tiefe; zwischen die einzelnen durchgehend gleich gestalteten Schichten sind Gänge gelegt, in denen die Menschen nur zur Hälfte sichtbar werden  – ganz so wie bei den aus Buchs gestalteten Labyrinthen adliger Gärten aus dem 18. Jahrhundert. Da ist er, der Irrgarten der Gefühle – und dies am Vorabend der französischen Revolution.

Vom Wandel der Zeiten, der sich in dem ungeheuer provokanten Stück von Beaumarchais ankündigt und den Mozart zusammen mit seinem Librettisten Lorenzo Da Ponte am Kaiser und seinen Instanzen vorbei in eine freche musikalische Komödie gegossen haben, sprechen im Theater Basel zuallererst die Kostüme von Bettina Walter, die von der Anmutung und der Aussage her auf derselben Höhe stehen wie das Bühnenbild. Perücke und Robe sind ausrangiert, das Bürgertum hat sich bereits eingerichtet, die Herren tragen also Anzug und Krawatte. Der einzige, der sich bloss ein Halstuch umgebunden hat, ist Figaro – der Standesunterschied ist noch nicht verschwunden. Oder noch nicht ganz, denn Susanna schmückt sich mit einem Hut, was der Dienerin im alten System verwehrt gewesen wäre. Wenn am Ende der Graf düpiert auf die Knie fällt und seine Rosina um Vergebung bittet, tragen Gräfin und Dienerin exakt dasselbe Kleid – dies natürlich nicht nur um der Verkleidung willen.

Die Welt ist aus den Fugen geraten, leicht kann man sich im Labyrinth der Gefühle verirren. Das wird von Barbara Frey, der ehemaligen Direktorin des Schauspielhauses Zürich, als Regisseurin des Abends nicht lustig, heissa, hopsassa vorgeführt, wie es in früheren Zeiten bei «Le nozze di Figaro» gern gepflegt wurde, sondern mit feinem Humor, mit dem szenischen Silberstift, auch mit stilisierenden Anklängen an die formalen Gegebenheiten, denen die Musik gehorcht. Davon spricht das Trio Marcellina (Jasmin Etezadzadeh), Bartolo (Andrew Murphy) und Basilio (von Karl-Heinz Brandt als ein herrlich süffisanter Musiker verkörpert), wenn es im falschen, nämlich dem genau richtigen Moment im Gleichschritt durch einen der Gänge im Labyrinth huscht. Auch Symmetriebildungen spielen eine Rolle. So ist die kleine Rolle der Barbarina mit dem formidablen Sopranisten Bruno de Sá besetzt, einem Mann in der Rolle einer Frau und somit das Gegenstück zu Cherubino, dem jungen Mann, der von einer Frau dargestellt wird.

Diese junge Frau als junger Mann nimmt im neuen Basler «Figaro» eine besondere Position ein. Zunächst darum, weil Kristina Stanek ein auffallendes Profil einbringt. Klar in der Tiefe verankert, steigt ihr kerniger Mezzosopran ohne Bruch in eine sicher fokussierte Höhe – ein stimmliches Potential, das noch manchen künstlerischen Entwicklungsschritt in Aussicht stellt. Dazu kommt nun aber eine auffallende szenische Präsenz; Kristina Stanek ist jederzeit voll da, ihr Gesicht spricht, ihr Körper agiert äusserst beweglich. Cherubino als die junge Ausgabe des Grafen, als ein heftig erwachter, nach allen weiblichen Seiten hin begehrlicher Youngster, dem man mit Wohlwollen begegnet, weil die Eierschalen hinter den Ohren nicht zu übersehen sind. Süss, wie Cherubino sich der Gräfin an die Schulter wirft und wie er ihr im Durcheinander des Finales einen Kuss abstiehlt – das ist alles sensibel aus der Musik heraus entwickelt und ebenso liebevoll wie detailbewusst ausgearbeitet.

Anders als des Frühlings Erwachen bei Cherubino ist beim Grafen der Herbst angebrochen. Natürlich muss er noch immer nach jedem Weibchen grabschen, natürlich will er das «ius primae noctis», das er den Zeichen der Zeit gehorchend abgeschafft hat, wieder in Kraft setzen, aber hier, bei Barbara Frey, wirkt er doch deutlich abgewetzt – mag sein, dass das auch auf die monochrome Stimmgebung von Thomas Lehman zurückgeht. Nicht so Figaro, der bei Antoin Herrera-Lopez Kessel ebenfalls farblich etwas engen Ton findet, aber so viel szenisches Temperament entfacht, dass klar wird, woher die gesellschaftliche Erneuerung kommen wird. Ähnlich nimmt es sich bei der Gräfin und ihrer Dienerin aus. Während Sarah Brady als Susanna, zumal im ersten Teil des Abends, stimmlich wie darstellerisch frisch und agil wirkt, dringt Oksana Sekerina nicht wirklich in jene Gefilde der Melancholie vor, die der Partie der Gräfin eingeschrieben sind.

Wie im zweiten Akt von «Don Giovanni» kann es in «Le nozze di Figaro» zu Durchhängern kommen, namentlich zu Beginn des vierten Akts, wo sich das Geschehen merklich verlangsamt. Dass das in Basel zu spüren war, erstaunt nicht, denn in der musikalischen Formung bleibt die Produktion weit hinter der szenischen Verwirklichung zurück. Es liegt nicht am Sinfonieorchester Basel, das mit seinen Naturhörnern und Naturtrompeten, auch mit den klassischen Bögen für die Streicher einen Klang von herrlicher Geschmeidigkeit und vibrierender Wärme hervorbringt. Die Verantwortung dafür trägt der Mann am Pult. Wie bei «Don Giovanni» vor einem halben Jahr in Strassburg zieht Christian Curnyn in erbarmungsloser Gleichförmigkeit durch die Partitur Mozarts (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.06.19). Stoisch den Takt schlagend, lässt er keinerlei Raum zum Atmen, geschweige denn zum sprechenden Ausgestalten der Phrasen. So erstaunt auch nicht, dass das stilwidrige Sitzenbleiben auf den Schlusssilben der Wörter hier besonders grassiert. Was Nikolaus Harnoncourt angelegt, was René Jacobs aufgenommen, was Teodor Currentzis auf die Spitze getrieben hat – kein Spur davon. Ein Mozart im Klang von heute, aber im Geist von gestern.

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