Altersweiheit und jugendlicher Elan

Bernard Haitink mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks bei der Osterausgabe des Lucerne Festival

Von Peter Hagmann

 

Sie gaben ihm alles, die Mitglieder des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Und so wurde das Abschlusskonzert an der Osterausgabe des Lucerne Festival zu einem jener musikalischen Höhepunkte, wie es sie nur mit Bernard Haitink geben kann. Es war auch ein historischer Moment, denn nach menschlichem Ermessen ist der Dirigent an diesem Abend zum letzten Mal mit dem Münchner Klangkörper aufgetreten – neunzig Jahre alt geworden, möchte er vom Herbst dieses Jahres an eine Pause einlegen. Vor über sechzig Jahren, im April 1958 und damit unter dreissig, ist Bernard Haitink erstmals am Pult des BR-Symphonieorchesters erschienen – unter wohlwollender Fürsorge von Eugen Jochum, dem ersten Chefdirigenten der 1949 gegründeten Formation und ab 1961 zusammen mit Haitink verantwortlich für das Amsterdamer Concertgebouw-Orchester. Eine Zeit lang lagen die Beziehungen zwischen Haitink und dem Bayerischen Rundfunk etwas auf Eis, doch spätestens seit den frühen 1980er Jahren hat der Dirigent wieder regelmässig mit dem von ihm ausgesprochen geschätzten Orchester zusammengearbeitet. Zahlreiche Aufnahmen sind dabei entstanden, darunter etwa 1988 bis 1991 die exemplarische Gesamteinspielung von Richard Wagners «Ring des Nibelungen». Eine elfteilige CD-Box, soeben beim hauseigenen Label BR-Klassik erschienen, erinnert mit Werken von Beethoven, Bruckner, Haydn und Mahler in Aufnahmen aus den Jahren 1997 bis 2017 an dieses in seiner Weise grandiose Zusammenwirken.

Im Booklet zu jener Box spricht Wolfram Graul, der Haitink in München bis 2014 als Tonmeister begleitet hat, frank und frei von den Tränen, die den Musikern beim Abhören von «Wotans Abschied» aus der «Walküre» in den Augen gestanden hätten. Gott sei Dank weist auch einmal jemand anderer auf die existentielle Berührung hin, die das Musizieren Haitinks und der von ihm in sorgsamer Zugewandtheit angeführten Musikerinnen und Musiker auslösen kann. Genau das, die emotionale Intensität war es, die auch die Präsentation von Anton Bruckners Sinfonie Nr. 6 im KKL Luzern wieder zu einem singulären, nämlich nur live im Konzertsaal erlebbaren und unwiederholbaren Ereignis machte. Dabei ist es nicht so, wie gern behauptet wird, dass Haitink die Musik geschehen, aus sich selbst heraus erstehen lasse – es scheint nur so, weil seine Interventionen beim Orchester so sparsam ausfallen. Nein, Haitink gestaltet das Erklingende sehr wohl, er formt es mit zartem Griff, er streichelt es förmlich heraus – aber er weiss genau, was er will. Blickt er doch auf eine Erfahrung zurück, die, wenn man an eine erste Begegnung mit dem Schaffen Bruckners im Jahre 1937 denkt, mehr als achtzig Jahre umfasst.

Das ist zu hören. Haitink kennt die Partitur nicht nur bis in ihre hintersten Winkel, er hat auch ein ganz einzigartiges Gefühl für die Zielgerichtetheit der musikalischen Gestalten. Was in der Musik Bruckners als Reihung, als ein Nebeneinander von Blöcken empfunden werden mag, verwandelt er durch ein fortwährendes subtiles Ziehen und durch unmerkliche, aber wirkungsvolle Nuancierungen der Grundtempi in geschmeidige, organisch wirkende Verläufe. Und das in einem Klangbild, das an der Grösse von Bruckners Musik gewiss keinen Zweifel lässt, das aber jederzeit Mass bewahrt, auf Ausgleich und Rundung setzt. Das war darum so lebendig wahrzunehmen, weil sich das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks erneut als eine Formation allererster Qualität bewährt hat – als ein Klangkörper, der es mühelos aufnehmen kann mit der Konkurrenz aus Wien, Berlin oder Dresden. Von jener mild strahlenden Schönheit, die sich Haitink wünscht, das durchaus körperhafte Tutti, blendend die Beiträge der Orchestersolisten, besonders bei den Holzbläsern. Da passte einfach alles zu allem.

So sehr diese Aufführung von Bruckners Sechster im Zeichen der Altersweisheit stand, so wenig erschien sie freilich als ein abgeklärt in sich ruhendes Geschehen. Die pointierten rhythmischen Gestalten, die schon gleich zu Beginn auftreten und die den Verlauf der vier Sätze insgesamt prägen, zeichnet Haitink klar und präzise nach – ja, er nimmt sie in sein interpretatorisches Grundgefühl auf und gewinnt aus ihnen eine Energie, die sich in vorwärtsdrängender Jugendlichkeit verkörpert. Selbst im langsamen Satz, den Haitink in wunderschöner Gelassenheit aussingen lässt, bilden die Punktierungen Zellen, aus denen funkelnde, durch den Kontext allerdings sorgfältig im Zaum gehaltene Eruptionen herausschiessen. In solchen Augenblicken war kaum zu glauben, dass der Mann am Pult in sein zehntes Lebensjahrzehnt eingetreten ist.

Am Schluss eine rauschende standing ovation im Saal und aus dem Orchester einstimmige, warmherzige  Beifallsbezeugungen. Bis Bernard Haitink, pragmatisch und nüchtern auch in diesem Abschiedskonzert, mit einem symbolischen Augenzwinkern die Partitur ergriff und zum Aufbruch blies.

Bernard Haitink: Portrait. Mit Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks München. Werke von Beethoven (Missa solemnis), Bruckner (Sinfonien Nr. 5 und 6), Haydn (Die Jahreszeiten, Die Schöpfung) und Mahler (Sinfonien Nr. 3, 4 und 9). BR-Klassik 900174 (11 CD).

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