Brisant und berührend

Beethovens «Fidelio» im Theater St. Gallen

 

Von Peter Hagmann

 

Leonore auf dem Sockel: «Fidelio» in St. Gallen / Bild Toni Suter, Theater St. Gallen

Sie trägt schwer an ihrem Ruf als als Stück zur festlichen Gelegenheit, die Befreiungsoper «Fidelio» Ludwig van Beethovens, in dritter und letzter Fassung aus dem Jahre 1814. Auch auf der jüngsten Schweizer Produktion des Stücks lastete dieser Aspekt der Rezeptionsgeschichte. Mit der Premiere von «Fidelio» feierte St. Gallen das Stadttheater, das vor fünfzig Jahren eröffnet worden ist: mit «Fidelio» (und damals mit Inge Borkh als Leonore). Gefeiert wurde das architektonisch noch immer besondere Haus, das nun, nach eindrücklich gewonnener Volksabstimmung im Kanton, renoviert werden kann.

Mit dem Haus beglückwünscht wurde aber auch die Institution Konzert und Theater St. Gallen, die unter der Leitung von Werner Signer und seinem Team bemerkenswerte Arbeit leistet. Im Stadttheater, in der gleich gegenüber gelegenen Jugendstil-Tonhalle und in der Lokremise beim Bahnhof gibt es ein Programm, das alle Facetten von Bühne und Podium abdeckt – bis hin zum Musical. Rund um die «Fidelio»-Premiere war ein Mittagskonzert mit dem Septett Beethovens angesetzt, gab es einen Tag mit Klaviersonaten Beethovens, die Alexander Melnikov auf Instrumenten aus der Entstehungszeit der Werke vortrug, und sind für Ende Mai Beethovens Sinfonien eins bis acht mit dem Sinfonieorchester und seinem leider im Absprung befindlichen Chefdirigenten Otto Tausk angesagt – dies letztere in der Tonhalle, die 1909 ebenfalls mit Musik von Beethoven eröffnet worden ist. Darüber hinaus setzt sich das Schauspiel «Lugano Paradiso» von Andreas Sauter in der Lokremise mit der Schweiz im Kalten Krieg auseinander, eine Erinnerung an die Fichenaffäre und die Geheimarmee P26, zu der es keine Akten mehr geben soll, aber durchaus auch an 1968. Prickelnde Vitalität herrscht hier.

Das gilt auch für die neue Produktion von «Fidelio». Dem Heldischen, zumal dem Hohelied auf die Gattenliebe und auf den (angeblich seltenen) Mut einer Ehefrau, das bis heute gern beschworen wird und einem die Lust auf das Stück gründlich ausgetrieben hat, geht der deutsche Filmer und Regisseur Jan Schmidt-Garre in seiner klug angelegten und glänzend durchgeführten Inszenierung aus dem Weg. Eine Erinnerung an den verbreiteten Deutungsansatz bietet das Podest, das Leonore besteigt, wenn sie nicht am Geschehen beteiligt ist. Als Einziger hat ihr der Kostümbildner Yan Tax zudem die Farbe Rot zugedacht; ansonsten herrschen Dunkelblau und Schwarz für die Unterdrücker und Dunkelbraun für ihre Opfer – die Ebenen sind klar voneinander getrennt. Als Statue auf dem Podest erscheint Leonore als das Bild ihrer selbst; wenn sie agiert, ist sie dagegen ganz einfach, ganz heutig, eine liebende Frau, die sich zur Ouvertüre von ihrem in den Kerker einrückenden Mann verabschiedet. Vollends ergriffen ist man, wenn Jacquelyn Wagner, eine im Deutschen akzentfrei sattelfeste Amerikanerin, zu singen anhebt. Mühelos und mit reicher Obertonbildung nimmt sie die Höhen ihrer Partie; steigt sie aber ins Brustregister herab, offenbart sich die Verankerung in einer glänzenden Tiefe.

Mit feinem, aber wirkungsvollem Strich wird hier gearbeitet. Die von Nikolaus Webern entworfene Bühne bleibt als Spielort abstrakt; nur dann, wenn der Gefangenenchor ins Freie tritt, und später im Finale zeigt sich im Hintergrund ein blühender Garten. Dafür gibt es jede Menge grauer Wände; sie bewegen sich lautlos, schaffen Räume von unterschiedlicher Tiefendimension und geben Durchblicke frei auf beständig patrouillierende Wachen: Alle sind wir «belauscht mit Ohr und Blick». Geleitet wird das brutale System von Pizarro, der hier als ein Bösewicht der besonderen Art gezeigt wird. Hochgewachsen und elegant, den Schädel kahl geschoren, gibt er eine furchterregende Erscheinung ab, und das in keinem Augenblick donnernd, wie es üblich ist, sondern vielmehr mit durchwegs leiser Stimme: Roman Trekel ist ein Meister der Piano-Kunst, mit geschmeidigem, farbenreichem Timbre und grossartiger Diktion – seine Arie «Ha! Welch ein Augenblick!» klingt darum besonders gefährlich.

Leise auch das Haupt-Opfer Pizarros, der politische Häftling Florestan. Dass Norbert Ernst die grosse Auftrittsarie des Florestan zu Beginn des zweiten Aktes hörbar in die Hand nimmt und ihre ungeheure Emphase zügelt, ist eine Wohltat; einige Abrutscher in die Gefilde der Weinerlichkeit lassen sich übergehen. Florestan ist nicht nur ein Gefangener, er ist ein Gebrochener. Während alle Figuren der Oper dort, wo sie zu sich selbst finden ihre durch die Position im System vergebenen Oberkleider ablegen, vermag Florestan das nicht zu tun; er ist so geschwächt, dass er sich an seinem Gefängnismantel festhält, ja sich in ihm versteckt. Sehr eindrücklich auch, wie abwesend Florestan am Auftritt des Ministers (Martin Summer) und an der durch ihn eingeleiteten Befreiung teilnimmt; das gefeierte Paar findet nicht wirklich zusammen, zu schwer wiegen die Wunden. Da gehen die Gedanken rasch zu den mit politischen Gegnern gefüllten Gefängnissen in der heutigen Türkei; die Verhältnisse dort scheinen von jenen in Beethovens «Fidelio» nicht sehr weit entfernt.

In jedem totalitären System gibt es die Mitläufer, die angstvoll ihre angebliche Pflicht erfüllen. Ein solcher Biedermann ist der Gefängnisdirektor Rocco; Wojtek Gierlach gibt ihn mit sonorem Bass, der sich rasch auf die richtige Seite schlägt. Seine Tochter Marzelline (Tatjana Schneider), die den Pförtner Jaquino, ihren Bräutigam, seit der Ankunft Fidelios nicht mehr so uneingeschränkt liebt, ist hier nicht das Dummchen, als das sie oft genug erscheint. Weil das Sinfonieorchester St. Gallen und Otto Tausk so kammermusikalisch zu Werk gehen, so viel vom Innenleben der Partitur hörbar machen, tritt auch des Komponisten heimliche Sympathie mit der jungen, vom Leben noch so wenig verdorbenen Frau zutage. Überhaupt steht die Produktion im Musikalisch auf bewundernswertem Niveau. Dass das Orchester an der Premiere bisweilen zu laut war, die Begleitfiguren gegenüber der Hauptsache deshalb in den Vordergrund traten, fällt wenig ins Gewicht angesichts der vielen gelungenen Ensembles. Das berührende Quartett, zu dem es bald nach den ersten Arien kommt, war da nur eines von vielen Beispielen.

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