Der Tod als ein Stück Leben

Verdis «Traviata» am Theater Basel

 

Von Peter Hagmann

 

 

Corinne Winters als Violetta in Basel / Bild Sandra Then, Theater Basel

Fast trotzig, jedenfalls recht energisch – und energischer, als es einer Sterbenskranken anstünde – hebt Violetta im dritten Akt von «La traviata» ihr eigenes Grab aus. Natürlich nicht in ihrem Schlafzimmer, sondern auf einem Friedhof, und der besteht in der neuen Basler Produktion von Giuseppe Verdis Oper aus regelmässig aufgereihten Matratzen; an deren Kopfenden legen die Teilnehmer am Karnevalsumzug, der gewöhnlich nicht sichtbar wird, hier aber als Gemeinschaft von Trauernden über die Bühne zieht, Blumengebinde und Totenkerzen nieder. Rabenschwarz ist dieses Ende – aber doch nicht ganz so finster, wie es der Komponist und sein Librettist Francesco Maria Piave erdacht haben. Violetta nimmt nämlich ihre letzten Worte ernst; sie steht zwar im Grab, deutet aber an, dass sie ins Leben zurückkehre und darob in Freude ausbreche – und so hält sie bis zum Schluss ihre Arme hoch und die Augen leuchtend offen. Der Tod als ein Stück Leben, als ein Abschluss in Frieden, nachdem sie den Mann, mit dem sie die Urgewalt der Liebe entdeckt hat, noch einmal hat an sich drücken können.

Das ist so berührend wie alles, was Corinne Winters an diesem denkwürdigen Abend im Stadttheater Basel über die Rampe bringt. Der Regisseur Daniel Kramer entwickelt seine Inszenierung für das Theater Basel – sie wird im nächsten Frühjahr an die English National Opera London weitergehen – aus aus der Protagonistin heraus, indem er das Geschehen am Körper und am Singen der Darstellerin aufzäumt. Wie in Claude Debussys Oper «Pelléas et Mélisande», in der sie 2016 im Opernhaus Zürich mit einer überraschenden, ja schockierenden Auslegung der weiblichen Titelfigur von sich reden machte, ist Corinne Winters in Verdis «Traviata» nicht das blasse, fragile, von der Tuberkulose gezeichnete und darum von heftigen Stimmungsschwankungen heimgesuchte Mädchen, als das sie gerne gesehen wird. Im ersten Akt erscheint ihre Violetta kraftvoll, geradezu sonnengebräunt. Mit Lust stürzt sie sich in die ziemlich wüste Party, die Lizzie Clachan (Bühne) und Esther Bialas (Kostüme) in einem reich bestückten, chromblitzenden, rundum verspiegelten Salon arrangieren. Und wenn sie das von Alfredo angestimmte Brindisi aufnimmt, geschieht das mit einigem Applomb. Umso bestürzender wirkt der Moment, da sie sich im Spiegel erblickt und die Züge der Krankheit erkennt.

Was für einen Kontrast dazu bietet der zweite Akt. Hier dominiert nicht der Schein, hier geht es allein um das Sein: um die Liebe in ihrer ganzen Wahrhaftigkeit. Darum ist die Drehbühne vollkommen leergeräumt. Im Zentrum ein simples Doppelbett, das sich sanft wie eine Schaukel hin- und her bewegt. Links eine Reihe Blumen, die an den originalen Spielort erinnern: an ein Landhaus in der Nähe von Paris. Sowie ein kleines Erdloch mit Häufchen, wie es dann etwas grösser im Finalakt erscheinen wird – aber nicht ein Miniatur-Grab, sondern die Stelle, an der Alfredo eine Pflanze einsetzt: eine Pflanze der Hoffnung. Pavel Valuzhyn gibt den scheuen jungen Mann ebenfalls ganz aus seiner Erscheinung und seinem Timbre heraus. Wenn er will und soll, findet er zu einem strahlenden, auch warmen und geschmeidigen Forte. Häufiger hält er sich jedoch, das verlangt sein Rollenporträt, in tieferen dynamischen Bereichen auf – und da hat er einiges an seidiger, hauchiger Klanglichkeit zu bieten. Allerdings sind die beiden dynamischen Bereiche nicht wirklich miteinander verbunden; bisweilen klingt es, als träte der Sänger mit zwei Stimmen auf.

Für Ivan Inverardi in der Rolle des Giorgio Germont gilt das nicht. Mit seinem Kreuz, das er sich über die Kravatte gelegt hat, erscheint er ganz und gar als der gestrenge, um nicht zu sagen: bösartige Vater Alfredos. Sängerisch steht sein Auftritt klar in der italienischen Tradition: majestätisch der Bariton, ausgeprägt das Vibrato, geschmackvoll die Portamenti. Szenisch allerdings ist die Figur wohl doch zu einseitig gezeichnet. Dass bei diesem älteren Herrn, was Violetta betrifft, noch anderes als normatives Denken und Egoismus mitspielen könnte, wird nicht einmal angedeutet – wie auch der Konflikt zwischen Vater und Sohn einigermassen handzahm bleibt, trotz der Spucke, die Alfredo seinem Vorfahren auf die Wange wirft.

Corinne Winters freilich, sie findet in dieser Landhaus-Szene zu sich selbst – vielleicht gerade darum, weil sie keine Arie hat, vielmehr stets im Dialog agiert und daraus besondere Energie gewinnt. Ihre Stimme ist eher dunkel gefärbt und hat einen sicheren Anker in einer wohlgestützten Tiefe. Mühelos steigt sie von dort in die Höhe, die Register sind ganz hervorragend ineinander übergeführt, ihr Legato ist von exzellenter Dichte, während das farbliche Spektrum, das sie in der Mittellage auszubreiten vermag, betörende Richesse zeigt. Dazu kommen die Durchdringung einer Partie, für die sie mittlerweile zwischen London, Hongkong und Melbourne gesucht ist, und eine einzigartige Identifikation mit ihr. Wie sie das Schwinden des Widerstands gegen die grenzüberschreitenden Forderungen von Vater Germont spüren lässt, ist schon bewegend genug; wie sie unmittelbar vor der erzwungenen Trennung von Alfredo ihren Geliebten noch einmal um eine Versicherung seiner Liebe bittet, bildet aber fraglos den emotionalen Höhepunkt des Abends – da werden nur wenige Augen trocken geblieben sein.

Der Moment wirkt auch so stark, weil er aus dem Graben durch eine Empathie sondergleichen gestützt ist. Am Pult steht Titus Engel. Eher als Spezialist für neue Musik bekannt, 2016 in Basel gerühmt für die musikalische Leitung in der grandiosen Produktion von Karlheinz Stockhausens «Donnerstag aus Licht», dirigiert er Verdis «Traviata» zum ersten Mal. Fast scheint es, als sei für den Dirigenten damit ein Herzenswunsch in Erfüllung gegangen, denn auch er dringt mit aller Hinwendung in die Partitur ein. Er hält das Basler Sinfonieorchester, das ihm in seltener Einmütigkeit folgt, diskret präsent und sorgt für manch überraschenden instrumentalen Akzent. Vor allem aber entwickelt er äusserst stimmige Tempi und griffige rhythmische Verläufe; selten wird so deutlich, dass «La traviata» über weite Strecken im Dreiermetrum geschrieben ist. Nicht zuletzt atmet er sorgsam mit den Sängern und bietet ihnen damit die Basis, auf der sie sich entfalten können: ein geborener Maestro concertatore.

Brutal dann der Umschlag im zweiten Bild des zweiten Akts, wo es zurück geht in einen Pariser Salon, diesmal den von Flora Bervoix (Kristina Stanek), und wo es zum dramatischen Höhepunkt kommt. Sehr bühnenwirksam, dass das Bett der Landhaus-Szene nun der Spieltisch wird, auf dem die Scheine noch und noch zu Alfredo wandern und auf dem er Violetta schliesslich das gewonnene Geld ins Gesicht schleudert. Und effektvoll, wie genau in diesem Moment der Vater dasteht. Das zeugt von Handwerk – genau gleich, wie der überdrehte Auftritt des übrigens hervorragenden, inzwischen von Michael Clark geleiteten Chors viel Sinn für verspielte Ironie erkennen lässt.

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