Neues Licht auf Schrekers «Gezeichnete»

Saisoneröffnung im Musiktheater St. Gallen – sowie in Luzern und Genf

 

Von Peter Hagmann

 

Claude Eichenberger und Andreas Conrad auf der St. Galler Bühne / Bild Iko Freese, Theater St. Gallen

Äusserst ambitioniert, was sich das Theater St. Gallen zur Eröffnung seiner Opernsaison vorgenommen hat. Nicht weniger als «Die Gezeichneten» nämlich, die inhaltlich hochkomplexe, orchestral stark besetzte, stimmlich höchst anspruchsvolle Oper, mit deren Uraufführung 1918 in Frankfurt der Österreicher Franz Schreker vollends zu einem der bedeutendsten Komponisten seiner Zeit avancierte. Das hat durchaus seine Logik. Noch in den zwanziger Jahren geriet Schreker rasch in Vergessenheit, der Machtantritt der Nationalsozialisten tat das Seinige dazu. Fünfzig Jahre später kam es dann aber zu einer bedeutenden Schreker-Renaissance, und da hatte das damalige Stadttheater St. Gallen die Nase vorn, indem es den «Schatzgräber» von 1920 ans Licht geholt und damit der Schreker-Renaissance in der Schweiz einen entscheidenden Anstoss gegeben hat. «Die Gezeichneten» sind nun allerdings eine ganz andere Nummer.

Schon allein vom Textbuch her. Von Schreker selbst geschrieben, erzählt es die Geschichte von dem Adligen Alviano Salvago, der sich, selbst von denkbar hässlicher Gestalt, im Meer vor Genua eine Insel der reinsten Schönheit erbaut hat. Nichts weiss er freilich von dem Treiben seiner Freunde, die sich genau dort Mädchen zu Diensten halten, die schönsten Töchter aus den besten Familien der Stadt. Wie Alviano das Eiland der Öffentlichkeit überlassen will, kommen die Verbrechen ans Licht und wird der edle Gönner für sie verantwortlich gemacht: zu Unrecht. Das ist die eine Niederlage. Die andere bezieht sich auf die blendend schöne und ihrer Weise ebenfalls behinderte, nämlich herzkranke Malerin Carlotta Nardi, die Alviano zur Porträtsitzung lädt und ihm Avancen macht, sich am Ende aber doch dem Anführer der adligen Mädchenschänder in die Arme wirft. «Die Liebe sei Beute des Starken», so lautet das Motto, das ausgerechnet der bucklige Alviano ausgegeben haben soll. Was man dazu wissen muss: Schreker hat seinen Text ursprünglich für Alexander Zemlinsky niedergeschrieben, der zwar ein ausgezeichneter Komponist und Dirigent, aber von hässlicher Gestalt war und darum von seiner hübschen, durchtriebenen Schülerin Alma Schindler zu Gunsten von Gustav Mahler sitzengelassen worden ist.

Antony McDonald, Regisseur und Ausstatter in einer Person, hat den ausgesprochen spannenden, vielschichtig glitzernden Stoff in einen prägnanten szenischen Verlauf gefasst. Den Buckel Alvianos nimmt man kaum wahr, auf seine Behinderung deuten eher die Probleme beim Gehen und ein blutendes Mal auf der rechten Wange. Vor allem aber ist es die Stimme des ausdrucksstarken Tenors Andreas Conrad, die der Figur ihr schauerliches Profil verleiht. Gewöhnungsbedürftig ist sie, scharf und gellend – genau so, wie sie klingen muss für einen Sänger, der bei den Bayreuther Festspielen in der Tradition von Heinz Zednik den Mime aus Wagners «Siegfried» gesungen hat. Daran ist nichts Schlechtes, es ist vielmehr hochgradig charakteristisch. Und so plastisch geformt, wie die Figur Alvianos von Schreker erdacht ist: der Verlierer, der auf einen erschreckend abfallenden Pfad gerät, ohne es zu merken, am Ende gar der Beschuldigte, schliesslich der zweifach Gedemütigte, vom Nebenbuhler wie von der Geliebten. Dass er sich zuletzt die Narrenkappe aufsetzt und dem Wahnsinn verfällt, es ist nichts als verständlich.

Gegenspieler zu Alviano sind sie eigentlich alle, in erster Linie ist es aber die undurchsichtige Malerin Carlotta. Mit Claude Eichenberger, gewöhnlich im Ensemble des Konzert-Theater Bern tätig, ist die grosse Partie in dem grossen Werk absolut treffend besetzt. Stimmlich bildet sie das reine Gegenteil von Andreas Conrad; sie verfügt über ein rundes, eher dunkles Timbre von starker Ausstrahlung und setzt es sorgfältig nuancierend ein. Dazu kommen eine makellose Textverständlichkeit und, daraus hervorgehend, die bewusste Gestaltung der vokalen Lineatur aus der Sprache heraus. Das lässt sie als eine genuine Darstellerin erkennen – als ein Theatertier, um es etwas unvornehm auszudrücken. Jedenfalls nimmt ihre Bühnenerscheinung rasch und nachhaltig gefangen. Und geht einem seltsam nah, wie diese erst kalt und schnippisch wirkende Frau im Atelier auftaut und in Grenzsituationen gerät, sich am Ende aber doch dem Grafen Tamare zuwendet, dem Schönen und Starken vom Dienst.

Gleich zu Beginn der Premiere kam es bei Claude Eichenberger zu einem Fortissimo-Ausbruch, den man aufs erste Hören als zu masslos empfunden haben mochte. Nur wenig später kam dann der Verdacht auf, dass in diesem Moment ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Pult gegangen sein könnte. Der junge Dirigent Michael Balke lässt das an sich ausgezeichnet mitwirkende Sinfonieorchester St. Gallen zu oft zu massiv in den Vordergrund treten. Klar, «Die Gezeichneten» sind eine sinfonische Oper wie «Salome» oder «Elektra» von Richard Strauss, doch muss die Kunst des musikalischen Leiters darin bestehen, eine der Struktur angemessene, fürs Hören spannende Balance zu finden – und ausserdem die farblichen Reize der sinnlich angelegten Partitur Schrekers heraustreten zu lassen. Das ging an der Premiere schon im Vorspiel daneben, weil die Kantilenen der Celli gegenüber dem flimmernden harmonischen Hintergrund viel zu deutlich herausgehoben waren, was den Zauber dieses Beginns empfindlich schmälerte. Im weiteren Verlauf des Abends kam es immer wieder zu instrumentalen Massierungen, wo diese betörende Musik doch eigentlich einen am Impressionismus Debussys orientierten Pinsel bräuchte.

Das ändert nichts daran, dass dieser aussergewöhnliche Abend in St. Gallen von einer hervorragenden Ensembleleistung getragen ist. Dabei sind die Figuren sehr genau gezeichnet, arbeitet der Regisseur zum Beispiel bewusst mit den Standesunterschieden; die Malerin Carlotta kann für den überpotenten Grafen Tamare (Jordan Shanahan gibt ihn glänzend) keine wirkliche Option, nur Opfer sein, denn sie ist eine Bürgerliche. Umgekehrt toleriert der Herzog Adorno das Treiben der adligen Männerbande, weil man unter sich ist und es dort dazugehören mag. Tomislav Lucic, der den Herrn der Stadt mit edlem Ton singt, dabei aber leider aus dem Graben bedrängt wird, lässt jedenfalls keinen Zweifel daran, dass für ihn der Bürgermeister (Martin Summer) nichts als eine weit unten stehende Marionette abgibt. Zum eigenartigen erotischen Fluidum von Schrekers «Gezeichneten» stellt sich damit ein Blick auf soziale Zustände, wie sie der Entstehungszeit des Werks geschuldet sind. Schon allein deshalb verdient der Opernabend in St. Gallen alle Aufmerksamkeit.

Berichte zu weiteren Premieren auf Schweizer Musikbühnen: Ligetis «Grand Macabre» im Theater Luzern (siehe NZZ vom 11.09.17). Drei Mal «Figaro» im Genfer Grand Théâtre (siehe NZZ vom 19.09.17)

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