Opernlust mit Massenet

«Werther» mit Juan Diego Flórez in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Wenn der Himmel aufgeht: Anna Stéphany und Juan Diego Flórez in Zürich / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Was hat man in Zürich nicht gejammert – damals, als in der Leitung des Opernhauses der Wechsel von Alexander Pereira zu Andreas Homoki anstand. Die grossen Zeiten des Gesangs gingen zu Ende, lautete eine der Befürchtungen. Sie war voreilig, denn was die Kunst des Operngesangs betrifft, bleiben in der Zürcher Oper derzeit kaum Wünsche offen. Dass für die Titelpartie in Jules Massenets Oper «Werther» Juan Diego Flórez zur Verfügung steht, ist ein Glücksfall ohne Wenn und Aber. Der weitherum gefeierte, seine Karriere aber äusserst sorgsam vorantreibende Tenor verfügt über eine Mühelosigkeit in der Höhe, eine Kraft, einen Glanz und eine Fülle an Abschattierungen, die ihn für diese Aufgabe als prädestiniert erscheinen lassen; zudem gestaltet er mit einer künstlerischen Wachheit, die an Alfredo Kraus denken lässt.

Ebenfalls geklagt wurde damals, wenigstens in gewissen Kreisen, über das sogenannte Regietheater, das mit dem Umzug des selber Regie führenden Theaterkünstlers von der Komischen Oper Berlin ins Zürcher Intendantenbüro um sich greifen werde. Da sind freilich alle Befürchtungen eingetreten. Seit Andreas Homoki auf der Brücke steht, werden auch auf der Bühne Meinungen geäussert: sitzen an den Regiepulten Künstlerinnen und Künstler, die offen dazu stehen, dass ihr Tun immer auch einen Akt der Interpretation darstellt – ja, die sogar bewusst das Recht auf diesen Akt einfordern. Das stösst nicht nur auf Zustimmung, vor allem nicht an den Premieren. Tatjana Gürbaca hat es jetzt wieder erfahren – ganz und gar zu Unrecht. Ihre Inszenierung von Massenets «Werther» begnügt sich gerade nicht damit, den Auftritt eines Startenors zu bebildern. Sie nimmt das Stück vielmehr ernst, indem sie zeigt, wie es heute verstanden werden könnte.

Das war nun allerdings überraschend. Obwohl Juan Diego Flórez das sängerische Zentrum des Abends bildete, müsste die Oper Massenets in Zürich «Charlotte» heissen. Tatjana Gürbaca legt den Stoff als die Geschichte einer jungen Frau aus, die früh die Mutter verloren hat, deren Stelle in der kinderreichen Familie einnehmen musste und sich nun in täglicher Pflichterfüllung übt. Unglaublich eng, unglaublich beengend wirkt der bis unter die Decke getäferte Raum, in dem sich das gleichförmige Leben des Amtmanns (Cheyne Davidson) abspielt. Es ist nicht das Leben des gründerzeitlichen Bürgertums, an das Massenet gedacht hat, eher eines der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg – die an Jacques Tati und seinen Film «Mon Oncle» erinnernde Kücheneinrichtung, aber auch die sprechenden Kostüme von Silke Willrett deuten es an.

Oben wacht die Urne der Verstorbenen, unten sorgt der Organist für richtige Art Einkehr. In dieser Enge findet Charlotte keine Luft – Anna Stéphany, die durch glasklare, wenn auch bisweilen etwas vibratoreiche Linienführung beeindruckt und mit ihrem warmen Timbre den perfekten Kontrast zum Titelhelden schafft, lässt es von Anfang an spüren. Werther wiederum, er erscheint in dieser Anlage als eine Projektion, als den von Charlotte imaginierten Katalysator, der ihren Emanzipationsprozess in Gang setzt. Nur zaghaft, aber immerhin, öffnet sie vor Werther ihr zu einem Rossschwanz zusammengebundenes Haar. Im entscheidenden Moment jedoch wirft sich Charlotte den Mantel Werthers um, steigt in die Stiefel und tritt aus dem Rahmen der Guckkastenbühne heraus. Da steht sie nun, die andere Traviata, die andere Mimì. Und macht sich auf – das verhindern weder die jüngere Schwester Sophie (hell und agil Mélissa Petit) noch der normsetzende Ehemann Albert (klangvoll und ausdrucksstark der norwegische Bariton Audun Iversen). Wie Werther dann sein Leben ausgehaucht hat, ist Charlotte nicht mehr dieselbe.

Das ist präzise durchdacht und bis in kleine Einzelheiten hinein liebevoll, auch mit einer guten Portion distanzierenden Humors umgesetzt. Dessen ungeachtet bleibt «Werther» aber auch hier das Rührstück, als das Massenets Oper geliebt wird. Tatjana Gürbaca lässt keinen Zweifel daran, sie schämt sich auch nicht dafür. Wenn im vierten und letzten Akt Werther und Charlotte doch noch zueinander finden, wenn es aber um den Preis von Werthers Leben und gewiss auch Charlottes Ehe geschieht, bleibt kein Auge trocken. Da öffnet sich dann die Bühne von Klaus Grünberg und gibt den Blick frei ins All und damit in jenen romantischen Sehnsuchtsraum, in dem die Liebe wohnt – die Liebe, wie sie Jules Massenet in seiner Oper nach dem Briefroman Goethes so herzergreifend schildert. Schliesslich erscheint auch ein süsses uraltes Paar, das sich noch einmal zärtlich begegnet: Wie schnell doch die Zeit vergeht, carpe diem.

Die Philharmonia Zürich, hervorragend vorbereitet und bestens motiviert, gibt an dieser Stelle noch einmal alles an Saft und Kraft, was Massenet niedergeschrieben hat. Dem Dirigenten Cornelius Meister gelingt es an diesem auch musikalisch ertragreichen Abend, dem Instrumentalen die vom Komponisten geforderte sinfonische Präsenz zu sichern, ohne dabei die Singstimmen zu bedrängen oder die dynamische Kapazität des vergleichsweise kleinen Raums im Opernhaus Zürich zu strapazieren. Farben in ungewöhnlicher Vielfalt beleben das Geschehen, etwa jene des Saxophons, dessen Klang im ausgehenden 19. Jahrhundert neu war und auch heute noch aufhorchen lässt. Und man versteht, was das heisst: «drame lyrique» – dass nämlich in dieser Auffassung von musikalischem Theater vieles, was die Figuren auf der Bühne bewegt, vom Orchester ausgesprochen wird. Ganz im Geiste Wagners.

Sich geniessend hingeben, seinen Gefühlen Lauf lassen, danach, sind die Tränen getrocknet, anregend darüber nachdenken – all das zusammen kann man nicht allzu häufig in der Oper. Hier kann man es.

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