Ein Hoch auf die kleine Flöte

Haika Lübcke stellt das Piccolo ins Licht

 

Von Peter Hagmann

 

In wenigen Tagen schlägt wieder die Stunde des Piccolos – dann nämlich, wenn in der Basler Innenstadt um vier in der Früh die Lichter ausgehen und Dutzende von Cliquen, beleuchtet von ihren riesigen Laternen, mit Piccolos und Trommeln den «Morgestraich» anstimmen. An der Basler Fasnacht spielt die seit dem Mittelalter bekannte, in erster Linie mit der Militärmusik assoziierte Kleinflöte ihre ureigene Rolle. Nach den drei schönsten Tagen, die viele Basler in Rausch versetzen, verschwindet das Piccolo wieder in den Alltag des Sinfonieorchesters, wo das Instrument selten, dann aber meist gut vernehmbar in Erscheinung tritt.

Was im Piccolo wirklich steckt, das zeigt jetzt Haika Lübcke, die Vertreterin der hohen Töne im Tonhalle-Orchester Zürich und an der Zürcher Hochschule der Künste. Bei dem Schweizer Spezialitätenlabel Prospero hat sie eine (auch im Streaming verfügbare) CD vorgelegt, die das Piccolo in ungewöhnlichem Licht erscheinen lässt: in einer anregenden Zusammenstellung von Auftritten allein oder in Begleitung eines weitere Instruments. Einen roten Faden liefert der Satyr Marsyas, der eine von Athene weggeworfene Flöte aufhob und sie bald derart gut zu spielen verstand, dass er glaubte, sich mit Apollon höchstselbst messen können; das misslang allerdings so gründlich, dass der Gott dem Satyr die Haut vom lebendigen Leibe abziehen liess. Von der grausigen Strafe ist in der Werkfolge der CD glücklicherweise nicht die Rede, wohl aber vom Flötenspiel und dem waghalsigen Wettstreit. Ausgelegt wird dieser Faden in vielfältigsten musikalischen Formen. Zur Seite stehen der Künstlerin am Piccolo der Pianist Hendrik Heilmann und die Harfenistin Sarah Verrue, beide ebenfalls Mitglieder des Tonhalle-Orchesters Zürich, sowie Pamela Stahel als Duopartnerin auf dem Piccolo.

Herrlich, wie die beiden Musikerinnen ein heiter gelöstes, musikantisch perlendes Divertimento für zwei Piccolos von Bohuslav Martinů zum Besten geben. Nicht weniger packend ein frühes Divertimento dieses Komponisten für Piccolo und Klavier; es lebt vom virtuosen Ton der zwanziger Jahre und reicher Imagination. Zwischen diesen beiden Stücken «Marsyas» von Jan Novák, einem Schüler Martinůs. In fünf sehr charakteristischen Sätzen zeichnet das von 1983 stammende Werk für Piccolo und Klavier die Persönlichkeit des übermutigen Satyrs. Ebenfalls bei Martinů gelernt hat Vítěslava Kaprálová, die 1940, nur 25 Jahre alt, im französischen Exil starb; berührend ihre zwei kurzen Stücke für Piccolo und Klavier.

Dem tschechischen Schwerpunkt stehen ein rumänischer und ein italienischer Komponist gegenüber. In seiner dreisätzigen «Hommage à Marsyas» für Piccolo solo erkundet der 1979 geborene Gabriel Mălăncioiu ungewohnte Ausdrucksweisen für das Instrument – Haika Lübcke brilliert hier mit rhythmischem Aplomb und raschem Wechsel zwischen den Registern. Anders der Flötist und Komponist Leonardo de Lorenzo, der in seiner sinnlichen «Suite mythologique» hören lässt, wie der Ton des Piccolos gleichsam aus jenem der Flöte herauswächst; versteht sich, dass Haika Lübcke als Virtuosin auf dem Piccolo auch die Flöte mit glanzvollem Ton beherrscht.

Immer wieder überrascht die klangliche Spannweite des Instruments. Es kann die hohen Töne nicht bloss als Glanzlicht heraustreten lassen, es kann sie auch singen; und vor allem kann das Piccolo auch in tiefere Lagen gehen und dort seinen Reiz verströmen. Zu hören ist das nicht zuletzt in drei Werken des in New York lebenden Zürchers Daniel Schnyder. Für «Marsyas and Apollo», ein Auftragswerk von Haika Lübcke, wie für «Teiresias» kombiniert er das Piccolo mit der Harfe – ebenso sinnlich wie sinnreich. Und in «Baroquelochness», dem Schlussstein des CD-Programms lässt er, in einem Satz für Piccolo und Klavier, Johann Sebastian Bach dem Ungeheuer Nessie begegnen: Postmoderne im Sinne des Wortes.

Piccolo Legends. Werke von Daniel Schnyder, Bohuslav Martinů, Jan Novák, Vítěslava Kaprálová, Gabriel Mălăncioiu, Leonardo de Lorenzo. Haika Lübcke (Piccolo), Hendrik Heilmann (Klavier), Sarah Verrue (Harfe), Pamela Stahel (Piccolo). Pospero 0053 (CD, Aufnahme 2021, Publikation 2022).

Der unreine Avantgardist

Bernd Alois Zimmermann, mit Heinz Holliger neu entdeckt

 

Von Peter Hagmann

 

Denkbar schwer waren die Anfänge. 1918 in der Nähe von Köln geboren, wurde der angehende Komponist Bernd Alois Zimmermann 1939 aus dem Studium heraus in den Kriegsdienst eingezogen. Aufgrund einer Verletzung wurde er 1942 entlassen. Er nahm seine Ausbildung wieder auf, konnte sie aber erst 1947 abschliessen; der Eintritt ins Berufsleben erfolgte daher spät, und die Möglichkeiten in den Jahren nach dem Krieg waren beschränkt. So nahm Zimmermann eine Tätigkeit als Hauskomponist beim Nordwestdeutschen Rundfunk an, aus dem 1956 der Westdeutsche Rundfunk (WDR) in Köln hervorging. Viel Ehr brachte das nicht, aber doch etwas Geld, und das konnte Zimmermann als Familienvater sehr gut brauchen.

Auch wenn sie seine Mission, als Komponist neue Werk zu schaffen, bedrängte, öffnete ihm die Beschäftigung als Hauskomponist Blickfelder, die Zimmermann mit Gewinn in seine musikalischen Grundauffassungen einzubauen vermochte. Als Hauskomponist hatte er, und dies oft unter Zeitdruck, Arrangements bestehender Musik zu erstellen – für die Orchester und die Ensembles, mit denen der Rundfunk das darniederliegende Kulturleben wieder anzufachen suchte. Das waren, wie Rainer Peters sagt, der Spezialist für Leben und Werk Bernd Alois Zimmermanns, Galeeren- und Experimentierjahre. Damals hier liess sich der Komponist auf Musik ein, die vielleicht sonst nicht auf seinen Schreibtisch gekommen wäre, zum Beispiel auf «Die drei Zigeuner», das Lied für Singstimme und Klavier von Franz Liszt aus dem Jahre 1860, das Zimmermann 1953 orchestrierte, oder Modest Mussorgskys Klavierstück «Reiseeindrücke aus der Krim» von 1879/80, das der Hauskomponist 1949/50 ebenfalls für Orchester setzte. Selbst mit Sergej Rachmaninow, für jeden zünftigen Avantgardisten ein Graus, befasste sich Zimmermann; eine Romanze in E-dur aus den «Morceaux de salon» von 1894 erweiterte er zu einem Stück für Saxophon und Orchester.

Während die musikalische Avantgarde deutscher Ausprägung nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu doktrinär auf die Reinheit der Kunst und die Entwicklung des Materials fokussiert war, liess sich Zimmermann schon damals ohne Vorurteile von vielen, auch sehr unterschiedlichen Seiten anregen – wofür er heftig gescholten wurde, woraus er jedoch den für sein Schaffen zentralen Pluralismus der Stile schöpfte. Jazz steht neben Cembalo, Dodekaphonie neben südamerikanischem Rhythmusgefühl. Und mag es sich bei all dem um Hervorbringungen eines Brotberufs handeln, so zeigt dieses Segment im Œuvre Bernd Alois Zimmermanns, wie er an diesen Fingerübungen seinen Klangsinn schärfte und seine Phantasie im Umgang mit Instrumenten und ihren Kombinationen entwickelte. Davon zeugen viele der frühen Werke Zimmermanns, etwa das aus einer Hörspielmusik hervorgegangene Ballett Alagoan aus den fünfziger Jahren oder das reizende, mehrteillige Stück «Un petit rien», eine «musique légère, lunaire et ornithologique» von 1964, entstanden neben der Arbeit an der epochalen Oper «Die Soldaten».

Entdecken lassen sich die wenig bekannten Seiten Bernd Alois Zimmermanns in einer dreiteiligen CD-Produktion, die bei Wergo, dem Label des Musikverlags Schott, erschienen ist, aber natürlich auch im Netz zur Verfügung steht. Die Idee dazu hatte Harry Vogt, der beim WDR in Köln die Neue Musik betreute, und gewinnen konnte er dafür Heinz Holliger, der dem Schaffen Zimmermanns seit vielen Jahren und in besonderer Weise zugetan ist. Grundlage für das über einen Zeitraum von fast zwei Jahrzehnten vorangetriebene Projekt bildeten das Archiv des WDR sowie das von Heribert Henrich auf der Basis von Vorarbeiten Klaus Ebbekes erstellte Verzeichnis der Kompositionen Zimmermanns. Und möglich wurde es nicht zuletzt dank dem Westdeutschen Rundfunk, der das von ihm getragene Sinfonieorchester zur Verfügung stellte. Beteiligt waren aber auch die öffentliche Hand über die Kunststiftung Nordrhein-Westfalen und die dem Schott-Verlag nahestehende Schrecker-Stiftung – eine Kooperation mit Vorbildcharakter, aber auch ein Beispiel dafür, wie wichtig und wertvoll die Existenz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als Instrument der Kulturförderung auch heute noch ist.

Die Produktion selbst steht im Zeichen von Kompetenz und Exzellenz; sie bietet Aufklärung und Vergnügen in einem, und sie tut das auf höchstem Niveau. In Heinz Holliger, der das WDR-Sinfonieorchester – wie bei den zwischen 2010 und 2015 entstandenen den Aufnahmen bei den Sinfonien Robert Schumanns – zu fabulösen Leistungen führt, stellt sich ein kongenialer, sogar mit Sinn für den Blues versehener Interpret in den Dienst an diesem eindrucksvollen Projekt. Der Aufbau der drei Teile legt Beziehungen offen und spannt Bögen. Sie setzt an bei den südamerikanisch angehauchten Arbeiten, geht weiter zu den «Rheinischen Kirmestänzen» mit ihrem doppelten Boden und findet ezur Sinfonie in einem Satz – dem ersten Auftrag des WDR für ein ganz aus der Feder Zimmermanns stammendes Werk. Das heftige, für grosses Orchester geschriebene Stück erklingt hier nicht in jener verbreiteten Revision, die auf den Dirigenten Hans Rosbaud zurückgeht, sondern in der vom Komponisten selbst noch einmal überholten Originalfassung von 1953. Sein Ende findet das Projekt mit «Stille und Umkehr», dem letzten Orchesterwerk von 1970, dem Todesjahr des Komponisten. Nur gut zwei Jahrzehnte blieben Zimmermann zur Verwirklichung seiner schöpferischen Ideen. Auch das wird einem hier bewusst.

Bernd Alois Zimmermann recomposed. WDR-Sinfonieorchester, Heinz Holliger (Leitung). Wergo 7387-2 (3 CD, Aufnahmen 2000 bis 2018, Publikation 2022)

Neues vom Chiaroscuro-Quartett

Mozarts «Preussische» Quartette
und Beethovens Opus 18

 

Von Peter Hagmann

 

Warum schauen sie auf dem Cover ihrer jüngsten Veröffentlichung nur so trüb in die Welt, die vier jungen Leute vom Chiaroscuro-Quartett? Hat sie die Aufnahmesitzung, hat sie der Fototermin erschöpft? Oder dachten sie an die deplorablen Lebensumstände, unter denen Wolfgang Amadeus Mozart seine «Preussischen» Streichquartette, wohl im Auftrag Friedrich Wilhelms II., in den Jahren 1789/90 komponiert hat? Keine Ahnung; Grund zu Missmut gibt es jedenfalls keinen. Das Ensemble mit Alina Ibragimova und Pablo Hernán Benedí (Violinen), Emilie Hörnlund (Viola) und Claire Thirion gehört nach wie vor zu den bedeutendsten, weil zukunftsweisenden Streichquartetten dieser Tage. Besonders fassbar wird das im Repertoirebereich der Wiener Klassik. Vor fünf Jahren begannen sie mit Joseph Haydn – und dort mit nicht weniger als den späten, anspruchsvollen Quartetten op. 76, Hob. III:75-80 (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 06.05.20 und vom 03.02.21). Sie liessen damals erleben, wie feinsinnig und berührend diese Musik klingen kann – keine Spur von Papa Haydn, keine Rede von der angeblichen Verzopftheit des Streichquartetts. Vielmehr pulsierendes Leben.

Inzwischen ist das Chiaroscuro-Quartett weitergegangen zu Ludwig van Beethoven. Hier nun allerdings nicht zu Stücken aus dem schwierigen, widerständigen Spätwerk, sondern zu den weitherum geliebten sechs Streichquartetten des Opus 18. Die Nummer 3 zum Beispiel in D-dur, die vermutlich 1798 als erstes der sechs für den Fürsten Lobkowitz komponierten Quartette entstand: leicht und hell ist da der Ton der alten, mit Darmsaiten bespannten und mit klassischen Bögen gespielten Instrumente, federnd die Artikulation, spritzig die Akzentsetzung. Was die historisch informierte Spielweise, zu der etwa der nuancierte, bewusste Gebrauch des Vibratos gehört, an Gewinn einbringt, es ist etwa an den liegenden Dreiklängen zu hören, die mit ihrer Schönheit ganz unerhört in die Ohren dringen – so ist es eben, wenn solche Akkorde mit geraden Tönen gespielt werden und im Zusammenklingen perfekt austariert sind. Wunderbar ausschwingend zudem die Kantilenen der Primgeige, die sich mit unaufdringlichem Espressivo und zartem Rubato über die von den drei anderen Instrumenten gebildete Harmonie legen.

Und nun also Mozart, der zusammen mit Haydn dem jungen Beethoven so viel Respekt vor dem Streichquartett abgenötigt hat. Rückt das Chiaroscuro-Quartett das Opus 18 Beethovens klanglich in die Nähe zu Haydn, so gibt es die «Preussischen» Streichquartette Mozarts in selbstbewusstem, ja stolzem, festlichem Klang. Natürlich herrscht auch hier, in der Auslegung der drei Quartette in D-dur (KV 575), B-dur (KV 589) und F-dur (KV 590), letzte Genauigkeit gegenüber dem Notentext. Und lebt eine Kultur des Zusammenspiels, in der bei allem klanglichen Ausgleich die vier Stimmen ihre je eigene Individualität pflegen. Auffällig ist aber auch, wie sich das Quartett in der Auseinandersetzung mit Mozart vom streng durchgehaltenen Puls emanzipiert und sich, auch das ist historisch legitim, Freiheiten in der Tempogestaltung nimmt, die wesentlich zur Vitalität des musikalischen Geschehens beitragen – ausserordentlich spannend ist das. In der allgemeinen Wirksamkeit der Musik Mozarts stehen die Streichquartette, wie übrigens auch die Lieder, in einem hinteren Glied. Zu Unrecht, wie die anregende Lektion mit dem Chiaroscuro-Quartett lehrt.

Wolfgang Amadeus Mozart: Die «Preussischen» Streichquartette in D-dur (KV 575), in B-dur (KV 589) und in F-dur (KV 590). Chiaroscuro-Quartett. BIS 2558 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2022)

Ludwig van Beethoven: Sechs Streichquartette op. 18. Chiaroscuro-Quartett. BIS 2488 und 2498 (2 CD, Aufnahme 2019, Publikation 2021)

Joseph Haydn: Streichquartette op. 76. Chiaroscuro-Quartett. BIS 2348 und 2358 (2 CD Aufnahmen 2017 und 2018, Publikation 2020)

Rausch und Bogen

Krystian Zimerman spielt Karol Szymanowski

 

Von Peter Hagmann

 

Was für ein Flügel. Ob es wie üblich sein eigener, auch eigenhändig betreuter war? Wie auch immer, als Krystian Zimerman im Juni dieses Jahres ins japanische Fukuyama reiste, um sich dort der wunderbaren, leider viel zu selten gespielten Musik seines Landsmannes Karol Szymanowski (1882-1937) zu widmen, war Steinway & Sons zur Stelle, im Booklet zur jüngsten CD-Veröffentlichung des polnischen Pianisten wird mit speziellem Dank darauf hingewiesen. Es ist also anzunehmen, dass die hohen Anforderungen, die Zimerman ans Instrument stellt, erfüllt worden sind – zumal es ganz danach klingt. Obertonreich und entsprechend hell der Ton, fulminant und orchestral die Bässe, brillant die Präsenz in ihrer Mischung zwischen Direktheit und Räumlichkeit – wozu die akustisch von Yasuhisa Toyota konzipierte Fukushima Hall of Art & Culture, aber natürlich auch die Tontechnik aus den Emil Berliner Studios das Ihre beigetragen haben. Das ist ein Erlebnis eigener Art.

Welche Bedeutung all dem zukommt, wird ohrenfällig im zweiten Schritt der vierteiligen CD. Dort stehen von Karol Szymanowski die «Masques» op. 34 an. Zimerman hat die drei Charakterstücke aus der Zeit des Ersten Weltkriegs schon 1994 in einer Aufnahme festgehalten, die jedoch nie erschienen ist. Für die Einspielung im Kopenhagener Tivoli stand ein ebenfalls sehr ordentlicher Flügel zur Verfügung, nur fehlt seinem Klang viel von dem, was die Besonderheit des Instruments in Fukuyama ausmacht. Etwas enger, im Fortissimo etwas angestrengt erscheint das Klangbild – und gerade Fortissimo braucht es hier reichlich. In «Tantris le Bouffon», dem mittleren der drei Stücke, denkt Szymanowski die Figur des Tristan weiter, der sich seiner Isolde zunächst als Tantris vorstellt. Gefordert sind hier anforderungsreiches Laufwerk, Kraftentfaltung und ein hohes Mass an Koloristik – Krystian Zimerman bietet das alles hinreissendem Mass. Auch für Scheherazade in Nummer eins, die vorliest und zugleich um ihr Leben fürchtet, wie für den grossspurigen, die Gitarre für sein Ständchen stimmenden Don Juan hat Zimerman alle Sympathie.

Nur eben: der Flügel. Die Differenz fällt auf, wenn man die «Masques» von den vier Préludes aus op. 1 her erreicht. Staunenswert, was dem 18-jährigen Komponisten in seinem Erstling gelungen ist; die Anklänge an das grosse Vorbild Chopin sind nicht zu überhören, das Aufkeimen der eigenen Handschrift aber ebenso wenig. Und Zimerman, der leider etwas vernehmlich mitsingt, schenkt diesen frühen Werken seine ganze Liebe. In den vier Beispielen aus den Mazurken op. 50 von 1924/25 ist dann eindrücklich zu erleben, in welche Richtung Szymanowski unter dem Einfluss impressionistischer Anregungen seine Handschrift weiterentwickelt hat. Vielleicht braucht es etwas Zeit, bis man dieser Musik näherkommt, Krystian Zimerman hilft einem dabei aber mit seinem Einfühlungsvermögen und seiner einzigartigen Kunst. Erst recht gilt das für für die Variationen über ein polnisches Volkslied op. 10 aus den Jahren 1900 bis 1904, ein erstaunliches Frühwerk, das in seiner Grundhaltung bei der von Béla Bartók und Zoltán Kodály gepflegten Auseinandersetzung mit der autochthonen Volksmusik anschliesst. Welch ganz eigenen Weg Szymanowski schon hier einschlägt, wie exzessiv er das Rauschhafte in der Musik pflegt und wie er zugleich einen geradezu dramaturgisch wirkenden Bogen über die zehn Variationen schlägt, in Krystian Zimermans formidabler Auslegung kommt es bester Geltung.

Karol Szymanowski: Préludes op. 1 (Auswahl), Masques op. 34, Mazurken op. 50 (Auswahl), Variationen über ein polnisches Volkslied op. 10. Krystian Zimerman (Klavier). Deutsche Grammophon 4863007 (CD, Aufnahmen 1994 (Masques) und 2022, Publikation 2022)

Entdeckungen, Überraschungen

In den Schweizer Konzertsälen herrscht Leben

Von Peter Hagmann

 

Biel – und Joseph Lauber

Sechs Sinfonien hat er geschrieben, keine einzige ist bekannt, keine wird gespielt. Wie bedauerlich das ist, lässt sich jetzt allerdings nachprüfen – und vielleicht hat das Folgen. Denn das Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn und sein Chefdirigent Kaspar Zehnder haben es sich zusammen mit dem von Graziella Contratto geleiteten Label Schweizer Fonogramm zur Aufgabe gemacht, Joseph Lauber der musikalisch interessierten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Lauber? Nie gehört, noch vergessener als Joachim Raff oder Hans Huber. Dabei waren die Voraussetzungen nicht schlecht: Als Sohn eines Schneidermeisters im Luzerner Hinterland geboren und bei Neuchâtel aufgewachsen, konnte Joseph Lauber (1864-1952) dank einem von den Chocolatiers Suchard gewährten Stipendium in Zürich bei Friedrich Hegar, in München bei Josef Gabriel Rheinberger und in Paris bei Jules Massenet studieren. Bald zog es ihn nach Genf, wo er am Theater als Kapellmeister wirkte und am Konservatorium Komposition unterrichtete – zu seinen Schülern, allerdings auf privater Ebene, zählte auch Frank Martin. In der Schweizer Musikszene wurde seine Stimme gehört, die grosse Karriere suchte er jedoch nicht. Dafür schrieb er über zweihundert Werke, die in der Universitätsbibliothek Lausanne aufbewahrt werden.

Mit Hans Huber, dessen Name immerhin noch einen Basler Konzertsaal ziert und dessen Sinfonien in den 1990-er Jahren von dem schwedischen Label Sterling vorgelegt wurden, teilt Joseph Lauber die Verankerung in der deutschen Spätromantik und die Nähe zu Johannes Brahms – wobei Laubers Musik durchaus auch französische Farben kennt. Seine sechs Sinfonien, zwischen 1895 und 1918 mit einem Nachzügler 1949 entstanden, gehören zum Anregendsten aus dem Bereich der Schweizer Musikgeschichte vor dem Ende des Ersten Weltkriegs. In ihnen verbindet sich ästhetische Weltläufigkeit mit dem Duft der Heimat – eigenartig schweizerisch, jedoch ohne eine Spur ohne Enge klingt diese Musik. Und leicht geht sie ins Ohr, denn das Material ist geschickt erfunden und ebenso geschmeidig wie vielschichtig verarbeitet.

Auf den drei Compact Discs von Schweizer Fonogramm lässt sich das ausgezeichnet nachvollziehen. Nicht zuletzt dank der hervorragenden Aufnahmetechnik von Frédéric Angleraux. Schweizer Fonogramm sieht sich als «ein Label von Musikern für Musiker». Im Vordergrund stehen Sachbezogenheit und Qualitätsanspruch, wovon auch die informativen Booklets zeugen. Ausserdem wird konsequent an der Studioaufnahme und an der CD als netzunabhängigem Tonträger festgehalten, obwohl die Aufnahmen, wenigstens zum Teil, auch im Internet greifbar sind. Zentral bleibt jedoch die interpretatorische Qualität. Das Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn zeigt sich von allerbester Seite, es legt Zeugnis ab von dem erfolgreichen Weg, den es mit Kaspar Zehnder in den vergangenen zehn Jahren zurückgelegt hat. Jetzt strebt der Chefdirigent nach neuen Ufern. Unter seiner Leitung hat das Orchester einen deutlichen Qualitätssprung vollzogen, das war in vielen der unter schwierigen Bedingungen, zum Beispiel in engen räumlichen Verhältnissen entstandenen Opernproduktionen zu erfahren, das war auch im Abschiedskonzert Kaspar Zehnders zu hören (hier vermerkt als Abend in dem wunderschönen Konzertsaal von Solothurn). Sehr bildhaft die Rumänische Rhapsodie Nr. 2 von George Enescu, farbenreich und brillant die «Nächte in spanischen Gärten» von Manuel de Falla mit der virtuosen Pianistin Judith Jáuregui, vital und klangschön die Achte Sinfonie Antonín Dvořáks. Der Leistungsausweis darf gezeigt werden.

 

Zürich – Streichquartett im sakralen Raum

;on wegen «Konzertsaal»: In Zürich wird für manches Konzert, für Kammermusik zumal, nicht die Kleine Tonhalle gemietet, sondern in die Kirche St. Peter ausgewichen. Der barocke Raum verfügt über eine reiche, füllige Akustik, die gerade das Streichquartett herrlich umhüllt, ohne die Transparenz zu erschweren. Eben erst bestätigte es sich wieder in einem der vier Quartettprogramme, welche die von Jürg Hochuli betreute Neue Konzertreihe Zürich von Frühsommer bis Frühherbst in St. Peter anbietet. Angesagt war das Schumann-Quartett, eines der berühmtesten unter den Ensembles jüngerer Generation. Es hat einen neuen Bratscher; Veit Herstenstein heisst er, und er passt haargenau zu den drei Brüdern Erik Schumann (Erste Geige), Ken Schumann (Zweite Geige) und Mark Schumann (Cello). Hertenstein passt darum so gut, weil er als Kammermusiker äusserst aktiv mitwirkt. Mit seinem kernigen Ton und seiner pointierten Artikulation verhilft er zusammen mit dem ohnehin aussergewöhnlich präsenten Sekundgeiger den Binnenstimmen zu einem Profil, das dem musikalischen Geschehen im Quartett spannendes Gleichgewicht verschafft. Nicht Erste Geige und Cello geben den von Zweiter Geige und Bratsche grundierten Ton an, alle vier gemeinsam tun es – das trifft man in dieser Ausprägung nicht alle Tage.

Geschwister auch im Programm: Fanny Hensel, geborene Mendelssohn, ging ihrem gut drei Jahre jüngeren Bruder Felix Mendelssohn Bartholdy auf dem Weg der Musik voran. Eine schöne Idee, die in der Verwirklichung jedoch nicht aufging. Fanny Cäcilie Mendelssohn Bartholdy hatte es bekanntlich nicht leicht. Als Frau blieb ihr die musikalische Laufbahn versagt, nämlich von der Familie untersagt, und als Künstlerin stand sie hinter ihrem Bruder zurück. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht, wie ihr Streichquartett in Es-dur von 1834 ahnen liess. Die Begabung ist klar zu hören, zugleich schliesst das Werk aber auch immer wieder und unverkennbar, in einzelnen Wendungen wie im Tonfall, an das neun Jahre zuvor entstandene Streicherokett in Es-dur des Bruders an. Dennoch setzte sich das Schumann-Quartett mit Verve für Fanny Hensel ein, besonders in der Romanze des dritten Satzes, in der die Viola voranging. Mit mehr Erfolg tat es Ensemble beim späten, nach dem Tod der Schwester komponierten Streichquartett in f-moll von Felix Mendelssohn Bartholdy. Die Interpretation orientierte sich eindeutig an der biographischen Situation, das geradezu orchestrale Forte, zu dem das Schumann-Quartett in der Lage ist, bot es an; ein weiter Bogen spannte sich zwischen dem zornigen Tränenausbruch im Kopfsatz und dem Grabgesang im Adagio. Beispielhafte Kammermusik war das. Am 21. August folgt das Pavel Haas-Quartett, am 11. September das Simply Quartet.

 

Basel – weiterhin im Aufbruch

Besonders quirliges Leben herrschte im grossartig renovierten Musiksaal des Basler Stadtcasinos, in dem das Sinfonieorchester Basel zusammen mit dem Gastdirigenten Jukka-Pekka Saraste zum Abschluss seiner sinfonischen Saison auftrat. Gut gefüllt der Saal und besetzt mit auffallend vielen jungen Menschen – wie schaffen das Hans-Georg Hofmann als Künstlerischer Direktor und Franziskus Theurillat als Orchesterdirektor? Vor mir drei Girls, die Mahlers Erste gewiss noch nie gehört hatten, die nach den Beckenschlägen aufgeregt wisperten und beim stürmischen Einsatz des Finales nach dem gemessenen Trauermarsch des dritten Satzes sichtbar erschreckten – die aber das Gebotene mit aller Aufmerksamkeit aufnahmen und heftig applaudierten. Ach ja, es wird bald aussterben, das Sinfoniekonzert…

Auch auf dem Podium wird in Basel das Gegenteil bewiesen. Das Sinfonieorchester Basel lebt weiterhin im Zeichen des Aufbruchs, obwohl (oder gerade weil?) sein Chefdirigent Ivor Bolton mehr durch Abwesenheit glänzt als durch das Gegenteil. In seiner Existenz als freies, wenn auch von der öffentlichen Hand unterstütztes Orchester gibt es seine zehn bisweilen doppelt geführten Abonnementskonzerte, bietet es aber auch ein breites Spektrum an Konzertformaten anderer Art, in denen es direkt auf sein angestammtes Publikum zugeht und gleichzeitig neue Hörerschichten anzusprechen sucht. Vor allem aber erwies es bei seinem Saisonbeschluss (vor einem wegen der Pandemie verschobenen Chorkonzert mit Hans Hubers Oratorium «Erfüllung und Weissagung» am 20. August) seine anhaltend hochstehende Form, und zwar in klanglicher wie in technischer Hinsicht.

Ganz eng an der Seite des Solisten Steven Isserlis stand das Sinfonieorchester Basel beim Cellokonzert von William Walton, einem für kontinentaleuropäische Ohren etwas seltsam wirkenden und dementsprechend selten gespielten Werk. Was Isserlis, ein Ausdrucksfanatiker erster Güte, aus der Partitur herausholte, wie er aus ihrer Schrägheit kein Hehl machte und, umgekehrt, ihre Kantabilität zu ungeschmälerter Wirkung brachte, war schon eindrücklich genug. Vollends trat das aber bei der Sinfonie Nr. 1, D-dur, von Gustav Mahler heraus, die Jukka-Pekka Saraste in gelassener Souveränität, dabei aber mit allem Temperament anging. Und als im Finale die Hornisten nicht nur ihre Schalltrichter in die Höhe hoben, sondern sich, wie es der Komponist verlangt, von ihren Sitzen erhoben, gab es sogar Ungewöhnliches zu sehen.

Seiltanz am Abgrund

György Kurtágs «Kafka-Fragmente»
mit Anna Prohaska und Isabelle Faust

 

Von Peter Hagmann

 

Da haben sich zwei gefunden; wiewohl in unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern wirksam, stehen sie sich nah. Anna Prohaska ist eine Sopranistin, die neue Musik mit derselben Leidenschaft pflegt wie alte und darum im hergebrachten Repertoire besondere Akzente setzt. Dasselbe tut die Geigerin Isabelle Faust mit ihrer Stradivari «Sleeping beauty» von 1704; sie arbeitet mit zielgerichteter Sorgfalt und stellt die kritischen Fragen, ohne die im Bereich der musikalischen Interpretation keine Kreativität entsteht. Jetzt haben sich die beiden in Berlin ansässigen Künstlerinnen zusammengetan, um für das Label Harmonia mundi die «Kafka-Fragmente» György Kurtágs aufzunehmen. In wenigen Tagen wird die CD greifbar sein, und dann dürfte sie auch auf den einschlägigen Webseiten erscheinen.

Das Stück ist Kult, wie es der Komponist selbst ist. Kurtág, inzwischen 96 Jahre alt, ist spät in der musikalischen Öffentlichkeit erschienen; der Dirigent Claudio Abbado hat ihm bei Wien Modern, der Konzertdirektor Hans Landesmann bei den Salzburger Festspielen die Türen geöffnet. Sein Œuvre ist überschaubar, enthält aber doch auch eine Oper. Seine musikalische Handschrift lebt von der verknappten Geste, welche die Dinge in einer ganz und gar persönlichen Weise auf den Punkt bringt. Mit vielen seiner Werke hat er regelrecht Geschichte geschrieben. Als «…quasi una fantasia…» op. 27., Nr. 1, für Klavier und Orchestergruppen 1990 beim Grazer Musikprotokoll unter der Leitung von Hans Zender aus der Taufe gehoben wurde, musste das Stück auf der Stelle wiederholt werden, ein einzigartiger Vorgang.

Auch die «Kafka-Fragmente» haben breite Beachtung gefunden – trotz (oder gerade wegen) der eigenartigen Besetzung für Singstimme und Violine. Textliche Basis der vierzig zum Teil ultrakurzen Nummern, deren Aufführung eine Stunde dichtester Konzentration auf dem Podium wie im Auditorium verlangt, bilden verstreute Sätze aus Briefen und Tagebüchern Franz Kafkas – teils undurchdringlich, teils unschlagbar treffend. Dass das zu frappanter Intensität führen kann, macht die formidable Auslegung durch Anna Prohaska und Isabelle Faust deutlich.

Die Sopranistin verfügt über ein Ausdrucksspektrum, das weit über den schönen Ton und das ausgebaute Legato hinausgeht; sie kann wispern und flüstern, kreischen und schreien, sie setzt sich schonungslos dem Singen ohne jedes Vibrato aus und wird handkehrum zur grossen Operndiva – fast alles im Rahmen von ein bis zwei Minuten. Die Geigerin steht ihr in nichts nach. Im lapidaren Beginn der Nummer 1, «Die Guten gehen im gleichen Schritt», spielt sie die unerhörte Schönheit ihres Instruments voll aus, um wenig später mit Kratzgeräuschen, gehauchten Flageolets, erschütternden Glissandi und raffinierten Doppelgriffen aufzuwarten. Den Höhepunkt bietet zweifelsohne die mit sieben Minuten längste Nummer 20, die, Pierre Boulez gewidmet, einen eigenen der vier Abschnitte ausmacht. Die Rede ist dort von einem Seil, das zum artistischen Akt einlädt, das in Wirklichkeit aber nur wenige Zentimeter über dem Boden verläuft und somit eher stolpern macht. Auch in einer solchen Situation kann sich existenzieller Seiltanz aufdrängen, György Kurtág, Anna Prohaska und Isabelle Faust lassen es erfahren.

György Kurtág: Kafka-Fragmente. Anna Prohaska (Sopran), Isabelle Faust (Violine). Harmonia mundi 902359 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2022).

Entdeckungen mit Telemann

Aufnahmen mit Musik des Barockmeisters

 

Von Peter Hagmann

 

Die Aufnahmen sind zum Süchtig-Werden; sie zählen zum Besten, was es von Georg Philipp Telemann zu hören gibt. Die Rede ist hier von seiner Ouvertüre «Wassermusik» und seiner «Alster-Ouvertüre» sowie dem Violinkonzert mit dem Beinamen «Die Relinge». «Ouvertüre» meint in diesem Fall eigentlich «Suite», die aus Frankreich übernommene Abfolge von Tanzsätzen, die hier aber mit sprechenden Titeln versehen sind und so eine Art früher Programmusik bilden. In der C-dur-Ouvertüre geht es um Wasser und Wind beziehungsweise um die mit diesen Elementen verbundenen Gottheiten, in der Gigue aber auch um die Gezeiten, was dieser Suite zu ihrem zweiten Beinamen «Hamburger Ebb und Fluth» verholfen hat. Noch eindeutiger kommt Hamburg, Telemanns langjähriger Wirkungsort, in der «Alster-Ouvertüre» zur Geltung. Die aus neun Teilen bestehende Suite schildert die Echos der Schiffshörner, das Läuten der Glockenspiele, die Dorfmusik am Ufer, ja sogar «die concertierenden Frösche und Krähen». Der New London Consort und sein am Cembalo agierender Leiter Philip Pickett machen sich in ihrer Aufnahme von 1996 den Spass, das Konzert der Tiere mit launigen Glissandi zu unterstreichen. Im übrigen zeigt das Ensemble rauschende Spiellust im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis. Opulent der Klang des klein besetzten Ensembles, das von einem üppigen Generalbass mit zwei Lauten, zwei Cembali und Orgel getragen wird; reich die Farbwirkungen der alten Instrumente, die auf den Kammerton von 415 Hertz gestimmt sind; explizit Artikulation und Phrasierung, was zu packendem musikalischem Erzählen führt. Am Ende der knapp 75 Minuten muss man sich zusammenreissen, damit man nicht gleich den Repeat-Knopf drückt.

Ist das nicht erstaunlich? Solche Hörlust bei Telemann? Dem Vielschreiber? Dem unermüdlichen Verfasser von Gebrauchsmusik für Hof, Bürgersaal und Kirche? Der Klischees sind viele bei diesem Komponisten, dessen Tod sich dieser Tage zum 250. Male gejährt hat. Der Musiker und Musikologe Siegbert Rampe, der auf diesen Anlass hin beim Laaber-Verlag eine magistrale Telemann-Biographie herausgebracht hat (vgl. NZZ vom 24.06.17),  nährt sie selber, wenn er darauf hinweist, dass es von Georg Philipp Telemann knapp 2000 Kantaten gebe, von Johann Sebastian Bach dagegen nur deren 200 – und daraus implizit den Schluss zieht, dass Telemann von den beiden der wichtigere sei. Tatsächlich war Telemann zu seiner Zeit der berühmteste Komponist Deutschlands, das lässt das bedeutende Buch Rampes sehr genau und in sorgfältiger Dokumentation nachvollziehen. Wo eine Position frei wurde, ging die Anfrage an Telemann – der darum beeindruckende Ämterkumulationen pflegen konnte. Als Hamburg einen neuen Musikdirektor benötigte, verhandelte die Freie und Hansestadt mit Frankfurt am Main, um den Begehrten an die Elbe zu bekommen. Leipzig wollte ihn kurze Zeit danach als Thomaskantor; Telemann lehnte ab, die Messestadt hatte das Nachsehen und musste sich mit Bach begnügen. Telemann wusste eben genau, wie er sich verkaufen konnte – und er wusste es bedeutend besser als Bach. Heute freilich gehört Telemann, anders als Bach, zu den Vergessenen; seine Musik ist bestenfalls in Umrissen bekannt.

Abhelfen möchte dem eine dreizehn CDs umfassende Box, die Warner aus gegebenem Anlass auf den Markt gebracht hat. Mit den für Darmstadt komponierten Ouvertüren, einer Reihe von Instrumentalkonzerten, mit einer Auswahl aus der «Tafelmusik» und den Pariser Quartetten, mit dem Oratorium «Der Tag des Gerichts» und der Oper «Pimpinone» enthält sie einen plausibel wirkenden Querschnitt durch das nicht zu überblickende Schaffen Telemanns. Der Vorteil, dass auch hier in historischer Praxis musiziert wird, gerät freilich, wenigstens partiell, zum Nachteil. Warner kann sich auf beeindruckende Kataloge stützen, zum Beispiel auf jenen von Teldec, wo Nikolaus Harnoncourt bis zur Schliessung des Labels alle seine Aufnahmen publiziert hat. Und so bringt diese Box eine Reihe reizvoller Archivschätze aus der Frühzeit des historisch informierten Musizierens ans Licht. Die Darmstädter Ouvertüren lassen den Concentus musicus Wien in Aufnahmen von 1966 und 1978 hören, Ähnliches gilt für die beiden Vokalwerke. In neueren Einspielungen liegen Instrumentalkonzerte mit den Berliner Barock-Solisten unter der Leitung von Rainer Kussmaul vor sowie, dies nun allerdings in exquisiter Darstellung, die Pariser Quartette mit einem Ensemble um die Geigerin Monica Huggett. Geradezu rührend wirken da die zwei Teile aus der «Tafelmusik», einer von Telemann selbst publizierten Sammlung von Instrumentalmusik unterschiedlicher Besetzung, mit dem Concerto Amsterdam unter der Leitung von Frans Brüggen. Die Musiker, unter ihnen der Trompeter Maurice André, agieren auf der Höhe der Zeit – aber eben ihrer Zeit, und das ist das Jahr 1964. Die Stimmung liegt auf den hergebrachten 442 Hertz, weshalb die Geige Jaap Schroeders dünn und das Cembalo Gustav Leonhardts trocken wirken. Bei aller Ehrfurcht vor den Leistungen, mit denen die Pioniere der historisch informierten Aufführungspraxis Geschichte geschrieben haben: eine geglückte Heranführung an die Musik Telemanns klingt anders.

Sie klingt zum Beispiel so, wie es das Freiburger Barockorchester in seiner Gesamtaufnahme der «Tafelmusik» zum Besten gibt. Ohne teleologischem Denken zu verfallen, muss doch gesagt werden, dass sich die historisch informierte Aufführungspraxis in den vergangenen fünfzig Jahren nicht nur gewaltig, sondern vor allem auch zu ihrem Guten verändert hat. Auf dem heute üblichen, aus der Barockzeit stammenden Kammerton von 415 Hertz klingen die Darmsaiten der Streichinstrumente wesentlich entspannter und darum weicher wie voller; ein einzelner Violone kann unter diesen Voraussetzungen eine staunenswerte Basswirkung erzielen. Dasselbe gilt für die Generalbassinstrumente, namentlich die Cembali. Dazu kommt der ganz selbstverständliche und darum freie Umgang mit den Instrumenten wie ihren Spielweisen – ja mit den Partituren an sich. Das alles macht das Eintauchen in die drei Teile der «Tafelmusik» mit ihren Abfolgen von Suiten, Instrumentalkonzerten und Stücken für Kammerbesetzung zu einem grossartigen Erlebnis. Es lässt erfahren, dass Telemann tatsächlich ein Vielschreiber war, aber einer, der sein Metier so beherrschte, dass ihm das unablässige Komponieren überhaupt erst möglich wurde. Vor allem aber lassen die Aufnahmen aus Freiburg darüber nachdenken, mit welch wachem Geist für die Strömungen seiner Zeit und mit welch unerschöpflicher Phantasie Telemann sein Metier bereicherte. Telemanns Musik gehört entdeckt, da kann man Siegbert Rampe nur zustimmen. Ob er der bedeutendere Komponist als Bach gewesen sei, darf als Frage ruhig dahingestellt bleiben.

 

Musik von Georg Philipp Telemann auf CD:

  • Ouvertüre in C-dur «Wassermusik» oder «Hamburger Ebb und Fluth» TWV 55:C3, Violinkonzert in A-dur «Die Relinge» TWV 51:A4, Ouvertüre in F-dur «Alster-Ouvertüre» TWV 55:F11. New London Consort, Philip Pickett (Leitung). Decca 455621-2.
  • Telemann, the collection. Darmstädter Ouvertüre, Instrumentalkonzerte, Tafelmusik (Auszüge), Pariser Quartette, Kammermusik, «Der Tag des Gerichts» (Oratorium), «Pimpinone» (Oper). Diverse Interpreten. Warner Classics 0190295860134 (13 CDs).
  • Tafelmusik (Gesamtaufnahme). Freiburger Barockorchester, Petra Müllejans und Gottfried von der Goltz (Leitung). Harmonia mundi 902042.45 (4 CDs).

Carl Maria von Weber – und sein Interpret René Jacobs

Packend, überraschend: «Der Freischütz» in
einer neuen Aufnahme

 

Von Peter Hagmann

 

Damals, in ihren kämpferischen Anfängen Mitte des 20. Jahrhunderts, wurde die historisch informierte Aufführungspraxis oft und gern auf die sogenannte Texttreue reduziert. Man glaubte und hielt der Bewegung vor, es gehe einzig und allein um den Buchstaben und somit um die Ausschaltung des Interpreten, das Ziel bestehe im Verzicht auf die individuelle Regung des ausführenden Musikers und in der Fokussierung auf die schriftlich festgehaltene Werkform und deren historisch fundierte, quasi objektive, mithin «richtige» Umsetzung in Klang – wie wenn das möglich wäre.

Das Gegenteil war gemeint. Der Rückgriff auf die Quellen diente natürlich schon der Desavouierung des Mainstream, wovon etwa der vehemente Einspruch Nikolaus Harnoncourts gegen etablierte, verehrte Grössen wie Karl Richter oder Karl Böhm zeugt. Darüber hinaus diente die Beschäftigung mit den Quellen – will sagen: mit den Notentexten wie deren Umgebung – jedoch stets der Erneuerung des interpretatorischen Gedankens und der Stärkung der logischerweise subjektiven Aussage des Interpreten. Der Stärkung durch Annäherung ans Werk.

Einer, der dieses Selbstverständnis seit jeher vertreten hat, ist René Jacobs, der ehemalige Countertenor und heute vielbeschäftigte, höchst erfolgreiche Dirigent. Die Texte, die er in der Regel zu seinen Projekten verfasst, lassen es erkennen. Und die Interpretationen bestätigen es – handle es sich um Sinfonien von Haydn oder Schubert, um Chorwerke von Bach oder Beethoven, um Opern von Monteverdi oder Mozart. Auf der Basis einer kraftvollen interpretatorischen Subjektivität warten die meisten seiner Auftritte wie seiner zahllosen CD-Aufnahmen mit erheblichen Überraschungen auf, jeweils in Verbindung mit Erläuterungen, warum es zu diesen Überraschungen kommt.

So jetzt auch beim «Freischütz» Carl Maria von Webers, der soeben von Harmonia mundi, dem Major unserer Tage, als Studioproduktion auf CD publiziert worden ist (ein Wunder, dass es so etwas noch gibt). Nach der sehr dunkel gefärbten Ouvertüre, die in der Coda aber doch explodiert, hebt das Stück nicht mit einem Schuss und dem gewohnten «Viktoria»-Chor an, sondern mit einem Auftritt des Eremiten, der gewöhnlich erst am Schluss der Oper als Deus ex machina die Sache zum Guten wendet. Diese Konstellation ist freilich nicht im Sinne Webers. Das Libretto von Friedrich Kind, das der Komponist ganz ausserordentlich schätzte, sieht diesen ersten Auftritt des Eremiten durchaus vor, doch hat ihn Weber auf die dringende Empfehlung seiner Gattin hin gestrichen – zähneknirschend, wie René Jacobs herausgefunden hat.

Aufgrund dieser Faktenlage schlug sich der Interpret kurzerhand auf die Seite des Komponisten. Jacobs empfindet den Auftritt des Eremiten zu Beginn als dramaturgisch zwingend, weshalb er ihn ganz einfach wieder eingeführt hat. Beigezogen hat er dafür Musik, die an anderer Stelle der Oper erscheint, und er tat das so, dass man sich ganz bei Weber wähnt. Im weiteren Verlauf des «Freischütz» findet sich zudem jene Romanze, in welcher der fürstliche Erbförster Kuno den Umstehenden erklärt, wie es zu dem heiklen Brauch des Probeschusses gekommen ist. Auch diesen Text hat Weber nicht vertont, weshalb er in der Aufführung gesprochen werden muss. Jacobs hat aus dem Sprechtext eine Arie gemacht, indem er ein passendes Stück aus Franz Schuberts Oper «Des Teufels Lustschloss» umtextiert hat. Grossartige Idee – und reizend, zumal Kuno hier doch noch zu einer Arie kommt und die von Matthias Winckhler ebenso sorgfältig dargeboten wird, wie es Christian Immler als Eremit tut.

Vor allem aber hat René Jacobs gemeinsam mit Martin Sauer, dem Aufnahmeleiter aus dem Berliner Teldex-Studio, den Text Kinds subtil bearbeitet: ihn sprachlich an die Gegenwart angenähert und so konkretisiert, dass die Figuren klar zu fassen sind. «Der Freischütz» als Hörspiel, das war die Ambition – und tatsächlich lebt die Oper in dieser Aufnahme von einem ausgesprochen spannenden Verlauf. In erster Linie, aber keineswegs ausschliesslich, sorgt dafür das Freiburger Barockorchester mit seinen «alten» Instrumenten und der entsprechenden Spielweise. Kernig und spritzig in der Attacke, dabei aber nirgends hart klingen die Streicher; wenn in der Ouvertüre die Celli die Terzenseligkeit der Hörner mit einer scharfen Dissonanz aufbrechen, tun sie das mit Nachdruck, aber ohne das Erschrecken, das Nikolaus Harnoncourt an dieser Stelle gesucht hat. Die Bläser wiederum erscheinen weniger eingebettet, als dass sie, zumal in der Wolfsschlucht, mit ihren Farbgebungen deutliche Akzente setzen.

Getragen wird diese aussergewöhnliche, Massstäbe setzende Produktion von einem sehr charakteristisch besetzten Vokalensemble (dem die Zürcher Singakademie würdige Partnerschaft bietet). Maximilian Schmitt gibt den tragischen Max mit viel, auch schönem Vibrato, das er in den Momenten der Verzweiflung seiner ersten Arie zu dramatischer Expansion nutzt – aufgescheucht von Samiel (dem Sprecher Max Urlacher), der hier und nicht nur hier, der Anlage als Hörspiel entsprechend, mit bedrohlichen, von perkussiven Geräuschen begleiteten Zurufen eingreift. Ähnlich die stimmliche Anlage bei Polina Pasztircsák, die «Leise, leise fromme Weise» im zweiten Aufzug zu wunderbarer Wirkung bringt, während Ännchen bei  Katerina Kasper klare Züge der Emanzipation zeigt. In vergleichbarer Weise forsch, mit stolzem Glanz, der Bauer Kilian von Yannick Debus, gerade in der Konfrontation mit Max im ersten Aufzug. Dem düsteren Kaspar schliesslich leiht Dimitry Ivashchenko eine ausnehmend schwere, doch auch agile Stimme. Dass der Dirigent im ersten Terzett, wo Kaspar vom kecken Wagen spricht, das Tempo für einen Moment reduziert, um den Sänger die verständliche Ausführung seiner schnellen Bewegung zu ermöglichen – ist es Deutung? Pragmatismus? Ein kleiner Scherz? René Jacobs ist alles zuzutrauen.

Carl Maria von Weber: Der Freischütz. Maximilian Schmitt (Max), Dimitry Ivashchenko (Kaspar), Yannick Debus (Kilian), Polina Pasztircsák (Agathe), Kateryna Kasper (Ännchen) u.a. Zürcher Singakademie, Freiburger Barockorchester, René Jacobs (Dirigent). Harmonia mundi 902700.01 (2 CD, Aufnahme 2021, Publikation 2022).