«Amerika» – 1914, 1964, 2024

Roman Haubenstock-Ramatis visionäres
Musiktheater im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Es ist kaum zu glauben. Wer das Stück in der phänomenalen Produktion des Opernhauses Zürich erlebt, könnte es für eine Schöpfung unserer Tage halten. Tatsächlich aber stammt «Amerika» von Roman Haubenstock-Ramati aus den Jahren 1962 bis 1964 – dass das Werk bei seiner Uraufführung an der Deutschen Oper Berlin, deren Intendant Gustav Rudolf Sellner es in Auftrag gegeben hatte, einen Skandal auslöste, erstaunt nicht. «Amerika» nach dem unvollendeten Roman Franz Kafkas ist das Gegenteil einer Literaturoper, ja einer Oper überhaupt; in seiner Radikalität war Haubenstock-Ramatis musiktheatralischer Entwurf seiner Zeit um Lichtjahre voraus. Das mag auch verstehen lassen, warum das radikale Stück nach der Uraufführung bisher nur zweimal auf die Bühne gekommen ist, 1992 als eine verdienstvolle Tat des damaligen Intendanten Gerhard Brunner (und mit dem Haubenstock-Schüler Beat Furrer als Dirigenten) an der Oper Graz und dann 2004 in Bielefeld.

«Amerika» basiert auf einem Libretto, das vom Komponisten selbst anhand einer Dramatisierung von Kafkas Roman durch Max Brod erstellt worden ist. Es handelt von einem Mittelschüler namens Karl Rossmann, der von seinen Eltern auf die Straße gestellt worden ist, nachdem ihn ein im Haushalt tätiges Dienstmädchen erfolgreich und folgenreich verführt hat. Die Geschichte wird allerdings nicht linear als ein in sich geschlossener, logischer Ablauf erzählt. Er empfinde, so hält Haubenstock-Ramati im Vorwort zur Partitur fest, Kafkas Roman als das «Bild eines Traums», in dem sich Reales, Eindeutiges mische mit Verwischtem, Unklarem. Der Erzählstrang ist daher ersetzt durch eine rasche Abfolge von Episoden – von Momentaufnahmen, die sich in der Gesamtschau zwar zu einem erkennbar nach unten führenden Weg fügen, deren eigentliches Dasein jedoch in immer wieder aufs Neue überraschenden Wendungen liegt. In Wendungen übrigens, die das Zynische nach der Art des klassischen jüdischen Witzes in sein chaplineskes Gegenteil kehren. Darin liegt die eine Seite des manifesten Unterhaltungswerts von Haubenstock-Ramatis «Amerika».

Zur Diskontinuität aufgesplittert, und hierin ist die andere Seite des kitzligen Vergnügens begründet, sind auch die Mittel und Wege der musikalischen und szenischen Vermittlung. Gewiss, es gibt eine Bühne, sogar eine Guckkastenbühne, und einen Graben mit einem Orchester darin. Indessen greift «Amerika» weit über die hergebrachte Disposition eines Opernhauses hinaus. Was Haubenstock-Ramati komponiert hat, ereignet sich überall im Raum, oben wie unten, hinten wie vorne und an den Seiten. Vieles davon wird nicht ad hoc erzeugt, sondern stammt aus vorab erzeugten Aufnahmen; für die Sprechchöre zum Beispiel greift das Opernhaus Zürich auf Material, das mit dem Wiener Vokalensemble Nova unter der Leitung von Colin Mason für die Aufführung von Bielefeld entstanden und hier einer technischen Aufbereitung unterzogen worden ist. Ausser Kraft gesetzt ist auch die in der Oper übliche Dominanz der Kantilene. Gesungen wird kaum, eher wird deklamiert; wenn dann aber doch gesungen wird, geschieht es zum Teil in halsbrecherischen Koloraturen: Gesang an der Grenze zum Singbaren.

Das alles wird vom Team des Opernhauses Zürich unter der Leitung des in diesem Repertoire erfahrenen Dirigenten Gabriel Feltz und unter Mitwirkung der Tontechniker Oleg Surgutschow (Klangregie) und Raphael Paciorek (Sounddesign) in erstklassiger Qualität dargeboten. Haubenstock-Ramatis Stück war in Zürich ja nicht zum 200. Todestag Kafkas 2024 geplant, sondern weit früher, in jenem Jahr, da die Pandemie ausbrach und eine Aufführung von «Amerika» bestenfalls als Streaming hätte gezeigt werden können. Weil der Effekt des Räumlichen in diesem Fall zu sehr gemindert worden wäre, wurde die Produktion verschoben. Gleichzeitig hat sich die Zürcher Oper zur Zeit der verordneten Schliessung eine Surround-Anlage vom Feinsten eingerichtet, um den Klang von Chor und Orchester aus der extern gelegenen Probebühne in den Zuschauerraum zu übertragen – eine Investition, die sich schon damals, jetzt aber erneut ausgezahlt hat.

Multimedialität der besonderen Art herrscht in dieser Produktion von «Amerika» denn auch auf der Bühne. Bild, still und bewegt (eindrucksvoll die Videos von Robi Voigt), Licht (Elfried Roller), Szenerie (scharf charakterisierend die Kostüme der Ausstatterin Christina Schmitt), Aktion und Laut verbinden sich in eigenartiger Dichte – und das in forderndem Tempo. Die von Takao Baba choreographierten Tanzeinlagen sind von hypnotisierender Anziehungskraft: sagenhaft, was die zwölf Tänzerinnen und Tänzer leisten. Und grossartig, wie deren Art der körperlichen Agilität auf das musikalisch tätige Ensemble ausstrahlt: Alle bewegen sie sich so, wie es Opernsängerinnen, Opernsänger niemals täten. Dazu die durch die Verstärkung unterstützte Kraft der Diktion, in der die Konsonanten für einmal wichtiger sind als die Vokale. So kommt es zu starken Auftritten. Sie verteilen sich über das ganze Ensemble; herausragend etwa Ruben Drole oder Robert Pomakov, die mit ihren kraftvollen Timbres den von ihnen verkörperten autoritären Figuren bedrohliche Züge verleihen.

Da kommt er also an in jenem Amerika, in dem sich zu verlieren Karl Rossmann verurteilt ist. Den Koffer lässt er fürs erste stehen, weil er seinen Schirm vergessen hat. Auf der Suche begegnet er einer Unmenge an gehetzten Menschen und verirrt sich. Im Untergrund des Schiffs klärt ihn der Heizer über die wahren Verhältnisse im Land der grossen Träume auf. Und schon steht er vor den Zollbeamten, die als brutal schnarrende Roboter erscheinen. Nicht Freiheit und unbegrenzte Möglichkeiten zählen als Grundlage des Daseins, im Vordergrund stehen vielmehr Macht und deren Ausübung – selbst bei Klara (der zierlichen Mojca Erdmann mit ihrer silberhellen Stimme), die den unbeleckten Jüngling aufs Grausamste quält. Und der, Paul Curievici zeichnet das gekonnt nach, verliert mehr und mehr seine (noch schwach ausgebildete) Individualität, passt sich in Gang und Geste zunehmend seiner Umgebung an. Das sehr durchzogene Bild von der Neuen Welt, das Kafka zeichnet, bringt Haubenstock-Ramati scharf auf den Punkt. Sebastian Baumgarten denkt es scharfsinnig weiter. In seiner Inszenierung erscheint «Amerika» als die erheiternde Revue, die das Stück sein will – als ein Kaleidoskop, dessen wilde Drehungen einen schwindlig machen. Zugleich treten jedoch von Beginn an die Züge jener hässlichen Fratze, mit der wir uns mehr und mehr konfrontiert sehen, in Erscheinung. Womit «Amerika» von 1914 und 1964 endgültig bei Amerika von 2024 angelangt ist.

Oper ohne Gesang

«Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy als Sinfonische Dichtung in Genf

 

Von Peter Hagmann

 

Als Ende Februar 2020 Covid-19 um sich zu greifen begann, mussten die kulturellen Institutionen ihre Häuser schliessen. Zur Untätigkeit gezwungen war auch Jonathan Nott – doch der britische Dirigent aus der Schweiz, seines Zeichens musikalischer und künstlerischer Direktor des Orchestre de la Suisse Romande in Genf, liess sich dadurch nicht in die Enge treiben. Er zog sich zurück auf die Musik an sich und versenkte sich in sein Herzensstück seit früher Zeit, in «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy. Warum nicht, das war seine Frage.

Genauer: Warum nicht das Drame lyrique von 1902 für den Konzertsaal gewinnen? Natürlich nicht auf dem Weg der konzertanten Aufführung, sondern vielmehr in der Form eines eigenen Werks: als eine zusammenhängende Folge von Abschnitten aus der durchkomponierten Oper. Einrichtungen solcher Art waren in den Jahren vor und nach 1900 an der Tagesordnung, man denke etwa an das Ballett «Daphnis et Chloé» von Maurice Ravel, aus dem der Komponist selbst zwei Suiten zum Gebrauch im Konzertsaal zog. Auch zu «Pelléas et Mélisande» gibt es derlei Einrichtungen, die berühmteste unter ihnen stammt von dem österreichischen Dirigenten Erich Leinsdorf. Die Bearbeitungen dieser Art gehen von den zahlreichen instrumentalen Teilen in Debussys Partitur aus. Jonatan Nott hatte jedoch etwas anderes im Sinn.

Er wollte die Oper als eigenen, vollgültigen Kosmos auf dem Konzertpodium verankern, und dies in rein instrumentaler Ausführung. Kürzung auf eine in der Praxis vertretbare Konzertlänge war also angesagt – und zugleich eine Erweiterung der Orchesterpartitur durch all das an Ausgesprochenem, Angedeutetem und vor allem leitmotivisch Notwenigem, was inneren Zusammenhang schafft. Trotz der Kürzungen sollte die Oper in ihrer Ganzheit, in ihrer immanenten Spannung, auch dramaturgischen Logik erlebbar werden. In welchem Masse das gelungen ist, erwies eine noch im November 2020 entstandene Aufnahme, deren besonderer Reiz ausserdem darin besteht, dass das kondensierte und intensivierte Werk Debussys mit dem fast zu gleicher Zeit entstandenen Poem «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönbergs kombiniert ist – was zu spannenden Vergleichen einlädt.

Auf dem Markt fand das zwei Compact Discs umfassende Projekt aus dem Hause Pentatone gute Resonanz. Es kam sogar auf die Vierteljahresliste im Preis der deutschen Schallplattenkritik. Und auch im Netz ist die Aufnahme greifbar, selbst, was offenbar noch nicht bis zur Administration des Orchesters durchgedrungen ist, auf dem französischen Portal Qobuz und bei dem bedeutenden, auf klassische Musik spezialisierten Anbieter Idagio. Inzwischen jedoch, beinahe drei Jahre nach der Aufnahme, ist «Pelléas et Mélisande» in der von Jonathan Nott stammenden Einrichtung als Sinfonische Dichtung auch im Konzert vorgestellt worden – als Uraufführung notabene in der Genfer Victoria Hall. Ein grosser, mit lebendiger Zustimmung aufgenommener Moment.

Die Live-Aufführung stellt den Effekt, den die rein orchestrale Erzählung der Oper Debussys intendiert, in besonders helles Licht. Zumal sich das Orchestre de la Suisse Romande und sein Musikdirektor in Bestform präsentiert haben. Jonathan Nott hat die Musik Debussys in der Tiefe seines Inneren verankert; die Verdichtung erlaubt ihm, innerhalb einer knappen Stunde sehr nah an den Kern des Werks heranzukommen. Und die seine Musikalität prägende Neigung zum Dramatischen tut in einem solchen Moment das Ihre. In geschmeidigen Tempi und natürlichem Zug entfaltete sich die schauerliche Geschichte; die Seelenzustände, die der alte, verzweifelte Golaud, die ganz junge, scheue Mélisande und der naiv feurige Pelléas exponieren, sie waren förmlich mit Händen zu greifen – und dies in einem Wechselbad zwischen aufschäumender Liebe, bedrohlichem Misstrauen und Tod. Unerhört spannend geriet das, geradewegs zum Anhalten des Atems. Allerdings, je besser man die Oper Debussys kennt, desto mehr kann man in der Sinfonischen Dichtung erleben.

So ausgezeichnet gelungen ist die Aufführung, weil das Orchester und sein Dirigent auf der gesicherten Basis einer deutlich hörbaren Gemeinsamkeit agieren. Alle atmen sie gemeinsam, alle streben nach Identifikation, alle geben ihr Bestes. In einem warmen, geradezu üppigen Gesamtklang finden die einzelnen Farben zu leuchtender Präsenz; reich ist das Ausdrucksspektrum zwischen der Sensibilität der klanglichen Feinzeichnung und der dramatischen Eruption – wobei auch in den Momenten der Kraft Balance und Schönheit gewahrt bleiben. Bekanntlich versteht sich das gerade keineswegs von selbst.

Vorzüge solcher Art bestätigten sich, nun in ganz anderer Sprache, bei Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 in G-Dur. In Kit Armstrong war hier sehr kurzfristig ein geradezu sensationeller Einspringer für die aus gesundheitlichen Gründen verhinderte Maria João Pires gefunden worden. Der sagenhaft begabte, auch stilistisch in hohem Ausmass versierte Pianist überraschte mit sorgfältiger Lesart der Partitur und manch überraschender Artikulation, ausserdem mit einem leichten, hellen Ton am Steinway. Während Orchester wie Dirigent ihm in berührender Weise nahe blieben.

Allein, genau jetzt, da das Orchestre de la Suisse Romande und Jonathan Nott definitiv in die gleiche Strasse eingebogen sind und die Fruktifizierung ihren Lauf genommen hat, wird von der Trägerschaft des Orchesters mitgeteilt, dass der 2017 als unbefristet geschlossene Vertrag zwischen den beiden Partnern auf den 1. Januar 2026 beendet werden soll. Im März 2026 soll noch eine Tournee folgen, Jonathan Nott wird sie dann aber als «chef invité» leiten. Fast ein Jahrzehnt an der Spitze eines Orchesters sind genau das Richtige, am besten geht man, wenn es am schönsten ist – derlei lässt sich dazu sogleich anführen. Nur: Die Trennung von Jonathan Nott erfolgt in einem nicht unproblematischen Klima.

Vor eineinhalb Jahren trug ein regionaler Fernsehsender die (gewiss hohe, aber keineswegs unübliche) Gage des Dirigenten an die Öffentlichkeit getragen, was eine lebhafte, wenn auch wenig produktive Debatte auslöste – ist hier etwa ein Kesseltreiben in Gang gesetzt worden? Der Verdacht liegt darum nahe, weil sich beim Orchestre de la Suisse Romande in den vergangenen zwei Jahrzehnten eigenartige Personalbewegungen gehäuft haben – vom missglückten Versuch, dem Orchester einen seinem Niveau nicht entsprechenden Dirigenten aufzudrängen über die zahllosen, raschen Wechsel in der Geschäftsführung bis hin zu dem kostspieligen Abgang eines Orchesterdirektors schon nach wenigen Monaten der Tätigkeit. Welcher Art die Gründe hinter der jüngsten Personalie seien, ob der Wechsel am Grand Théâtre auf die Saison 2026/27 eine Rolle spiele, es muss offen bleiben. Klar ist nur, dass ein künstlerisches Projekt abgebrochen wird, das dem Orchester eine neue Perspektive wie kaum mehr seit der Ära mit Armin Jordan verschafft hat.

Der dritte Weg

Abschluss von Wagners «Ring des Nibelungen» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Brünnhilde (Camilla Nylund) und Hagen (David Leigh) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

«Vollendet das ewige Werk» – so verkündet es Wotan zu Beginn der zweiten Szene von «Rheingold», dem Vorspiel zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen». Geschätzte fünfzehn Stunden später, am Ende der «Götterdämmerung», liegt alles in Schutt und Asche. Da sitzt er nun wieder träumend in seinem Sessel, den Schlapphut auf dem Kopf und den noch (oder wieder) heilen Speer in der rechten Hand. Der mächtige Bilderrahmen vom Beginn, der den Blick auf die von den Riesen erbaute Burg eingefasst hat, ist inzwischen leer. Wenig später füllt er sich wieder mit dem jetzt allerdings im Vollbrand stehenden Bau, Theaternebel von links und rechts wird hereingeblasen, orange flackerndes Licht dazugegeben, während die wie stets hervorragende technische Abteilung von Sebastian Bogatu sogar einen lichterloh brennenden Statisten über die Bühne eilen lässt.

Auch hier, wie beim Drachen und der Kröte, wie beim Baum Hundings und Brünnhildes Felsen in früheren Phasen des Geschehens, mochte der Regisseur Andreas Homoki nicht auf die von Wagner vorgegebenen und vom Publikum bis heute erwarten Effekte verzichten. Er hätte sich dadurch allzu sehr in die Nähe jener auf Reduktion und Abstraktion fokussierten Bühnenästhetik begeben, die von Wieland Wagner ab 1951 in Neu-Bayreuth als Markenzeichen gepflegt wurde und in der Folge weite Kreise zog – bis hin zur letzten Zürcher Inszenierung von Wagners «Ring», jener von Robert Wilson aus den Jahren 2000 bis 2002, die genau diesen Ansatz verfolgt hat. Die leere Bühne war also ausgeschlossen.

Ebenso ausgeschlossen war freilich, daran hat Homoki von Anfang an keinen Zweifel gelassen, ein Ansatz im Geist des Regietheaters, das sich seit dem zur Legende gewordenen «Jahrhundert-Ring» mit Patrice Chéreau (und Pierre Boulez am Dirigentenpult) zum hundertsten Geburtstag der Bayreuther Festspiele im Sommer 1976 der Tetralogie bemächtigt hat. Dort richtete sich der Blick auf die sozialen und politischen Verhältnisse, in deren Zeichen «Der Ring des Nibelungen» entstanden ist. Leicht liessen sich die hieraus gewonnenen Erkenntnisse auf die Gegenwart der Aufführung übertragen: der «Ring» als Plattform aktueller Gesellschaftskritik, Wotan mit dem Aktenkoffer als Chef der Walhalla AG. Durchkreuzt wurde diese eifrig benützte Schiene der Deutung von der sich auch auf der Bühne des Musiktheaters ausbreitenden Tendenz zur Dekonstruktion; sie führte in ein Chaos, die immer häufiger die Frage aufkommen liess, ob sich in Sachen «Ring des Nibelungen» nicht eine Aufführungspause aufdränge.

Von all dem liess sich Andreas Homoki nicht beirren. Stracks suchte er den Befreiungsschlag, ging auf Feld eins zurück – und gewann, wie jetzt auch die «Götterdämmerung» erwies. Zwar gab es einen Anklang an die Entstehungszeit der Tetralogie, hatte der Ausstatter Christian Schmidt die Drehbühne doch mit Wänden in gründerzeitlicher Anmutung versehen; geschickt eingerichtet sorgte sie auch im letzten der vier Teile für Geschmeidigkeit in der Abfolge der Spielorte, und die merklich abgeblätterten Farben zeigten an, dass hier eine Ära, jene der Lichtalben, ihr Ende zu finden im Begriff steht. Ebenfalls zu entdecken war ein Hinweis auf den leeren Raum von Neu-Bayreuth: in der Sparsamkeit der Ausstattung. Auch in der «Götterdämmerung» sind nur wenige, mächtige Requisiten im Einsatz, so dass reichlich Bewegungsfreiheit herrscht und sich sogar der ausgezeichnete, klangvoll wie linienklar wirkende Oprnchor (Einstudierung: Ernst Raffelsberger) ohne Enge zurechtfindet. In seinen Auftritten wird übrigens manifest, wie an diesem weit ausholenden Theaterabend Bühnenleben entsteht. Die Chormitglieder sind allesamt als Individuen ausgestaltet, dies ganz im Geiste Walter Felsensteins, einem der Ahnen Homokis.

Hier, in einem sozusagen dritten Weg, liegt das Fundament der neuen Zürcher Inszenierung von Wagners «Ring». Befreit von szenischem Ballast und interpretativem Überbau wird die Geschichte ganz und gar aus den Figuren heraus erzählt. Und das bis in die hintersten Winkel des Geschehens, wie etwa die kleine Partie der Gutrune erweist. Sehr pointiert gibt sie die Australierin Laren Fagan, die gewinnend singt und hervorragend deklamiert, als eine junge, naive, etwas verklemmte Frau, die von dem ihr weit überlegenen, jedoch durch einen Trank betäubten Siegfried erst geblendet wird, an ihm dann aber nach und nach Statur findet. Ganz ähnlich, wenn auch in der gegenteiligen Richtung, Gutrunes Bruder Gunther, der, Daniel Schmutzhard verkörpert das trefflich, als ein Weichei mit übersteigertem Selbstbewusstsein erscheint. Sie sind Marionetten, die beiden Gibichungen. Denn im Zentrum steht er: Hagen.

Alle anderen überragend, in einen bodenlangen schwarzen Mantel gehüllt, unter dem aber doch eine Nibelungen-golden verkleidete Brust hervorglänzt, mit zottigem Schwarzhaar versehen, bisweilen hämisch grinsend, erscheint er als der Böse, wenn nicht das Böse schlechthin. David Leigh bringt das blendend über die Rampe. Er kann auch auf eine nachtschwarze stimmliche Tiefe setzen, die keinerlei Schwäche kennt – nur die Deklamation, zumal die Formung der Vokale, die lässt doch sehr zu wünschen übrig. In seiner Rechten trägt er einen langen Speer, jenem Wotans nachgebildet, nur, was Wunder, mit schwarzem Schaft. Und in seiner Brusttasche findet sich für jeden Zweck das passende Fläschchen. Sein Ziel liegt blank auf der Hand, sein Vater Alberich (Christopher Purves) muss ihn nicht extra motivieren: Es ist die definitive Vernichtung jener ehemals herrschenden, nun noch durch Siegfried repräsentierten Schicht, die auf krummen Wegen in den Besitz des Wunder wirkenden Rings gekommen ist. Der Plan geht freilich nicht auf, am Ende wird Hagen durch die drei Rheintöchter kurzerhand aus dem Fenster in die Fluten des Rheins gestürzt.

Das alles wird in derart packender Weise vorgeführt, dass man sich als Zuschauer (und als Zuhörerin) restlos gebannt auf die Geschichte einlässt. Sich am Bühnenrand paarende Krokodile wie in Frank Castorfs Bayreuther «Ring»-Inszenierung von 2013 gibt es in Zürich nicht zu sehen, dafür den Entwurf einer Welt, der zwar hundertfünfzig Jahre alt ist, aber nicht wenig mit dem Hier und Jetzt zu tun hat. Genährt wird die Verwirklichung dieses Entwurfs von einem Paar, das man sich genuiner nicht vorstellen kann. Mit ihrem kraftvollen Timbre und ihrer sagenhaften Bühnenpräsenz sorgt Camilla Nylund als Brünnhilde energisch für Ordnung. Ihrer Schwester Waltraute – Sarah Ferede meistert ihren Auftritt überragend – bietet sie standfest die Stirn, die schwarz gekleideten Mannen rund um Hagen weiss sie in ihrem blütenweissen Gewand jederzeit zu zähmen, ihren Kampf um die Wahrheit hält sie mit einer Unbeirrbarkeit sondergleichen aufrecht. Ihr gegenüber steht mit Klaus Florian Vogt ein Siegfried, der sich in dieser Produktion stimmlich wie darstellerisch grandios wandelt. In der «Walküre» als Kind und als Pubertierender eher lyrisch angelegt, nimmt er in der «Götterdämmerung», wo er seiner gewiss wird und es trotz der benebelnden Getränke Hagens bleibt, nach und nach heldisches Format an – als künstlerische Leistung ist das schlicht überwältigend.

Getragen, nein: klar mitgestaltet wird diese «Götterdämmerung», wie es in den Teilen zuvor war, vom Orchester, der Philharmonia Zürich, unter der Leitung von Gianandrea Noseda. Mit dem Einsatz des tiefen Blechs, das sich auch hier und hier erst recht, lautstark über alles hinwegsetzt, werde ich mich nie anfreunden können. Die einseitige Gewichtung stört die Balance, ja die musikalische Struktur – etwa dann, wenn das trötende Blech aus der Tiefe einen zarten Akkord der Holzbläser, mit dem ein Leitmotiv anhebt, verdeckt und zerstört. Nicht zu überhören ist jedoch, dass Noseda, der hiermit seinen ersten «Ring» hinter sich gebracht hat, sehr überzeugend in die Partitur hineingewachsen ist, viele Verästelungen hörbar macht und mit herrlichsten Farbwirkungen aufwartet. Zumal am Ende, da das Unheil, das vom Ring des Nibelungen ausging, im Rhein versunken ist und die nunmehr allein dastehenden weissen Wände an einen Neubeginn, vielleicht gar einen besseren, denken lassen. Das wär dann die Moral von der Geschicht.

Mit Charles Gounod zwischen Himmel und Erde

«Roméo et Juliette» im Stadttheater Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Zwölf Opern hat Charles Gounod geschrieben. Praktisch nichts davon ist geblieben, keines dieser Werke hat die Popularität der Cäcilienmesse oder gar des «Ave Maria» zum C-Dur-Präludium aus dem ersten Band von Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier erreicht. Eine einzige Ausnahme gibt es – leicht zu erraten: «Roméo et Juliette». Das fünfaktige Drame-lyrique, 1867 in erster Fassung in Paris, im Théâtre-Lyrique an der Place du Châtelet, aus der Taufe gehoben, wird von allen Seiten geliebt, nicht zuletzt von den Sängerinnen und Sängern, aber auch vom Publikum, das sich der Emotionalität des Stoffes wie der musikalischen Schönheit von Gounods Partitur immer wieder lustvoll hingibt.

Wie es jetzt wieder im Berner Stadttheater geschieht, in dem die Bühnen Bern eine Inszenierung von «Roméo et Juliette» zeigen, die für die Pariser Opéra-Comique entworfen und gemeinsam mit den Theatern in Bern, Rouen, Washington und Bari koproduziert wurde. Die Herkunft aus Paris erklärt auch den Umstand, dass die Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau und einem jungen Mann aus zwei einander in erbitterter Feindschaft gegenüberstehenden Familien in keiner Weise mit der aktuellen Situation im Nahen Osten in Verbindung gebracht ist. Der Theaterkünstler Eric Ruf, zurzeit Direktor der Comédie-Française, siedelt das Geschehen vielmehr in Italien an, nicht gerade in Verona, eher in Apulien. Darauf schliessen lassen die mächtigen, wenn auch deutlich bröckelnden Türme, mit denen Ruf als sein eigener Bühnenbildner die unterschiedlichen Spielorte gliedert. Und damit für Atmosphäre sorgt.

Bild Janosch Abel, Bühnen Bern

Sogar eine Art Balkon wie jener in Verona kommt vor; es ist eine ganz in der Höhe liegende Umfassung, auf die sich Juliette hinauswagt – nur leicht bekleidet und barfuss, also ungeschützt, in Wirklichkeit aber zweifellos durch ein unsichtbares Seil gesichert. Die Szene, von ferne erinnert sie an eine ähnliche Stelle in Claude Debussys Oper «Pelléas et Mélisande», sorgt für Schauder und Berührung. Erst recht gilt das für das Finale der Oper, das in einer süditalienischen Totenkammer spielt. In den prächtigsten Gewändern – die unerhört wirkungsvollen Kostüme hat der Modeschöpfer Christian Lacroix entworfen – hängen dort die vor sich hintrocknenden Leichen, auch die nur in tiefsten Schlaf versenkte Juliette, zu deren Füssen Roméo den Gifttrank zu sich nimmt, während sie, erwacht, schliesslich zum Dolch greift.

Über allem herrscht der Geist soliden Handwerks und genuinen Theatersinns. Weniger gilt das für die Ausgestaltung der einzelnen Figuren, die da und dort Luft nach oben offenlässt. Recht eigentlich misslungen wirkt der Einstieg ins Stück mit einer polternden, vom Dirigenten Sebastian Schwab weder dynamisch noch klangfarblich hinreichend kontrollierten Ouvertüre, einer durch waberndes Vibrato gezeichnete Nummer des von Zsolt Czetner einstudierten Chors sowie dem vom Berner Symphonieorchester einigermassen klobig begleiteten Walzer der Juliette. «Je veux vivre» singt da die junge Russin Inna Demenkova, wie es Violetta Valéry in der wenige Jahre vor «Roméo et Juliette» entstandenen «Traviata» von Giuseppe Verdis tut; sie zeigt dabei forsche Kraft zeigt und formt die Spitzentöne gern in einen Schrei um – nicht gerade das, was à la française wäre. Wesentlich näher an den meist feingliedrigen Ton Gounods kommt Ian Matthew Castro. Als Roméo gelingt dem ebenfalls jungen Tenor aus Puerto Rico eine vorzügliche Leistung; er bringt ein leichtes, offenes Timbre von hellem Glanz ein, das ihn die Höhe mühelos erreichen lässt. Und das zu manchem ergreifendem Moment führt.

Je weiter der Abend voranschreitet, desto mehr nähert sich Inna Demenkova einer idiomatisch adäquaten Auslegung der Juliette (wiewohl ihr Französisch ein unverständliches Kauderwelsch bleibt). Die vier zentralen Duette der Oper gelingen jedenfalls eindrucksvoll. Ebenfalls plausibel gelöst sind die grossen Szenen zwischen dem Ball des Anfangs und der fatalen Hochzeit am Ende. Und die von Stéphano, der ausgezeichneten Evgenia Asanova, provozierten Kampfszenen mit ihren zwei Toten sind von Glysleïn Lefever ebenso geschickt wie effektvoll choreographiert. Rasch ist der Abend vorbei – das ist, bei allen Einschränkungen im Einzelnen, das denkbar beste Zeichen.

Facetten des Zeitgeistes

Wiedereröffnung des Theaters St. Gallen

 

Von Peter Hagmann

 

Ein Ehepaar? Slyvia D’Eramo (Gerda Wegener, links) und Lucia Lucas (Lili Elbe) / Bild Edyta Dufaj, Konzert und Theater St. Gallen

Man mochte es nicht wirklich, das von aussen so hermetisch wirkende Stadttheater St. Gallen – vor allem als Basler nicht, der sein ihm ans Herz gewachsenes Stadttheater von 1909 am 6. August 1975 frühmorgens in die Luft gesprengt und in sich zusammenstürzen sehen musste. Ein moderner Bau gleich neben der eilig abgetragenen Ruine sollte fortan der Ort seiner Theatererfahrungen sein. Werner Düggelin, der als Direktor das Theater Basel in den Jahren 1969 bis 1975 in der Stadt wie in der Branche zum Tagesgespräch gemacht hatte, wollte mit diesem Haus nichts zu tun haben, er gab seinen Posten auf. Inzwischen ist das neue Basler Stadttheater längst eingewachsen, die Wehmut ist jedoch nicht gewichen.

Ähnliches zu ähnlicher Zeit begab sich in St. Gallen. Nach gut hundert Jahren erfolgreichen Betriebs wurde das Stadttheater St. Gallen 1968 geschlossen und drei Jahre später abgerissen. Das Haus hatte sich in zunehmendem Mass als untauglich erwiesen und wurde nicht mehr benötigt. Im gleichen Jahr 1968 wurde nämlich das neue Theater im Stadtpark eröffnet, ein ebenso kühner Bau in moderner Formensprache; entworfen hatte ihn Claude Paillard, der 1961 den dafür ausgeschriebenen Wettbewerb für sich entschieden hatte. Von aussen, gerade eben aus der Nordwestschweiz, blickte man leicht verächtlich auf das Haus; von seiner Anmutung her setzte man es mit vielen Theaterbauten aus den sechziger Jahren gleich.

Inzwischen hat sich diesbezüglich einiges verändert, gerade in den letzten Jahren. Nach vier Jahrzehnten kontinuierlicher Nutzung hatte sich eine grundlegende Renovation des Gebäudes als notwendig erwiesen. In langjähriger Vorbereitung, während der das Theater wie die daneben liegende Tonhalle von der Stadt an den Kanton überging, wurde das rund fünfzig Millionen Franken schwere Projekt erarbeitet und in einer Volksabstimmung vom 18. März 2018 mit 62 Prozent Ja-Stimmen genehmigt – übrigens gegen eine Initiative der kantonalen SVP, die den Abbruch des Gebäudes und dessen Ersatz durch einen Neubau gefordert hatte. Im Herbst 2020 nahmen die Bauarbeiten ihre Fahrt auf, das Theater spielte derweil in einem Provisorium; und nun, am 22. Oktober 2023, ist das Haus wiedereröffnet worden.

Die Sanierung wurde mit denkbar grösstem Respekt vor dem originalen Entwurf an die Hand genommen – und genau das hat die Wertschätzung für den Entwurf Paillards erhöht. Das Sechseck als Grundlage als formaler Gegebenheiten, vom Grundriss bis hin zu einem Detail wie der Befestigung eines Treppengeländers am Boden, wurde mit aller Sorgfalt bewahrt. Auch der Sichtbeton, wie das Sechseck ein Markenzeichen in der Architektur der sechziger Jahre, wurde kompromisslos auf sein originales Erscheinungsbild zurückgeführt. Im Inneren wurde, für den Besucher meist nicht erkennbar, einiges an technischer Innovation durchgeführt. Zum Beispiel auch auf der Ebene der Akustik; heute nehmen zahlreiche Mikrophone den Klang auf und verteilen ihn über kleine Lautsprecher in den Raum. Das Verfahren kommt mittlerweile in manchen Kulturstätten zur Anwendung; in St. Gallen ist der Gewinn nicht zu überhören.

Grösser nahmen sich die durch den Theaterbetrieb geforderten Veränderungen in der räumlichen Konfiguration aus, doch auch hier stand die Erhaltung von Paillards ursprünglichem Entwurf an oberster Stelle. Im Ballettsaal zum Beispiel musste die Decke angehoben werden, damit den Tänzerinnen und Tänzern der notwendige Raum zur Verfügung steht. Probleme schuf ein vom Theater gewünschter Anbau, gegen dessen Ausführung sich der Denkmalschutz wandte. Studien im Archiv des Architekten Claude Paillard erwiesen dann, dass der fragliche Anbau schon geplant war, auf Wunsch der damaligen Bauherrschaft aber nicht realisiert wurde, weil eine repräsentative Zufahrt für Automobile als notwendiger erachtet wurde. Das ist jetzt korrigiert. So erstrahlt das Theater St. Gallen nunmehr in neuem Glanz. Und kann eine Ikone der modernen Architektur gewürdigt werden.

Zeitgleich mit der Wiedereröffnung des Hauses wurde am Theater St. Gallen eine neue Ära eingeläutet – nicht etwa mit Beethovens «Fidelio». Zum Einstand seines Teams trat Jan Henric Bogen, der neue Direktor des Hauses und zugleich der künstlerische Leiter des Musiktheaters, mit der Uraufführung eines Auftragswerks an. Eines Werks, das es in sich hat. Die Oper «Lili Elbe» des 1954 geborenen New Yorkers Tobias Picker und seines Librettisten Aryeh Lev Stollman erzählt die Geschichte der dänischen Malerin Lili Elbe (1882-1931), die in den zwanziger Jahren als Mann unter dem Namen Einar Wegener lebt. Wie sie bei ihrer Ehefrau Gerda Wegener für ein kurzfristig verhindertes Modell einspringt und dabei in Frauenkleidern posiert, wird ihr bewusst, dass sie im Grunde eine Frau ist. Gegen starken Widerstand ihrer Umgebung lässt sie ihr Geschlecht von einem Gynäkologen an ihre wirkliche Identität anpassen, ihre Ehe auflösen und sich einen neuen Namen geben: Lili Elbe. Da sich für sie wirkliches Frausein in Mutterschaft erfüllt, lässt sie sich von besagtem Gynäkologen eine Gebärmutter einsetzen. Die Operation misslingt und bringt ein tragisches Leben zu seinem Ende.

Der in Englisch gegebene, deutsch übertitelte Abend braucht starke Nerven. Das Schicksal einer Frau, die in einem männlichen Körper lebt und sich dagegen mit einer Radikalität sondergleichen auflehnt, lässt gewiss niemanden kalt. Geradezu schockierend ist jedoch die Art und Weise, in der ein Theater ein in mancher Hinsicht heikles Thema ins Scheinwerferlicht der Bühne zerrt, sich lautstark mit der Produktion der weltweit ersten Oper über die Frage der sexuellen Identität brüstet und sich wohlfeil einer zeitgeistiigen Debatte anbiedert, die gerade in diesen Tagen ideologisch und gesellschaftspolitisch so hochgradig aufgeladen ist. Und das, notabene, eingekleidet in eine Musik, die das Vokabular der amerikanischen Allerweltspostmoderne pflegt und herzlich wenig zu sagen hat. Allerdings: Dass das Thema in der katholisch-konservativen Stadt St. Gallen und im Moment der Eröffnung eines frisch renovierten Kulturhauses aufs Tapet kommt, ist schon ein starkes, auch ein mutiges Zeichen.

Die Produktion selbst ist von umwerfender Wirkung. Unter der Leitung von Modestas Pitrénas, seinem aus Vilnius stammenden Chefdirigenten und Konzertdirektor, holt das Sinfonieorchester St. Gallen ein Optimum aus der belanglosen Partitur heraus. Und die Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne, auch der von Franz Obermair geleitete Chor und die neu zusammengestellte Tanzkompanie, zeigen ihr Bestes. Fulminant Lucia Lucas, die, selber eine Trans-Person, die Figur der Lili Elbe verkörpert und das mit einem unerhört sonoren Bariton wie mit temperamentvoll zugespitzter Bühnenpräsenz tut. Herausragend auch Sylvia D’Eramo als Gerda Wegener, Brian Michael Moore als der Pariser Parfumeur Claude LeJeune, Sam Taskinen als Lilis Bruder Marius und Msimelelo Mbali als der eitel-brutale Gynäkologe Warnekros. Sie alle treten in einer enorm bewegten, vielfarbigen, bisweilen auch den Geist des Musicals beschwörenden Inszenierung auf, bei der Krystian Lada als sein eigener Bühnenbildner Regie geführt hat.

Das Potential, das die musikalisch-szenische Einrichtung zum Ausdruck gebracht hat, verspricht viel. Dass als nächste Premiere, diesmal in dem von Barbara-David Brüesch geleiteten Schauspiel, «Die Ärztin» auf die Bühne kommt, gibt dann allerdings wieder zu denken. Den Text, so die Ankündigung, hat Robert Icke sehr frei nach «Professor Bernardi» von Arthur Schnitzler eingerichtet. Genügen die scharfsinnigen Dialoge Schnitzlers nicht mehr? Ich habe das Stück vor einiger Zeit im Wiener Theater in der Josefstadt gesehen: erstklassig in seiner schauspielerischen Performanz, der Saal war einen Abend lang gebannt und mucksmäuschenstill. Am Theater St. Gallen jedoch bricht sich jetzt der Zeitgeist Bahn – etwas spät zwar, aber immerhin.

Ein Chalet, das es in sich hat

Einakter von Adolphe Adam und
Gaetano Donizetti im Stadttheater Solothurn

 

Von Peter Hagmann

 

Betly (Roxane Choux) hält die Soldateska der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Schach / Bild Konstantin Nazlamow, Theater-Orchester Biel-Solothurn

Mehr als sechs Jahre sind vergangen seit jenem höchst vergnüglichen Abend im Stadttheater Solothurn, der den beiden Einaktern «La notte di un nevrastenico» von Nino Rota und «Gianni Schicchi» von Giacomo Puccini galt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 04.01.17). Zunächst der gestresste Geschäftsreisende, der für die Übernachtung nicht nur sein eigenes Zimmer bucht, sondern, um jeder Störung zuvorzukommen, auch noch jenes links und jenes rechts davon. Der dann aber gleichwohl verdächtige Geräusche wahrnimmt, weil das Schlitzohr von Hotelier das Zimmer zur Rechten trotz hoch und heiliger Versprechungen dennoch vermietet hat, und das erst noch an ein junges Liebespaar. Danach dann die Posse um den verstorbenen Buoso Donati, dessen sehr attraktives Testament zugunsten der Verwandten abgeändert werden soll, was der von der Familie nicht eben geliebte Gianni Schicchi bewerkstelligt, allerdings durchs Band zu seinem Vorteil. Die Lust auf der Bühne wie jene im Zuschauerraum sind bis heute lebendig.

Jetzt legt die kleinste professionelle vollausgebaute Oper vielleicht nicht der Welt, aber wohl doch der Schweiz, nochmals nach. Zur Eröffnung seiner Spielzeit bringt das Theater-Orchester Biel-Solothurn nichts Geringeres als ein Stück Johann Wolfgang von Goethes. Es trägt den Titel «Jery und Bäteli» und ist von dem berühmten Eugène Scribe unter Assistenz von Méleville, bürgerlich Anne-Honoré-Joseph Duveyrier, zu einem Libretto geformt worden. Adolphe Adam hat auf dieser Basis einen ebenso eingängigen wie witzigen Einakter komponiert; «Le Chalet», so sein Titel, wurde im Herbst 1834 durch die Opéra-Comique aus der Taufe gehoben und geriet mit seinen über eintausend Aufführungen allein in Paris zu einem Kassenschlager sondergleichen. Allein, was Adam recht war, sollte Gaetano Donizetti billig sein. Er übersetzte die aus Goethes deutscher Sprache von Scribe ins Französische transponierte Vorlage eigenhändig ins Italienische und schuf, diesmal nun unter dem Titel «Betly ossia La campanna svizzera», seinen eigenen Einakter, der zwei Jahre nach dem Pariser Erfolg Adams in Neapel uraufgeführt wurde – ebenfalls mit Gewinn. Heute sind beide Kurzopern restlos vergessen; «Betly» hat nicht einmal in «Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters», das Allerheiligste der Oper, Eingang gefunden.

Genau das Richtige also für TOBS, wie die seit 2012 von Dieter Kaegi geleitete Institution zu nennen ist. «Aida» oder «Die Meistersinger» gehen nicht in den intimen Räumen von Biel und Solothurn, man muss sich nach der Decke strecken und Alternativen finden – was das quicklebendige Haus mit seinen zwei Spielstätten überaus geschickt tut. Zum Beispiel mit dem erheiternden Doppelabend im Zeichen von «Le Chalet suisse». Goethes Singspiel hat es durchaus in sich. Betly ist eine junge Frau, aber eine von rebellischem Geist. Sie lebt in ihrem weitab, nämlich im Appenzellischen gelegenen Chalet und hat nichts im Sinn mit der hergebrachten Karriere als Hausfrau und Mutter. Heiraten? Nein danke. Dem Mannsbild, das ihr Haus betritt, wird alsbald die Tür gewiesen. Dies sehr zum Kummer des jungen Daniel, der für Betly brennt. Schützenhilfe erfährt der Bewerber von Max, dem deutlich älteren Bruder Betlys, der in fremden Diensten zu Rang und Geld gekommen und nun in die Heimat zurückgekehrt ist. Seine Schwester gehöre unter die Haube, findet Max, und Daniel sei der Rechte. Nach einer Reihe von Zwischenfällen scheint das auch zu gelingen – oder vielleicht doch nicht?

Das wäre die Geschichte. In (Biel und) Solothurn wird sie zwei Mal erzählt, aber in zwei ganz und gar unterschiedlichen Weisen. Für die leichtfüssige, schwungvolle, in der Substanz freilich etwas schmalbrüstige Opéra-comique von Adam hat sich der Regisseur Andrea Bernard ein Spiel im Spiel ausgedacht. Gezeigt wird eine Probe von «Le Chalet», die Bühne von Alberto Beltrame ist eine Bühne, die Dekoration ist als Modell anwesend: als Blick in ein etwas schräg geratenes Puppenhaus. Max ist nicht nur Max, sondern auch der Regisseur und als solcher meist genervt – Michele Govi gibt seinen Part fulminant. Etwas chargiert vielleicht, aber das mag am Platz sein. Betly wiederum, Roxane Choux brilliert mit ausgeprägtem komischem Talent, erscheint als eine kaum zu bändigende Diva, die alles singen mag ausser – Betly. Schon gar nicht an der Seite von Pierre-Antoine Chaumien, der als Daniel seinen ersten grösseren Auftritt hat und den Umstehenden gleich einmal einen werbenden Flyer aufdrängt. Er gibt vor, das zu erarbeitende Stück mit einer Eigenkomposition erweitert zu haben – und genau da liegt eine kleine Schwäche von «Le Chalet», denn in diesem Momenten hängt Adams Partitur ein wenig durch. Dies trotz dem beherzten Einsatz des Sinfonie-Orchesters Biel-Solothurn, das von Franco Trinca souverän in Schwung gehalten wird.

Nach der Pause stellt man fest, dass das soeben noch als Modell gezeigte Puppenhaus mitsamt seinem nicht ganz passenden First in reale Grösse gewachsen und zum Bühnenbild worden ist. In Donizettis Fassung kommt «Betly» als eine ausgewachsene Opera comica im Belcanto-Stil daher. Das Szenische gibt sich zurückhaltender, es lässt mehr Raum für das Musikalische – und das ist gut so, treten doch bei allen drei Darstellern hochstehende vokale Qualitäten zutage. Seinen Anteil daran hat auch der von Valentin Vassilev geleitete Opernchor, dem die Kostümbildnerin Elena Beccaro zur Verdeutlichung der couleur locale etwas vergammelte Uniformen schweizerischer Offiziere und Fantasietrachten verpasst hat. Und hier legt der Regisseur auch den Finger auf die überraschende emanzipatorische Seite, die an dem Doppelabend aufscheint. Ihre Freiheit ist der jungen Frau alles, davon singt sie explizit. Wenn der Einakter Donizettis zu Ende geht, hat sie den Ehevertrag zwar unterschrieben, doch zeigt die Inszenierung, wie sie das Papier vor den Augen des frischgebackenen Ehemanns und ihres Bruders zerreisst, ihre Skier ergreift und mit ihren Freundinnen aus dem Chor in Richtung Matterhorn aufbricht. Goethe hat es nicht so gemeint, man kann es jedoch so denken.

Die Produktion steht noch in Biel und Solothurn auf dem Programm. Sie reist dann nach Visp, Winterthur und Zug.

Rausch und Absturz

«La rondine» von Giacomo Puccini in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ruggero (Benjamin Bernheim) und Magda (Ermonela Jaho) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Die Einleitung erinnert unüberhörbar an das zweite Bild von «La Bohème», an die rauschende Fröhlichkeit von Heiligabend in den Strassen des Quartier Latin. In «La rondine», dem Spätwerk Giacomo Puccinis, ist es fürs erste jedoch bald vorbei mit der Ausgelassenheit. Gehört die Bühne einer jungen Frau, die von der grossen, der wahren Liebe träumt. Es ist Magda de Civry, die von dem begüterten Rambaldo ausgehalten wird, jedoch dringend aus dem goldenen Käfig ausbrechen möchte. Und es ist Ermonela Jaho, die mit ihrer Kunst auf Anhieb in Bann schlägt. Mühelos steigt sie in höchste Höhen, in hauchzartem Pianissimo verharrt sie auf der emotional so aufgeladenen Terzlage, und dazu bebt sie am ganzen Körper – in restloser Identifikation mit dem Moment. Kein Wunder hören Rambaldos Gäste fassungslos zu, und jeder von ihnen tut das in seiner eigenen Weise, denn am Regiepult sass Christof Loy, der wie selten jemand die Kunst beherrscht, aus Sängern Schauspieler werden zu lassen und auch in kleinen Rollen ausgeprägte Charaktere zu schaffen. Die Lust im grossen, durchwegs ausgezeichneten Ensemble ist nicht zu verkennen.

So blicken wir denn, wenn sich im Opernhaus Zürich der rote Theatervorhang nach der Art der Wagner-Gardine angehoben hat, in einen edlen Salon mit doppelter Raumhöhe, gestylten Sitzgelegenheiten und, in einer Ecke, dem Flügel als Zeichen gehobener Bürgerlichkeit – der Bühnenbildner Etienne Pluss hat an diesem hochästhetischen Ort für Weite und ein angenehmes Zusammenspiel von Alt-Rosa und Grautönen gesorgt. Mit allem Raffinement hat die Kostümbildnerin Barbara Drosihn die Dezenz der Form und die Subtilität der Farbe aufgenommen. Viel zu singen hat Vladimir Stoyanov als der diskrete Hausherr und Gastgeber nicht, aber wenn Rambaldo in seinem vollendeten Dreiteiler leicht gelangweilt zur bereits durchgelesenen Tageszeitung greift, richten sich aller Augen auf ihn.

Erheiternd der unerhört selbstgewisse Dichter Prunier und seine Geliebte Lisette, ein Wirbelwind von Dienstmädchen – Juan Francisco Gatell und Sandra Hamoui sorgen für ein von liebevollem Geplänkel getragenes Vorspiel. Wie dann aber unverhofft der junge, ebenso naive wie stolze Ruggero in seiner Bankerkluft zu Besuch kommt, beginnt sich der Knoten zu schnüren. Erst nehmen sie nicht gross Notiz voneinander. Im Café Bullier, wo enorm Trubel herrscht und das Klischee von Paris als der Weltstadt des Flirts ausgelebt wird, verfallen sie einander hoffnungslos, knautscht sie aufgeregt ihr grünes Täschchen, während er nervös an seinem gleichermassen grünen Absinth nippt. Sie und Er, Magda und Ruggero, sie sind das Paar der Stunde, denn Ermonela Jaho mit ihrem dunklen Timbre und Benjamin Bernheim mit seinem obertonreich glänzenden, äusserst flexiblen Tenor sind füreinander geschaffen – wie einst, ebenfalls in der Zürcher Oper, Agnes Baltsa und José Carreras.

Seine allerschönsten Töne hat Puccini in die Notenlinien gezaubert: aufschwingende Melodiebögen und silberhellen Orchesterklang, gefärbt durch oktavierte Geigen, zarte Einwürfe der Holzbläser und, in Momenten der Kulmination, helle Glöckchen. Unter der ebenso inspirierenden wie kundigen Hand des Dirigenten Marco Armiliato blüht die Philharmonia Zürich förmlich auf; das Orchester schwelgt im Spiel der Farben und, vor allem, in den schimmernden Tönen des Leisen. Doch dann und sehr plötzlich steigt die Temperatur. Magdas Mimik spricht von ihren Zweifeln. Ruggero dagegen, nichts ahnend im Versuch, die feurige Beziehung zu festigen, erscheint mit einem Brief, in dem die Mutter in die Eheschliessung einwilligt. Da bricht es aus Magda heraus: Sie sei nicht, was er in ihr sehe, könne weder Gattin noch Mutter sein, sie habe sich für Geld hergegeben, sie könne sein Haus nicht betreten – mit einem Schrei aus der Tiefe ihrer Bruststimme entringt sich Ermonela Jaho dieser letzte Satz.

Benjamin Bernheim steht ihr, was seine lebensgefährliche Verzweiflung ob diesem Geständnis betrifft, in nichts nach. Und Marco Armiliato zeigt, wie grossartig er das Orchester aus dem Duft des Leisen in die volle Kraft zu führen weiss – dort übrigens ohne jede Störung der Balance. Rasch ist das Ende herbeigeführt; Puccini tat sich schwer damit, hat dank seinem Sinn für das Dramatische aber doch den rechten Weg gefunden. Und schon sehen sich die Protagonisten dem tosenden Beifall gegenüber, er mit zusammengebissenen Lippen, sie mit einer Träne, die sie keineswegs verstohlen weggewischt. «La rondine»: ein Meisterwerk, meisterlich dargeboten.

Wagners «Ring» nach Basler Art

Von Peter Hagmann

 

Brünnhilde (Trine Møller) klärt Sieglinde (Theresa Kronthaler) auf, Siegfried, noch ungeboren, aber anwesend, hört zu: «Die Walküre» im neuen Basler «Ring des Nibelungen / Bild Ingo Höhn, Theater Basel»

Nun hat der «Ring» auch Basel ergriffen – und wie. Anders als in Bern und Zürich, wo die Nibelungen seit der Spielzeit 2021/22 ihr Unwesen treiben, wird Richard Wagners Tetralogie am Theater Basel nicht einfach an und für sich gezeigt – was nach den gescheiterten Annäherungen im frühen und im späten 20. Jahrhundert für ausreichend Sensation gesorgt hätte. Nein, am Rheinknie erscheint der «Ring» eingebettet in ein Festival, das die Geschichte in einem Vorabend und drei Tagen sinnlich oder kritisch begleitet. Das greift freilich etwas hoch. Unter dem Titel «Rheinklang» gibt es vor den Aufführungen von «Rheingold» auf dem Theaterplatz ein «Chorritual» des Briten Matthew Herbert, das den Fluss, in dem das Gold lagert, zu den wartenden Zuschauern und den vorbeigehenden Passanten bringt.

Vor der grossen Treppe stehen fünf Schalen mit den brennenden Scheiten aus der «Götterdämmerung», vor einem Mikrophon finden sich schwarz gekleidete Sängerinnen und Sänger ein, die den Ton Es aus dem Vorspiel zu «Rheingold» intonieren; in der Folge schliessen sich ihnen Mitglieder aus dem Chor und dem Extrachor des Theater Basel an, die, in einer langen Kolonne die Feuerschalen umkreisen und ebenfalls das Es, bisweilen auch das dazugehörige B intonieren. Immer enger werden die Kreise, bis schliesslich alle das Wasser aus ihren mitgebrachten Gefässen über die starken Scheite in den Schalen giessen und eine dichte Rauchwolke aufsteigt. Eine Kürzestfassung der Tetralogie, die zwar Zusammenhänge schafft, in ihrem latenten Jekami-Charakter aber nicht mehr als nette Stimmung erzeugt, jedenfalls wirklich Substanzielles beisteuert.

Drinnen im Haus geht dann aber die Post ab – am einen Abend mit «Rheingold», am zweiten mit der «Walküre» (die Teile drei und vier folgen in der kommenden Spielzeit). Was hier sogleich ins Auge fällt, ist der bis auf einen kleinen Schlitz geschlossene Orchestergraben – ganz nach der Art des Bayreuther Festspielhauses. Das Sinfonieorchester Basel sitzt in grosser Formation nicht nur im Graben, sondern auch in der sogenannten Garage, einem Raum, der sich hinter dem Graben weit unter die Bühne erstreckt. Dort, wo sonst Bretter die Welt bedeuten, ist ein schwarzes Gitter eingefügt, durch das der instrumentale Klang in den Zuschauerraum findet. Die Kommunikation zwischen dem orchestralen Nibelheim und der Bühne wird mit Hilfe von Bildschirmen erzeugt. Unerhört voll und fasslich klingt das Orchester für den Zuhörer in der vierten Reihe; später, auf einem Platz hinten auf der Estrade, ändert sich wenig an diesem Eindruck. Saft und Kraft in aller Schönheit erzeugen die Streicher, aber auch die Hörner, während die solistisch hervortretenden Bläser, namentlich das Englischhorn, farbig schimmernde Linien aufscheinen lassen.

Das alles geschieht unter der Leitung von Jonathan Nott, der 1996 als junger Kapellmeister in Wiesbaden seinen ersten «Ring» dirigiert und im Wagner-Jahr 2013 mit einer konzertanten Aufführung der Tetralogie sensationellen Erfolg erzielt hat. Die Erfahrung ist zu hören. In Wagners Partituren kennt er sich eins zu eins aus; mit sicherem Gespür für die Tempi und ihre Verbindungen, mit instinktivem Gefühl für das Rauschhafte und zugleich mit untrüglichem Wissen um die Einzelheiten zieht er durch die beiden Abende: als ein genuiner Theatermusiker, der den Leitmotiven ihre Rechte lässt, sich aber nie bemüssigt fühlt, den belehrenden Zeigefinger auszustrecken. Alte Instrumente, wie sie diesen Sommer beim Lucerne Festival zu hören waren, haben ihren Reiz; in Basel ist zu erleben, dass es auch ohne sie zu spannenden Ergebnissen kommen kann.

Die spezielle szenische Konfiguration bildet die Basis für Musiktheater im Raum – denn Benedikt von Peter, Intendant des Theater Basel und, zusammen mit Caterina Cianfarini, Regisseur des Basler «Ring», ist ein Raumkünstler. Das hat er in verschiedenen, in ihrer Wirkung oft überwältigenden Inszenierungen, etwa mit Luigi Nonos «Prometeo» 2016 in Luzern oder in Basel 2020 mit «Saint-François d’Assise» von Olivier Messiaen, vor Augen geführt. In Wagners Tetralogie macht die Heranführung der Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne ans Publikum heran besonders Sinn und gehörig Effekt. Wer die bebenden Körper ganz nah vor sich sieht und dabei jedes Wort versteht, bekommt eine Ahnung davon, was Singen heisst – erst recht Singen auf der Bühne und Wagner-Singen. Indessen weist das Konzept zwei entscheidende Schwächen auf. Zunächst ist die Nähe natürlich nur in den ersten Sitzreihen wirklich erlebbar; wer seinen Sitz weiter hinten im Zuschauerraum vorfindet, für den bleibt die Nähe fern wie stets in der Oper – zumal die durch Natascha von Steiger konzipierte Einheitsbühne mit grossen Elementen, etwa einem mehrstöckigen Holzhaus als Sinnbild für die Burg Walhalla, arbeitet und den Blick in den Hintergrund zieht. Das führt zu einer deutlichen Ungleichbehandlung des Publikums.

Vor allem aber erhält in der Basler szenischen Einrichtung der Körperausdruck besonderes Gewicht – und der ist, wie stets bei Benedikt von Peter, handgreiflich, bisweilen jedoch nicht sonderlich differenziert ausgeprägt. Zwar setzt das die musikalische Vitalität fasslich in Gang und Geste um, zugleich aber steht es dem Werk Wagners im Weg. In den beiden grossen Streitgesprächen zwischen Wotan und Fricka in «Rheingold» wie in der «Walküre» verliert die hochstehende Schlagfertigkeit und dessen musikalische Umsetzung an Schärfe, weil zu viel szenische Betriebsamkeit herrscht. Mit seinem dunklen Timbre gibt Nathan Berg einen überherrischen und darum schon merklich angeknacksten Göttervater, der viel zu oft und viel zu stark auf den Tisch haut, während Solenn’ Lavanant Linke die Göttergattin packend singt, aber zu sehr mit Hysterie versieht. Auch der Loge von Michael Laurenz, stimmlich von hohem Format, wirkt überzeichnet. Rollendeckend dagegen die Erda der ehrwürdigen Hanna Schwarz und Frickas Schwester Freia, die für einmal nicht von einer Soubrette, sondern von Lucie Peyramaure mit ihrer pointierten stimmlichen Präsenz gesungen wird.

Das alles findet Platz in einer Inszenierung, die den «Ring des Nibelungen» als Rückblende, als Erinnerung Brünnhildes an ihr Leben, zu erzählen sucht. Wotans Lieblingstochter, Trine Møller bringt das mit farbenreicher Stimme, aber ebenfalls mit etwas heftiger Körpersprache zur Geltung, sieht ihren Vater, seinen zum Scheitern verurteilten Machtanspruch, ausgesprochen kritisch – ja, sie schildert es so, dass ihre Stiefmutter Fricka als Anführerin einer Verschwörung gegen Wotan erscheint. Immer wieder tritts Fricka hinter einer Wand hervor und fordert, ohne ein Wort zu singen, von ihren Untergebenen Donner (Michael Borth) und Froh (Ronan Caillet), ins Bühnengeschehen einzugreifen. Dieses Geschehen zeigt sich in einer Art Zeitlosigkeit, indem sich Ungleichzeitiges gleichzeitig ereignet. Die handelnden Figuren sind in ihren unterschiedlichen Lebensaltern gegenwärtig – Siegfried zum Beispiel mit einem Hörnchen am Gürtel und einem Holzschwert als Kind, auch als Jugendlicher. Das mag aufgesetzt wirken, denkt aber die dramaturgischen Ansätze Wagners weiter, denn durch die Leitmotive und die immer wieder eingefügten Rekapitulationen bleibt die Tetralogie über weite Strecken als Ganzes präsent.

Allerdings schafft die Basler Art der Bühnenerzählung für das Publikum auch Momente der Verwirrung und solche der Ablenkung. Zudem wird hier «Der Ring des Nibelungen», der von A bis Z durchkomponiert ist, durch unnötige, weil banale Zwischentexte unterbrochen. Dabei gäbe es reichlich genug zu erleben. «Rheingold» etwa als ein ins Grosse verlängertes Puppentheater, in dem die Rheintöchter wie in den ersten Inszenierungen der Tetralogie als an Stäben geführte Nixen erscheinen, während Alberich (der vorzügliche Andrew Murphy) als riesige Kröte herumhüpft und später als veritabler Drache aus den seitlichen Vorhängen hervorschnaubt. Oder in der «Walküre», mit Ric Furman und Theresa Kronthaler, Siegmund und Sieglinde als ein von Anfang an schwer gefährdetes Liebespaar. Artyom Wasnetsov gibt einen furchterregenden Hunding, Runi Brattaberg neben Thomas Faulkner als Fasolt einen nicht weniger schlagkräftigen Fafner, und Karl-Heinz Brandt macht als Mime auf die Fortsetzung im nächsten Herbst neugierig.

Von den Nibelungen, deren rhythmisch vertrackte Hammerschläge leider nicht sehr gut vernehmbar geraten, wird erzählt, sie gewännen das Gold in den Tiefen des Rheins und dort in Schluchten und Grüften. Fast in denselben Worten berichtet das die Basler Mission in einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden Schilderung ihrer Tätigkeit in Afrika. Dies im Rahmen eines dokumentarischen Theaterstücks von Regine Dura und Hans-Werner Koestinger mit dem Titel «Gold, Glanz und Götter» – einem Teil des Festivals zum «Ring». Es handelt vom globalen Wirken der Basler Handelsherren, die mit ihren auch den Sklavenhandel einbeziehenden Dreiecksgeschäften zwischen Europa, Afrika und Südamerika im Namen Gottes des Herrn mächtig Gold an die Gestade des Rheins gebracht haben. Davon die Rede ist zunächst in einem kleinen Raum im obersten Stock des Basler Stadttheaters, später dann, nach einem eiligen Gang durch ein endlos wirkendes Treppenhaus in die tiefste Tiefe des Materiallagers. Dort wird diese von heute aus peinliche Geschichte anhand vieler nicht ganz neu entdeckter, aber doch hochinteressanter Dokumente ausgebreitet. Und dort kommen auch wieder jene Messing-Gefässe zum Einsatz, die schon im «Chorritual» auf dem Theaterplatz zu sehen waren und die auf der Bühne als Rheingold den Körper Freias zudecken. Auch hier: Leitmotive. Aber solche der eigenen Art.

Ein Blick zurück – mit Gewinn

Wagners «Rheingold» in historischer Praxis,
nun beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Fricka (Annika Schlicht), Wotan (Simon Balley), Freia (Nadja Mchantaf), dazwischen der Dirigent Kent Nagano / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Knapp zwei Jahre sind vergangen seit jenem aufregenden Abend in der Kölner Philharmonie, der «Das Rheingold», den Vorabend zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen», in ungewohntem Gewand vorstellte. In jenem Gewand nämlich, das dem Komponisten zur Verfügung stand – ja mehr noch: das er sich zum Teil selbst erschaffen hatte. Nicht ein Orchester heute üblicher Art war da am Tun, sondern das Concerto Köln, ein auf Musik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts sowie auf die historisch informierte Aufführungspraxis spezialisiertes Ensemble, das sich um ein Mehrfaches seiner achtzehn Mitglieder umfassenden Stammbesetzung erweitert hatte. Mit von der Partie war ein anderer Novize, denn der Dirigent Kent Nagano war bisher als pointierter Vertreter der neuen Musik und als luzider Interpret des klassisch-romantischen Repertoires bekannt, nicht aber als Leuchtturm im Bereich der historischen Praxis. Ein Wagnis erster Güte war das. Geworden ist daraus ein Coup, dessen Folgen sich noch in keiner Weise absehen lassen (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 08.12.21).

Mir nichts, dir nichts wird ein solches Projekt nicht möglich. So sehr sich die historisch informierte Aufführungspraxis entwickelt hat, so gut es auch schon erste Annäherungen, etwa mit Roger Norrington und Simon Rattle im Konzert, mit Hartmut Haenchen und Thomas Hengelbrock in Bayreuth, gegeben hat – grundsätzlich und umfassend hat sich an Wagner bisher niemand aus dem Bereich der historischen Praxis herangewagt. Vier Jahre der Vorbereitung gingen der konzertanten Aufführung von «Rheingold» in Köln voraus; «Wagner-Lesarten» nannte sich die Forschungseinrichtung, in deren Rahmen Aspekte des Instrumentenbaus im späten 19. Jahrhundert, Fragen der Spielweise und des Gesangsstils, auch solche der Gestik erörtert wurden. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden breit diskutiert und mit Hilfe spezialisierter Workshops in die Praxis übergeführt.

Das alles war mit enormem Aufwand verbunden und führte zu einem Katalog an Aufgaben, der die Möglichkeiten des Concerto Köln bei weitem überstieg. Um den «Ring» als Ganzes in dieser Form zu bewältigen, bedurfte es eines leistungsstarken Partners; gefunden wurde er in den Dresdner Musikfestspielen. Dort gibt es die notwendige Infrastruktur, dort steht mit dem Dresdner Festspielorchester sogar ein historisch informiert arbeitender Klangkörper bereit, und von dort aus konnten auch die erforderlichen finanziellen Mittel beschafft werden. So kam es zu einem Neustart auf erweiterter Basis. Ab 2023 soll jedes Jahr ein Teil der Tetralogie im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis erarbeitet werden. Das Resultat soll jeweils zuerst bei den Dresdner Musikfestspielen vorgestellt werden und danach auf Tournee gehen. So ist dieses buchstäblich unerhörte «Rheingold» diesen Sommer zum Lucerne Festival gekommen – mit überwältigendem Erfolg. Und natürlich besteht die Hoffnung, dass die Luzerner Begegnungen mit diesem einzigartigen Unternehmen in den kommenden Jahren (und auch über den Luzerner Direktionswechsel hinaus) weitergeführt werden. Dies auch gleichsam als Fortsetzung der unvergesslichen Luzerner «Ring»-Abende mit Jonathan Nott und den Bamberger Symphonikern im Wagner-Jahr 2013.

Wer in Köln dabei war, dem bot die Begegnung mit der nun aus Dresden hergekommenen Luzerner Wiederaufnahme von «Rheingold» Erfahrungen ganz eigener Art. Der Ansatz war derselbe, die Konkretisierung unterschied sich aber doch merklich. Schon allein darum, weil neben dem Concerto Köln mit dem von Ivor Bolton betreuten Dresdner Festspielorchester ein zwar schon vor gut zehn Jahren gegründeter, jedoch noch weitgehend unbekannter Klangkörper mit dabei war. Die Farbigkeit des Orchesters, der mit Darmsaiten bezogenen Streicher, der zum Teil eigens rekonstruierten Blasinstrumente, sie schuf auch in Luzern ungeheure Wirksamkeit, zumal im Bereich der Bläser, die ein Spektrum zwischen abgrundtiefer Schwärze und leuchtender Helligkeit ausbreiteten. Als Preis dafür war – besonders ausgeprägt in jenem Moment am Ende, da die von Wotan angeführte Götterschar die Brücke überquert und Walhall in Besitz nimmt – eine befremdende Heterogenität im starken Gesamtklang des Orchesters in Kauf zu nehmen. Scharf, ja grell klang dieses Tutti, und das in stärkerem Ausmass als in Köln. Vielleicht muss es so sein; Instrumente von starker Individualität bilden gerne einen attraktiv wirkenden Spaltklang, fügen sich aber weniger leicht in einen Mischklang. Das kann auch andernorts, etwa bei Les Siècles mit François-Xavier Roth oder beim Orchestre Révolutionnaire et Romantique von John Eliot Gardiner, zu hören sein.

Auch was die klangliche Transparenz betrifft, blieben in Luzern, anders als in Köln, einige Wünsche offen – übrigens auch für Kent Nagano, der gestisch Schwerarbeit leistete, der da dämpfte und dort ermunterte. Mag sein, dass das nicht nur auf die Saalakustik und die Tücke des Moments, sondern auch auf die veränderte Aufstellung des Orchesters zurückzuführen ist. In Köln nämlich waren auch die Streicher doppelchörig aufgestellt – wobei zwei Geigen- und zwei Bratschengruppen durch einen in einem Halbkreis von links nach rechts durchs Orchester reichenden Halbkreis von Celli verbunden waren. Das schuf eigenartig und auffallend viel Raum für die Mittelstimmen und die dort versteckten Bereicherungen, die in gewöhnlichen Aufführungen kaum je so deutlich wahrzunehmen sind. In Luzern dagegen war das Orchester nach der Art der traditionellen deutschen Aufstellung konfiguriert; hier sassen nur die Geigen einander gegenüber, während die Bratschen und die Celli die üblichen Blöcke in der Mitte formten. Das wird gewiss seine Gründe haben, muss aber nicht der Weisheit letzter Schluss sein.

Von all dem abgesehen bot der Abend Reiz und Anregung in Hülle und Fülle. Kent Nagano sorgte für meist frisch, vielfältig abgestufte und logisch aufeinander bezogene Tempi, die sich nicht an der Schönheit des vokalen Lauts, sondern vielmehr am Duktus der gesprochenen Sprache orientierten – so wie es sich Wagner gewünscht hat. Und Kraft gab es reichlich, wenn auch frei von Bombast und ohne Druck auf die Singstimmen; geprägt durch seine jahrzehntelangen Erfahrungen in den Orchestergräben weiss Nagano ganz genau, wie er das Orchester einen Akzent setzen und dann sogleich wieder zurücktreten lassen kann. Das gegenüber Köln weitgehend veränderte Ensemble der Sängerinnen und Sängern dankte es ihm ebenso wie das Publikum, das die ungewohnte, eben nicht auf dem Schrei basierende Singkunst bei Wagner entdecken konnte. Ania Vegry (Woglinde), Ida Aldrian (Wellgunde) und Eva Vogel (Flosshilde), die drei schon in Köln beteiligten Rheintöchter, gaben es gleich am Anfang zu erkennen: mit nuanciertem Vibrato und, vor allem, mit dem Einsatz der Sprechstimme, wie ihn Wagner bei der von ihm verehrten Wilhelmine Schröder-Devrient gehört haben soll.

Mit Daniel Schmutzhard, ebenfalls aus Köln übernommen, stand den Rheintöchtern ein ungeheuer energiegeladener Alberich gegenüber. Simon Bailey gab demgegenüber einen ganz und gar gelassenen Wotan, an dem sich die argwöhnische Fricka von Annika Schlicht, ebenfalls mit sorgfältigem Einsatz des Vibratos, nach Massen abarbeiten durfte. Als Luzerner stand Mauro Peter am richtigen Platz, für die Partie des Loge ist er aber alles andere als der Richtige; sein warmer, fülliger Tenor erreicht keineswegs jene Agilität im Parlando, die dem einer Flamme gleichenden Halbgott auf den Leib geschrieben ist. Da ging es Gerhild Romberger, die wie schon in Köln die Erda sang, wesentlich besser, konnte sie doch ihrem dunklen Mezzosopran freien Lauf lassen. Kleinere Aufgaben übernahmen Dominik Köninger und Tansel Akzeybek als Donner und Froh, Nadja Mchantaf als Freia und Thomas Ebenstein als Mime sowie Christian Immler und Tilmann Rönnebeck als die Riesen Fasolt und Fafner. Bewundernswert, in wie hohem Mass und mit welcher Zielsicherheit das gesamte Ensemble aus Musik und Sprache heraus agierte, den Text verständlich werden liess und den Klang mit einer neuen Art Emphase versah. Szenisches wurde nur angedeutet, mehr braucht es nicht. Liegt im historisch informierten Ansatz die Zukunft? Als eine gewinnbringende Alternative in jedem Fall – erst recht vielleicht dann, wenn das Modell im verdeckten Graben des Bayreuther Festspielhauses ausprobiert wird.