Wunderwerke

Das Scelsi-Festival und das Arditti Quartet in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Wenn eine Schweizer Stadt als Musikstadt bezeichnet werden kann, dann ist es – nein, nicht Zürich, sondern Basel. So gedacht diese Woche, an deren Anfang das Arditti Quartet bei der Gesellschaft für Kammermusik gastierte und an deren Ende das anregungsreiche, mit Musikerinnen und Musikern der Extraklasse besetzte Scelsi-Festival in Gang kam.

Nicht gerade seit Menschengedenken, aber doch seit einem halben Jahrhundert besteht nun das von Irvine Arditti im Alter von 21 Jahren gegründete Quartett, das seinen Namen trägt und dessen rascher Aufstieg dem Geiger erlaubte, seine Tätigkeit als Konzertmeister beim London Symphony Orchestra 1980 aufzugeben. Seit diversen Häutungen spielt es seit 2006 in der bis heute gültigen Besetzung mit Irvine Arditti als klar erkennbarem Primarius, mit Ashot Sarkissian an der zweiten Geige und Ralf Ehlers an der Bratsche sowie Lucas Fels am Cello. Alle vier weisen sie scharfe Profile auf, zugleich bilden sie aber ein perfekt aufeinander abgestimmtes Ensemble – von besonderer Bedeutung angesichts des Repertoires von den Klassikern der Moderne bis zu den allerneusten Schöpfungen. Ein Buch der Rekorde bildet die Geschichte des Ensembles. Die Rede ist von mehreren hundert Streichquartetten, die für das Quartett komponiert worden sind, von über zweihundert CD-Produktionen, von Preisen bis hin zum Ernst-von-Siemens-Musikpreis im Jahre 1999. In Basel, bei der Gesellschaft für Kammermusik, ist das Quartett seit seinem Debüt 1989 nicht weniger dreizehn Mal aufgetreten, und am Münsterplatz, in der Paul-Sacher-Stiftung, befindet sich das Archiv des Ensembles.

Nun also das Festkonzert zum Jubiläum des fünfzigjährigen Bestehens und der Auftakt zu einer ausgedehnten Tournee. Fünf Stücke standen auf dem Programm; sie sprachen von der einzigartigen Kontinuität und der unerhörten Vitalität einer Gattung, die gerne als elitär empfunden und in die Nische verbannt wird. Die Werkfolge zeigte ein packendes Panoptikum an Stilen. Den Anfang machte das erste Streichquartett des Briten Jonathan Harvey aus dem Jahre 1977, das vom Strukturdenken des ausklingenden Serialismus zeugt, doch nicht ohne Effekt bleibt. Für Schockmomente sorgte dann «Tetras» des griechischen Architekten und Komponisten Iannis Xenakis, ein wildes, unangepasstes, auch Geräuschklänge einbeziehendes Werk von 1983. Ganz anders «In the Realms oft he Unreal», ein von sehr persönlichem Ton lebendes, wohl auch biographisch geprägtes Werk der Österreicherin Olga Neuwirth von 2009. Nach der Pause als Uraufführung das siebte Streichquartett des 1957 geborenen Briten James Clarke; das kurze, kurzweilige Werk arbeitet mit wenigen kräftigen Strichen, die einen unwiderstehlich in Bann schlagen. Schliesslich «Grido», das dritte Streichquartett des bald neunzigjährigen Helmut Lachenmann, ein Klassiker des Repertoires von 2002, bei dem das Geräuschhafte subtil in den Klang eingebunden ist. Dass auch ein solches Programm auf Anklang stösst, erwies die Begeisterung des grossen Publikums im Hans-Huber-Saal des Basler Stadtcasinos.

Ein Jubiläum beging auch das Basler Scelsi-Festival. 2014 von der Pianistin und Komponistin Marianne Schroeder gemeinsam mit dem Schriftsteller Jürg Laederach gegründet und heute von einem Verein getragen, steht im Zeichen des italienischen Komponisten Giacinto Scelsi, deckt darüber hinaus aber einen weiten stilistischen Kreis neuer Musik ab. Dies genährt durch die lebenslangen, reichen Erfahrungen Marianne Schroeders als einer weitgereisten, mit den Exponenten der neuen Musik bestens vernetzten Künstlerin. Mehr als für die westeuropäischen Grossmeister wie Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen interessierte sie sich für Erscheinungen jenseits des Mainstreams.  Etwa für Galina Ustwolskaja, deren sechs Klaviersonaten, äusserst spezielle Musik, von ihr zu einer Zeit auf CD aufgenommen wurden, da die russische Komponistin noch zu den Geheimtipps gehörte. Eingespielt hat sie auch Werke von John Cage, mit dem sie intensiv zusammengearbeitet hat, von Morton Feldman – oder eben von Giacinto Scelsi, zu dem sie nach Rom gereist ist, um aus erster Hand Informationen zu dessen ebenfalls aussergewöhnlicher, wenn auch nicht unumstrittener Musik zu erhalten.

All diese Erfahrungen fliessen in das Basler Scelsi-Festival ein – der Eröffnungsabend führte es beispielhaft vor. Der Ort des Geschehens war das Kulturzentrum Don Bosco, eine ehemalige katholische Kirche, die mit viel architektonischem Geschick zu einer flexibel nutzbaren kulturellen Lokalität von starker atmosphärischer Ausstrahlung umgewandelt worden ist – ähnlich wie die evangelisch-reformierte Pauluskirche, die zu einem Zentrum der Chormusik geworden ist. Weit vorne im Kirchenraum, dem nach Paul Sacher benannten Konzertsaal, brachte die Klarinettistin und Komponistin Carlo Robinson Scelsis Solo-Stück «Ixor» (1956) zur Aufführung. Das war die Einleitung. Was folgte, war jedoch etwas ganz Anderes, nämlich ein Rezital des berühmten Organisten und Komponisten Zsigmond Szathmáry – denn tatsächlich ist in Don Bosco die Orgel erhalten geblieben. Und sie ist sehr valabel. Szathmáry begann mit «Harmonies», der Etüde Nr. 1 von György Ligeti aus dem Jahre 1967. Eine gleichsam stillstehende, schillernde Klangwelt tut sich hier auf, nie bekommt man die Orgel so zu hören: leise, fahle, mikrotonal gefärbte und darum eigenartig schwebende Klänge, die sich daraus ergeben, dass der Winddruck reduziert ist, die Register nur halb gezogen und die Tasten in differenzierter Weise bedient werden. Und zum Schluss die «Volumina», das berühmt-berüchtigte Stück Ligetis von 1961/62, das einen aus dem Nichts heraus mit einem von Armen und Füssen erzeugten Cluster im vollen Werk erschreckt und am Ende, wenn der Orgel mit einem hörbaren Knall die Luft abgestellt wird, in jämmerlichem Wimmern endet.

Dazwischen gab es, neben «In Nomine Lucis» von Scelsi, eine überraschende «Sonata da chiesa» von Hans Ulrich Lehmann und von Szathmáry selbst eine «Cadenza con ostinati», beides vom Organisten zusammen mit seiner Tochter Aniko Katharina Szathmáry an der Geige vorgetragen. Dann aber, nach der Pause, Arnold Schönberg – und nicht weniger als «Das Buch der hängenden Gärten» von 1909. Die Sopranistin Franziska Hirzel schlug sich fabelhaft; vorbildlich setzte sie auf die Gedichte Stefan Georges, liess sie in hohem Mass verständlich werden und erlaubte deren Umsetzung in musikalische Lineatur zu verfolgen. Für eine Überraschung, die stärker nicht hätte wirken können, sorgte jedoch die Klavierlegende Ursula Oppens, die eigens aus New York, wo sie soeben ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert hatte, nach Basel gekommen war. Ihre Körperhaltung war vom Alter gezeichnet, doch ihre Augen blitzen vor Vitalität, und was ihre Hände an den Tasten vollbrachten, war schlicht ein Wunder. Ein Wunder an manueller Sicherheit und an Gegenwärtigkeit, vor allem aber eines an klanglicher Schönheit – wann und wo lässt sich solches erleben? Beim Basler Scelsi-Festival eben.

Wagners «Ring» nach Basler Art

Von Peter Hagmann

 

Brünnhilde (Trine Møller) klärt Sieglinde (Theresa Kronthaler) auf, Siegfried, noch ungeboren, aber anwesend, hört zu: «Die Walküre» im neuen Basler «Ring des Nibelungen / Bild Ingo Höhn, Theater Basel»

Nun hat der «Ring» auch Basel ergriffen – und wie. Anders als in Bern und Zürich, wo die Nibelungen seit der Spielzeit 2021/22 ihr Unwesen treiben, wird Richard Wagners Tetralogie am Theater Basel nicht einfach an und für sich gezeigt – was nach den gescheiterten Annäherungen im frühen und im späten 20. Jahrhundert für ausreichend Sensation gesorgt hätte. Nein, am Rheinknie erscheint der «Ring» eingebettet in ein Festival, das die Geschichte in einem Vorabend und drei Tagen sinnlich oder kritisch begleitet. Das greift freilich etwas hoch. Unter dem Titel «Rheinklang» gibt es vor den Aufführungen von «Rheingold» auf dem Theaterplatz ein «Chorritual» des Briten Matthew Herbert, das den Fluss, in dem das Gold lagert, zu den wartenden Zuschauern und den vorbeigehenden Passanten bringt.

Vor der grossen Treppe stehen fünf Schalen mit den brennenden Scheiten aus der «Götterdämmerung», vor einem Mikrophon finden sich schwarz gekleidete Sängerinnen und Sänger ein, die den Ton Es aus dem Vorspiel zu «Rheingold» intonieren; in der Folge schliessen sich ihnen Mitglieder aus dem Chor und dem Extrachor des Theater Basel an, die, in einer langen Kolonne die Feuerschalen umkreisen und ebenfalls das Es, bisweilen auch das dazugehörige B intonieren. Immer enger werden die Kreise, bis schliesslich alle das Wasser aus ihren mitgebrachten Gefässen über die starken Scheite in den Schalen giessen und eine dichte Rauchwolke aufsteigt. Eine Kürzestfassung der Tetralogie, die zwar Zusammenhänge schafft, in ihrem latenten Jekami-Charakter aber nicht mehr als nette Stimmung erzeugt, jedenfalls wirklich Substanzielles beisteuert.

Drinnen im Haus geht dann aber die Post ab – am einen Abend mit «Rheingold», am zweiten mit der «Walküre» (die Teile drei und vier folgen in der kommenden Spielzeit). Was hier sogleich ins Auge fällt, ist der bis auf einen kleinen Schlitz geschlossene Orchestergraben – ganz nach der Art des Bayreuther Festspielhauses. Das Sinfonieorchester Basel sitzt in grosser Formation nicht nur im Graben, sondern auch in der sogenannten Garage, einem Raum, der sich hinter dem Graben weit unter die Bühne erstreckt. Dort, wo sonst Bretter die Welt bedeuten, ist ein schwarzes Gitter eingefügt, durch das der instrumentale Klang in den Zuschauerraum findet. Die Kommunikation zwischen dem orchestralen Nibelheim und der Bühne wird mit Hilfe von Bildschirmen erzeugt. Unerhört voll und fasslich klingt das Orchester für den Zuhörer in der vierten Reihe; später, auf einem Platz hinten auf der Estrade, ändert sich wenig an diesem Eindruck. Saft und Kraft in aller Schönheit erzeugen die Streicher, aber auch die Hörner, während die solistisch hervortretenden Bläser, namentlich das Englischhorn, farbig schimmernde Linien aufscheinen lassen.

Das alles geschieht unter der Leitung von Jonathan Nott, der 1996 als junger Kapellmeister in Wiesbaden seinen ersten «Ring» dirigiert und im Wagner-Jahr 2013 mit einer konzertanten Aufführung der Tetralogie sensationellen Erfolg erzielt hat. Die Erfahrung ist zu hören. In Wagners Partituren kennt er sich eins zu eins aus; mit sicherem Gespür für die Tempi und ihre Verbindungen, mit instinktivem Gefühl für das Rauschhafte und zugleich mit untrüglichem Wissen um die Einzelheiten zieht er durch die beiden Abende: als ein genuiner Theatermusiker, der den Leitmotiven ihre Rechte lässt, sich aber nie bemüssigt fühlt, den belehrenden Zeigefinger auszustrecken. Alte Instrumente, wie sie diesen Sommer beim Lucerne Festival zu hören waren, haben ihren Reiz; in Basel ist zu erleben, dass es auch ohne sie zu spannenden Ergebnissen kommen kann.

Die spezielle szenische Konfiguration bildet die Basis für Musiktheater im Raum – denn Benedikt von Peter, Intendant des Theater Basel und, zusammen mit Caterina Cianfarini, Regisseur des Basler «Ring», ist ein Raumkünstler. Das hat er in verschiedenen, in ihrer Wirkung oft überwältigenden Inszenierungen, etwa mit Luigi Nonos «Prometeo» 2016 in Luzern oder in Basel 2020 mit «Saint-François d’Assise» von Olivier Messiaen, vor Augen geführt. In Wagners Tetralogie macht die Heranführung der Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne ans Publikum heran besonders Sinn und gehörig Effekt. Wer die bebenden Körper ganz nah vor sich sieht und dabei jedes Wort versteht, bekommt eine Ahnung davon, was Singen heisst – erst recht Singen auf der Bühne und Wagner-Singen. Indessen weist das Konzept zwei entscheidende Schwächen auf. Zunächst ist die Nähe natürlich nur in den ersten Sitzreihen wirklich erlebbar; wer seinen Sitz weiter hinten im Zuschauerraum vorfindet, für den bleibt die Nähe fern wie stets in der Oper – zumal die durch Natascha von Steiger konzipierte Einheitsbühne mit grossen Elementen, etwa einem mehrstöckigen Holzhaus als Sinnbild für die Burg Walhalla, arbeitet und den Blick in den Hintergrund zieht. Das führt zu einer deutlichen Ungleichbehandlung des Publikums.

Vor allem aber erhält in der Basler szenischen Einrichtung der Körperausdruck besonderes Gewicht – und der ist, wie stets bei Benedikt von Peter, handgreiflich, bisweilen jedoch nicht sonderlich differenziert ausgeprägt. Zwar setzt das die musikalische Vitalität fasslich in Gang und Geste um, zugleich aber steht es dem Werk Wagners im Weg. In den beiden grossen Streitgesprächen zwischen Wotan und Fricka in «Rheingold» wie in der «Walküre» verliert die hochstehende Schlagfertigkeit und dessen musikalische Umsetzung an Schärfe, weil zu viel szenische Betriebsamkeit herrscht. Mit seinem dunklen Timbre gibt Nathan Berg einen überherrischen und darum schon merklich angeknacksten Göttervater, der viel zu oft und viel zu stark auf den Tisch haut, während Solenn’ Lavanant Linke die Göttergattin packend singt, aber zu sehr mit Hysterie versieht. Auch der Loge von Michael Laurenz, stimmlich von hohem Format, wirkt überzeichnet. Rollendeckend dagegen die Erda der ehrwürdigen Hanna Schwarz und Frickas Schwester Freia, die für einmal nicht von einer Soubrette, sondern von Lucie Peyramaure mit ihrer pointierten stimmlichen Präsenz gesungen wird.

Das alles findet Platz in einer Inszenierung, die den «Ring des Nibelungen» als Rückblende, als Erinnerung Brünnhildes an ihr Leben, zu erzählen sucht. Wotans Lieblingstochter, Trine Møller bringt das mit farbenreicher Stimme, aber ebenfalls mit etwas heftiger Körpersprache zur Geltung, sieht ihren Vater, seinen zum Scheitern verurteilten Machtanspruch, ausgesprochen kritisch – ja, sie schildert es so, dass ihre Stiefmutter Fricka als Anführerin einer Verschwörung gegen Wotan erscheint. Immer wieder tritts Fricka hinter einer Wand hervor und fordert, ohne ein Wort zu singen, von ihren Untergebenen Donner (Michael Borth) und Froh (Ronan Caillet), ins Bühnengeschehen einzugreifen. Dieses Geschehen zeigt sich in einer Art Zeitlosigkeit, indem sich Ungleichzeitiges gleichzeitig ereignet. Die handelnden Figuren sind in ihren unterschiedlichen Lebensaltern gegenwärtig – Siegfried zum Beispiel mit einem Hörnchen am Gürtel und einem Holzschwert als Kind, auch als Jugendlicher. Das mag aufgesetzt wirken, denkt aber die dramaturgischen Ansätze Wagners weiter, denn durch die Leitmotive und die immer wieder eingefügten Rekapitulationen bleibt die Tetralogie über weite Strecken als Ganzes präsent.

Allerdings schafft die Basler Art der Bühnenerzählung für das Publikum auch Momente der Verwirrung und solche der Ablenkung. Zudem wird hier «Der Ring des Nibelungen», der von A bis Z durchkomponiert ist, durch unnötige, weil banale Zwischentexte unterbrochen. Dabei gäbe es reichlich genug zu erleben. «Rheingold» etwa als ein ins Grosse verlängertes Puppentheater, in dem die Rheintöchter wie in den ersten Inszenierungen der Tetralogie als an Stäben geführte Nixen erscheinen, während Alberich (der vorzügliche Andrew Murphy) als riesige Kröte herumhüpft und später als veritabler Drache aus den seitlichen Vorhängen hervorschnaubt. Oder in der «Walküre», mit Ric Furman und Theresa Kronthaler, Siegmund und Sieglinde als ein von Anfang an schwer gefährdetes Liebespaar. Artyom Wasnetsov gibt einen furchterregenden Hunding, Runi Brattaberg neben Thomas Faulkner als Fasolt einen nicht weniger schlagkräftigen Fafner, und Karl-Heinz Brandt macht als Mime auf die Fortsetzung im nächsten Herbst neugierig.

Von den Nibelungen, deren rhythmisch vertrackte Hammerschläge leider nicht sehr gut vernehmbar geraten, wird erzählt, sie gewännen das Gold in den Tiefen des Rheins und dort in Schluchten und Grüften. Fast in denselben Worten berichtet das die Basler Mission in einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden Schilderung ihrer Tätigkeit in Afrika. Dies im Rahmen eines dokumentarischen Theaterstücks von Regine Dura und Hans-Werner Koestinger mit dem Titel «Gold, Glanz und Götter» – einem Teil des Festivals zum «Ring». Es handelt vom globalen Wirken der Basler Handelsherren, die mit ihren auch den Sklavenhandel einbeziehenden Dreiecksgeschäften zwischen Europa, Afrika und Südamerika im Namen Gottes des Herrn mächtig Gold an die Gestade des Rheins gebracht haben. Davon die Rede ist zunächst in einem kleinen Raum im obersten Stock des Basler Stadttheaters, später dann, nach einem eiligen Gang durch ein endlos wirkendes Treppenhaus in die tiefste Tiefe des Materiallagers. Dort wird diese von heute aus peinliche Geschichte anhand vieler nicht ganz neu entdeckter, aber doch hochinteressanter Dokumente ausgebreitet. Und dort kommen auch wieder jene Messing-Gefässe zum Einsatz, die schon im «Chorritual» auf dem Theaterplatz zu sehen waren und die auf der Bühne als Rheingold den Körper Freias zudecken. Auch hier: Leitmotive. Aber solche der eigenen Art.

Ohren auf

Das Sinfonieorchester Basel mit Ivor Bolton

 

Von Peter Hagmann

 

Ja, es lohnt sich zuzuhören. Denn das Sinfonieorchester Basel, das sich 2012 nach einem Vierteljahrhundert anhaltender struktureller Krisen von der Allgemeinen Musikgesellschaft Basel als seiner bisherigen Verwaltung losgelöst und sich auf die eigenen Beine gestellt hat, ist angekommen. Zunächst bei sich selber: Das Orchester hat eine klar erkennbare Identität gefunden. Dann aber auch beim Publikum: Der Aufbau eines eigenen Stamms an Abonnenten ist gelungen, die Konzerte sind gut besucht, es herrscht prickelnde Atmosphäre. Das geht auf Ivor Bolton zurück, der seit 2016 als Chefdirigent wirkt, wie auf Hans-Georg Hofmann, sein Alter Ego als künstlerischer Direktor des Orchesters. Nicht zuletzt aber auf das von Jacques Herzog und Pierre de Meuron renovierte und dabei geschickt erweiterte Stadtcasino Basel; im Sommer 2020 wiedereröffnet, bietet es einen in seiner äusseren Anmutung baslerisch zurückhaltenden, akustisch hervorragenden Konzertsaal und ein lustvoll verspieltes Foyer mit grosszügigen Nebenräumen.

So viele Faktoren hier mitspielen, am Ende zählt das künstlerische Resultat. Davon zu erfahren, bietet sich die jüngste, bei dem erfolgreichen Schweier Label Prospero erschienene CD-Produktion an. Sie gilt Camille Saint-Saëns, aber nicht seinen Sinfonien, sondern den Sinfonischen Dichtungen, mit denen sich der 1835 geborene Franzose in die Gefolgschaft um Franz Liszt und die Vision von der Programmmusik einreihte. Originelle, phantasiereiche, zum Teil wagemutige Erfindungen sind das, vorgelegt von einem Meister, der zu seinen Lebzeiten für den Blick nach vorne heftig kritisiert und später, nach einem Tod 1921, gerade im deutschsprachigen Kulturkreis als akademisch angehauchter Klassizist gescholten wurde. Da finden sich Stücke wie die berühmt gewordene «Danse macabre» oder das «Rouet d’Omphale», das wie alle vier Werke dieser Art aus Saint-Saëns’ Feder auf die griechische Mythologie zurückgreift

Im Konzertsaal erscheinen auch Stücke wie «Phaéton» oder «La Jeunesse d’Hercule» so gut wie nie, was angesichts ihrer ausgeprägten Erfindungskraft kaum zu verstehen ist. Umso mehr ist die Veröffentlichung auf CD (und natürlich auf den einschlägigen Portalen im Netz) zu begrüssen. Dass Ivor Bolton, der in der alten Musik beheimatet ist, die neue Kritische Ausgabe aus dem Hause Bärenreiter verwendet, erstaunt nicht. Überraschend aber, wie akribisch und lustvoll der Dirigent mit dem Sinfonieorchester Basel das spezifische Parfum dieser Musik herausarbeitet. Mit welcher Genauigkeit und welcher Sensibilität er die Farben aufscheinen lässt. Ganz ähnlich übrigens wie in der wunderschönen Aufnahme des Requiems von Gabriel Fauré aus dem Jahre 2020.

Bei der Aufführung der Sinfonie in d-moll von César Franck, mit der die Saison 2022/23 des Basler Sinfonieorchesters schloss, hat genau das weitgehend gefehlt. Opulent wirkte der Gesamtklang auf einem der hinteren Plätze im Saal, aber auch diffus, mit wenig klarer Zeichnung der Lineaturen. Die Sinfonie ist ja von der Orgel her gedacht, deshalb müssten zum Beispiel die Farben der Oboen und des Englischhorns im Tutti mit mehr Profil versehen sein – wie es eben auf der Orgel, adäquate Registrierung vorausgesetzt, gelingen kann, hier aber nicht erreicht wurde. So gerieten in allen drei Sätzen die wellenartigen Bewegungen, die mit ihrem immer gleichen motivischen Material schrittweise in die Höhe steigen und das Geschehen voranbringen, trotz sorgfältiger Gestaltung der Tempi gerne beiläufig. Eigenartig. Fast schmerzlich. Wo Gründe dafür liegen mögen? In Mängeln an der momentanen Form? In ungenauer Probenarbeit? In zu wenig detaillierter Analyse der Partitur? Dass es auch anders geht, erweisen die Basler Einspielungen von Werken des französischen Repertoires.

Auch nicht restlos überzeugend der erste Teil des Abends mit dem ersten Klavierkonzert, ebenfalls in d-moll, von Johannes Brahms – und das überraschte darum, weil auch hierzu eine hinreissende Aufnahme aus Basel vorliegt. Schon der Einstieg gab zu denken. Das tiefe d, aus dem ein erstes Thema heraustritt, wurde von der Pauke förmlich erschlagen. Im zweiten Takt ging die Pauke nicht aufs vorgeschriebene Mezzoforte zurück, sie verblieb vielmehr im anfänglichen Fortissimo, so dass der Einsatz der Hauptsache in den Streichern unterging. Die Perspektive auf jenen klobigen Ton, der in älteren Zeiten bei Brahms gepflegt wurde, tat sich auf – und das führte dazu, dass, so erlebt in einer der vorderen Reihen des Saals, Alexander Melnikov am Steinway immer wieder zu schwer erträglichem Dreschen anhob, zu einem Wettkampf der Lautstärken zwischen Soloinstrument und Orchester. Sobald er sich in lyrischen Gefilden bewegte, und namentlich Adagio des Mittelsatzes, vermochte Melnikov zu zeigen, zu welch herrlichem Schweben, geprägt von beweglichen Tempi, ungleichzeitigem Anschlag und Farbenspiel, er in der Lage ist. Da war er ganz der Musiker, der er ist.

Das alles liess, ebenfalls nicht ohne Bewegung, an die überaus gelungene Aufnahme von Brahms’ d-moll-Konzert denken, für die sich Melnikov zu Zeiten der Pandemie mit dem Basler Orchester und seinem Chefdirigenten zusammengetan hat. Allein, bei dieser Aufnahme hatte sich Melnikov, ein Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis im weiteren Sinn, für einen Blüthner-Flügel aus dem mittleren 19. Jahrhundert, mithin aus der Zeit der Uraufführung des Konzerts, entschieden. Er tat damit dasselbe, was András Schiff 2019 bei seiner Einspielung der beiden Klavierkonzerte von Brahms an die Hand genommen hatte. Mit seinem etwas gedämpften, von innen her leuchtenden, mehr mit dem Hammerklavier als dem Steinway verbundenen Klang erlaubt der Blüthner eine ganz andere Art des Singens, als im Basler Abend zu hören war. Und ergeben sich grundlegend anders geartete Dialoge, da die beiden Partner verschiedenen klanglichen Sphären entstammen – zumal das Sinfonieorchester Basel in herkömmlicher Besetzung antrat, während Schiff vom Soloinstrument aus das Orchestra of the Age of Enlightenment anführte.

Wie auch immer: Nächste Saison geht es weiter mit einem spannenden Programm im Zeichen von «Familienbanden». Die Gebrüder Jussen und die Geschwister Labèque treten an zwei Klavieren auf, dazu kommt das Klaviertrio der Familie Moreau, während die Pianistin Onutė Gražynitė mit ihrer Schwester Mirga Gražynitė-Tyla, die zweimal ans Basler Pult tritt, zusammenwirkt. Zweimal kommt auch Krzysztof Urbański. Und Ivor Bolton dirigiert Musik von Unsuk Chin und Louise Farrenc, aber auch Bruckners Siebte. An Spannung fehlt es nicht.

Camille Saint-Saëns: Poèmes symphoniques (Bacchanale aus «Samson et Dalila», «Phaéton», «La Jeunesse d’Hercule», «Le Rouet d’Omphale», «Danse macabre»). Aufnahmen nach der neuen Kritischen Ausgabe aus dem Bärenreiter-Verlag. Sinfonieorchester Basel, Ivor Bolton (Leitung). Prospero 0060 (CD, Aufnahme 2021, Publikation 2023).

Johannes Brahms: Klavierkonzert Nr. 1 in d-moll op. 15, Tragische Ouvertüre. Luigi Cherubini: Eliza ou Le Voyage aux glaciers du Mont Saint-Bernard. Alexander Melnikov (Klavier), Sinfonieorchester Basel, Ivor Bolton (Leitung). Harmonia mundi 902602 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2021).

Gabriel Fauré: The Secret Fauré, Vol. III: Geistliche Werke, insbesondere die Messe de Requiem. Katja Stuber (Sopran), Benjamin Appl (Bariton), Balthasar-Neumann-Chor, Sinfonieorchester Basel, Ivor Bolton (Leitung). Sony Classical (Aufnahme 2019, Produktion 2020).

Wahrheiten der Musik

Mozarts «Così fan tutte»
mit dem Kammerorchester Basel

 

Von Peter Hagmann

 

«Ausverkauft» – so heisst es auch an diesem Abend des Kammerorchesters Basel. Kein Wunder, im wunderschön renovierten Musiksaal des Basler Stadtcasinos wird «Così fan tutte» gegeben, das Dramma giocoso Lorenzo Da Pontes, mit dem Wolfgang Amadeus Mozart im Jahre 1 nach der Französischen Revolution für Wellenschlag gesorgt hat. Was es bis heute tut. Selbst in unseren Tagen gibt es Opernfreunde, die dem von Don Alfonso arrangierten Partnertausch mit Vorbehalten begegnen – trotz der Genialität von Mozarts Musik. Und kommt das Stück auf die Bühne, tritt nicht selten heraus, wie hilflos die Regisseure mit der krassen Absurdität von «Così fan tutte» umgehen. Kann es tatsächlich sein, dass die beiden Frauen ihre Geliebten, die ihnen in notdürftiger Kostümierung übers Kreuz die Aufwartung machen, nicht erkennen und auf das Spiel hineinfallen? Und ist effektiv denkbar, dass, wenn der ganze Schwindel aufgeflogen ist, die Frauen düpiert dastehen und die Männer ihre Wunden lecken, doch wieder Friede Freude Eierkuchen eintritt?

An Fragen fehlt es nicht. Unter der Leitung seines Ersten Gastdirigenten Giovanni Antonini – einen Chefdirigenten kennt das sich selbst verwaltende Ensemble nicht – hat das Kammerorchester Basel eine starke, wenn nicht gar die einzige plausible Antwort gegeben. Es hat auf die Musik Mozarts gehört und ihre Expressivität in aller Eindringlichkeit herausgestellt. Schon in der, was das Tempo betrifft, mässig genommenen Ouvertüre liess das historisch informiert, aber nicht durchwegs auf alten Instrumenten spielende Orchester hören, welches Qualitätsniveau es pflegt. Klangschönheit und Expressivität in den Bläsern, Agilität und Vitalität in den Streichern liessen keinen Wunsch offen – ohne Zweifel hat die dem Basler Abend vorangegangene Tournee nach Luxemburg, Paris und Hamburg die Formation zusammengeschweisst und die Interpretation geschärft. Wenn die Emotionen hochgingen, nahmen die Musikerinnen und Musiker, angefeuert durch ihren bisweilen arg schnaubenden Dirigenten, kein Blatt vor den Mund. Während sie in den Momenten des Innehaltens, der Unsicherheit, des Fragens offen waren für jedes Mitfühlen, für jede Zärtlichkeit. Das alles in dem von ebenso eleganten wie präsenten Tiefen getragenen Gesamtklang wie in den teils stupenden solistischen Einlagen.

Glänzenden Reflex fand dieses musikalische Bild im Auftritt von Julia Lezhneva als Fiordiligi. In den letzten Jahren grossartig aufgeblüht, bewältigt die junge Sopranistin die enormen Anforderungen dieser Partie absolut hinreissend. Der besonders weite Stimmumfang, den ihr Mozart abverlangt, bereitet ihr keinerlei Schwierigkeit; ohne Mühe springt sie aus höchster Höhe zwei Oktaven in die Tiefe, und dass dafür ganz unterschiedliche stimmliche Ansätze vonnöten sind, tritt nicht in Erscheinung, so perfekt sind die Register aufeinander abgestimmt und miteinander verschmolzen. Dazu kommen Stilbewusstsein, Phantasie und Mut im Umgang mit Verzierungen, die staunen machen; mit den reichhaltigen, niemals aufgesetzt wirkenden, vielmehr jederzeit emotional unterfütterten Verzierungen, welche die Sängerin einzusetzen wusste, geriet «Per Pietà», ihre grosse Arie im zweiten Akt, zum Höhepunkt des Abends. Allerdings blieb dieses vokale Niveau die Ausnahme. Als Dorabella hielt Susan Zarrabi, eingesprungen für die erkrankte Emőke Baráth, zuverlässig stand, bildete jedoch nicht das hier geforderte Gleichgewicht. Dafür sorgte eher Sandrine Piau, eine hocherfahrene Expertin für die Partie der vorlauten Dienerin Despina. Die Herren dagegen, sie blieben deutlich zurück, weil sie durchs Band zu viel Druck gaben und immer wieder die Balance zwischen vokalem und instrumentalem Ausdruck bedrohten. Als Ferrando zeigte Alasdair Kent schöne Höhe, die er auch im Pianissimo zu nutzen verstand, geriet aber gern in eine unbefriedigende Schärfe, während Tommaso Barrea als Guglielmo mehr Stimmkraft als Gestaltungsvermögen erkennen liess. Konstantin Wolff schliesslich, auch hier mit leicht belegtem Timbre, zeichnete Don Alfonso weniger als gelassenen Aufgeklärten denn als herb fordernden Intriganten.

Mag sein, dass Mängel dieser Art auch auf die szenische Einrichtung des Abends zurückgingen. Salomé Im Hof versah das Geschehen auf dem Konzertpodium dergestalt mit Aktion und Kostüm, dass Mozarts Oper zu veritabler halbszenischer Aufführung kam. Dabei setzte sie ganz auf die komische Seite, womit sie manchen Lacher im Publikum generierte, die Ambivalenz des Stücks aber völlig ausser Acht liess. Das war zu viel des Guten, zudem echt hausbacken, jedenfalls nicht auf dem Niveau des Kammerorchesters Basel.

Wo steht das Streichquartett?

Begegnungen mit dem Cuarteto Casals, dem Ulysses Quartet und dem Chiaroscuro Quartet

 

Von Peter Hagmann

 

Seit eh und je, und das gilt bis heute, wird das Streichquartett als Inbegriff der musikalischen Kunst erlebt: als «Königsdisziplin», wie gerne gesagt wird. Tatsächlich wird im Zusammenwirken von vier Stimmen und vier Instrumenten in unterschiedlicher Höhe, aber vergleichbarer Farbe das musikalische Geschehen in einer Reinheit und einer Nähe wie nirgendwo sonst erfahrbar. Das interessiert nicht alle Musikfreunde gleichermassen; diejenigen unter ihnen, die sich davon angesprochen fühlen, sind jedoch mit besonderer Hinwendung, auch mit auffallender Kompetenz dabei. Besonders angezogen von der Gattung fühlten und fühlen sich zudem die Komponisten; bis heute werden von den bedeutenden Vertretern dieser Zunft Werke für zwei Geigen, Bratsche und Cello vorgelegt; von Wolfgang Rihm zum Beispiel stammen nicht weniger als fünfzehn Streichquartette, entstanden zwischen 1966 und 2011. Auch an Interpreten fehlt es nicht – gerade heutzutage nicht, da die Musikhochschulen allüberall höchstqualifizierte Instrumentalisten auf den Markt werfen, wo sie nicht eben mit offenen Armen empfangen werden. Jedenfalls sind in den letzten Jahrzehnten Streichquartette in Menge gegründet worden. Nur mit der Kommerzialisierung will es nicht recht klappen. Auftritte von Streichquartetten sind nun einmal für kleinere Räume gedacht und werden von einer geringeren Zahl an Zuhörern besucht, während die Kosten, darunter aber nicht die Gagen, beständig steigen. Den Kassenwarten bereitet das wenig Freude.

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Dennoch: In der Nische des Streichquartetts herrscht pralles Leben, es darf einmal mehr betont werden. Zu den Bannerträgern gehört hier die Gesellschaft für Kammermusik Basel, die seit 1926 im Basler Stadtcasino Streichquartetten ihr Podium bietet. Klein, aber fein ist dieser private, allein von den Mitgliederbeiträgen, den Konzerteinnahmen und den Zuwendungen von Sponsoren lebende Verein. Dank seiner stolzen Vergangenheit und dank seinen derzeit acht Konzerten pro Saison stösst er auf internationale Beachtung – jedenfalls kommen die führenden Ensembles der Szene regelmässig nach Basel. Wenn das Quatuor Ebène zu Gast ist (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 03.11.22), ist der Hans Huber-Saal mit seinen knapp fünfhundert Plätzen voll besetzt und herrscht in dem altersmässig gut durchmischten Publikum zuerst knisternde Spannung, dann eine Begeisterung sondergleichen. Nämliches gilt für den Abend mit dem Cuarteto Casals, das vor einem Vierteljahrhundert in Madrid gegründet wurde und längst zur ersten Garde der Streichquartette gehört.

Anders als die meisten der berühmten Ensembles früherer Zeit lebt das Cuarteto Casals Flexibilität der Besetzung und Freiheit im interpretatorischen Zugang. Vera Martínez Mehner, in der Besetzungsliste des Ensembles als Primgeigerin genannt, und Abel Tomàs Realp als Zweiter Geiger wechseln regelmässig ihre Funktionen; einmal spielt sie, einmal er die Erste Geige. Das hat insofern seinen besonderen Reiz, als da zwei sehr gegensätzliche musikalische Persönlichkeiten alternieren. Gerade Abel Tomàs Realp tritt als unerhört impulsiver, klanglich phantasievoller Geiger in Erscheinung, der viel Energie ins Ensemble leitet. Sie wird vom Cellisten Arnau Tomàs Realp, vor allem aber von dem rechts vorne sitzenden Bratscher Jonathan Brown kraftvoll aufgenommen – die Viola erhält dadurch herausgehobenes Profil und straft die über dies Instrument noch immer kursierenden Klischees entschieden Lügen.

Auch gegenüber den Erkenntnissen der historisch informierten Aufführungspraxis zeigt sich das Cuarteto Casals offen. Darmsaiten verwenden sie nicht, schon allein aus Gründen der Praktikabilität nicht, aber für ältere Musik kommen klassische Bögen zum Einsatz. So zum Beispiel für die vier Stücke aus der «Kunst der Fuge» Johann Sebastian Bachs, die in Basel den «Reflections on the Theme B-A-C-H» der mittlerweile 91-jährigen, seit langem in Deutschland lebenden Russin Sofia Gubaidulina vorangingen – neue Musik gehört beim Cuarteto Casals ebenso selbstverständlich dazu wie die alten Bögen. Indessen wird die historische Praxis nicht ideologisch, sondern pragmatisch eingesetzt. In Joseph Haydns Streichquartett in A-dur, op. 20 Nr. 6, gerät das Adagio darum so empfindsam, weil der Klang, dafür sorgen die Tongebung und der subtile Umgang mit dem Vibrato, ganz ruhig wird, während das Finale mit seinem Fugencharakter leicht und spritzig daherkommt. Ebenfalls mit einer Fuge schliesst das Klavierquintett in Es-dur von Robert Schumann, für das sich der Pianist Claudio Martínez Mehner zum Ensemble gesellte. Grosse Kammermusik mit offenem gestalterischem Blick gab es da.

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Das ist Kunst. Kunstmusik. Sie verdankt sich natürlich der technischen Grundlage, und mehr noch dem Imaginationsvermögen in der Spontaneität des Moments, vor allem aber reicher Erfahrung. So weit ist das Ulysses Quartet aus New York noch nicht – aber das heisst wenig. Vier junge Leute haben da 2015 zusammengefunden, so wie viele andere auch, eine Einrichtung wie die für 2024 wieder angekündigte Streichquartett-Biennale von Amsterdam erzählt von diesen Entwicklungen. Sehr amerikanisch, um das Klischee zu bemühen. Unkompliziert, frisch-fröhlich treten sie auf. Christina Bouey, das Temperamentsbündel an der Ersten Geige, singt auch sehr ordentlich, wie sie im «Sonett CXXVIII» für Sopran und Violine des hierzulande unbekannten, im Konzert anwesenden Komponisten Joseph Summer zusammen mit Rhiannon Banerdt an der Zweiten Geige bewies. Als ebenfalls vorne rechts sitzender Bratscher, Schlagzeuger und Podiumstechniker in einer Person bewährte sich Colin Brookes, während Grace Ho am Cello die Ruhe selbst war. Und alle sprachen sie zum Publikum, teils in liebevollen Versuchen auf Deutsch, teils in rasantem US-Englisch; sie dankten fürs Zuhören, lobten den Saal und charakterisierten die Stücke.

Zum Beispiel das Streichquartett Nr. 2, op. 7, von Pavel Haas, welches das Ulysses Quartet nach dem einleitenden Werk «Raegs» der Aserbaidschanerin Frangis Ali-Sade und dem Werk von Joseph Summer darboten. Der in Auschwitz ermordete Schüler Leoš Janáčeks schildert in dieser energiegeladenen Programmmusik eine Reise durch das mährische «Affengebirge» mit Blicken in die Weite der Landschaft, mit Kutschenfahrt und Mondaufgang wie einer wilden Nacht. Das Ulysses Quartet gab sich all dem mit drängender Leidenschaft hin – von mitreissender Wirkung war das. Für Ludwig van Beethovens Streichquartett in a-moll, op. 132, namentlich für dessen weit ausholenden «Dankgesang eines Genesenen in der lydischen Tonart», reicht Leidenschaft allein freilich noch nicht. Bei allem Respekt vor dem Ausloten der Extreme: Um die Zerklüftungen der Partitur Musik werden zu lassen, um über die Brüche hinaus Zusammenhänge zu schaffen, braucht es mehr – mehr an Vermögen, Strukturen klanglich erfahrbar zu machen, aber auch mehr an musikalisch wirksamer Empathie, vor allem aber mehr an interpretatorischem Weitblick. Die Kunst des Musizierens im Streichquartett hat sich in den letzten Jahrzehnten doch beträchtlich verändert; beim Ulysses Quartet ist das erst in Spurenelementen angekommen. Eine Laufbahn als Streichquartett mit diesem Stück zu beginnen, wie die Geigerin Rhiannon Banerdt verriet, zeugt von jugendlicher Verwegenheit. Dass daraus etwas wird, steht noch in den Sternen, ist jedoch, gute Beratung vorausgesetzt, nicht auszuschliessen.

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Spitzenleistung beim Cuarteto Casals, Jugendfrische beim Ulysses Quartet – die Avantgarde des Streichquartetts allerdings, die wird durch ein Ensemble verkörpert, das seine Wurzeln in der alten Musik und in deren Aufführung durch adäquate Mittel der Darstellung findet. Die Rede ist vom Chiaroscuro Quartet. Es verwendet Instrumente mit Baujahren zwischen 1570 und 1780, es spielt auf Darmsaiten und tut das mit den entsprechenden Bögen. Das ergibt ein gänzlich anderes als das gewohnte Klangbild des Streichquartetts – ein hochattraktives, weil es dem künstlerischen Anspruch der Gattung besonders nahekommt. Hell, leicht, schlank und dementsprechend transparent klingt das 2005 in London gegründete Ensemble. Da lässt sich tief in die Musik hineinhören. Auf dieser Basis kann auch die Bandbreite der Tempi vergrössert werden und lässt sich eine Attacke pflegen, die federnde Energie versprüht, aber nie Druck oder Grobheit empfinden lässt. Was das heisst, hat das Chiaroscuro Quartet in zahlreichen Aufnahmen dokumentiert: mit Werken von Haydn und solchen von Mendelssohn oder Schubert, jüngst mit Quartetten von Beethoven und Mozart (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 23.11.22).

Darum war die Stadtkirche Brugg, in der das Chiaroscuro Quartet auf Einladung der Konzertreihe Stretta vor kurzem aufgetreten ist, genau der falsche Ort. Was das Ensemble zu bieten hat, ging, so jedenfalls der Eindruck auf einem Platz zuhinterst in der Kirche, im reichlichen Hall und der diffusen Abstrahlung unter – dennoch nahmen die jubelnden Reaktionen des Publikums in der so gut wie vollbesetzten Kirche enorme Ausmasse an. Trotz der hinderlichen Rahmenbedingungen war eben zu spüren, mit welcher besonderen Auffassung von Balance das Quartett zu Werke geht. Die Primgeigerin, die seit langem in London lebende Russin Alina Ibragimova, ist eine Solistin ersten Ranges; sie spielt Neustes ebenso wie Klassisch-Romantisches, und sie wechselt, wie sie vor einiger Zeit im Gespräch erläuterte, von einem Tag zum anderen umstandslos von Darm- zu umsponnenen Stahlsaiten, vom klassischen zum modernen Bogen. Als Solistin wirkt sie auch im Quartett, nicht dominierend, sondern freundschaftlich motivierend und mitziehend. Sie kann das problemlos tun, weil ihr in der Französin Claire Thirion eine Cellistin gegenübersitzt, die den Bass als solides Fundament markiert und ihn als Gegenpart zum Diskant herausstellt – das alles ohne Kraftgehabe, das verhindert der Gesamtklang des Ensembles. Dazu kommen die ebenfalls pointiert konturierten Mittelstimmen mit dem Spanier Pablo Hernán Benedí an der Zweiten Geige und der Schwedin Emilie Hörnlund an der Bratsche. Übrigens tritt das Quartett in der traditionellen Aufstellung auf, aber ausser beim Cello im Stehen. Und gespielt wird aus dem iPad, man ist keineswegs von gestern.

Das Programm, das die Vier in Brugg vorstellten, nahm sich konventionell aus, doch welche Entdeckungen waren im Zuhören zu machen. Aufhorchen liess schon der Kopfsatz von Haydns Streichquartett in B-dur, op. 33 Nr. 4. Als sich dort die Exposition auf die Durchführung hin zu einer kleinen Stretta auswuchs, wurde offenkundig, dass das Quartett die Freiheiten der Tempogestaltung, die sich neuerdings als eine althergebrachte Praxis wieder zu verbreiten beginnt, mit Lust und Gewinn aufnimmt. Sehr berührend das zarte Trio zum Scherzo, erst recht der in schlichtem geradem Ton genommene Einstieg ins Largo. Und unerhört witzig das abschliessende Presto, das in hohem Mass von der leichtfüssigen Virtuosität der Primgeigerin lebte. Ähnliches ist zu Beethovens Streichquartett in f-moll, op. 95, zu berichten, wo im Kopfsatz die Oktavparallelen zwischen Violine eins und zwei in grossartiger Reinheit erklangen, wo das Cello im Allegretto des zweiten Satzes die absteigenden Gesten klar phrasierte und wo im dritten Satz dank der Darmsaiten die dynamischen Kontraste haptisch, aber niemals schwer heraustraten. Zum Ereignis wurde dann aber das späte G-dur-Quartett Franz Schuberts, dessen enorme Dimension meisterhaft gefasst und in eine Erzählung voller Geheimnisse übergeführt wurde. Nichts wurde verharmlost; im Kopfsatz kam es zu Einbrüchen des Geschehens von erschreckender Drastik – die dynamische und klangliche Spannweite ermöglichte es. Und wo im zweiten Satz auf drei Takte mit ruhigen Akkordwiederholungen im Pianissimo punktierte Ausbrüche im Fortissimo folgen, schüttelte es einen förmlich durch. Nebenbei: Was so etwas Simples wie ein Dreiklang sein kann, einmal ohne, einmal dann aber mit Vibrato – hier, mit dem Chiaroscuro Quartet, war es zu erleben. In der Nische kann manch Bekanntes ein überraschend neues Gesicht zeigen.

Verfeinerung im Einfachen

Verdis «Rigoletto» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Matthias Baus, Theater Basel

Man mag ihn mögen oder nicht – für die neue Produktion von Giuseppe Verdis «Rigoletto» im Theater Basel ist kein Lob hoch genug. Intelligentes, sinnlich erfülltes Musiktheater gibt es da. Die guten Nachrichten kommen zunächst aus dem Graben, wo das Sinfonieorchester Basel auf der vollen Höhe seines Vermögens musiziert: zupackend, aber nirgends grob, klangschön, präzis im Rhythmischen und mit allem Sinn für federnde Eleganz. Dazu angeleitet werden die Musikerinnen und Musiker durch Michele Spotti, einen jungen Dirigenten aus Mailand, dem das Orchester am Ende der Premiere sichtbaren Beifall zollte. Sehr zu Recht, erweist sich Spotti doch als ein sattelfester, ebenso effizienter wie diskreter «maestro concertatore»; er lässt den Sängerinnen und Sängern den nötigen Raum und bleibt ihnen sorgsam zur Seite, behält den Fortgang des Dramas aber jederzeit entschieden in der Hand und sorgt so für durchgehende Spannung. Als besonders wirksam erweist sich dabei des Dirigenten Gefühl für die Tempi und die Beziehungen unter ihnen – da ist ein Raffinement gefordert, ohne das ein Werk wie «Rigoletto» platt bleibt. In der Oper gilt die Aufmerksamkeit des Publikums zuallererst der vokalen Kunst, der Ärger sodann dem Regisseur, während die Formung der musikalischen Seite eher beiläufig mitgenommen wird. Hier ist diese Gewohnheit in jeder Beziehung ausser Kraft gesetzt.

Im Vokalen und in der Ausgestaltung des dramatischen Geschehens herrscht nämlich das reine Glück. Die Besetzung ist erstklassig, sie braucht sich vor keinem anderen Haus zu verstecken. An Überraschungen fehlt es nicht. Als Rigoletto bringt Nikoloz Lagvilava eine ungeheure Bärenstimme ins Spiel, eher einen Bass als einen Bariton, jedenfalls eine abgrundtiefe Schwärze und eine Kraft, die den Narren auch vom Vokalen her zum Aussenseiter macht, das brutal Instinktive in seinem Handeln betont und den Zusammenbruch umso schärfer herausstellen. Einen Buckel braucht es nicht, die Kapuze zu dem dunkelbraunen Ledermantel, den ihm die Kostümbildnerin Clémence Pernoud entworfen hat, sagt alles. Pavel Valuzhin als Herzog bietet mit seinem hellen, obertonreichen Tenor und seiner darstellerischen Agilität das scharfe Gegenbild; schade nur, dass der Sänger gerne zu hoch intoniert (und damit eine Gepflogenheit italienischer Provenienz strapaziert). Speziell dann wieder der Mörder Sparafucile, für den mit David Shipley ein eher hoch liegender, feinzeichnender Bass verpflichtet ist – weshalb denn auch besonders auffällt, dass er, wie er sich Rigoletto mit seinem schönen Namen vorstellt, das in hoher Lage tut. Sein edles weinrotes Gewand mit dem Kummerbund deutet ja auch, dass er seine Dienstleistungen als echter Gentleman anbietet und, so ist anzunehmen, in derselben Weise ausführt. Mit einer echten Donnerstimme wartet Artyom Wasnetsov als Monterone auf – ein später Verwandter des Komturs aus «Don Giovanni». Und dann: Regula Mühlemann, die in Basel ihre erste Gilda singt und das ganz ausgezeichnet macht. Jungmädchenhaft hängt sie an ihrem Vater, doch wie Rigoletto ihr den Hausarrest auferlegt, wird sie rasch störrisch, um dann dem Herzog förmlich zuzufliegen – alles grossartig, alles bewegend dargestellt. Und stimmlich grandios gemeistert dank einem Timbre, das auf einer samtenen Grundlage ein weitgefächertes Farbspektrum ausbreitet. Im Übrigen: Ohne Fehl das Ensemble, ohne Tadel der von Michael Clark vorbereitete Chor.

Zusammen mit dem Orchester sind es die Menschen auf der Bühne, die den Basler «Rigoletto» prägen. Der Regisseur Vincent Huguet dagegen hält sich vorteilhaft zurück; er nennt Verdis Oper sogar «abstrakt» – mit gutem Grund, bilden die beiden Szenen in den Salons des Herzogs doch eher Beiwerk, während das Stück seinen Kern in der direkten Interaktion zwischen den Figuren findet. Das nimmt der Regisseur sehr genau in den Blick, das hat er mit aller Sorgfalt ausgeführt. Der französische Designer Pierre Yovanovitch, hat ihm eine dementsprechend neutrale Bühne eingerichtet. Eine mächtige Rundtreppe, elegant geformt, führt aus luftiger Höhe herunter auf die Spielfläche, wo sich im Verlauf der drei Akte drei halbrunde Wände um die Akteure positionieren: eine immer stärkere Einengung, in der sich die Zuspitzung des Dramas spiegelt. Zugleich aber auch eine Assonanz an die vor einem Vierteljahrhundert aufgestellte, anhaltend umstrittene und bekanntlich nicht nur betrachtete Eisenskulptur «Intersection» des Amerikaners Richard Serra auf dem Platz vor dem Theater. Wenn sich Rigoletto am Ende seiner Möglichkeiten sieht, senkt sich zudem ein zarter, luftiger, aber doch eindeutiger Käfig auf den vom Täter zum Opfer gewordenen Menschen. Alles bloss andeutet, zudem in erlesenen Farben – Design vom Besten, aber sehr wohl mit Aussage. Und in jedem Fall besser als Buckel und Samt. Im Februar folgt an dem sehr lebendigen Basler Haus eine Übernahme von Luigi Nonos «Intolleranza 1960» mit dem Hausherrn Benedikt von Peter am Regiepult. Da wird zweifellos ein ganz anderer Wind wehen.

Theater aus Musik

Drei Mal Bartók in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Evelyn Herlitzius (Judith) und Christof Fischesser im Stadttheater Basel (Bild Matthias Baus, Theater Basel)

Exzellent, dieser Abend. Eine Produktion im Zeichen von Musik und Theater und Tanz, und das in sinnreichem, lustvollem Zusammenwirken der drei Sparten – in Zeiten, da die schon sehr lange währenden, gerade jetzt wieder neu aufflammende Diskussion um Grenzen und Grenzüberschreitungen des Regietheaters in der Oper alles andere als selbstverständlich. Gewiss, mit dem am Theater Basel erarbeiteten Projekt mit dem «Wunderbaren Mandarin» und «Herzog Blaubarts Burg» von Béla Bartók hat sich ein Regisseur verwirklicht. Aber Christof Loy ist ein derart sachbezogener, reflektierter und dazu musikalisch sensibler Bühnenkünstler, dass das Ergebnis zu ausserordentlicher Wirkung kommt. Authentizität eigener Art ist da zu spüren, tiefe Berührung zu erleben.

Wie immer, wenn «Herzog Blaubarts Burg» ins Programm genommen werden soll, stellt sich die Frage nach der Ergänzung zu dem einstündigen Einakter. Christof Loy wollte zu dem dunklen, in Schwärze endenden Stück von 1911, uraufgeführt 1918, eine helle Botschaft stellen: die Botschaft der Liebe, die, wenn sie gelebt wird, gegen alle Widrigkeiten der Umstände ihre Chance haben kann. Und diese Botschaft sollte ebenfalls der Feder Béla Bartóks entstammen. Darum die Tanzpantomime «Der wunderbare Mandarin» – die nun allerdings mit dem Tod des Titelhelden endet, wenn auch mit einem Tod der Erlösung. Wie das Mädchen, das von drei brutalen Zuhältern auf die Strasse geschickt wird, den übel zugerichteten, gleichwohl immer wieder ins Leben zurückkehrenden Mandarin küsst, kann er sterben. Sehr aufhellend ist das nicht, doch kehrt es Loy ins Positive, indem er auf den «Wunderbaren Mandarin» den zarten ersten Satz aus der «Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta» von 1937 folgen und dazu eine von ihm erdachte (und gemeinsam Johannes Stepanek umgesetzte) Choreographie tanzen lässt. Sie deutet an, was der Kuss des Mädchens auf die Lippen des Mandarins wirklich bedeutet.

Über diese Anlage, vor allem über den Bezug zwischen dem «Mandarin» und «Blaubart», lässt sich füglich nachdenken. Im Moment der Aufführung freilich stellt sich eine unerhört dichte, durch die Musik nicht grundierte oder unterstützte, sondern recht eigentlich aus ihr heraus entwickelte Atmosphäre ein. Das ist Musiktheater im besten Sinn. Zumal dem Sinfonieorchester Basel unter der Leitung seines erstmals am Theater Basel auftretenden Chefdirigenten Ivor Bolton eine hervorragende Auslegung der im «Mandarin» zupackenden, im instrumentalen Stück feingliedrigen Musik Bartóks gelingt. Und was die Tänzer, allen voran Carla Pérez Mora (Mädchen) und Gorka Culebras (Mandarin), aber auch die drei vom Komponisten als Strolche bezeichneten Zuhälter Joni Österlund, Nicky van Cleef und Jarosław Kruczek sowie die beiden Freier Nicolas Franciscus und Mário Branco – was dieses Ensemble zustande bringt, ist in seiner Körperlichkeit und seiner Ausdrücklichkeit schlechterdings hinreissend. Energie sondergleichen herrscht hier, und doch gerät nichts grob. Auch die scharfen Attacken der Zuhälter auf den Mandarin bleiben elegante Kunst, so eindeutig sie vorgeführt werden. Sie lassen dem Zuschauer auch Raum fürs Zuhören.

Wenn das Geschehen nach der Pause wieder anhebt, wird deutlich, dass die beiden Teile durch die Ausstattung eng miteinander verzahnt sind. Wo im «Mandarin» ein dichter Wald drohte, ragt bei «Blaubart» die aus Holz gebaute Burg mit ihren verschlossenen Fenstern; in beiden von Márton Ágh entworfenen Bildern herrscht meist nachtschwarze Dunkelheit, die nur von scharfen Lichtkegeln erhellt wird (Licht: Tamás Bányai). Auch die schlichten Kostüme von Barbara Drosihn betonen die Verbindungen; Blaubart gleicht dem Mandarin bis hin in Einzelheiten der Erscheinung, Judith trägt ein kleines Schwarzes wie das Mädchen, selbst die Verwendung der Schuhe schafft Korrespondenz. All das ist fantasievoll erdacht und sorgfältig ausgeführt. Dazu kommt auch hier die Kostbarkeit des Orchesterparts. Ivor Bolton bringt den Farbenreichtum in Bartóks Partitur zu voller Pracht; durch nuancierte Tongebung, auch durch partiellen Verzicht auf das Vibrato in den Streichern gelingt ihm eine blendende klangliche Erweiterung. Und gekonnt die Kontrolle der Spannung: Den grossen C-dur-Akkord im fünften Bild, da Judith die Weite von Blaubarts Ländereien erblickt, nimmt er laut, aber nicht am lautesten – das ist für den dramatischen Höhepunkt reserviert.

Das Paar selbst: grossartig. Christof Fischesser lässt seinen opulenten Bariton in ganzer Fülle hören. Er setzt ihn aber nicht ein, um die Virilität des Schlossbesitzers mit seiner reichen Vergangenheit ins Licht zu rücken, sondern um den Absturz von der durch vorgespiegelte Souveränität nur wenig verdeckten Unsicherheit runter in die reine Verzweiflung drastisch herauszustellen. Ihm gegenüber steht eine Judith, die das Jungmädchendasein längst hinter sich hat, die Blaubart als eine reife Frau begegnet und als solche genau weiss, was sie vom Mann erwartet: Ehrlichkeit. Evelyn Herlitzius, eine geborene Sängerschauspielerin mit tragender, opulent leuchtender Tiefe und Leichtigkeit in der Höhe, dringt unablässig auf Blaubart ein und sieht sich am Ende vor einem Scherbenhaufen. Was bleibt, ist tiefe Betroffenheit, ja Beunruhigung aus, weil «Herzog Blaubarts Burg», mehr als ein Jahrhundert alt, von heute sein könnte.

Krippenspiel und Ritual

Das Theater Basel wagt sich an Bachs «Matthäus-Passion»

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Ingo Höhn, Theater Basel

Muss es wirklich sein, die «Matthäus-Passion» auf der Opernbühne? Nun, so fern liegt es nicht, wenn man an die latente Dramatik von Johann Sebastian Bachs magistraler geistlicher Musik denkt. Und Versuche in diese Richtung der Interpretation gab es immer wieder, bis hin zur Aneignung durch den Choreographen John Neumeier. Aber eine Aufführung als Fest der »Community« unter Beteiligung von Kindern sowie Bürger- und Jugendchören aus Stadt und Region, ja selbst unter Mitwirkung des Publikums, das an zwei Stellen zum Mitsingen eingeladen ist – sieht das nicht sehr nach einer gutmenschlichen, wenn nicht gar populistischen Aktion aus?

Tatsächlich erscheint die «Matthäus-Passion» im Theater Basel auf den ersten Blick als ein monumentales Krippenspiel, denn die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu Christi wird von Kindern vorgeführt. Rührend wirkt das – und zugleich berührend, denn das szenische Arrangement, das Benedikt von Peter, der Intendant des Basler Dreispartenhauses, als Regisseur zusammen mit der Bühnenbildnerin Natascha von Steiger und einem grossen Team entwickelt hat, nimmt den ganzen Raum des Theaters in Anspruch und lebt so von einer eigenen Wirkungsmacht. Sitzplätze finden sich im Auditorium wie ihm gegenüber auf einer ansteigenden, weit in den Bühnenhintergrund reichenden Rampe. Das Orchester ist nach Vorgabe der doppelchörig konzipierten Partitur links und rechts von der Spielfläche platziert. Weitere Instrumentalisten finden sich im Hintergrund des Zuschauerraums wie jenem der Bühne; auch die Chöre klingen von allen Seiten her. Der Raum, mit dem Benedikt von Peter immer wieder gerne und bewusst arbeitet, umfasst alles und schafft Gefühle der Gemeinschaftlichkeit.

Vorne rechts André Morsch, der mit seinem klangvollen Bariton einen emotionalen, teils heftig aufbrausenden, teils zutiefst verzagten Jesus gibt, auf der linken Seite, von der Kostümbildnerin Lene Schwind schwarz gewandet wie alle musikalisch Mitwirkenden, Robin Tritschler als ein stimmlich vielfarbiger, plastisch und daher verständlich deklamierender Evangelist, der als Hilfsregisseur auf der Bühne unentwegt die grosse Gruppe der Kinder durchs Geschehen lenkt, hier liebevoll zugewandt, dort energisch. Allein, so niedlich das aussieht, so sehr fällt die Stilisierung auf – im Agieren der Kinder, aber auch in den Projektionen auf Bildschirme in der Bühnenmitte, die immer wieder zu Tableaux vivants gefrieren. Benedikt von Peter sieht die «Matthäus-Passion» nicht nur als ein geistliches Drama, sondern auch als ein Ritual, in dem Grundwerte unserer Gesellschaft bestätigt und bekräftigt werden.

Gebrochen wird das Ritual durch eine Volksschülerin mit blondem Haarschopf, die immer wieder störend und dazwischenrufend über die Bühne stürmt – eine Art Greta, die das Gezeigte und Vorgetragene mitnichten akzeptiert. Dem gebundenen und gedemütigten Jesus löst sie die Fesseln, gegen Ende warnt sie mit beschwörenden Rufen vor dem drohenden Zusammenbruch des Klimas, und wenn sich beim Schlusschor alles zum Schlafen legt, wirbelt sie die Bettdecken durcheinander. Ist der Schlussakkord verklungen, erscheinen einige der Kinder in Grossaufnahme auf den Bildschirmen und geben Stellungnahmen zum Zustand der Welt und der Gesellschaft ab. Die «Matthäus-Passion» als ein Spiel von Kindern für Kinder, denen hier Aug und Ohr für eine zentrale Tradition geöffnet werden, aber ebenso sehr als ein Spiel von Kindern für Erwachsene, denen der Spiegel vorgehalten wird. Vielleicht etwas viel Moral, doch keineswegs fehl am Platz.

Jedenfalls, zum befürchteten Krippenspiel wird der Abend nicht wirklich; er lässt vielmehr eine Produktion erleben, die konsequent durchdacht ist und in der künstlerischen Verwirklichung auf ambitionierte Professionalität setzt. Das Sinfonieorchester Basel tritt in kleiner Besetzung auf, mit modernen Instrumenten, aber in hohem Mass historisch informiert – wofür der Dirigent Alessandro De Marchi zu sorgen weiss. Durchwegs flüssige Tempi herrschen hier, prägnante Artikulation, sorgsamer Umgang mit dem Vibrato, bisweilen zugespitzte Expressivität. Zu sehr im Hintergrund bleibt der Generalbass, der neben den Orgeln auch Lauten kennt. Und nicht zu befriedigen vermag der von Michael Clark vorbereitete Theaterchor, der, gross besetzt, schwerfällig klingt und an der Premiere manch heiklen Moment des Zusammenwirkens durchlebte. Erstklassig dagegen das Solistenquartett mit der jungen Isländerin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir an der Spitze, einer erstaunlichen Sopranistin. Ihr zur Seite standen an der Premiere die ebenso bewegliche wie stimmgewaltige Altistin Beth Taylor, der Tenor Nathan Haller mit seinem hellen, klar zeichnenden Timbre und der Bass Christian Senn.

Gottvertrauen nach dem Ende – Messiaens «Saint-François» im Theater Basel

 

Von Peter Hagmann

 

 

Bild Ingo Hoehn, Theater Basel

Ein richtiges Ausrufezeichen sollte es werden, darum fiel die Wahl auf «Saint François d’Assise». Mit der ausladenden Oper Olivier Messiaens wollte Benedikt von Peter seine Intendanz und Operndirektion am Theater Basel einläuten. Das hat, denkt man die räumlichen Gegebenheiten und die Traditionen in der Musikstadt Basel, seine Plausibilität. Und die Planungen, vor zwei Jahren in die Wege geleitet, liefen ausgezeichnet – bis die Pandemie dazwischenkam. Aviel Cahn, der «Saint François d’Assise» als Schweizer Erstaufführung zum Abschluss seiner ersten Spielzeit am Genfer Grand Théâtre angesetzt hatte, musste Ende Juni der Theaterschliessungen wegen auf die Produktion verzichten. Benedikt von Peter in Basel blieb bei seinen Plänen und kam so nicht nur zu unerwarteter Ehre, er lieferte auch ein äusserst starkes Lebenszeichen aus dem so hochgradig gefährdeten Bereich des Musiktheaters. Der Preis, den er dafür zahlte, war freilich hoch.

Denn unter den derzeit herrschenden Voraussetzungen liessen sich die Vorgaben, von denen Olivier Messiaen in «Saint François d’Assise» ausgeht, in keiner Weise beim Wort nehmen. Sie sind exorbitant, und zwar nach allen Seiten. Das Publikum sieht sich mit einer Spieldauer von über vier Stunden konfrontiert, der Chor soll mit 150, das Orchester mit 120 Mitgliedern besetzt sein – alles unmöglich in Zeiten von Abstandsregel und Maskenpflicht. Das neue Basler Team bat daher den argentinischen Komponisten Oscar Strasnoy, über seinen Lehrer Gérard Grisey ein Enkelschüler Messiaens, um die Erstellung einer Kammerversion. Auf 42 Sänger ist der Chor verkleinert; er wirkt unsichtbar hoch oben im Schnürboden. 45 Mitwirkende umfasst das Orchester, das, auf der Bühne sitzend, geradezu als gross besetztes Solistenensemble erscheint. Reduziert wurden vorab die Mehrfachbesetzungen bei den Bläsern und den Streichern, während das wie oft bei Messiaen stark ausgebaute Schlagwerk sowie die heulenden Ondes Martenot ihre prägenden Rollen bewahren.

Die Einrichtung zeugt von hoher Kunst. Die Verkürzung der Spieldauer, sie ist, soweit sich das in einer einzigen Aufführung beurteilen lässt, nicht wirklich zu spüren. Und was der von Michael Clark betreute Theaterchor wie das Sinfonieorchester Basel unter der Leitung des fabelhaft präsenten Dirigenten Clemens Heil leisten, verdient alle Bewunderung. Die kompositorische Handschrift ist da, hörbar, erkennbar – und gleichwohl: Ist das noch das als Oper verkleidete Mysterienspiel Olivier Messiaens? Erhöht ist die Durchhörbarkeit, das steht ausser Frage. So lässt sich denn auch besser als bei der Grossbesetzung in die rhythmischen Vertracktheiten eindringen. Mehr Schwierigkeiten öffnen sich auf der Ebene der Klangfarben und ihrer Balance. In der Basler Fassung klingt Messiaens Partitur wesentlich monochromer, trockener, ja spröder als im Original – als ein Stück der Avantgarde von gestern.

Da liegt er, der Konflikt. An Olivier Messiaen kann man sich reiben – bis heute. Die von ihm nach dem Zweiten Weltkrieg vorangetriebene Schärfung des Denkens in Reihen hat die Serialität zum Herzstück der musikalischen Avantgarde Westeuropas werden lassen. Seine Neigung zu komplexen Rhythmen und aperiodischen Verläufen, zu denen er sich durch die Erkundung der Vogelgesänge inspirieren liess, war ebenso folgenreich wie der Umgang mit Klangfarben, der durch fernöstliche Praktiken genährt war. Allein, dass all das mit einem tiefen Glauben verbunden war, dass es sich zu einer Musik fügte, die sich als Gotteslob und nur als das verstand, davon wollten manche der diesseitigen, ganz dem technischen  Fortschritt verpflichteten Avantgardisten nichts wissen.

So erscheint es auch in der Basler Aufführung von «Saint François d’Assise». In den Hintergrund gerät durch die Reduktion auf eine Kammerfassung nämlich der enthusiastische Ton, der auf Messiaens authentischer Frömmigkeit beruht. Nichts kann dem Komponisten gross genug sein, um die Schöpfung und ihren Schöpfer zu lobpreisen, darum muss auch der C-Dur-Akkord am Schluss der Oper mindestens doppelt so lang ausgehalten werden, als es Clemens Heil anzeigt – beim Organisten Messiaen lässt sich das lernen. All die Momente der Freude, der Zuversicht auf die bevorstehende Auferstehung und das Erscheinen der endgültigen Wahrheit, all die Harmonien in Terz- und Quintlage wirken so, als wären sie ihrer Spitzen beraubt. Die im Spätromantischen wurzelnde Überwältigungskraft wird im Basler Programmheft mit einem Zitat des amerikanischen Komponisten Morton Feldman abgetan, der Messiaens Orchesterbehandlung als Disney-Kitsch bezeichnet. Das ist ein Missverständnis. Gerade in «Saint-François d’Assise» ist Messiaens Musik genuin katholisch, von Weihrauch umgeben. Was in der evangelisch-reformierten Basler Auslegung nur wenig spürbar wird.

Zumal das Bühnengeschehen in eine ähnliche Richtung wirkt. Als entschieden deutender Regisseur bekannt, hat Benedikt von Peter zusammen mit seinem Ausstatter Márton Ágh und dem Lichtdesigner Tamás Bányai seine eigene Bilderwelt entwickelt. Sie basiert auf einem Konzept, das den Raum als Ganzen in den Blick nimmt: die Bühne mit Hilfe von Rampen in den nur zu sechzig Prozent besetzten Zuschauerraum verlängert und umgekehrt Zuschauer auf der Bühne platziert. Als Ort des Geschehens dient ein verwahrloster städtischer Platz mit ehemaligem Warenhaus und verlassener Bankfiliale. Die Vögel auf der Hochspannungsleitung, die sich durch den Raum zieht, sind papierene Abbilder ihrer selbst – wir befinden uns in einer Situation fünf nach zwölf. Einzig ein Bettler und seine Spiessgesellen bevölkern die Szenerie. Nach und nach wird deutlich, dass der Bettler der Heilige ist, der mitten im Zerfall für Mitmenschlichkeit und Liebe steht. Die Botschaft der Inszenierung verleiht dem Stück Messiaens eine überraschend kritische Note.

Schade nur, dass der Regisseur die langen musikalischen Verläufe bisweilen mit ablenkendem Aktionismus stört. Der Effekt des grossen Vogelkonzerts im sechsten der acht Bilder zum Beispiel wird dadurch unnötig vermindert. Die Ausstrahlung der Akteure auf der Bühne ist aber von zutiefst berührender Wirkung. Nathan Berg, der viel kerniger, präsenter, gleichsam menschlicher singt als es der grosse José van Dam seinerzeit getan hat, lebt von packender Unmittelbarkeit. Und an der Spitze des ausgezeichnet besetzten Ensembles gibt Rolf Romei den Leprakranken, der von Saint François geheilt wird, mit einer Intensität sondergleichen. Zum Lichtpunkt des Abends wird jedoch die Erscheinung des Engels, der kein Engel ist, sondern ein junges Mädchen, das dem Heiligen bis zu seinem sehr menschlichen Tod beisteht. Was Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, die junge isländische Sopranistin, mit ihrem kristallklaren Timbre aus diesem Auftritt macht, gehört zum Besten des Abends.