«Amerika» – 1914, 1964, 2024

Roman Haubenstock-Ramatis visionäres
Musiktheater im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Es ist kaum zu glauben. Wer das Stück in der phänomenalen Produktion des Opernhauses Zürich erlebt, könnte es für eine Schöpfung unserer Tage halten. Tatsächlich aber stammt «Amerika» von Roman Haubenstock-Ramati aus den Jahren 1962 bis 1964 – dass das Werk bei seiner Uraufführung an der Deutschen Oper Berlin, deren Intendant Gustav Rudolf Sellner es in Auftrag gegeben hatte, einen Skandal auslöste, erstaunt nicht. «Amerika» nach dem unvollendeten Roman Franz Kafkas ist das Gegenteil einer Literaturoper, ja einer Oper überhaupt; in seiner Radikalität war Haubenstock-Ramatis musiktheatralischer Entwurf seiner Zeit um Lichtjahre voraus. Das mag auch verstehen lassen, warum das radikale Stück nach der Uraufführung bisher nur zweimal auf die Bühne gekommen ist, 1992 als eine verdienstvolle Tat des damaligen Intendanten Gerhard Brunner (und mit dem Haubenstock-Schüler Beat Furrer als Dirigenten) an der Oper Graz und dann 2004 in Bielefeld.

«Amerika» basiert auf einem Libretto, das vom Komponisten selbst anhand einer Dramatisierung von Kafkas Roman durch Max Brod erstellt worden ist. Es handelt von einem Mittelschüler namens Karl Rossmann, der von seinen Eltern auf die Straße gestellt worden ist, nachdem ihn ein im Haushalt tätiges Dienstmädchen erfolgreich und folgenreich verführt hat. Die Geschichte wird allerdings nicht linear als ein in sich geschlossener, logischer Ablauf erzählt. Er empfinde, so hält Haubenstock-Ramati im Vorwort zur Partitur fest, Kafkas Roman als das «Bild eines Traums», in dem sich Reales, Eindeutiges mische mit Verwischtem, Unklarem. Der Erzählstrang ist daher ersetzt durch eine rasche Abfolge von Episoden – von Momentaufnahmen, die sich in der Gesamtschau zwar zu einem erkennbar nach unten führenden Weg fügen, deren eigentliches Dasein jedoch in immer wieder aufs Neue überraschenden Wendungen liegt. In Wendungen übrigens, die das Zynische nach der Art des klassischen jüdischen Witzes in sein chaplineskes Gegenteil kehren. Darin liegt die eine Seite des manifesten Unterhaltungswerts von Haubenstock-Ramatis «Amerika».

Zur Diskontinuität aufgesplittert, und hierin ist die andere Seite des kitzligen Vergnügens begründet, sind auch die Mittel und Wege der musikalischen und szenischen Vermittlung. Gewiss, es gibt eine Bühne, sogar eine Guckkastenbühne, und einen Graben mit einem Orchester darin. Indessen greift «Amerika» weit über die hergebrachte Disposition eines Opernhauses hinaus. Was Haubenstock-Ramati komponiert hat, ereignet sich überall im Raum, oben wie unten, hinten wie vorne und an den Seiten. Vieles davon wird nicht ad hoc erzeugt, sondern stammt aus vorab erzeugten Aufnahmen; für die Sprechchöre zum Beispiel greift das Opernhaus Zürich auf Material, das mit dem Wiener Vokalensemble Nova unter der Leitung von Colin Mason für die Aufführung von Bielefeld entstanden und hier einer technischen Aufbereitung unterzogen worden ist. Ausser Kraft gesetzt ist auch die in der Oper übliche Dominanz der Kantilene. Gesungen wird kaum, eher wird deklamiert; wenn dann aber doch gesungen wird, geschieht es zum Teil in halsbrecherischen Koloraturen: Gesang an der Grenze zum Singbaren.

Das alles wird vom Team des Opernhauses Zürich unter der Leitung des in diesem Repertoire erfahrenen Dirigenten Gabriel Feltz und unter Mitwirkung der Tontechniker Oleg Surgutschow (Klangregie) und Raphael Paciorek (Sounddesign) in erstklassiger Qualität dargeboten. Haubenstock-Ramatis Stück war in Zürich ja nicht zum 200. Todestag Kafkas 2024 geplant, sondern weit früher, in jenem Jahr, da die Pandemie ausbrach und eine Aufführung von «Amerika» bestenfalls als Streaming hätte gezeigt werden können. Weil der Effekt des Räumlichen in diesem Fall zu sehr gemindert worden wäre, wurde die Produktion verschoben. Gleichzeitig hat sich die Zürcher Oper zur Zeit der verordneten Schliessung eine Surround-Anlage vom Feinsten eingerichtet, um den Klang von Chor und Orchester aus der extern gelegenen Probebühne in den Zuschauerraum zu übertragen – eine Investition, die sich schon damals, jetzt aber erneut ausgezahlt hat.

Multimedialität der besonderen Art herrscht in dieser Produktion von «Amerika» denn auch auf der Bühne. Bild, still und bewegt (eindrucksvoll die Videos von Robi Voigt), Licht (Elfried Roller), Szenerie (scharf charakterisierend die Kostüme der Ausstatterin Christina Schmitt), Aktion und Laut verbinden sich in eigenartiger Dichte – und das in forderndem Tempo. Die von Takao Baba choreographierten Tanzeinlagen sind von hypnotisierender Anziehungskraft: sagenhaft, was die zwölf Tänzerinnen und Tänzer leisten. Und grossartig, wie deren Art der körperlichen Agilität auf das musikalisch tätige Ensemble ausstrahlt: Alle bewegen sie sich so, wie es Opernsängerinnen, Opernsänger niemals täten. Dazu die durch die Verstärkung unterstützte Kraft der Diktion, in der die Konsonanten für einmal wichtiger sind als die Vokale. So kommt es zu starken Auftritten. Sie verteilen sich über das ganze Ensemble; herausragend etwa Ruben Drole oder Robert Pomakov, die mit ihren kraftvollen Timbres den von ihnen verkörperten autoritären Figuren bedrohliche Züge verleihen.

Da kommt er also an in jenem Amerika, in dem sich zu verlieren Karl Rossmann verurteilt ist. Den Koffer lässt er fürs erste stehen, weil er seinen Schirm vergessen hat. Auf der Suche begegnet er einer Unmenge an gehetzten Menschen und verirrt sich. Im Untergrund des Schiffs klärt ihn der Heizer über die wahren Verhältnisse im Land der grossen Träume auf. Und schon steht er vor den Zollbeamten, die als brutal schnarrende Roboter erscheinen. Nicht Freiheit und unbegrenzte Möglichkeiten zählen als Grundlage des Daseins, im Vordergrund stehen vielmehr Macht und deren Ausübung – selbst bei Klara (der zierlichen Mojca Erdmann mit ihrer silberhellen Stimme), die den unbeleckten Jüngling aufs Grausamste quält. Und der, Paul Curievici zeichnet das gekonnt nach, verliert mehr und mehr seine (noch schwach ausgebildete) Individualität, passt sich in Gang und Geste zunehmend seiner Umgebung an. Das sehr durchzogene Bild von der Neuen Welt, das Kafka zeichnet, bringt Haubenstock-Ramati scharf auf den Punkt. Sebastian Baumgarten denkt es scharfsinnig weiter. In seiner Inszenierung erscheint «Amerika» als die erheiternde Revue, die das Stück sein will – als ein Kaleidoskop, dessen wilde Drehungen einen schwindlig machen. Zugleich treten jedoch von Beginn an die Züge jener hässlichen Fratze, mit der wir uns mehr und mehr konfrontiert sehen, in Erscheinung. Womit «Amerika» von 1914 und 1964 endgültig bei Amerika von 2024 angelangt ist.

Wunderwerke

Das Scelsi-Festival und das Arditti Quartet in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Wenn eine Schweizer Stadt als Musikstadt bezeichnet werden kann, dann ist es – nein, nicht Zürich, sondern Basel. So gedacht diese Woche, an deren Anfang das Arditti Quartet bei der Gesellschaft für Kammermusik gastierte und an deren Ende das anregungsreiche, mit Musikerinnen und Musikern der Extraklasse besetzte Scelsi-Festival in Gang kam.

Nicht gerade seit Menschengedenken, aber doch seit einem halben Jahrhundert besteht nun das von Irvine Arditti im Alter von 21 Jahren gegründete Quartett, das seinen Namen trägt und dessen rascher Aufstieg dem Geiger erlaubte, seine Tätigkeit als Konzertmeister beim London Symphony Orchestra 1980 aufzugeben. Seit diversen Häutungen spielt es seit 2006 in der bis heute gültigen Besetzung mit Irvine Arditti als klar erkennbarem Primarius, mit Ashot Sarkissian an der zweiten Geige und Ralf Ehlers an der Bratsche sowie Lucas Fels am Cello. Alle vier weisen sie scharfe Profile auf, zugleich bilden sie aber ein perfekt aufeinander abgestimmtes Ensemble – von besonderer Bedeutung angesichts des Repertoires von den Klassikern der Moderne bis zu den allerneusten Schöpfungen. Ein Buch der Rekorde bildet die Geschichte des Ensembles. Die Rede ist von mehreren hundert Streichquartetten, die für das Quartett komponiert worden sind, von über zweihundert CD-Produktionen, von Preisen bis hin zum Ernst-von-Siemens-Musikpreis im Jahre 1999. In Basel, bei der Gesellschaft für Kammermusik, ist das Quartett seit seinem Debüt 1989 nicht weniger dreizehn Mal aufgetreten, und am Münsterplatz, in der Paul-Sacher-Stiftung, befindet sich das Archiv des Ensembles.

Nun also das Festkonzert zum Jubiläum des fünfzigjährigen Bestehens und der Auftakt zu einer ausgedehnten Tournee. Fünf Stücke standen auf dem Programm; sie sprachen von der einzigartigen Kontinuität und der unerhörten Vitalität einer Gattung, die gerne als elitär empfunden und in die Nische verbannt wird. Die Werkfolge zeigte ein packendes Panoptikum an Stilen. Den Anfang machte das erste Streichquartett des Briten Jonathan Harvey aus dem Jahre 1977, das vom Strukturdenken des ausklingenden Serialismus zeugt, doch nicht ohne Effekt bleibt. Für Schockmomente sorgte dann «Tetras» des griechischen Architekten und Komponisten Iannis Xenakis, ein wildes, unangepasstes, auch Geräuschklänge einbeziehendes Werk von 1983. Ganz anders «In the Realms oft he Unreal», ein von sehr persönlichem Ton lebendes, wohl auch biographisch geprägtes Werk der Österreicherin Olga Neuwirth von 2009. Nach der Pause als Uraufführung das siebte Streichquartett des 1957 geborenen Briten James Clarke; das kurze, kurzweilige Werk arbeitet mit wenigen kräftigen Strichen, die einen unwiderstehlich in Bann schlagen. Schliesslich «Grido», das dritte Streichquartett des bald neunzigjährigen Helmut Lachenmann, ein Klassiker des Repertoires von 2002, bei dem das Geräuschhafte subtil in den Klang eingebunden ist. Dass auch ein solches Programm auf Anklang stösst, erwies die Begeisterung des grossen Publikums im Hans-Huber-Saal des Basler Stadtcasinos.

Ein Jubiläum beging auch das Basler Scelsi-Festival. 2014 von der Pianistin und Komponistin Marianne Schroeder gemeinsam mit dem Schriftsteller Jürg Laederach gegründet und heute von einem Verein getragen, steht im Zeichen des italienischen Komponisten Giacinto Scelsi, deckt darüber hinaus aber einen weiten stilistischen Kreis neuer Musik ab. Dies genährt durch die lebenslangen, reichen Erfahrungen Marianne Schroeders als einer weitgereisten, mit den Exponenten der neuen Musik bestens vernetzten Künstlerin. Mehr als für die westeuropäischen Grossmeister wie Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen interessierte sie sich für Erscheinungen jenseits des Mainstreams.  Etwa für Galina Ustwolskaja, deren sechs Klaviersonaten, äusserst spezielle Musik, von ihr zu einer Zeit auf CD aufgenommen wurden, da die russische Komponistin noch zu den Geheimtipps gehörte. Eingespielt hat sie auch Werke von John Cage, mit dem sie intensiv zusammengearbeitet hat, von Morton Feldman – oder eben von Giacinto Scelsi, zu dem sie nach Rom gereist ist, um aus erster Hand Informationen zu dessen ebenfalls aussergewöhnlicher, wenn auch nicht unumstrittener Musik zu erhalten.

All diese Erfahrungen fliessen in das Basler Scelsi-Festival ein – der Eröffnungsabend führte es beispielhaft vor. Der Ort des Geschehens war das Kulturzentrum Don Bosco, eine ehemalige katholische Kirche, die mit viel architektonischem Geschick zu einer flexibel nutzbaren kulturellen Lokalität von starker atmosphärischer Ausstrahlung umgewandelt worden ist – ähnlich wie die evangelisch-reformierte Pauluskirche, die zu einem Zentrum der Chormusik geworden ist. Weit vorne im Kirchenraum, dem nach Paul Sacher benannten Konzertsaal, brachte die Klarinettistin und Komponistin Carlo Robinson Scelsis Solo-Stück «Ixor» (1956) zur Aufführung. Das war die Einleitung. Was folgte, war jedoch etwas ganz Anderes, nämlich ein Rezital des berühmten Organisten und Komponisten Zsigmond Szathmáry – denn tatsächlich ist in Don Bosco die Orgel erhalten geblieben. Und sie ist sehr valabel. Szathmáry begann mit «Harmonies», der Etüde Nr. 1 von György Ligeti aus dem Jahre 1967. Eine gleichsam stillstehende, schillernde Klangwelt tut sich hier auf, nie bekommt man die Orgel so zu hören: leise, fahle, mikrotonal gefärbte und darum eigenartig schwebende Klänge, die sich daraus ergeben, dass der Winddruck reduziert ist, die Register nur halb gezogen und die Tasten in differenzierter Weise bedient werden. Und zum Schluss die «Volumina», das berühmt-berüchtigte Stück Ligetis von 1961/62, das einen aus dem Nichts heraus mit einem von Armen und Füssen erzeugten Cluster im vollen Werk erschreckt und am Ende, wenn der Orgel mit einem hörbaren Knall die Luft abgestellt wird, in jämmerlichem Wimmern endet.

Dazwischen gab es, neben «In Nomine Lucis» von Scelsi, eine überraschende «Sonata da chiesa» von Hans Ulrich Lehmann und von Szathmáry selbst eine «Cadenza con ostinati», beides vom Organisten zusammen mit seiner Tochter Aniko Katharina Szathmáry an der Geige vorgetragen. Dann aber, nach der Pause, Arnold Schönberg – und nicht weniger als «Das Buch der hängenden Gärten» von 1909. Die Sopranistin Franziska Hirzel schlug sich fabelhaft; vorbildlich setzte sie auf die Gedichte Stefan Georges, liess sie in hohem Mass verständlich werden und erlaubte deren Umsetzung in musikalische Lineatur zu verfolgen. Für eine Überraschung, die stärker nicht hätte wirken können, sorgte jedoch die Klavierlegende Ursula Oppens, die eigens aus New York, wo sie soeben ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert hatte, nach Basel gekommen war. Ihre Körperhaltung war vom Alter gezeichnet, doch ihre Augen blitzen vor Vitalität, und was ihre Hände an den Tasten vollbrachten, war schlicht ein Wunder. Ein Wunder an manueller Sicherheit und an Gegenwärtigkeit, vor allem aber eines an klanglicher Schönheit – wann und wo lässt sich solches erleben? Beim Basler Scelsi-Festival eben.

Kreative Eruptionen

Matinee mit La Scintilla im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Dass ein Konzert mehr als angenehme Unterhaltung, ja mehr als erhabenen Genuss bieten kann, dass es auch wahre Sprengkraft zu entwickeln vermag – der jüngste Auftritt von La Scintilla, der «Barockformation» aus dem Orchester der Oper Zürich, hat es erneut bestätigt. Auf dem hochgefahrenen Orchestergraben und der Bühne sassen Musikerinnen und Musiker, die Instrumente bedienten, wie sie zur Entstehungszeit der vorgetragenen Werke üblich waren – eine Praxis, die im Opernhaus auf die frühe Zeit mit Nikolaus Harnoncourt zurückgeht, der dieses nach 1970 Feuer entzündet hat. Besonders die Rede war vor dem Sonntags-Konzert der Scintilla zum Beispiel von einer Oboe aus dem Bestand der Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich, die um 1850 unter der Leitung Richard Wagners gespielt worden ist. Sie ist nachgebaut und in diesem Konzert verwendet worden – recherchieren und ausprobieren gehören in diesem Feld der Musikpraxis unbedingt dazu. Und der Gewinn lässt nicht auf sich warten.

Am Pult der Scintilla stand Riccardo Minasi, der künstlerische Leiter des Orchesters: von Haus aus Geiger und längst ein erprobter Spezialist der historischen Aufführungspraxis, vor allem aber ein Temperamentsbündel erster Güte. Als Dirigent der italienischen Tradition schlägt er gerne kleinteilig und führt er das Orchester straff, was nicht immer letzte Präzision ergeben hat. Doch die Intensität, mit der Minasi seine klar erkennbaren Ansätze der Interpretation an das Orchester weitergab, wurde von den Musikerinnen und Musikern mit hoher Aufmerksamkeit aufgenommen und mit blendender Kompetenz in Klang gebracht. Eine anregende, aufregende Reise wurde das, und am Ende liess La Scintilla ihren Maestro ebenso hochleben, wie es das Publikum im gut besetzten Opernhaus tat.

Den Anfang machte die Ouvertüre zu Richard Wagners «Tannhäuser», dies als Beitrag zum Wagner-Schwerpunkt der Zürcher Oper mit ihrem mittlerweile vollendeten «Ring des Nibelungen» und überdies als Erinnerung an die Jahre fruchtbaren Wirkens, die Wagner zwischen 1849 und 1858 in Zürich verbrachte. Die «Tannhäuser»-Ouvertüre ist ja ein Stück von ausgesuchter Schönheit; in aller Pracht trat das in der Aufführung ans Licht. Anders als es heute üblich ist, leben die Instrumente des 19. Jahrhunderts von ihrem Spektrum an den Obertönen, was ihre Individualität unterstreicht. Im Zusammenwirken ergibt das weniger den heute geschätzten Mischklang, sondern eher einen Spaltklang, der genau darum in vielerlei Farben schillert. Weich und getragen der Anfang. Die Balance gelang schlechterdings perfekt, nichts trat störend in den Vordergrund, und wenn die Streicher ihre Leittöne mit wenig oder gar keinem Vibrato auf das Ziel hin zogen, stieg die Temperatur schon merklich an. Sobald das Tempo anzog, brach der reine Enthusiasmus aus – durchsetzt mit Inseln der Ruhe, in denen etwa der Klarinettist sein Solo in aller Freiheit ausformen konnte. Stürmisch, aber klanglich agil ging es auf den Schlusspunkt zu – und dann musste erst einmal durchgeatmet werden.

Mit dem Violinkonzert in e-Moll von Felix Mendelssohn Bartholdy nahm das Staunen weitere Dimensionen an. An seiner mit (wohl umsponnenen) Darmsaiten bespannten Geige von Ferdinando Gagliano aus dem späteren 18. Jahrhundert setzte Ilya Gringolts von Anfang auf deutlich ausgespielte Expressivität. Nicht zuletzt manifestierte sich das im reichen Einsatz des Portamentos, jenes Gleitens vom einen Ton zum anderen, das man heute vielleicht nicht mehr so mag, das jedoch in den aufführungspraktischen Schriften des ausgehenden 19. Jahrhunderts, etwa der Geigenschule von Joseph Joachim, ausführlich thematisiert wird. Jedenfalls geriet Gringolts eine sehr persönliche, Virtuosität und Kantabilität überzeugend verbindende Lesart. Nach einem etwas unverbindlich geratenen Einstieg baute sich im Kopfsatz eine drängende Spannung auf; ihre Lösung fand sie in der ganz entspannten Einleitung des Mittelsatzes. Belebend wirkten hier die Gewichtsetzungen, welche die Musik zum Sprechen bringen, grossartig auch die Vielgestaltigkeit der Artikulation. Und dann das Finale: ein Hexentanz in atemberaubendem Tempo, aber einer mit zirzensischer Lust. La Scintilla hielt sehr wacker mit.

Schliesslich die «Eroica», die Sinfonie in Es-Dur Ludwig van Beethovens. Hier war die Ausgangslage eine andere. In die Sinfonien Beethovens hat die historische Praxis vor langem schon Einzug gehalten, die der Fülle der ganz unterschiedlichen Auffassungen in dieser Stilrichtung bezeugt eine reiche Auswahl an CD-Aufnahmen. Dazu kommt, dass das Tonhalle-Orchester Zürich in seiner grossen Zeit mit David Zinman ein ganz neues Beethoven-Erlebnis in die Stadt gebracht hat. Die Hürden waren also hoch – für La Scintilla und Riccardo Minasi kein Problem, sondern Ansporn. Die von Beethoven mit Hilfe seines Metronoms vorgegebenen Tempi führten sie als plausibel vor, vor allem im Trauermarsch des zweiten Satzes, der kein dumpfes Dröhnen hören liess, der vielmehr eine Atmosphäre berührender Trauer schuf und das in flüssigem Voranschreiten tat. Ausgeprägt lebte die Aufführung auch vom Instrumentarium – insofern nämlich, als in dieser Art der Besetzung die Akzente zugespitzt werden konnten und dementsprechend in die Knochen fuhren, ohne dass das Gehör strapaziert wurde. An der Verwandtschaft zwischen dem Finale der Sinfonie und dem Klang der Befreiung in der Oper «Fidelio» war hier kein Zweifel.

Ein Mensch und seine Gesichter

Alban Berg in einem opulenten Bildband

 

Von Peter Hagmann

 

Was für ein schönes Buch. Was für ein liebevolles Buch. Was für ein intimes Buch.

Der Nachlass Alban Bergs (1885-1935) wird zum einen von der Österreichischen Nationalbibliothek, zum anderen von der durch Helene Berg, die Gattin des Komponisten, 1968 eingerichteten Alban Berg-Stiftung aufbewahrt; in der öffentlichen Institution finden sich die Dokumente zum künstlerischen Schaffen, in der Stiftung das Private. Nur fünfzig Jahre alt wurde Berg, seine Frau, ebenfalls 1885 geboren, hat ihn mehr als vierzig Jahre überlebt – und sie hat in dieser Zeit unermüdlich am Nachruhm ihres Gatten gearbeitet. Gleich nach Bergs Tod hat sie sein Arbeitszimmer fotografisch dokumentiert, um es originalgetreu zu erhalten. In der Folge hat sie des Komponisten Hinterlassenschaft für spätere Verwendung vorbereitet. Inzwischen steht die Wohnung des Ehepaars Berg im vornehmen Wiener Bezirk Hietzing unter der Aufsicht der von dem Musikwissenschaftler und Musiker Daniel Ender geleiteten Stiftung.

Im dort aufbewahrten Material finden sich mehrere Tausend Fotografien. Zusammen mit seinen Mitarbeitern hat sie Daniel Ender allesamt gesichtet, sie identifiziert und eingeordnet. Inzwischen hat er aus dem immensen Bestand knapp dreihundert Aufnahmen ausgewählt, sie sorgfältig restaurieren lassen und sie nun in einem prachtvollen Bildband publiziert. Zu den Aufnahmen gibt es Legenden sowie eine Reihe kurzer Auszüge aus Briefen und Texten, aber nicht eigentlich eine Erzählung, die durch die Bildersammlung durchführt. Immerhin findet sich am Ende des Buchs eine Zeittafel zu Bergs Leben, der sich Aufschlüsse zu den Bildern entnehmen lassen – hat man das Buch durchgesehen, kommt man darauf, dass es vielleicht sinnvoll gewesen wäre, diese Zeittafel vorab zu Kenntnis zu nehmen. Auf der anderen Seite besteht der Reiz der von Ender gewählten formalen Anlage gerade darin, dass man sich den Bildern und ihrer Aussagekraft spontan überlässt und dergestalt dem durch sie vorgestellten Menschen in eigener Weise nahekommt.

Denn in der Tat geht es hier um «Alban Berg im Bild»: um den Komponisten allein. Überaus eindrucksvoll, wie unterschiedlich das an sich immergleiche Gesicht erscheint; fast hat man das Gefühl, Berg beginne gleich zu sprechen. Erstaunlich auch, wie wenig sich das Gesicht Bergs über die Jahre hin verändert. Gewiss, die Kinder- und Jugendbilder sprechen ihre eigene Sprache. Und freilich sind fünfzig Jahre ein Lebensalter, in dem noch manches an den Gesichtszügen erhalten geblieben ist, was sich später womöglich verändert hätte. Bei Anton Webern ist das anders; ein fescher Kerl war der als Junger, und später noch immer schön, dann aber äusserst streng. Berg dagegen erscheint auf der Mehrzahl der Bilder vielleicht nachdenklich, doch stets freundlich, bisweilen fröhlich, ja ausgelassen. Gern hält er eine Zigarette zwischen den Fingern, auch in den Jahren des Ersten Weltkriegs, den er als Soldat aus gesundheitlichen Gründen in einer Kanzlei hinter sich gebracht hat.

Dass sich im privaten Nachlass des Komponisten so viel Bildmaterial findet, geht auf seine Herkunft zurück. Sichtbar wird es gleich auf den ersten Seiten des Buches. Aufgewachsen ist Alban Berg in einer grossbürgerlichen Wohnung im ersten Wiener Stadtbezirk. Der Vater: Kaufmann, die Mutter: aus begüterter Familie stammend. Riesig und üppig dekoriert die Räume – und vor allem: es wurde fotografiert, das gehörte zum Status und zu dessen Herzeigen. Neugierig blickt man auf die Bilder, und wenn man die Seite wendet, stösst man auf einen doppelseitig angelegten, entsprechend vergrösserten Ausschnitt einer soeben wahrgenommenen Aufnahme – das macht geradezu dramatischen Effekt, wie überhaupt das Buch mit Sinn und Sinnlichkeit gestaltet ist. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden professionelle Fotografinnen und Fotografen verpflichtet, die wie etwa Dora Kalmus alias Madame d’Ora hochstehende Kunst-Porträts erstellten. Später knipste man selber, und Berg, vom Fotografieren angetan, tat es ausgiebig (oder liess Freunde abdrücken).

In seiner Anlage folgt das Buch dem Leben des Komponisten. Es zeigt ihn in einem Werdegang wachsenden Selbstbewusstseins, zudem präsentiert es Menschen aus seiner Umgebung, die für ihn von Bedeutung waren: zuallererst seine Frau, aber auch seinen Lehrer Arnold Schönberg oder Wegbegleiter wie Anton Webern, wie der bewunderte Karl Kraus oder Franz Werfel mit Alma Mahler. Einen Lidschlag lang darf hierbei an die in diesem Buch selbstverständlich ausgesparte Affäre Bergs mit Werfels Schwester Hanna Fuchs-Robettin gedacht werden. Wie auch immer: Ein wunderschönes Paar waren sie, Alban Berg und Helene geborene Nahowski, füreinander geschaffen und einander eng verbunden – das tritt in berührender Deutlichkeit heraus. In den biographischen Weg eingelegt sind, auf einer eigenen Schiene, eine Reihe von Porträts des Komponisten bis hin zu den Büsten und den Arbeiten von Malern wie Arnold Schönberg oder Franz Rederer. Ausgespart bleibt auch weder Schalk und Ulk – zum Beispiel in den Fotos aus den Automaten oder jenen von den Besuchen auf dem Fussballplatz oder den lustvollen Ausfahrten mit dem Cabriolet der Marke Ford, das sich der Künstler 1930 aus den Tantièmen seiner erfolgreichen Oper «Wozzeck» erwerben konnte. Das Auto, generalüberholt und fahrbereit, lebt noch. Genauso wie die im Repertoire solide verankerte Musik Alban Bergs.

Daniel Ender: Alban Berg im Bild. Fotografien und Darstellungen 1887-1935. Böhlau-Verlag, Wien und Köln 2023. 280 S., Fr. 51.60.

Klamauk der Extraklasse und bitter-süsse Traurigkeit

Lehárs «Lustige Witwe» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Nun ja, sie hat keinen besonderen Ruf: die Operette im Allgemeinen und im Speziellen «Die lustige Witwe». Man muss sich nicht eigens auf Theodor W. Adorno berufen, es war schon so, als die Operette Franz Lehárs kurze Zeit nach ihrer sensationellen Uraufführung Ende Dezember 1905 am Theater an der Wien vom Stadttheater Zürich auf den Spielplan genommen wurde. Im dritten Morgenblatt vom Dienstag, den 4. Dezember 1906, brachte die «Neue Zürcher Zeitung» unter der Rubrik «Lokales» einen handfesten Verriss. «Fürchterlich gelangweilt» habe ihn diese Operette, und es gebe bekanntlich «nichts Schlimmeres als eine langweilige Operette» – worauf der Autor E.F. gleich freimütig zugibt, nach dem zweiten Akt das Weite gesucht zu haben. Der Text lasse Geist wie Anstand vermissen, während die Musik fast durchwegs von «gemeiner Trivialität» sei: «Die Dürftigkeit in der Anlage und die Liederlichkeit in der Ausführung der einzelnen Stücke» seien nicht zu überbieten.

Bös gebrüllt, Löwe – aber hat er nicht Recht, ein bisschen wenigstens? Wie in der «Fledermaus» von Johann Strauss (Sohn), wo die Spannung nach dem Auftritt des trunkenen Gefängniswärters Frosch rasch nachlässt, dreht sich «Die lustige Witwe» besonders im dritten Akt merklich (und nicht allzu schnell) im Kreis – das Opernhaus Zürich vermag es nicht zu ändern. Und das musikalische Material, von Lehár aus dem Kern einer aufsteigenden Quart heraus entwickelt, zeigt immer wieder Erschöpfungszustände. Abhilfe schüfe da vielleicht ein entschiedener, wenn nicht zuspitzender interpretatorischer Zugriff, doch das scheint Patrick Hahns Sache nicht zu sein. Der junge Dirigent hält das Geschehen ordentlich zusammen, überlässt die Philharmonia Zürich aber weitgehend sich selber. Er führt zu wenig und schafft dort, wo es möglich und sogar sinnvoll wäre, nicht ausreichend Transparenz. So dominiert neben den feschen Ensemblenummern eine leicht verstaubte Larmoyanz.

Dazu kommt, dass das Paar im Zentrum des Stücks nicht mit glücklicher Hand besetzt ist. Was für ein überragender Hans Sachs in Richard Wagners «Meistersingern», was für ein düsterer Golaud in «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy, doch hier, als Danilo, wirkt Michael Volle darstellerisch eigenartig ungelenk und stimmlich oftmals zu massiv, bisweilen gar dröhnend. Das fällt umso mehr auf, als Marlis Petersen, die grandiose Lulu vom Dienst, die überragende Medea in der Wiener Uraufführung von Aribert Reimanns gleichnamiger Oper, die Partie der begüterten, kurz nach der Verehelichung zur Witwe gewordenen Hanna Glawari mit Noblesse angeht, die Lineaturen sorgsam auszeichnet und ohne jeden Druck agiert – eben ganz aus ihrem Inneren heraus. Das passt haargenau zur Spielanlage, die sich der Regisseur Barrie Kosky, ein Operetten-Spezialist erster Güte, für seine Zürcher Inszenierung der «Lustigen Witwe» ausgedacht hat.

In vollkommener Dunkelheit beginnt der Abend. Erhellt sich die Bühne ganz leicht, gleitet, einem Traumbild gleich, auf der Drehbühne ein Flügel heran, an ihm und auf ihm eine nachsinnende Frau mit Marlene Dietrich-Frisur. «Wie von Zauberhand bewegt», so der Werbeslogan von damals, erklingen Erinnerungen an «Die lustige Witwe», hier gespielt von Franz Lehár selbst und wiedergegeben von einem Reproduktionsklavier. Erstaunlich die exorbitanten Freiheiten, die sich der Komponist genommen haben soll, gerade in der Nuancierung der Tempi und in der Ausformung des Dreivierteltakts – der Dirigent hätte sich davon eine Scheibe abschneiden können. Hier aber geht es nicht um die musikalische Anregung, sondern um die treffliche szenische Metapher, welche die eine Ebene von Koskys Auslegung bildet. Es ist die einer tiefen, unauflösbaren Melancholie.

Doch dann bricht unvermittelt das Operettengetriebe aus. Stürmen sie herein, die Herren in ihren Fräcken, die sich um die gar nicht lustige, aber vielversprechend ausstaffierte Witwe balgen – hinreissend, was die Tänzer, später auch die Tänzerinnen, durch den Choreographen Kim Duddy unvorstellbar auf Trab gehalten, an Agilität hergeben. Das ist die andere Ebene, die Kosky zeigt: der Klamauk und das Schaugepränge, zumal in den verspielten, opulenten Kostümen, die Gianluca Falaschi entworfen hat. Zu den Hauptdarstellern gehört hier ein bühnenhoher, vollkommen geräuschlos und ohne jedes Stocken auf einer schneckenförmig gewundenen Schiene laufender Vorhang, der die Bühne teilt und der Situation entsprechende Räume schafft – der Bühnenbildner Klaus Grünberg hatte die Idee, die Technik brachte das Knowhow ein, dem Publikum blieb das Staunen.

Getragen wird der Klamauk von der im Stück angelegten, von Barrie Kosky in der für ihn kennzeichnenden Drastik herausgearbeiteten Spannung zwischen Frauen, die wissen, was sie wollen und was nicht, und Pappkameraden von Männern, die von einem Fettnapf in den anderen geraten. Herübergebracht wird diese Spannung von einem hochmotivierten Ensemble. Zu ihm gehört Martin Winkler, der die Figur des vertrottelten Gesandten Mirko Zeta mit einer grandiosen Begabung für den Slapstick verkörpert. Ihm tanzt seine Frau Valencienne quicklebendig auf der Nase herum, mit ihrem strahlkräftigen Timbre und ihrer Spielfreude führt es Katharina Konradi blendend vor. Eine Nummer für sich ist ihr Geliebter Camille de Rosillon – denn Andrew Owens besticht durch einen glänzenden, obertonreichen Tenor und darüber hinaus durch ein absolut stupendes artistisches Geschick.

Ob das Bild der emanzipierten Frau, welche die Männer in ihrer patriarchalen Selbstgewissheit und ihren Unfähigkeiten hinter sich zurücklässt, tatsächlich den Grund für den sagenhaften kommerziellen Erfolg der «Lustigen Witwe» abgab, mag dahingestellt bleiben. In seiner starken, persönlichen Deutung vertritt Barrie Kosky diese Ansicht. Das ist sein gutes Recht, auch wenn es ihm damit nicht gelingt, aus der «Lustigen Witwe» ein besseres Stück zu machen. Von starker Wirkung ist jedoch die Fokussierung auf das in die Jahre gekommene Paar, das in seine Erinnerungen verstrickt ist und am Ende dennoch zueinander findet. In Zürich mündet das nicht in den furiosen Schlussgesang der Partitur, sondern in ein ganz zartes Geigensolo, das dorthin entschwindet, woher anfangs der Flügel gekommen ist. Auch das noch einmal einer jener Theatereffekte, für die Barrie Kosky geliebt wird.

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Ravel – neu beleuchtet

Eine CD des Linos Piano Trio

 

Von Peter Hagmann

 

Immer wieder ist an dieser Stelle von der zunehmenden Verbreitung der historisch informierten Spielweise auch im Bereich der Kammermusik die Rede. Und vom Glück, das diese Veränderung auszulösen vermag. Nachzuprüfen ist das jetzt wieder an einer (auch im Netz greifbaren) CD-Publikation mit Werken von Maurice Ravel: dem Klaviertrio sowie zwei Klavierstücken, welche die Interpreten für ihre Besetzung eingerichtet haben – ein Verfahren, gegen das der Komponist gewiss nichts einzuwenden gehabt hätte, hat er selbst ja zu diesem Mittel gegriffen. Die Interpreten wiederum bilden das Linos Piano Trio, und sie benützen Instrumente, wie sie Ravel hätten vertraut sein können.

Und mehr noch. Das Trio lässt im Booklet die Instrumente genau benennen. Prach Boondiskulchock spielt auf einem Erard-Konzertflügel von 1882, sogar seine Seriennummer 56105 wird angegeben. Konrad Elias-Trostmann dagegen bringt einen von Stefan-Peter Greiner erstellten Nachbau einer 1743 entstandenen Geige von Giuseppe Guarneri zum Klingen, und er tut das auf Darmsaiten, auf drei reinen und einer umwickelten. Vladimir Waltham schliesslich bedient ein von 1880 und aus Neapel stammendes Cello; auch dieses Instrument ist, diesmal halb-halb, mit reinen wie umwickelten Darmsaiten versehen. Dass das Instrumentarium so detailliert beschrieben wird (nur die Bezeichnungen für die verwendeten Bögen fehlen), ist eine Seltenheit, kann aber nicht hoch genug geschätzt werden. Auch dem Hörer, dem diese Angaben vielleicht wenig sagen, können so doch die Ohren geöffnet werden.

Und die solcherart gespitzten Ohren, sie dürfen hier wahre Wunder erleben: Ravel in ganz anderer klanglicher Erscheinung als gewohnt. Der Flügel aus dem Hause Erard klingt warm und weich, fast so intim wie im Selbstgespräch. Zugleich fehlt ihm, wenn es gefordert isr, nichts an effektvollem Ton, nur bleibt auch das Fortissimo ohne Schärfe, auch stets eingebunden ins Ganze. Und die beiden Streicher verbreiten, in je eigener Art, einen Reichtum an Obertönen, einen Silberglanz und eine Feinzeichnung der Lineatur, die Ravels musikalischen Satz in hellem Licht und geschmeidiger Körperlichkeit erscheinen lassen.  Natürlich geht das alles nicht auf die Instrumente allein zurück, sondern ebenso sehr auf die drei Herren, die sie bedienen. Sie tun es fabelhaft.

Was für ein Einstieg in Ravels Trio für Klavier, Violine und Violoncello in a-Moll – mit den zarten dahingleitenden Dreiklängen des Klaviers, über die sich die in die Oktave verdoppelte Oberstimme der Streicher legt. Und was für eine fulminante Steigerung auf den ersten Höhepunkt hin; seine Wirkung findet er nicht in der reinen Lautstärke, sondern in der Gesamtheit der Ausdrucksmittel. Besonders eindringlich gelingt in dieser Aufführung die Passacaglia des dritten Satzes; dunkel, abgründig und riesengross klingt sie. Sie zeugt damit von der Entstehung des Stücks zu Beginn des Ersten Weltkriegs. In seinem sehr anregenden Booklet-Text weist der Pianist Prach Boondiskulchock darauf hin, dass sich Ravel damals der von Camille-Saint-Saëns 1871 gegründeten Société nationale de musique verweigerte, sich mit dieser Passacaglia vielmehr vor dem grossen Deutschen Johann Sebastian Bach verneigte.

Auf das Klaviertrio folgt die 1899 entstandene, liebliche «Pavane pour une infante défunte» in einem ausgesprochen stimmigen Arrangement des Linos Piano Trio. Und vorgetragen mit all dem, was um die vorletzte Jahrhundertwende an Ausdrucksmitteln zur Verfügung stand, zum Beispiel mit sorgsam eingesetztem Vibrato und geschmackvollem Portamento, dem Gleiten vom einen Ton zum anderen. Den Bogen zum Beginn schliesst die ebenfalls vom Ensemble erstellte Fassung des Klavierstücks «Le Tombeau de Couperin», in dem Ravel mit sechs Sätzen einer barocken Suite an sechs in der Grande Guerre gefallene Freunde erinnert. Ganz eigenartig geht das unter die Haut. In Zeiten wie diesen hört man das Stück, wenn es so eindringlich dargeboten wird, wie es hier geschieht, wohl mit besonderer Bewegung.

Maurice Ravel: In Search of Lost Dance – Klaviertrio in a-Moll, Pavane pour une infante défunte (Arr.), Le Tombeau de Couperin (Arr.). Linos Piano Trio: Prach Boondiskulchock (Klavier), Konrad Elias-Trostmann (Violine), Vladimir Waltham (Violoncello). Avi -music 8553526 (CD, Aufnahme 2022, Produktion 2023).

Erstklassig

Philippe Jordan zu Gast
beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

So kräftig und zugleich so schön, so opulent und gleichzeitig so leuchtend transparent hat das Tonhalle-Orchester Zürich seit langem nicht geklungen. Angesagt waren drei Ausschnitte aus der «Götterdämmerung» Richard Wagners: «Siegfrieds Rheinfahrt», «Siegfrieds Tod und Trauermarsch» sowie «Brünnhildes Schlussgesang». Und mit Philippe Jordan, der mit diesem doppelt geführten Abend seit langem wieder einmal in der Tonhalle Zürich erschienen ist, stand ein exquisiter Experte für dieses Repertoire am Pult – das heisst: Pult brauchte er keines, er dirigierte den ganzen Abend über auswendig. Mit letztem Engagement bei der Sache, wuchs das in grösster Formation angetretene Orchester förmlich über sich hinaus. Am Ende gab es von den Musikerinnen und Musikern einhelligen Beifall für den Dirigenten. Und das Publikum war aus dem Häuschen.

Was war geschehen? Die Erfahrung des demnächst fünfzigjährigen Zürchers spielt gewiss eine zentrale Rolle. Seine Berufslaufbahn hob an mit der Assistenz in einer Produktion von Wagners «Ring des Nibelungen» am Théâtre de Châtelet in Paris. Seither hat ihn die Tetralogie nicht losgelassen. An der Pariser Nationaloper, an der Philippe Jordan zwischen 2009 und 2021 als Musikdirektor wirkte, leitete er in den Jahren 2010 und 2011 einen «Ring», der im Orchestralen neue Massstäbe setzte. Bald wird er Wagners Opus summum an der Berliner Lindenoper dirigieren, wo er in früher Zeit als Erster Gastdirigent tätig war – nicht aber diesen Sommer bei den Bayreuther Festspielen, wo er die musikalische Leitung in der umstrittenen Produktion von Valentin Schwarz übernommen hatte, sie jetzt aber wieder zurückgelegt hat. Kein Wunder…

Die Besonderheit beim Pariser «Ring» von 2010/11 bestand darin, dass die Opéra de la Bastille über eine ausserordentlich weite Kubatur verfügt, der Dirigent, was die instrumentale Seite betrifft, also aus dem Vollen schöpfen konnte – übrigens keineswegs zum Nachteil der Sängerinnen und Sänger auf der Bühne, wusste Jordan doch schon damals sehr genau, wo und wie er die Pferde zu zügeln hat. So waren in diesem Zyklus, wie es nur selten möglich wird, der Farbenreichtum, die Tiefenstaffelung und die kontrapunktische Feinarbeit in einzigartiger Weise wahrzunehmen. Und das in einem Klangbild, das die Expansion keineswegs scheute, den lichten, ziselierten Momenten aber ebenso viel Sorgfalt angedeihen liess. Im Graben herrschte exzeptionelle Qualität; mit Philippe Jordan ist das Orchester der Pariser Oper zum besten Klangkörper Frankreichs herangewachsen – wovon auch ein Gastspiel beim Lucerne Festival 2014 mit einer umwerfenden Aufführung von Modest Mussorgskys «Bilder einer Ausstellung» zeugte.

Und nun also dies Konzept in der Grossen Tonhalle Zürich, die doch um einiges kleiner ist als die Bastille, die dafür aber über die eindeutig bessere Raumakustik verfügt. Aus einem berückenden Leisen heraus hob «Siegfrieds Rheinfahrt» an, die tiefe Klarinette setzte da markante Tupfer – Philippe Jordan, als Sohn seines grossen Vaters Armin Jordan in der deutschen wie der romanischen Kultur aufgewachsen, versteht glänzend, mit den Instrumentalfarben umzugehen. Ganz gelöst, ruhig fliessend daraufhin die Naturseligkeit mit Siegfrieds Horn, das von aussen ins Geschehen hereinklang. Und dann der Schock des Trauermarschs, der mit messerscharfer Präzision einsetzte, darob jedoch keineswegs brutale Züge annahm. Schliesslich das wellenweise Aufbäumen in «Brünnhildes Schlussgesang», in dem sich Anja Kampe mit Applomb durchsetzte. Was gab es da nicht zu hören: die Hörner und die Tuben, die mächtige Basstrompete, die tiefen Blechbläser, die für das Fundament sorgten – ohne dass sich je etwas unstimmig in den Vordergrund gedrängt hätte. Die Balance war ja jederzeit aufs Feinste eingerichtet. Denn Philippe Jordan kennt die Partituren aus dem ff. Und überdies tummelt er sich in ihnen mit einer Begeisterung, die auf das Podium wie auf den Saal ausstrahlte.

Im ersten Teil des Abends gab es Robert Schumanns Sinfonie Nr. 3 in Es-dur, was nur auf den ersten Blick seltsam erscheinen mochte. Vom Rhein ist auch in diesem Stück die Rede, Schumann komponierte das Stück zu seinem Amtsantritt als Musikdirektorin Düsseldorf. Auch da trat eine Eigenheit im künstlerischen Wirken Philipp Jordans zutage: Bei der Gestaltung seiner Programme denkt er in thematisch Kreisen, in tonartlichen Zusammenhängen, in Verwandtschaften der Atmosphären – spricht er in Interwies zu solchen Fragen, ist es mit Händen zu greifen. Die Wiedergabe war nun aber doch etwas pompös angerichtet, in grosser Besetzung, ja in einer Art Tschaikowsky-Ton, der einen retrospektiven Zug nicht verhehlte. Indes war auch hier war alles zu hören, was man zu hören begehrt – das Leben der Nebenstimmen im Kopfsatz, das Springen und Singen im Scherzo, die attraktiven Tempomodifikationen im Finale. Was will man mehr?

Vielleicht das: ein nächstes Zürcher Engagement nicht erst in zehn Jahren.

Ein Haus mit vielen Räumen

Jost Meier und Franz Schubert
an einem Abend der Kammermusik Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Den hochstehenden Quartettabend im Geviert von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert gibt es allemal, und zwar mit Spitzenensembles wie mit Newcomern. Was bei der Kammermusik Basel jedoch ebenso sehr zu den Konstanten gehört, ist die Pflege der neuen Musik. Der allererste Abend der Gesellschaft für Kammermusik, ein Versuch mit der Nummer 0 in der offiziellen Zählung der Konzerte, galt den damals aktuellen Basler Komponisten Walther Geiser, Hans Münch und Hans Haug. Das erste offizielle Konzert wiederum, die Nummer 1 vom 12. Oktober 1926, stand ganz im Zeichen des soeben in Basel verstorbenen Komponisten und Chorleiters Hermann Suter. Ein Streichquartett, eine Reihe von Liedern sowie ein Streichsextett schritten, dargeboten vom Basler Streichquartett und der Solistin Ilona Durigo, einen guten Teil von Suters Repertoire aus. Was hier begann, wurde in gewisser Weise zur Tradition – bis hin zum jüngsten Konzert der Kammermusik im ausgezeichnet besetzten Hans Huber-Saal des Basler Stadtcasinos.

Einen Schwerpunkt des Abends bildete das Schaffen von Jost Meier, des genau vor einem Jahr, am 5. Dezember 2022 verstorbenen Wahlbaslers. Ein Urgestein aus der erweiterten Nordwestschweiz wie der Schriftsteller Peter Bichsel, studierte der 1939 geborene Solothurner Komposition und, bei Rolf Looser, Violoncello am Konservatorium Biel. Nach dem Erwerb des Solistendiploms wirkte er einige Zeit als Cellist im Tonhalle-Orchester Zürich, bevor er in den 1970-er Jahren als Mitgründer und Chefdirigent dem Sinfonieorchester Biel-Solothurn vorstand. Später zog es ihn nach Basel, wo er an der Seite von Armin Jordan als Kapellmeister tätig war. Ab 1983 lebte er als freischaffender Komponist in Basel, wo er zwischen 1985 und 2004 auch an der Musikhochschule unterrichtete. Unvergessen sind seine sehr speziellen Beiträge zum Musiktheater, etwa «Sennetuntschi» (1983) auf den umstrittenen Text von Hansjörg Schneider, das scharfe Märchen «Der Drache» (1985) nach Jewegny Schwarz oder zuletzt «Marie und Robert» (2017) nach dem sozialkritischen Stück Paul Hallers von 1917 (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 08.11.17).

Weniger bekannt ist Jost Meiers Schaffen für das Konzertpodium. Just darauf machte Franziska Hirzel aufmerksam, die Künstlerische Leiterin der Kammermusik Basel und dem Komponisten in langjähriger Freundschaft verbunden. Für die neuerliche Aufführung des Streichquartetts 2015, das die Kammermusik bei Meier in Auftrag gegeben hatte und das in der damaligen Ausweichspielstätte uraufgeführt wurde, lud sie Gil Sisquella und Jaume Angelès (Violinen), Bernat Santacana (Viola) und Iago Dominguez ein; sie bilden das Atenea-Quartett, eine junge, ambitionierte Formation, die sich an der Basler Musikhochschule noch perfektioniert, im vergangenen Jahr jedoch schon den Prix Credit Suisse Jeunes Solistes gewonnen hat. Mit Feuereifer und allem Erfolg stürzten sich die vier Spanier in die Abenteuer, welche die zerklüftete, von den Grund- und den Obertönen der leeren Saiten auf den vier Instrumenten ausgehende Partitur bietet.

In durchaus vergleichbarem Geist erklangen drei der insgesamt sechzehn Lorca-Lieder für Sopran und Streichquartett ebenfalls von 2015. Jost Meier hat sie für Franziska Hirzel geschrieben, die bekanntlich nicht nur die Kammermusik Basel steuert, sondern auch, nein: vor allem, Sängerin ist. Und was für eine Sängerin. Geheimnisvoll die Texte, reich an unterschiedlichen Ausdrucksfeldern die Kompositionen – in ihrer Interpretation der drei Lieder hat das Franziska Hirzel ausgezeichnet getroffen: mit einer Ausstrahlung ins Publikum, die von der Bühnenerfahrung der Sängerin zeugte, mit tadellos sitzender und souverän kontrollierter Linienführung, auch mit dem souveränen Wechsel zwischen Singen und Sprechen, nicht zuletzt aber mit allem Sinn für die Zwischentöne in Jost Meiers Musik.

Dann freilich, nach kurzem, effizient vollzogenem Umbau, schlug die Stunde des Merel-Quartetts. Im Vergleich zu der knorrigen Klanglichkeit bei Jost Meier wirkte das erste Streichquartett von Sándor Veress lieblich, eingängig, jugendfrisch. Mary Ellen Woodside und Edouard Mätzener (Geigen), Alessandro D’Amico (Bratsche) und Rafael Rosenfeld (Cello) brachten die drei hörbar von der ungarischen Folklore geprägten Sätze, die Veress im Alter von erst 24 Jahren niederschrieb, zu packender Wirkung. Schliesslich, als Höhepunkt eines langen, allerdings ebenso anregenden wie vergnüglichen Abends, Franz Schuberts Oktett für Streichquintett, Klarinette, Fagott und Horn in F-Dur, D 803. Ein sagenhaft mitreissendes Stück, erst recht, wenn es derart lebensprall dargeboten wird, wie es hier geschah. Neben dem Merel-Quartett stehend wirkte Christian Sutter als primus inter pares; unaufdringlich fruktifizierte er die Erfahrung als ehemaliger Stimmführer des Sinfonieorchesters Basel, setzte er die Akzente und brachte er seinen Kontrabass förmlich zum Tanzen. Zuverlässig der Fagottist Benedikt Schobel und der Hornist Antonio Lagares. Besonders schön geriet das sensible Aushorchen der Klarinettenstimme durch Heinrich Mätzener, etwa sein Ausformen der Übergänge und sein Dialogisieren mit der Primgeigerin. Ein Ensemble ad hoc, das blendend aufeinander hörte und dem sinfonischen Anspruch der Komposition in jedem Moment gerecht wurde.

Oper ohne Gesang

«Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy als Sinfonische Dichtung in Genf

 

Von Peter Hagmann

 

Als Ende Februar 2020 Covid-19 um sich zu greifen begann, mussten die kulturellen Institutionen ihre Häuser schliessen. Zur Untätigkeit gezwungen war auch Jonathan Nott – doch der britische Dirigent aus der Schweiz, seines Zeichens musikalischer und künstlerischer Direktor des Orchestre de la Suisse Romande in Genf, liess sich dadurch nicht in die Enge treiben. Er zog sich zurück auf die Musik an sich und versenkte sich in sein Herzensstück seit früher Zeit, in «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy. Warum nicht, das war seine Frage.

Genauer: Warum nicht das Drame lyrique von 1902 für den Konzertsaal gewinnen? Natürlich nicht auf dem Weg der konzertanten Aufführung, sondern vielmehr in der Form eines eigenen Werks: als eine zusammenhängende Folge von Abschnitten aus der durchkomponierten Oper. Einrichtungen solcher Art waren in den Jahren vor und nach 1900 an der Tagesordnung, man denke etwa an das Ballett «Daphnis et Chloé» von Maurice Ravel, aus dem der Komponist selbst zwei Suiten zum Gebrauch im Konzertsaal zog. Auch zu «Pelléas et Mélisande» gibt es derlei Einrichtungen, die berühmteste unter ihnen stammt von dem österreichischen Dirigenten Erich Leinsdorf. Die Bearbeitungen dieser Art gehen von den zahlreichen instrumentalen Teilen in Debussys Partitur aus. Jonatan Nott hatte jedoch etwas anderes im Sinn.

Er wollte die Oper als eigenen, vollgültigen Kosmos auf dem Konzertpodium verankern, und dies in rein instrumentaler Ausführung. Kürzung auf eine in der Praxis vertretbare Konzertlänge war also angesagt – und zugleich eine Erweiterung der Orchesterpartitur durch all das an Ausgesprochenem, Angedeutetem und vor allem leitmotivisch Notwenigem, was inneren Zusammenhang schafft. Trotz der Kürzungen sollte die Oper in ihrer Ganzheit, in ihrer immanenten Spannung, auch dramaturgischen Logik erlebbar werden. In welchem Masse das gelungen ist, erwies eine noch im November 2020 entstandene Aufnahme, deren besonderer Reiz ausserdem darin besteht, dass das kondensierte und intensivierte Werk Debussys mit dem fast zu gleicher Zeit entstandenen Poem «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönbergs kombiniert ist – was zu spannenden Vergleichen einlädt.

Auf dem Markt fand das zwei Compact Discs umfassende Projekt aus dem Hause Pentatone gute Resonanz. Es kam sogar auf die Vierteljahresliste im Preis der deutschen Schallplattenkritik. Und auch im Netz ist die Aufnahme greifbar, selbst, was offenbar noch nicht bis zur Administration des Orchesters durchgedrungen ist, auf dem französischen Portal Qobuz und bei dem bedeutenden, auf klassische Musik spezialisierten Anbieter Idagio. Inzwischen jedoch, beinahe drei Jahre nach der Aufnahme, ist «Pelléas et Mélisande» in der von Jonathan Nott stammenden Einrichtung als Sinfonische Dichtung auch im Konzert vorgestellt worden – als Uraufführung notabene in der Genfer Victoria Hall. Ein grosser, mit lebendiger Zustimmung aufgenommener Moment.

Die Live-Aufführung stellt den Effekt, den die rein orchestrale Erzählung der Oper Debussys intendiert, in besonders helles Licht. Zumal sich das Orchestre de la Suisse Romande und sein Musikdirektor in Bestform präsentiert haben. Jonathan Nott hat die Musik Debussys in der Tiefe seines Inneren verankert; die Verdichtung erlaubt ihm, innerhalb einer knappen Stunde sehr nah an den Kern des Werks heranzukommen. Und die seine Musikalität prägende Neigung zum Dramatischen tut in einem solchen Moment das Ihre. In geschmeidigen Tempi und natürlichem Zug entfaltete sich die schauerliche Geschichte; die Seelenzustände, die der alte, verzweifelte Golaud, die ganz junge, scheue Mélisande und der naiv feurige Pelléas exponieren, sie waren förmlich mit Händen zu greifen – und dies in einem Wechselbad zwischen aufschäumender Liebe, bedrohlichem Misstrauen und Tod. Unerhört spannend geriet das, geradewegs zum Anhalten des Atems. Allerdings, je besser man die Oper Debussys kennt, desto mehr kann man in der Sinfonischen Dichtung erleben.

So ausgezeichnet gelungen ist die Aufführung, weil das Orchester und sein Dirigent auf der gesicherten Basis einer deutlich hörbaren Gemeinsamkeit agieren. Alle atmen sie gemeinsam, alle streben nach Identifikation, alle geben ihr Bestes. In einem warmen, geradezu üppigen Gesamtklang finden die einzelnen Farben zu leuchtender Präsenz; reich ist das Ausdrucksspektrum zwischen der Sensibilität der klanglichen Feinzeichnung und der dramatischen Eruption – wobei auch in den Momenten der Kraft Balance und Schönheit gewahrt bleiben. Bekanntlich versteht sich das gerade keineswegs von selbst.

Vorzüge solcher Art bestätigten sich, nun in ganz anderer Sprache, bei Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 in G-Dur. In Kit Armstrong war hier sehr kurzfristig ein geradezu sensationeller Einspringer für die aus gesundheitlichen Gründen verhinderte Maria João Pires gefunden worden. Der sagenhaft begabte, auch stilistisch in hohem Ausmass versierte Pianist überraschte mit sorgfältiger Lesart der Partitur und manch überraschender Artikulation, ausserdem mit einem leichten, hellen Ton am Steinway. Während Orchester wie Dirigent ihm in berührender Weise nahe blieben.

Allein, genau jetzt, da das Orchestre de la Suisse Romande und Jonathan Nott definitiv in die gleiche Strasse eingebogen sind und die Fruktifizierung ihren Lauf genommen hat, wird von der Trägerschaft des Orchesters mitgeteilt, dass der 2017 als unbefristet geschlossene Vertrag zwischen den beiden Partnern auf den 1. Januar 2026 beendet werden soll. Im März 2026 soll noch eine Tournee folgen, Jonathan Nott wird sie dann aber als «chef invité» leiten. Fast ein Jahrzehnt an der Spitze eines Orchesters sind genau das Richtige, am besten geht man, wenn es am schönsten ist – derlei lässt sich dazu sogleich anführen. Nur: Die Trennung von Jonathan Nott erfolgt in einem nicht unproblematischen Klima.

Vor eineinhalb Jahren trug ein regionaler Fernsehsender die (gewiss hohe, aber keineswegs unübliche) Gage des Dirigenten an die Öffentlichkeit getragen, was eine lebhafte, wenn auch wenig produktive Debatte auslöste – ist hier etwa ein Kesseltreiben in Gang gesetzt worden? Der Verdacht liegt darum nahe, weil sich beim Orchestre de la Suisse Romande in den vergangenen zwei Jahrzehnten eigenartige Personalbewegungen gehäuft haben – vom missglückten Versuch, dem Orchester einen seinem Niveau nicht entsprechenden Dirigenten aufzudrängen über die zahllosen, raschen Wechsel in der Geschäftsführung bis hin zu dem kostspieligen Abgang eines Orchesterdirektors schon nach wenigen Monaten der Tätigkeit. Welcher Art die Gründe hinter der jüngsten Personalie seien, ob der Wechsel am Grand Théâtre auf die Saison 2026/27 eine Rolle spiele, es muss offen bleiben. Klar ist nur, dass ein künstlerisches Projekt abgebrochen wird, das dem Orchester eine neue Perspektive wie kaum mehr seit der Ära mit Armin Jordan verschafft hat.